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Heldenweihnacht

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Heldenweihnacht

Als eine Straße weiter ein Crêpes-Stand explodierte, fragte er sich nicht mehr, warum Katsuki ihn warten ließ.

Und es war ein Crêpes-Stand, der explodierte. Einen Augenblick lang regnete es Holzschindeln, Fetzen einer rot-weiß gestreiften Markise und, nun ja, Crêpes.

Eine weitere Explosion folgte.

Shoto dachte nicht nach, musste nicht nachdenken, nicht darüber. Er streckte den Arm aus. Das Eis gehorchte, türmte sich auf, bis es über ihn ragte, über die gesamte Breite der Straße.

Jede Schindel, jede Pfanne, jedes noch so kleine LED-Lämpchen, das aufschlug, klirrte. Dazwischen Schreie und Eis. Er zählte. Ein Pärchen direkt hinter ihm. Ein kleines Kind. Rentner. Eine Verkäuferin, die halb irritiert, halb interessiert durch das Schaufenster ihres Ladens starrte. eine Gruppe Touristen mit Smartphone und Selfie-Stick. Zwei Schülerinnen.

Das Klirren erstarb.

Er drehte den Kopf zu den Mädchen, das eine blond und drahtig, das andere mit mehr Zöpfen, als Shoto zählen wollte. U.A.-Schuluniformen. Vermutlich nicht von der Helden-Fakultät oder zumindest erkannte er sie nicht. Die Arme schützend über ihre Köpfe gehoben erwiderten sie seinen Blick. Sie erkannten ihn. Und sie kannten den Drill.

„Ruft die Pro-Helden.“

In seinem Augenwinkel sah er noch, wie die blonde Schülerin nach ihrem Handy griff, doch er war bereits wieder in Bewegung. Das Eis öffnete sich für ihn, gerade weit genug um hindurch zu schlüpfen. Shoto spürte die Kälte auf seiner Haut. Für einen Augenblick drang sie bis unter seine Uniform.

Auf der anderen Seite erwartete ihn Chaos.

Rufe hallten die Straße hinunter, ohne, dass er Wortfetzen hätte ausmachen können. Da waren noch mehr Dachschindeln. Holzlatten ragten aus dem Eis. Einige Meter vor ihm lag die Spitze eines Weihnachtsbaums auf der Straße. Die Kugeln, die nicht zerbrochen waren, funkelten anklagend im trüben Sonnenlicht. Shoto hatte sich bemüht, sämtliche Passanten mit seiner Eismauer abzuschirmen und tatsächlich konnte er diesseits des Walls niemanden sehen. Er schloss die Augen, nur für einen Moment. Atmete durch. Lauschte darauf, wie Wortfetzen immer mehr wie wüste Beleidigungen klangen.

Entschieden trat er aus dem Eis.

So schnell, wie er es sich traute, steuerte er auf die Häuserfront zu seiner Rechten zu und tauchte in den Schatten des nächsten Ladens. Durch die Schaufenster konnte er den Besitzer sehen, der ihn einen Moment lang anstarrte, wie einen Geist. Dann passierte er das Fenster und der Mann verschwand aus seinem Blickfeld.

Sein Puls rauschte in seinen Ohren. Jeder Schritt vibrierte in seinen Knochen. Er konnte immer noch nicht sehen, was geschah. War das wirklich Katsuki? Waren da noch Passanten? Und wie viele Schurken? Das war Katsuki. Warum der Crêpes-Stand? Was war noch explodiert? Es musste Katsuki sein. Sollte er seine Jacke ausziehen? Gab es Verletzte? Schwitzte er bei Temperaturen um den Gefrierpunkt überhaupt genug? Waren da weitere Stimm-

KABOOM!

Eine Wolke aus Staub, Schutt und Weihnachtsbäumen barst aus der Querstraße. Der gesamte Straßenzug bebte. Shoto riss die Arme vors Gesicht.

In den Rauchschwaden zeichnete sich eine Gestalt ab, vornübergebeugt und schwer atmend. Die Haare struppig, die Schuluniform jenseits jeder Rettung. Und um das Schwitzen musste Shoto sich wohl keine Sorgen machen.

Ihre Blicke trafen sich.

„Du bist kein Pro-Held.“

Shoto zuckte mit den Achseln.

