Zum Inhalt der Seite

Weihnachten auf Gleis 2

von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Weihnachten auf Gleis 2

Weihnachten auf Gleis 2
 

Das durfte nun wirklich nicht wahr sein!

Fassungslos blickten die grünen Augen des braunhaarigen Mannes hinauf zur Anzeigetafel, die ihm nichts Gutes verkündete.

ICE 4511 nach München, Abfahrt 22:30 Uhr, fällt aus, stand dort weiß auf blau.

Immer wieder sah er hinauf, senkte dann den Kopf, um diesen anschließend trotzig zu schütteln und wieder hinauf zu blicken. Nur leider änderte dies so gar nichts an der Anzeige über ihm.

"Verflucht!", schimpfte er und seine Hand umfasste den Griff seines Koffers fester.

Tief Luft holend und sich beruhigend, straffte er dann die Schultern in dem teuren, schwarzgrauen Wintermantel, welcher das dünnere dunkelblaue Jackett unter sich versteckte. Seine Beine brachten ihn geschwind zum nächsten Informationsschalter der Deutschen Bahn, hinter welchem ein griesgrämig dreinblickender Mann mittleren Alters saß. Anscheinend störte er diesen grade dabei den Countdown zum Feierabend herunter zuzählen. Dies war Leonard Schepler allerdings ziemlich egal. Er wollte wissen, wann er endlich weiterfahren konnte.

"Verzeihung, mein Zug, ICE 4511, nach München ist laut Anzeige ausgefallen. Können Sie mir den Ausfall auf meinen Ticket bescheinigen und sagen wann der nächste ICE nach München geht?"

Leonard schob das Stück Papier über den Tresen und der Mann nahm es brummelnd entgegen, nur um dann ganz geschäftig zu tun. Nach einem, gefühlt endlosen, Anstarren des Computerbildschirms, hob er schwerfällig den Stempel, welcher sämtliche Zugbindungen aufhob, und presste ihn auf das Ticket. Dann krakelte er noch etwas dazu, was wohl seine Nachnamen darstellen sollte und er griff nach einem zusätzliche Briefumschlag, welcher das Fahrgastrechteformular enthielt. Leonard hatte mittlerweile begonnen unruhig mit den Fingerspitzen auf die Oberfläche des Tresens zu trommeln.

"Ich kann Ihnen das Hotel gegenüber des Bahnhofs empfehlen. Weiß aber nicht, ob sie noch am Heiligabend ein freies Zimmer haben."

"Wie meinen?"

"Nun ja, Sie müssen ja irgendwo schlafen."

Leonard blickte ihn verwirrt an, sodass der Andere kopfschüttelnd genauer wurde.

„Mein Herr, es fahren heute keine Züge mehr. Ihr Zug war der letzte nach München. Der nächste fährt erst morgen früh um 7 Uhr.“

„Wie bitte? Das kann doch wohl nicht Ihr ernst sein! Ich muss nach Hause, ich habe noch einen Berg an Arbeit zu erledigen! Sorgen Sie für ein Taxi oder weiß der Geier was, aber sehen Sie zu, dass ich hier weg komme!“, wetterte Leonard los.

Die Miene des Anderen verfinsterte sich ein wenig mehr und er quälte sich aus seinem Stuhl heraus, um zum Telefon zugehen. Leonards Geduld neigte sich langsam dem Ende, als der Mann keinen Gesprächspartner präsentierte.

„Ich bekomme keinen mehr erreicht von der oberen Etage.“

Leonard rollte mit den Augen, dass hatte selbst er mitbekommen.

„Das heißt?“, fragte er sichtlich genervt.

