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Die Schneekönigin

von

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Lieblingsmärchen und ein Junge

18. Dezember 2003, Hasetsu. Ballettschule von Minako Okukawa
 

„Nishigori, gib mir mein Buch zurück!“

„Ha-Ha, Fetti-chan, kommst nicht ran!“

„Takeshi-kun! Gib Yuuri-kun sein Buch wieder!“

„Wieso?“, schnalzt Nishigori, „Wenn er sich in die Höhe streckt statt in die Breite, dann ko-o-o-auaaaaaa!“

Minako-sensei zieht Nishigori am Ohr, er lässt mein Buch fallen. Als es auf den Boden trifft, knicken einige der Seiten um.

„Die Jüngeren werden nicht geärgert“, tadelt Minako-sensei und Yu-chan nickt eifrig. Ich hebe mein Buch vom Boden auf und betrachte es. Die Knicke in meinem Buch werden nicht mehr weggehen und das, obwohl es gar nicht so alt ist... Es ist mir egal, ob sie Nishigori schimpfen, solange heute sonst nichts anderes als das passiert. Am letzten Tag vor der Winterpause machen wir immer etwas anderes statt den normalen Unterricht und eigentlich freue ich mich darauf, aber es ist schon wieder so ein komisches Gefühl dabei, weil ich mir nie vorstellen kann, wie es ablaufen wird und meistens passiert dann immer etwas, das mich aufwühlt...

Minako-sensei schließt die Schule um die Zeit für eine Woche und fliegt nach Europa. Immer in ein anderes Land; letztes Jahr war sie in Deutschland und davor in Polen. Dieses Jahr hat sie sich für Belgien entschieden, denn an Weihnachten sei es in diesen Ländern am Schönsten. Hier in Japan ist Weihnachten nicht so wichtig, wir feiern vielmehr das neue Jahr. Irgendwann würde ich vielleicht auch einmal gerne nach Europa fliegen, wenn ich erwachsen bin. Minako-sensei schwärmt immer davon, aber noch traue mich das nicht.

Für die letzte Stunde hat sie uns aufgetragen, unsere Lieblingsmärchen mit in den Ballettunterricht zu bringen und sie uns gegenseitig vorzustellen. Es ist eigentlich nichts Schlimmes und ich mag schon Märchen und andere Geschichten, aber es gibt nicht wirklich etwas, das ich besser finde als etwas anderes. Nishigori ist großer Fan von vielen Dingen, je nachdem was gerade im Fernsehen zu sehen ist. Ich schaue das zwar auch, aber ich überlege mir vorher, ob ich etwas gut finden will oder nicht. Denn wenn es meine Lieblingsmärchen wäre, müsste ich sie für mich behalten, weil sie so sicherer ist. Nishigori würde mich doch nur damit aufziehen und dann soll er mich wenigstens mit etwas ärgern, das mir nicht so wichtig ist...

„So, setzt euch alle im Kreis auf den Boden und dann fangen wir an, ja?“, fordert uns Minako-sensei auf. Wir sind zu fünft in der Ballettgruppe und der Kreis ist somit ziemlich klein. Sayo und Mitsu sind Schwestern und wie Yu-chan schon 13 Jahre alt. Takeshi ist zwölf, also ein Jahr älter als ich, und er kommt viel zu selten zum Unterricht, weil er lieber schwänzt und mit seinen Kumpels den Spielplatz in der Nähe unsicher macht. Ich bin lieber drinnen im Ballettunterricht, wo jemand aufpassen kann und Ballett kann ich ganz gut und es macht Spaß. Meine Eltern unterstützen es, aber ich bekomme immer Lampenfieber vor Aufführungen und mache dann viel falsch, weil ich mich nicht traue und es eigentlich können sollte. Ich habe immer den Eindruck, dass es von mir erwartet wird und ich will nicht versagen... Ich möchte auch gerne etwas gut können.

„Yuuri-kun, komm zu mir!“, ruft Yu-chan und klopft mit der Hand auf den freien Platz neben sich. Etwas verlegen setze ich mich neben sie und Nishigori rümpft die Nase. W-wenn sie es mir anbietet, dann setze ich mich gerne. Ansonsten bin ich für sowas zu schüchtern, weil Yu-chan alle mögen und toll finden...