„Noch nicht.“

Die Straße zu seiner Linken glich einem Katastrophengebiet. Das, was der Crêpes-Stand gewesen sein musste, war kaum mehr als ein Krater. Die weihnachtliche Lichtinstallation lag in einzelne Lämpchen versprengt zwischen Pflastersteinen und den Hufen irgendwelcher Stoffrentiere. Noch immer wirbelte Sand durch die Luft. Nur Sand. Er flimmerte im Licht der LEDs, die Katsuki überlebt hatten.

Shotos Nackenhaare stellten sich auf.

Der Instinkt, den Dutzende - Hunderte - von Übungen ihm ins Unterbewusstsein gedrillt hatten, übernahm die Kontrolle. Atmen. Die Hände leicht öffnen. Nicht stehen bleiben. Vor ihm. Dächer. Seitengassen. Gullis. Die versprengte Herde Stoffrentiere-

„Wo ist er?“

Es war nicht die intelligenteste Frage, dessen war Shoto sich bewusst, noch bevor Katsuki ihn anblaffte. Es war egal. Sein Freund musste ihn nicht ernst nehmen - nur bestätigen.

Vielleicht wussten sie das beide.

Katsuki blaffte trotzdem.

„Mach die Augen auf, du Idiot!“

Mehr brauchte er nicht.

Shoto riss den Arm hoch, spürte die Kälte unter seinen Fingern. Das Eis folgte seiner Bewegung, kristallisierte unter seiner Hand wie feine Nadeln. Er konnte nicht sehen, was einschlug. Es hätten feine Partikel sein müssen, nicht mehr als ein kaum hörbares Knistern.

Das, was einschlug, war alles andere als ein leises Knistern.

Das Eis klirrte unter dem Schlag, vibrierte, splitterte. Metall, möglicherweise. Vielleicht auch Stein.

Ein zweiter Hieb folgte. Der Vibration nach zu urteilen, würde sein Schild nicht reichen, bis die Pro-Helden eintrafen. Natürlich nicht. Aber es war auch egal. Er kaufte ihnen genügend Zeit, um sich zu formieren. Shoto sah Katsukis Bewegungen nur in seinem Augenwinkel, doch er spürte ihn in seinem Rücken, wusste, dass er die Hand hob.

„Das macht er seit drei Blöcken“, schnarrte sein Freund hinter ihm. „Immer, wenn ihn eine meiner Explosionen killen muss-“

Ein weiterer Hieb. Der Schild hielt - noch.

„Denkst du, du schaffst es dieses Mal?“

Rauch stieg über Katsukis Fingerkuppen auf.

„Was stellst du denn für dämliche Fragen, du Trottel? Den pust’ ich bis zum Uranus!“

„Auf mein Kommando. Drei. Zwei-“

Shoto drehte sich weg.

Er hörte Katsukis Attackennamen nicht einmal.

Um ihn herum explodierte die Welt. Eis barst. Eine Druckwelle fegte über ihn, ließ ihn das Klingeln in seinen Ohren hören, das mittlerweile vielleicht ein wenig zu vertraut war. Splitter prasselten über seine Uniformjacke und einen Moment lang war er froh, sie nicht ausgezogen zu haben.

Dann fluchte Katsuki.

Shoto fragte nicht, musste nicht fragen. Er ließ sich einfach fallen.

Etwas, das wie ein Messer klang, pfiff über ihn hinweg. Er drehte den Kopf, sah im Augenwinkel noch eine Kante, eine Klinge, schwarz und jeansblau und glitzernd und definitiv kein Metall, dann eine Hand, eine Bewegung-

„AP Shot!“

Die Klinge stob auseinander. Hauchfeiner Sand wirbelte durch die Luft, funkelte einen Moment lang wie Staub im Sonnenlicht. Nicht wie Staub im Sonnenlicht blieb er in der Luft, stieg sogar noch höher, unbeeindruckt von Gravitation und Wind und allem, was Katsuki nach ihm feuern konnte.

Katsukis Hand schob sich in sein Blickfeld. Ohne eine Aufforderung griff er danach, spürte die Hitze des anderen und den leichten Schweißfilm auf seiner Haut. Während sein Freund ihm aufhalf, starrten sie beide nach vorne.