„Das heißt, dass Sie sich um ein Nachtquartier kümmern müssen und uns die Rechnung von diesem einreichen.“

„Ich reiche Ihnen die Rechnung meines Taxis ein!“

„So was wird nicht übernommen, außerdem werden Sie hier keinen Fahrer finden, der diese Strecke fährt. Schon gar nicht heute, es ist…“

„Ich weiß, was heute ist! Ein beschissener Feiertag, der mir Verluste einfährt, weil ich nicht nach Hause komme!“

Wütend drehte sich Leonard von dem Mann weg und ging in Richtung Bahnhofsausgang, um das Hotel aufzusuchen, welches ihm der andere ans Herz gelegt hatte.
 

Eine Hand hielt einen Pappbecher fest und der kleine Finger dieser, diente als Harken für den kleinen Plastikbeutel, während die andere Hand den großen Koffer mit der Laptop Tasche oben drauf hinter sich her zog. Das Klackern der Rollen hallte durch den weihnachtlich geschmückten, aber mittlerweile leeren, Bahnhof. Immer noch genervt stellte er den Koffer ab und riss die Tür eines Glasabteils auf dem Bahnsteig auf, um ein wenig Schutz vor dem kalten Wind zu haben, welcher seinen Weg in das Gebäude gefunden hatte. Die junge Bäckereiverkäuferin hatte ihm hastig noch einen heißen Kaffee eingefüllt und das Gebäck in eine Tüte gestopft. Nur um so schnell Feierabend wie möglich zu haben. Auf Wechselgeld hatte er deswegen sogleich verzichtet und ihr somit den Gefallen getan, sofort zu verschwinden. Das Hotel hatte, wie schon zu erahnen war, kein Hotelzimmer mehr frei gehabt. Er musste jedoch die Bemühungen des dortigen Personals hoch anerkennen, welche die Hotels in der näheren Umgebung angerufen und nach einem Zimmer gefragt hatte. Doch die Antworten waren gleich geblieben. Nein.

So hatte er sich zähneknirschend dazu entschlossen zum Bahnhofsgebäude zurückzukehren. Hier und da liefen einige zwielichtige Personen herum oder Obdachlose, welche eine geschützte Ecke suchten. Leonard beachtete sie nicht, sondern ging zu Gleis 2, auf welchem sein Zug am nächsten Tag um Punkt 7 Uhr, so hoffte er zumindest, abfahren würde. So schloss er die Glastür des Wartebereichs auf dem Steig und versuchte das Beste aus seiner misslichen Situation zumachen.

Als Alleinherrscher hier machte sich Leonard so breit, wie es eben notwendig war. Er packte seinen Laptop aus und stellte diesen auf einen der freien Metallsitze. Dies würde eine lange und unbequeme Nacht werden, doch er würde sie so produktiv wie möglich nutzen. Hier zu schlafen war viel zu gefährlich, also konnte er schon Vorbereitungen treffen, damit er morgen nicht komplett den Tag aufholen musste. Hoffentlich hielt sein voller Akku auch durch bis zur Abfahrt seines ICEs, in welchem er erst wieder die Gelegenheit des Ladens haben würde.

Es dauerte nicht lange, da war sein Laptop arbeitsbereit, doch dieser musste sich noch einen Moment gedulden, denn erst einmal genoss er den heißen Kaffee, welcher ihn gut durchwärmte. Im Kopf ging er durch, was er schon mal alles machen konnte. Er würde wohl mit den ganzen Diagrammen beginnen über die Verkaufszahlen und die Ausgabezahlen. Dicht gefolgt von der derzeitigen Marktlage und wo er mit dem Unternehmen stand. Im Anschluss würde er sich wohl an die Präsentation machen und die ganzen Folien erstellen. Danach konnte er, sofern sein Gerät hier eine brauchbare Verbindung zum Internet herstellen konnte, sich noch ein wenig belesen. Irgendwas würde auch an Weihnachten geschehen in der Politik und Wirtschaft, außer diesen Standard Weihnachtsgrüßen. Den halbleeren Becher stellte er auf den anderen Platz in seiner Nähe und packte dazu noch seine Tüte mit Brötchen und einer Streuselschnecke. Anschließend griff er nach seinem Laptop und zog sich diesen auf den Schoß.
 