„Gut, dann legen wir los. Yuuri-kun, möchtest du als Erster?“, fragt Minako-sensei und ich fühle mich sofort unwohl und ertappt. Ich bin nie gerne als Erster dran und eigentlich möchte ich überhaupt nicht...! L-lieber als Letzter, wenn keiner mehr aufpasst oder so... Bestimmt bin ich auch schon wieder rot im Gesicht.

„Feigling,“ ruft Nishigori, der sich am Weitesten von Minako-sensei weggesetzt hat, „aber ich weiß es!“

„Kein Wunder, wenn man ihm das Buch klaut“, kontert Yu-chan mit bösem Blick, dann schaut sie zu mir und lächelt. „Ich bin schon gespannt auf deine Geschichte, Yuuri-kun!“

„I-ich habe das hier ausgesucht…“, beginne ich und drehe ungeschickt das Buch herum.

„Awww, ‚König der Löwen‘!“, kommentiert Yuko verzückt.

„Kannste knicken, Katsuki“, motzt Nishigori, aber er sagt nichts weiter, weil Minako-sensei schon wieder böse schaut. Ich weiß, was er denkt. Bestimmt, dass ich wie Simba sein will und Pumba bin, aber das stimmt nicht. Naja nicht ganz. Ein bisschen vielleicht schon... A-aber nur ein bisschen! Simba ist mutig, nicht so wie ich... Ich wäre gerne stärker...

„Jetzt bin ich dran!“, ruft Yu-chan enthusiastisch und zeigt ihr Märchenbuch. Auf dem Titelbild sind eine Winterlandschaft, ein Schlitten und zwei Kinder zu sehen. „‚Die Schneekönigin‘!“

„Ah, das ist ein europäisches Märchen, nicht?“, fragt Minako-sensei anerkennend und Yu-chan nickt wieder. „Magst du es den anderen erzählen? Ich bin sicher, ‚König der Löwen‘ kennt jeder, aber ‚Die Schneekönigin‘ kennen bestimmt nicht alle.“

„Klar!“, sagt Yu-chan und steht auf. Dann beginnt sie die Geschichte zu erzählen: „Es gab einmal einen Spiegel, in dem alles Böse der Welt steckte. Um Zwietracht und das Böse in der Welt sichtbar zu machen, zerbrachen böse Trolle den Spiegel und seine Splitter fielen auf die Erde. Wer einen Splitter ins Auge oder in sein Herz bekam, war fortan böse. So erging es auch Kay, dem liebsten Spielkameraden von Gerda. Kay war nicht mehr er selbst und wurde überheblich. So sehr, dass er eines Abends in den Schlitten der Schneekönigin stieg, die ihn entführte und fortan in ihrem Schloss gefangen hielt. Aus Sorge um Kay macht sich Gerda auf den Weg, ihn aus den Fängen der Schneekönigin zu befreien. Als sie ihn im hohen Norden nach einer lngen Reise findet, scheint es fast zu spät. Aber ihre Tränen können schließlich den bösen Zauber der Schneekönigin brechen und den Splitter entfernen. Danach gehen sie glücklich wieder nach Hause.“

„Keine Liebesgeschichte?“, kommentiert Sayo irritiert mit hochgezogener Augenbraue. Ihre Schwester Mitsu lacht, flüstert ihr etwas ins Ohr und sie kichern.

„Ich mag diese Geschichte, auch wenn es keine Liebesgeschichte ist“, erklärt Yu-chan und streckt ihnen die Zunge raus. „Freundschaft ist auch sehr wichtig!“

„J-ja...“, bekräftige ich und schaue verlegen zu ihr herüber.

„Natürlich! Weiß ja jeder“, übertönt mich Nishigori, aber es klingt nicht überzeugend.

„Du bist ein Troll“, kontert Yu-chan und funkelt Nishigori mit einem bösen Blick an. Dann lächelt sie zu mir und das Herz rutscht mir fast in die Hose. „Du erinnerst mich immer etwas an Kay, Yuuri-kun. Ich bin gerne mit dir befreundet!“

Ich drehe mich sofort beschämt weg. Mein Gesicht muss feuerrot leuchten! Wenn Yu-chan sagt, ich sei für sie wie Kay, dann wäre sie Gerda... U-und das ist ein wirklich schöner Gedanke... Er macht mich schon etwas glücklich und stolz.