Dieses Mal sah Shoto es, verstand er es, statt es nur zu erahnen. Er wirbelte herum, riss die Hand hoch, noch bevor ihr Gegner sich neu formieren konnte. Das Eis folgte seinem Befehl, schoss hoch. Klirrend kristallisierte es zu schmalen Reihen. Eins. Zwei. Drei. Der Sand wirbelte mühelos um die Zacken herum, eine Wolke aus schwarz und blau, formte Konturen - Gliedmaßen - die im nächsten Moment wieder auseinanderstoben.

Er tauchte hinter Katsuki in Deckung.

Gab es ein Zeitlimit? Wenn ja, hatte es sein Freund noch nicht gefunden. Also möglicherweise nicht. Wahrscheinlich etwas anderes. Körperkontakt, vielleicht. Temperatur, Kälte, Hitze. Es musste etwas geben, aber sie hatten keinen Spielraum, weder für Experimente, noch um auf Zeit zu spielen.

Shoto streckte die Finger und atmete tief durch, entsann sich zurück an den Unterricht der letzten Monate. Eine ganze Reihe von Aizawa-senseis Ratschlägen hallte in seinem Hinterkopf wieder, doch es war sein Naturkundelehrer aus der Grundschule, an dessen Worten er schließlich hängen blieb. Seine Heldenuniform vermisste er schon jetzt, nicht nur wegen der temperaturregulierenden Jacke.

Wenn Katsuki ihren Gegner nicht klein gebombt bekam und sich nicht bald ein Pro-Held hier blicken ließ, dann hing es von ihm ab.

Er ballte die Hand zur Faust. In der Bewegung konnte Shoto fühlen, wie ihm die Kälte langsam in die Finger kroch. Sie würde sich weiter ausbreiten, wenn er sie nicht durch sein Feuer regulierte, aber das verlangte Timing.

Shoto biss die Zähne zusammen.

Die Feuchtigkeit in der Luft folgte seinem Befehl und kristallisierte, keine zwei Meter hinter ihnen. Er konnte Sand gegen Eis prallen hören.

„Du weißt, dass mir kalt wird, ja?!“, blaffte Katsuki über den Lärm seiner eigenen Explosionen hinweg.

Als Antwort zuckte er nicht einmal mit den Achseln.

„Halt ihn mir vom Leib.“ Shoto öffnete und schloss die Hand mehrfach hintereinander, um zumindest ein wenig Temperatur in seine Finger zurückzutreiben. Der Erfolg blieb mäßig und kribbelte. „Oh und kannst du wenigstens einen Teil der Eissäulen stehen lassen?“

Einen Moment zögerte Katsuki, doch es war schwer zu sagen, ob er die letzten Jahre in Physik Revue passieren ließ oder nur darüber nachdachte, ob es sich nicht mehr lohnte, einfach den ganzen Straßenzug zu sprengen. Ihre Ellenbogen stießen aneinander.

„Welche?“

„Die rechts.“

„Welches rechts?“

Statt zu antworten, riss Shoto die Hand und mit ihr einen Eiswall hoch.

„Ah, dieses rechts.“ Katsuki machte einen Satz an ihm vorbei. „Gotcha.“

Hinter dem KABOOM!, das seinen Worten folgte, duckte Shoto sich weg. Sein Weg führte ihn zwischen die Eissäulen, auf die Suche nach etwas, das er nutzen konnte. Da waren die Schaufenster, zu seiner Rechten, doch die Shoppingmeile war für ihre winterliche Lichtinstallation berühmt, nicht für ihre Heldenaustattung. Die Rentiere, über die er zwischen den Säulen beinahe stolperte, verwarf er ebenfalls. Sein Blick glitt zu Boden. Keinen Meter weiter verschwand ein Metalldeckel beinahe zwischen dem Straßenpflaster, in das man ihn eingelassen hatte. Die Gravur war alt und durch hunderttausende von Schritten abgetragen, das Motiv, das man in das Metall gezeichnet hatte, nur noch verwaschen zu sehen. Shoto erkannte die Schriftzeichen, die man kunstvoll neben dem kleinen Feuerwehrauto integriert hatte, dennoch. Also kein Gully. Perfekt.

Er machte einen Schritt zur Seite.