Die Gestalten im Bahnhof wurden immer weniger und keiner von diesen hatten sich direkt zu ihm auf das Gleis verirrt. Das Tippen und Klicken war das Einzige, was mittlerweile zuhören war und gelegentlich fragte sich Leonard, wie weit man es wohl hören konnte. Schließlich schallte es immer auf einem Bahnhof. Unsinn, sein Getippe war sicher nicht einmal 50 Meter weit zuvernehmen.

Ein wenig müder geworden griff er zu seinem mittlerweile kalten Kaffeerest und trank ihn in einen Zug leer. Kalter Kaffee schmeckte ihm weiß Gott nicht, doch er brauchte das Koffein aus diesem, um nicht einzuschlafen und im schlimmsten Fall den Zug zu verpassen. Ein Blick auf seine teure, mit goldenen Ziffernblatt bestückte, Armbanduhr verriet ihm, dass es 2 Uhr morgens war.

"Noch 5 Stunden", seufzte er leise und rieb sich die Augen.

Diese dämliche Bahn, immer wieder das Gleiche. Er würde sich wohl doch nach einem vernünftigen Auto umsehen müssen. Dass sich überhaupt noch jemand in der Politik oder bei dem Unternehmen Bahn wunderte, dass fast niemand auf ein Auto verzichten wollte. Diese Firma war doch selbst Schuld. Klar ein paar Ausfälle würde es immer geben oder ab und an mal Verspätung. Aber das hier? Das grenzte an reiner Schikane und schrie nach einer absoluten Fehlplanung.

Als er dabei war, sich innerlich noch weiter in das Thema Bahnfahren hinein zu steigern, klopfte es an der Glasscheibentür. Wer war denn um diese Uhrzeit hier und klopfte dann auch noch an? Die Polizei? Sein Blick wanderte zu der Tür und machte ein ältere Frau ausfindig, welche entschuldigend lächelte und nun die Tür öffnete.

"Entschuldigen Sie, ich dachte mir ich klopfe an, bevor Sie sich noch erschrecken. Darf ich hinein kommen?"

Leonard zuckte nur gleichgültig mit den Schultern.

"Dies ist ein freies Land, natürlich dürfen Sie."

Während Leonard versuchte sein eingenommenes Reich ein wenig zu verschmälern, setzte die Dame noch ein Danke hinterher und hievte dann einen kleinen Reisekoffer durch die Tür, welcher schon den Stempel Museumseigentum hätte tragen müssen, laut seiner Meinung. Die Frau selbst schien, wenn er sie nun so richtig besah, auch aus irgendeiner Zeitschleife gekommen zu sein. Die Kleidung erinnerte ihn an ein Bild, welches Frauen bei der Feldarbeit zeigte. Er hatte es vor ein paar Tagen in dem einem Museum gesehen. Die Frauen, die auf besagten Bild abgebildet waren, lebten um 1850. Doch diese Frau schien ihm grade mal um die 60 Jahre alt zu sein. Vermutlich gab es grade wieder so ein Retro-Modezeug von dem er nichts mitbekommen hatte oder aber sie hatte nur ein unglückliches Händchen für Mode oder einen schlechten Geschmack. Noch einmal wanderte sein Blick zum blau-karierten, bodenlangen Kleid der Frau, welches bis zum Hals hin geschlossen war und oben im Halsbereich eine kleine weiße Spitze aufwies. Ab dem Hüftbereich fiel es breit auseinander. Über dem Kleid trug sie einen grauen Mantel, welcher jedoch in keinster Weise irgend einen wirklichen Schnitt aufwies, geschweige denn warmhaltend wirkte. Nach Leonards Meinung hätte die Frau frieren müssen.

"Frohe Weihnachten wünsche ich Ihnen auch", sagte die Frau dann und Leonard blinzelte leicht.