„So, Sayo, möchtest du jetzt?“, geht Minako-sensei die Reihe weiter durch.

Während sie ihre Geschichten vorstellt, hänge ich mit meinen Gedanken noch bei Yu-chans Schneekönigin fest. Irgendwie fasziniert mich das Märchen jetzt, wenn Yu-chan mich sogar darin erkennt und mich ihren Freund nennt... Aber wie muss so eine Schneekönigin sein, dass Kay Gerda dafür zurückließ? Ich könnte mir nicht vorstellen, die Freundschaft mit Yu-chan durch etwas anderes zu ersetzen... Es ist ja vielleicht auch ein bisschen mehr wie Freundschaft, zumindest für mich... Vielleicht könnte ich morgen in der Bibliothek der Schule unbemerkt danach fragen? Ich würde es schon gerne wissen, wie Gerda ist und wie die Schneekönigin aussieht...

„Yuuri-kun, hast du zugehört?“, fragt Minako-sensei und ich erschrecke mich. Sayo hat gerade, wie es aussieht, von „Romeo und Julia“ gesprochen und Mitsu hält ein Buch von „Alice im Wunderland“ vor sich.

„E-entschuldigung! Ich hab nicht zugehört... Ich war in Gedanken!“, haspele ich schnell vor mich hin und hoffe, dass es nicht wichtig war und ich keinen Ärger dafür bekomme.

Minako-sensei wirkt interessiert. „So? Was beschäftigt dich denn?“

„W-wie die Schneekönigin aussieht“, nuschele ich, aber lasse den Teil über Gerda sicherheitshalber weg. Das geht auch niemanden etwas an! „A-auf dem Cover ist kein Bild von ihr...“, füge ich noch schnell hinzu, um Yu-chan nicht auf die Idee zu bringen, ich fände die Schneekönigin interessanter als sie...

„Interessiert dich das Märchen?“

Ich nicke stumm.

„Wirklich? Wie cool!“, beginnt Yuko-chan, „Also, so jemand wie die Schneekönigin hat lange, silberne Haare und ist wunderschön. Eisblaue Augen und wo immer sie ist, schneit es. Und sie lebt weit, weit weg im Norden.“

„So jemand gibt’s nicht“,  wirft Nishigori ein und stützt den Kopf gelangweilt auf seine Hand.

„Yuko denkt vielmehr an einen Schneekönig“, antwortet Sayo prompt und Yu-chan errötet.

„Nein!“, streitet sie ihre Aussage ab.

„Du lügst“, bekräftigt Sayo herausfordernd. „Ich hab sein Bild in deinem Hausaufgabenheft gesehen. Du hast es in der Pause aus einer Zeitschrift ganz sorgfältig ausgeschnitten und eingeklebt. Lange, silberne Haare und eisblaue Augen.“ Dann grinst sie und fügt an: „Du stehst auf ihn, gib's zu!“

„Nein!“, wiederholt Yu-chan peinlich verlegen. „Ich stehe nicht auf ihn!“

Nishigori schaut irritiert zwischen Yu-chan und Sayo hin und her. Auch ich fühle mich unangenehm überrumpelt. Irgendwie zieht es unheilvoll in meiner Brust und ich wünschte mir, ich hätte nicht nach der Schneekönigin gefragt... Es gibt einen Jungen, den Yu-chan toll findet? Mit silbernen Haaren und eisblauen Augen?

„Kein Mensch hat silberne Haare“, mault Nishigori. „Gibt nur graue Haare und wenn, dann wär's ein alter Sack.“

„Er wird bald 15“, erwidert Yuko-chan und sieht immer noch verlegen aus. Dann spricht sie weiter: „Und er ist ein sehr guter Eiskunstläufer. Das ist alles.“

Ein Eiskunstläufer? Ich umklammere mein Buch fester. Mir wird gerade zum Heulen zumute... Yu-chan ist die beste Eiskunstläuferin bei uns, sie läuft so toll... Ich bin noch lange nicht so gut wie sie, aber irgendwann wollte ich das genauso gut können... Dass sie nach jemand anderem schaut, der es besser kann als ich, kann ich verstehen, aber... Es macht mich traurig. Und es tut weh...