„Hey! Sprengkopf!“, rief er und deutete auf den Metalldeckel, ohne sich sicher zu sein, dass Katsuki ihn überhaupt sah. „Leih mir mal eine Hand!“

Einen Moment lang antwortete ihm Stille, dann - BOOM!

Die Explosion schoss zwischen zwei Eissäulen hindurch und nur wenige Zentimeter an ihm vorbei. Der Aufprall riss den Deckel aus seiner Halterung und katapultierte ihn in die Luft. Irgendwo hinter ihm schepperte er über Eis. Wasser folgte ihm, mit genügend Druck, um in einem Strahl einige Meter über ihn hinweg zu schießen.

Volltreffer.

Er streckte die Hand aus, gerade so weit, dass seine Fingerkuppen noch keine Spritzer des Löschwassers berührten. Seine Fähigkeit, vorsichtig dosiert, erledigte den Rest. Als erstes gefror die Feuchtigkeit in der Luft und wirbelte in kleinen Flocken an ihm vorbei. Mit jedem Grad, den die Lufttemperatur um ihn absank, schlossen sich mehr Wassermoleküle an, bildeten Körner, bildeten Klümpchen und Flocken, stiegen, vom Rohrdruck beschleunigt, immer höher. Diverse Meter über ihm verließ sie der Schwung, drehte sich ihr Parabelflug, ließ sie über Dächer und gegen Fenster klirren.

„Ey Alter!“, hörte er Katsuki über das Scheppern hinweg, „Ich dachte, du bist ein Held, kein Wetterphänomen!“

Tsk.

Shoto antwortete nicht. Was auch immer er hätte sagen können - es wäre ohnehin in der nächsten Explosion untergegangen. Es war auch nicht wichtig. Die Luft um ihn herum wurde kälter. Immer mehr Wasser kristallisierte, bis ein dichter Eisschauer ihn umgab. Ladenfassaden sah er schon länger nicht mehr, aber mit Glück hielt das Schaulustige fern.

Langsam ließ der Wasserdruck nach, der aus dem Hydranten nach oben schoss. Die Explosionen indes kamen näher. Ihr Schurke wusste, dass er in Schwierigkeiten steckte.

Die Hand weiter vor den Wasserstrahl gerichtet, drehte Shoto sich um. Dunkle Schemen schimmerten durch das Eis. Er spürte seine Finger kaum noch. Jetzt das richtige Timing-

Der Stoß traf ihn unvorbereitet.

Er hörte den Knall, der ihm voraus ging, noch. Dann explodierte ein dumpfer Schmerz in seiner Schulter. Shoto rutschte, fiel, sah noch den Schatten-

Der Aufprall trieb ihm die Luft aus den Lungen. Blut rauschte in seinen Ohren. Einen Moment lang tanzten Sterne vor seinen Augen. Irgendetwas lag auf ihm, wie ein warmer, schwerer Sack, wälzte sich von ihm, griff nach ihm. Nur verspätet verstand er, dass das Katsuki sein musste.

„Was auch immer dein Plan war“, grollte es über ihm, während er auf die Beine gezogen wurde, „er ist Scheiße!“

Shoto atmete durch.

Sein Blick glitt nur kurz zu dem Hydranten. Ein dicker Eispfropfen blockierte das Rohr, bis auf die Höhe, auf der Shotos Finger durch den Wasserstrahl geglitten waren.

Egal.

Es musste so gehen. Da waren immer noch dunkle Schemen im Eisregen.

Er legte seine Hand auf Bakugos Schulter. Den Stoff seiner Uniform spürte er nicht, seine Körperwärme auch nicht. Auch egal. Entschlossen trat er an ihm vorbei.

„Ich bin auch noch nicht fertig.“

Noch während er sprach, hob er die andere Hand.

Die ersten Flocken verdampften mit einem leisen Zischen, als sie seine Haut berührten. Hinter ihm verstand Katsuki den Wink. Shoto hörte kaum, wie er weiter zurücktrat, fokussierte seine Konzentration stattdessen nach vorn, auf die Schemen, auf seine Hand, auf die Flammen, die aus seinen Fingern züngelten. Eine geisterhafte Klinge erschien im Eis, nur wenige Zentimeter von ihm entfernt, glitt durch Flocken und Kristalle, berührte ihn gleich-

Dann explodierte die Welt und dieses Mal war es nicht Katsuki Bakugo.