"Ähm, was? Ach ja. Gleichfalls", nuschelte er mehr hervor und lenkte seinen Blick wieder auf den Bildschirm seines Laptops.

Dessen Akkustand, trotz Energiesparmodus, war bereits auf 50 Prozent runter. Wahrscheinlich würde er doch nicht die ganze Nacht durchhalten. Wieso hatte er sich nicht noch irgendwas zu lesen gekauft? Was sollte er denn machen in den letzten Stunden? Ein Seufzen entwich ihm.

"Schrecklich Weihnachten hier verbringen zu müssen, statt bei der Familie, was?", durchbrach plötzlich die Stimme der Frau die Stille.

Leonard blickte auf und runzelte leicht die Stirn. Begann sie grade Smalltalk mit ihm? Er selbst hatte darauf ja so gar keine Lust. Die Präsentation machte sich schließlich nicht von alleine. Doch, da sie ihn so erwartungsvoll ansah, gab er sich einen Ruck.

"Hier festzusitzen ist wirklich schrecklich, aber das ist es immer, ganz gleich welcher Tag es ist."

"Das stimmt, man fühlt sich machtlos. Aber ich finde an Weihnachten ist man hier nicht nur machtlos, sondern auch einsam."

"Kann ich nicht bestätigen, ich mag die Leere hier an sich. Allerdings wäre ich lieber zu Hause in meinem Büro."

Er fragte sich, wieso die Frau überhaupt hier fest saß. Normalerweise fuhren doch ältere Familienmitglieder rechtzeitig los und nicht erst an den Feiertagen. Zu mal viele die Bescherung schon gestern am Heiligabend gemacht hatten und nicht heute am 1. Weihnachtsfeiertag. Doch wer wusste schon, aus welchem Grund sie hier nun hockte.

"An Weihnachten im Büro?", fragte sie dann ungläubig und Leonard spürte, wie sein Körper ein Augenrollen zu unterdrücken begann, als er bestätigend nickte.

Ja, er verbrachte Weihnachten lieber im Büro. Niemand verstand es und es war ihm egal, aber es nervte wenn diese Blicke kamen. Ja, genau dieser Blick, welchen sie ihm nun auch entgegen brachte. Er brauchte kein Mitleid. Wieso sahen ihn alle mitleidig an? Nur weil er eine andere Meinung von Weihnachten hatte?

"Und... und ihre Familie?"

"Interessiert mich nicht. Hat sie noch nie."

"Aber ihre Frau und..."

"Ich habe keine Frau oder dergleichen. Hören Sie, es tut mir Leid, dass Sie hier festsitzen und nicht bei ihrer Familie sind, aber ich habe wirklich kein Interesse daran über Weihnachten und all dem drum herum mit Ihnen zureden. Ich habe zu tun."

"Oh, ja, natürlich. Entschuldigen Sie, ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten."

Mit einer Geste nahm Leonard die Entschuldigung der Älteren an und widmete sich dann wieder seinem Laptop. Zu seinem Tippen gesellte sich, wenige Zeit später, ein leises aneinander Klacken. Als er seinen Blick hob, sah er, dass sein Gegenüber begonnen hatte zu stricken. Sehr schön, endlich Ruhe, dachte er bei sich und fuhr fort.
 

Müde gähnte er auf und hielt sich schnell noch die Hand vor dem Mund. Die Präsentation war fast fertig, aber nun war es ausgerechnet sein Laptop, der ihn in seiner Arbeitswut ausbremste. Der Akkustand war rapide hinunter gegangen, obwohl er sich vergewissert hatte, dass keine großen Programme im Hintergrund liefen. Es blieb ihm also keine andere Wahl, als die bisherige Präsentation zu speichern und den Laptop herunterzufahren, ehe dieser es von alleine tat. Die ältere Dame saß immer noch da und strickte, wenn gleich dies immer langsamer von statten ging. Anscheinend forderte auch bei ihr die Müdigkeit ihren Tribut. Das Zippen des Reißverschlusses von Leonards Laptoptasche ließ sie jedoch aufhorchen.