„Ah, du meinst bestimmt den jungen Viktor Nikiforov, nicht?“, fragt Minako-sensei und Yuko vergräbt sofort ihr Gesicht hinter ihrem Buch. „Dann versteh' ich's natürlich. Er hat unverschämt großes Talent und ist mit knapp 15 schon das Heißeste, was Russland derzeit auf dem Eis zu bieten hat.“

„Wenn er so heiß ist, soll er vom Eis wegbleiben. Schmilzt sonst alles und er geht baden“, lästert Nishigori, weil ihm offenbar nichts Besseres einfällt. Ich hoffe wirklich, dass Yu-chan die Wahrheit gesagt hat und es wirklich nur ums Eislaufen geht, sonst hätte ich nie eine Chance gegen ihn... Wenn ich genug trainiere, könnte ich irgendwann vielleicht besser werden. Vielleicht würde Yu-chan mich dann auch toll finden?
 

Zuhause liege ich auf meinem Bett und starre an die Decke. Meine Gedanken drehen sich immer wieder um Yu-chan und diesen Jungen, der so gut eislaufen kann. Den Namen habe ich vor lauter Aufregung vergessen, aber es war ein ausländischer Name. Ausländer haben manchmal blaue Augen, das weiß ich von den Videos über Ballettaufführungen, die uns Minako-sensei gezeigt hat. Einige der Ballerinen haben auch helle Haare, aber gibt es wirklich Menschen mit langen, silbernen Haaren? Und ein Junge? Hier in Japan haben Jungen normalerweise keine langen Haare. Nur die Mädchen und dann sind die Haare immer schwarz. Man kann Haare zwar färben, aber normal ist das hier eigentlich nicht... Mari-nee-chan trägt ihre seit Neustem blond und es sieht sehr merkwürdig aus. So weit ich weiß hat sie dafür Ärger in der Schule bekommen und sie soll sie jetzt wieder zurück färben, aber wahrscheinlich macht sie das einfach nur ihren Lieblingsbands nach und will die Haare deswegen blond behalten. Die Sänger, die ihr gefallen, haben auch alle blonde Haare und in ihrem Zimmer hängt eine Unmenge von Postern...

In meinem Zimmer hängt kaum etwas. An meinem Bettgestell kleben ein paar Sticker, zum Beispiel vom Hasetsu Ice Castle, die ich mit vier oder fünf dorthin geklebt habe. Aber ich habe auch nicht den Drang, von irgendwem ein Poster aufzuhängen. Über meinem Schreibtisch hängt ein Poster von Pokémon, aber das hängt da bloß, dass Nishigori nicht immer sagt, ich sei so ein Langweiler. Die meisten Dinge mache ich nur mit, weil er gegen mich spielen und gewinnen will, so wie eben Pokémon. Ich habe ein Team von kaum trainierten Pokémon, mit denen ich immer gegen ihn spiele, damit er gewinnen kann. Und dann habe ich die richtig trainierten Pokémon, mit denen ich schon alles gewonnen habe, aber das muss Nishigori nicht wissen. Wenn ich wollte, könnte ich ihn damit auch besiegen. Nur würde er mich dann wieder ärgern, weil er gegen mich verloren hätte. Langweilig sein ist so gesehen einfacher, um mit anderen zurecht zu kommen...

Wieder kehren meine Gedanken zu Yu-chans Märchen zurück. Wenn Kay nicht angefangen hätte, sich für die Schneekönigin zu interessieren, hätte er auch immer bei Gerda bleiben können. Und Yu-chans Freundschaft ist mir so wichtig, dass ich nicht riskieren will, sie zu verlieren... Ich sollte das alles am Besten schnell vergessen und mich Nishigoris Meinung anschließen. Jungs mit silbernen Haaren gibt es nicht. Das ist das Beste und Einfachste... Auch wenn es mich irgendwie ein bisschen interessieren würde, wenigstens zu sehen, ob er wirklich so gut ist. A-aber nur kurz...!



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