 

 
 

💥💥💥

 

 

Eis barst. Schneeflocken brodelten. Sein Ärmel brannte. Eine Klinge glitt an seiner Wange vorbei, schnitt durch dicken Uniformstoff über seiner Schulter und kratzte über die Haut darunter. Es war das letzte, das Shoto von seinem Feind sah. Als die Flammen schließlich erstarben, taten sie es in einem dicken Nebel. Letzte Fetzen seines Ärmels wirbelten glimmend an ihm vorbei. Die Luft war schwer, heiß und feucht. Jede Bewegung schmerzte, von seiner Lunge bis hinab in seinen ausgekühlten Arm, in den das Leben nur langsam zurückkehrte.

Shoto nahm einen tiefen Atemzug, dann trat er vor. Einen Schritt, noch einen. Er brauchte drei Schritte, vier, dann sah er den ersten Sand. Nass und schwer zog er sich in Schlieren über das Straßenpflaster, sammelte sich, wand sich, formte sich. Der Bodenkontakt riss nicht ab. Zu warm, zu feucht. Schlieren wurden zu dunklen Lederstiefeln, dunklen Jeans, geröteten Händen, schmerzverzerrtem Stöhnen-

„Ist er endlich hin?“, grollte eine Stimme hinter ihm. „Sag mir, dass er hin ist!“

Einen Augenblick später trat Katsuki zu ihm, die eine Hand auf den Schurken gerichtet, mit der anderen betastete er seine Stirn.

„Ey Alter, ich glaube, du hast mir die Augenbrauen versengt!“

„Such sie einfach einen Zentimeter tiefer.“

„Klugscheißer.“

„Ich liebe dich auch.“

Neben ihm schnaubte Katsuki.

„Denkst du, wir müssen dem helfen?“

Shoto öffnete den Mund.

„Das war unverantwortlich!“

Als sie feststellten, dass die Stimme weder zum jeweils anderen noch zu dem Schurken vor ihnen gehörte, erstarrten sie beide. Skeptisch wechselten sie einen Blick, dann drehten sie sich um.

Der Nebel lichtete sich zwar langsam, war aber noch zu dicht, um zuerst mehr als Schemen ausmachen zu können. Shoto konnte einen Schatten sehen, der mit schweren Schritten auf sie zu trat. Nur langsam nahm er mehr Kontur an, wurde breit, groß, massig. Schließlich formte er sich zu einer Gestalt, die ihn vage an amerikanische Nachrichtensendungen aus dem Geschichtsunterricht erinnerten. Grauer Spandex, graue Stiefel aus dem gleichen Material und eine graue Maske, die vom Gesicht nicht mehr übrig ließ, als einen dichten, grauen Schnauzer, ein scharfkantiges Kinn und einen Blick aus kalten, grauen Augen. Das, was sich in diesen Augen spiegelte, war keine Anerkennung.

„Kniveburn“, warf Katsuki ein und gab damit dem Gesicht einen Namen, dem Shoto nur vage eine Agentur zuzuordnen wusste. „War mal in den Top 10. Ist schon ‘ne Weile her.“

„Du!“ Nur wenige Zentimeter vor ihnen blieb der Pro-Held stehen. Er überragte sie beide um einen Kopf. Unter seinem dichten Bart zeichneten sich rote Flecke auf seiner Haut ab. Shoto bezweifelte, dass sie von seinem kleinen Stunt stammten. „Meine Platzierung ist dein geringstes Problem, du Rotzlöffel!“

Katsuki überbrückte die letzten Zentimeter. Vorsorglich trat Shoto einen Schritt zurück. Es wären auch noch mehr Schritte geworden, wäre da nicht immer noch der Schurke gewesen, der stöhnend hinter ihm lag und den Shoto immer noch im Augenwinkel sehen konnte.