"Verzeihung, ich wollte Sie nicht erschrecken."

"Oh, das haben Sie nicht, junger Mann. Sind Sie fertig mit ihrer Arbeit oder machen Sie nur eine Pause?"

"Es ist eine Mischung aus beiden. Der Akku ist fast leer."

Langsam richtete sich Leonard von dem Metalsitz auf. Nun erst merkte er, wie steif sich seine Glieder anfühlten und wie unbequem das Sitzmobiliar gewesen war. Wahrscheinlich hatte sich das Gitter bereits in seine Pobacken eingraviert für die nächsten Tage.

Ein wenig ungelenk tätigte er einige Schritte im Raum, bis sich das Gehen nicht mehr fremd in den eigenen Beinen anfühlte. Auch schrie sein Rücken danach ein wenig durchgestreckt zu werden und auch eine kleine Dehnung durchzuführen. Irgendwie war die Kälte doch mehr in ihn eingedrungen, als er gedacht hatte.

"Wieso ziehen Sie die Arbeit ihrer Familie vor? Verzeihen Sie, dass beschäftigte mich die ganze Zeit. Ich verstehe es einfach nicht."

Leonard sah zu der Dame herüber, er hatte wahrlich nicht vor dies im Detail zu erörtern, schon gar nicht mit ihr, einer Wildfremden.

"Das geht Sie nichts an", antwortete er barsch und deutete dann auf seine Habseeligkeiten, "Können Sie kurz einen Blick darauf haben?"

"Natürlich... ."

Leonard verschwand aus diesem unmöglichen Gesprächsbeginn, folgte dabei den Lichterketten, welche an den Informationstafelstangen angebracht waren, zur nächsten Treppe. Wieso konnte es eigentlich niemanden egal sein, wie andere Leute lebten, dachten oder handelten? Wieso musste sie verstehen können, wieso er Weihnachten lieber mit Arbeit verbrachte, als mit der Familie? Familie, pah, wer brauchte so was schon? Wenn er wirklich mit jemanden kommunizieren wollte, konnte er das mit seinen Freunden und Followern auf Facebook, Twitter und Co.
 

Er klatschte sich ein wenig kaltes Wasser ins Gesicht, um wenigstens ein wenig wacher wieder zu werden und um sich etwas frischer zumachen, nachdem er mit dem Toilettengang fertig gewesen war. Diese waren wohl vor kurzem erst gereinigt worden. So sauber erlebte man öffentliche Bahnhofstoiletten wohl wirklich nur um diese Uhrzeit. Sein Spiegelbild sagte ihm, dass er ziemlich müde und fertig aussah. Vielleicht würde er sich in seinem Zug doch erst zu einem Nickerchen herablassen und dann weiter arbeiten. Sein Blick glitt zur seiner Armbanduhr 3 Uhr morgens. Es war wirklich nur eine Stunde vergangen? Wie frustrierend. Wieso war die Zeit zu erst so schnell vergangen und nun kroch sie in Schneckentempo vorwärts?

Leonard straffte die Schultern und ließ die Toiletten hinter sich.
 

"Wenn Sie auf Toilette müssen, sollten Sie jetzt gehen. Sie sind derzeit sehr sauber und weit und breit ist auch niemand zu sehen", sagte Leonard zu der Frau, als er zurückkehrte.

"Oh, danke für den Hinweis. Es wundert mich nicht, dass keiner außer uns hier ist."

Schließlich war Weihnachten. Ja, natürlich. Leonard nickte verstehend, sodass sie nicht detaillierter werden musste.

"Als was arbeiten Sie?", begann die Frau wieder ein Gespräch.

Das gestrickte Werk auf ihrem Schoß, nahm langsam die Form eines Pullovers an.

"Ich leite eine international agierende Firma."

"Wirklich? Das ist wahrlich beeindruckend. Ihr Eltern sind sicher stolz."

"Wer weiß", antwortete Leonard gleichgültig.

Die Frau legte den Kopf schief. Ihre Frage stellte sich schweigend in den Raum hinein. Eine Antwort noch stärker fordernd, als so manch offen gestellte Frage.

"Wieso sind Sie noch nicht bei ihrer Familie?", versuchte er die Antwort auf ihre Frage zu umgehen.

Insgeheim hoffte er, dass wenn er so dreist neugierige Fragen stellen würde, es ihr selbst unangenehm sein würde. So ganz daran glauben, tat er allerdings selbst nicht, dafür war die Dame einfach viel zu mitteilsam.

"Nun, weil meine Tochter mich sehr spontan eingeladen hat", erklärte sie.

Leonard runzelte die Stirn, doch noch ehe er fragen konnte für sie fort.

"Wir hatten kein besonders gutes Verhältnis mehr zueinander, nachdem ich nach dem Tod ihres Vaters einen neuen Mann an meine Seite nahm. Die Streitereien häuften sich, wegen Nichtigkeiten. Bis... bis es irgendwann zu dem bekannten Tropfen kam, der das Fass zum überlaufen brachte. Sie war grade 18 Jahre alt und zog aus. Sie ließ nichts zurück, nicht mal einen Abschiedsbrief. Nach Jahren sah ich sie wieder, entschuldigte mich für alles und wollte einen Neubeginn. Doch sie tat, als wäre ich eine Fremde."

Leonard biss sich kurz auf die Unterlippe, schwieg jedoch, sodass die andere fortfuhr.

"Dann kam ihr Anruf ganz überraschend gestern Nachmittag. Wir haben geredet sehr viel, so viel wie sonst vor Jahren, als ihr Vater noch lebte. Sie erzählte mir, dass ich Großmutter nun sei und ob ich nicht zu ihr kommen möge, damit wir zusammen Weihnachten feiern könnten. Als Familie."

Stille legte sich über die beiden. Was die Dame dann getan hatte, war mehr als logisch nachvollziehbar und musste nicht weiter ausgesprochen werden.

"Und Sie?", fragte sie dann leise nach einer Weile.

In Leonards Gesicht merkte man, dass es in ihm zu arbeiten begann. Hin und her gerissen zwischen dem Drang zu reden und dem Willen zu widerstehen.

"Ich hasse meinen Vater."

"Hassen? Das ist ein sehr hartes Wort... ."

"Es ist aber so. Es ist egal gewesen, was ich tat, es reichte ihm nicht. Im Gegensatz zu meinen zwei Brüdern. Für ihn zählten nur Einsen, jede andere Note war nicht gut genug für ihn. Es war nicht immer leicht die blauen Flecken oder Schrammen zu erklären vor den Lehrern und den Klassenkameraden. Denn trotz Schminke schimmerten sie immer mal wieder durch. Meine Kindheit verbrachte ich oft eingesperrt in meinem Zimmer und trotz all meiner Bemühungen, reichte es selten für die gewünschte Note."

"Das... ist ja furchtbar. Hat denn ihre Mutter nie etwas dagegen getan oder jemand anderes?"

"Meine Mutter? Sie hat meist einfach nur die Augen verschlossen, weil sie sich einredete, dass es für meine berufliche Zukunft nur das Beste sei. Lediglich, wenn mein Vater zu etwas anderem greifen wollte, als zu seinem Gürtel, schritt sie ein. Die Lehrer waren zwar oft sehr misstrauisch geworden, doch irgendwie schaffte ich es immer sie davon abzuhalten das Jugendamt einzuschalten. Meist diente die Ausrede, Jungs sind halt Jungs. Von denen erwartet man schließlich so etwas. Wie ihre Tochter brach ich mit 18 Jahren aus dieser Hölle aus. Mein Abitur besaß ich, wenn gleich es nicht das war, welches mein Vater forderte. Von Braunschweig aus, bin ich nachts in München gestrandet und irgendwie blieb ich dann da. Mit einer Ausbildung begann ich, jedoch hielt es mich nach deren Abschluss nicht lange in der Firma. Nach einigen Jahren, in denen ich mich mit Minijobs über Wasser hielt, schaffte ich es endlich eine kleine Firma zu gründen und irgendwie entwickelte es sich dann zu dem, was ich heute habe."