„Rotzlöffel?! Ich geb dir gleich Rotzlöffel, du alter Knacker!“

„Wie wagst du es, mit mir zu sprechen?! Euer Handeln war unverantwortlich! Ihr hättet sterben können! Schlimmer noch! Ihr hättet die ganze Straße in Schutt und Asche legen können!“

„Haben wir aber nicht, du Walrossfresse! Und diese scheiß Rentiere waren sowieso hässlich!“

„Als zukünftige Helden ist es eure Aufgabe, Schadensbegrenzung zu betreiben! Nicht den Schaden zu verursachen!“

„Haben wir doch!“

„Das sehe ich!“

„Hätten wir warten sollen, bis er noch wen absticht?!“

„Ihr hättet das den Profis überlassen sollen!“

„Dann hättest du deinen Arsch halt schneller herbewegen sollen!“

Worte flogen. Spucke flog. Beleidigungen folgten.

Umsichtig stieg Shoto nun doch über den Schurken hinweg - auch, um ihn besser im Auge behalten zu können. Er kannte die Phasen von Katsuki Bakugo und die Phase, in der er die Fäuste hob und mit ausgestrecktem Zeigefinger auf seine Opfer zeigte, war nie eine gute. Noch während er überlegte, ob er es sich leisten konnte, die Beiden zu unterbrechen, kristallisierte sich eine zweite Gestalt aus dem Nebel heraus. Sie gehörte zu einem jungen Mann mit blauen Haaren und viel zu dünner, schwarzer Lederjacke. Dem Aussehen nach zu urteilen, konnte er kaum älter sein, als Shoto selbst. Vermutlich ein Sidekick. Vielleicht noch ein Schüler. Er warf Shoto einen knappen Blick zu und zuckte demonstrativ mit den Achseln. Routiniert begann er damit, die Vitalfunktionen und Verletzungen des Schurken zu kontrollieren.

„Wenn ihr zumindest auf jemanden mit einer passenden Macke gewartet hättet-!“

„Dann würden sie immer noch warten, Nigatake-sensei.“

„Halt du dich da ra-!“

Katsuki stockte und mit ihm verstummte auch der Pro-Held. Shoto sah ihm einen Augenblick dabei zu, wie er erfolglos den Mund öffnete und wieder schloss.

„Atsukawa!“

Der Sidekick zuckte desinteressiert mit den Achseln.

„Seine Atmung ist regelmäßig, die Verbrennungen großflächig, aber leicht, und die größten Verwüstungen sind ein gesprengter Crêpes-Stand und eine Herde verendeter Plüschrentiere, Nigatake-sensei.“

„Fall mir nicht in den Rücken! Und im Dienst heißt es Kniveburn, wie oft soll ich dir das noch sagen!“

„Ich denke nicht“, sagte Shoto leise, „dass das der richtige Zeitpunkt ist, um das zu diskutieren.“

Katsuki blickte von einem zum anderen. Shoto sah die Verwirrung in seinen Augen. Niemand ignorierte ihn, das wussten sie beide. Niemand. Nicht so. Und doch. Und doch.

Einen Moment lang glaubte Shoto, die kommende Explosion bereits voraussehen zu können. Doch dann warf Katsuki unvermittelt die Arme in die Luft.

„Macht, was ihr wollt! Mir wird das hier zu dumm!“

Und damit drehte er sich um und stapfte davon.

Zu dritt starrten sie ihm hinterher. Der Pro-Held war der erste, der seine Stimme wiederfand.

„Bleib sofort stehen!“, brüllte er. „Mit dir bin ich noch nicht fertig!“

„Fick dich!“

„Deine Lehrer werden davon erfahren!“

Ohne sich zu ihnen umzudrehen, ohne überhaupt stehen zu bleiben, reckte Katsuki den rechten Arm in ihre allgemeine Richtung. Sein Mittelfinger thronte über allem.

„Ähm“, sagte Shoto leise. Skeptisch blickte er zwischen Katsuki und den beiden Helden hin und her. Er hätte gerne behauptet, dass sein Freund ihm nicht peinlich war - und vielleicht war er ihm das tatsächlich nicht - aber manchmal ... war er zumindest nicht hilfreich. Er verneigte sich eilig. „Es tut mir wirklich ausgesprochen leid, aber er ... ist so.“

„Weniger labern, mehr bewegen!“, brüllte Katsuki und Shoto musste nicht fragen, wer dieses Mal gemeint war.