"Und in all den Jahren wollten Sie nie...?"

"Ich überlegte es mir tatsächlich Kontakt aufzunehmen und meinem Vater zu zeigen, was ich geschafft hatte. Ohne ihn. Ohne die ach so lebenswichtigen Einsen auf dem Zeugnis. Ganz allein. Aber... dieser kindische Drang verschwand so schnell, wie er gekommen war. Ich habe gelernt, dass ich ohne meine Familie auch glücklich sein kann."

"Hm..., ich verstehe zwar Ihren Groll, aber.... meinen Sie nicht, dass es nach all den Jahren an der Zeit wäre einen Schritt auf ihre Familie zu zumachen?"

"Vielleicht...", sagte Leonard nach einer ganzen Weile des Schweigens, in welcher die Dame gewiss schon nicht mehr mit einer Antwort gerechnet hatte.

"Ich wünsche Ihnen mit ihrer Tochter und deren Familie auf jeden Fall viel Erfolg und alles Gute", fügte er dann an.

"Danke. Ich hoffe, Sie finden auch bald zu ihrer Familie zurück. Ich denke ihre Mutter wird Sie sicher sehr vermissen."

Leonard sah die Dame an, während er sich in seinem Stuhl zurück lehnte.

Gewiss wird sie das, dachte er bei sich und schloss die Augen.

Sein Inneres fühlte sich aufgewühlt an, nachdem er all das Vergangene hervor gezogen hatte. All die Bilder flackerten vor seinem geistigen Auge auf. Auch die Bilder seiner weinenden Mutter kehrten zurück, als er mit seiner Reisetasche, dort drin alles Wichtige was er besaß, zur Haustür hinaus ging. Hörend, wie sie zu erst seinen Vater anflehte ihn aufzuhalten und ihm dann selbst nach rannte. Ihn um Verzeihung bat für ihr jahrelanges Augen verschließen, ihn bat zu bleiben und sie nicht zu verlassen. Doch er war gegangen, ohne auf sie einzugehen. Ohne ein Lebewohl. Ohne ein einziges nettes Wort.
 

Das Quietschen dicht an seinen Ohren ließ ihn hochschrecken. Er drehte sich um und erblickte einen ICE. Ein Blick auf die Armbanduhr ließ ihn hellwach aufspringen. Es war 7 Uhr und so eben war sein Zug eingefahren. Im Bahnhof herrschte bereits wieder reges Treiben, hier und da waren Menschen mit riesigen Geschenktüten unterwegs, um den ersten Weihnachtsfeiertag bei dem anderen oder nun eigenen Familienteil zu verbringen. Leonard konnte es immer noch nicht fassen, dass er wirklich eingeschlafen war. An die ältere Dame erinnerte er sich schon gar nicht mehr, als er seine Sachen hektisch zusammen raffte und aus dem Glasabteil heraus eilte.

"Auf Gleis 5 fährt ein ICE 47812 nach Braunschweig Hauptbahnhof. Vorsicht bei Einfahrt des Zuges", zurrte die elektronische Stimme der Ansage einen Bahnsteig weiter.

Leonard, welcher grade in seinen ICE einsteigen wollte, hielt inne. Sein Blick ging herüber zum anderen Gleis, wo sich einige Menschen bereit machten für den kommenden Zug. Er könnte noch schnell hinüber laufen und im Zug den Schaffner oder die Schaffnerin um ein Ticket bitten. Sein Herz schlug schneller und für einen Moment schien die Zeit still zustehen.
 

"Entschuldigen Sie bitte", sprach Leonard den Schaffner an, als dieser mit ihm zusammen eingestiegen war.

"Ja. Wie kann ich Ihnen helfen?"

"Ich suche Wagen 8, dieser sollte eigentlich in diesem Abschnitt halten."

"Oh, haben Sie es nicht gesehen an der Tafel? Wir mussten einige Waggons umstellen. Wagen 8 befindet sich in diese Richtung", sagte der Schaffner und gestikulierte mit den Händen in Richtung rechts von Leonard aus gesehen.

"Sie müssen nur zwei Waggons weitergehen."

"Vielen Dank und frohe Weihnachten", meinte Leonard.

"Bitte. Gleichfalls."

Während Leonard sich zu seinem Sitzplatz vorarbeitete, begrüßte das Zugpersonal alle Anwesenden zur Fahrt nach München.
 

"Ich hatte wirklich geglaubt, er würde zu ihnen fahren."

Eine Frau, im blau-karierten, bodenlangen Kleid mit einem grauen Mantel, drehte sich zu einem Mann mit einem schwarzen Anzug, weißen Hemd, schwarzer Fliege und einer roten Rose im Knopfloch der Brusttasche.

"Für einen Moment sah es so aus, ja", antwortete er.

"Wieso fällt es den Menschen so schwer zu verzeihen? Und wieso stellen sie das Geschäftliche über alles andere? Ich verstehe es nicht... ."

"Das ist nun mal der Lauf der Dinge. Die Welt verändert sich und mit ihr die Menschen. Es bilden sich neue Muster, schleifen sich ein. Es ist schwer aus festgefahrenen Mustern auszubrechen. Sieh dich um, Margarete."

Der Mann drehte sich um und zeigte auf die Leute, die um sie herum durch das Bahnhofsgebäude liefen. Viele von ihnen starrten auf ein Smartphone in ihrer Hand, die deutliche, schöne Weihnachtsdekoration nicht bemerkend. Generell schienen viele von ihnen nicht zu merken, was um sie geschah.

"In der heutigen Zeit schreibt man lieber, statt miteinander zu reden. Starrt auf einen elektronischen Bildschirm und bewundert von da aus Naturbilder, welche man sonst sehen könnte, wenn man aus dem Fenster sehen oder raus gehen würde. Genauso ist man in der heutigen Zeit ohne Geld nichts, man definiert sich damit. Wundert es dich wirklich, wenn der Wert der Familie dann nicht mehr der Gleiche ist? Und zugegeben, bei Leonard kann ich es sogar verstehen, dass ein Verzeihen ein riesiger Schritt ist, den eigentlich nicht er zugehen hat“, meinte der Mann.

„Macht euch keine Gedanken, es wird alles gut“, sprach eine kindliche Stimme zu den Beiden.

Die beiden Erwachsenen sahen zur Seite und ein kleiner Junge in einem schwarzen, enganliegenden Anzug mit bunten Kabeln daran, stand neben Margarete.

„Wie genau meinst du das, Peter?“

Die Iriden des Jungen verschwanden und die leeren Augen begannen weiß zu leuchten.

„Vertraut mir, nächstes Jahr wird alles anders sein. Sie wird ihm die Augen öffnen.“

Margarete sah zu dem Mann herüber, nickte dann aber verstehend. Noch einmal schweifte ihr Blick zu Gleis 2, wo sich nun bereits die nächsten Menschen auf die Ankunft des nächsten Zuges vorbereiteten.

Der Lärmpegel und die Hektik wurden im Bahnhof immer dominanter. Die Frau im blau-kariertem Kleid und ihre Begleiter lösten sich auf im zunehmenden Menschenmeer.



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (0)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.

Noch keine Kommentare



Zurück