„Dieser dreiste Bengel!“

„Glaub mir, der“, warf Atsukawa ungefragt dazwischen und deutete auf seinen Mentor, „ist auch so.“

Das Echo folgte prompt, doch Shoto blendete die Empörung des Helden aus. Der Blick, den der Sidekick ihm schenkte, war deutlich genug: Verschwinde, solang der Alte sich nicht an deinen Namen erinnert.

Shoto rang nur einen kurzen Augenblick mit sich.

 

 
 

 

💥💥💥

 

 

 

Er brauchte den Rest des Häuserblocks, um zu Katsuki aufzuschließen.

Der kochte indes immer noch. Ein ganzer Schwall von Beleidigungen, Beschimpfungen und allgemeiner Empörung begleitete sie die nächsten drei Straßen und hinein in eines der höchsten Gebäude des Viertels.

War ihm sein Freund während des Gesprächs mit Kniveburn und Atsukawa noch nicht ernsthaft peinlich gewesen - mittlerweile hätte Shoto viel dafür gegeben, im Erdboden zu versinken, statt ihm in den nächstbesten Fahrstuhl zu folgen. Er folgte ihm dennoch, auch, weil sich kein Loch auftat. Drei Stockwerke später hatte der Monolog alle anderen Passagiere vertrieben.

„Und, was willst du jetzt machen?“, fragte Shoto in einer kurzen Atempause.

Zur Antwort starrte Katsuki ihn an, als habe er sich vor seinen Augen in ein Rentier mit Lichterkette verwandelt. Er öffnete den Mund, doch die nächste Tirade blieb aus. Sie tauschten einen Blick.

Schnaubend warf sein Freund schließlich die Arme in die Luft.

„Das, wofür wir hergekommen sind!“

Das, wofür sie hier gekommen waren? Das- Der Fahrstuhl-

Oh.

Shoto verschränkte die Arme vor der Brust.

„Bist du dir sicher?“, fragte er, bevor sein Freund das Thema ad acta legen und ihn in einem weiteren Schimpfwortschwall ertränken konnte. „Du weißt genauso gut wie ich, dass wir uns nicht hätten entfernen dürfen. Nicht, bevor die Polizei eintrifft und unsere Lizenzen überprüft.“

Katsuki ließ sich gegen die Fahrstuhlwand fallen. Sein Kopf schlug mit einem dezenten Klonk! und einem nicht ganz so dezenten Stöhnen gegen das Metall.

„Und?“, fragte er die in die Decke integrierten LED-Strahler.

„Wenn uns jemand erkannt hat“, und angesichts ihrer Medienpräsenz und Katsukis eindrucksvollem Charakter war die Chance dafür durchaus gegeben, „wird man den Zwischenfall der Schule melden. Aizawa-sensei wird-“

„Pfft. Aizawa-sensei kann mich mal.“

„Aizawa-sensei wird dich mal“, stimmte er seinem Freund mit Grabesstimme zu. Mit einem finsteren Blick in seine allgemeine Richtung lehnte Shoto sich neben ihn, die Arme nach wie vor vor der Brust verschränkt. „Das wird Ärger geben.“

„Na und? Es ist Weihnachten, Shoto.“

„Ja. Weihnachten. Nicht Neujahr.“

Nein, Weihnachten war definitiv nicht Neujahr. Und Aizawa-sensei war nicht All Might. Nur, weil letzterer angesichts der Festtage vielleicht ein Auge zudrücken mochte, war ihr Klassenlehrer ein ganz anderes Kaliber. Und sein Hass gegenüber Lichterketten mochte groß sein, aber nicht so groß.

Schnaubend stieß Katsuki sich von der Fahrstuhlwand ab. In einer harschen Bewegung riss er sich die Jacke von den Schultern. Einen Augenblick lang sah er aus, als wolle er sie ihm ins Gesicht schleudern. Das Display über ihm zeigte den zwölften Stock an.

„Was hätte ich deiner Meinung nach tun sollen?“, fragte er schließlich und deutete seine Jacke tatsächlich drohend in Shotos allgemeine Richtung. „Zugucken? Auf jemand mit der richtigen Macke warten? Jingle Bells singen?“

Shoto öffnete den Mund, verbiss sich den Kommentar dann doch. Allein der Gedanke, wie Katsuki stehen blieb, zusah - und sang - war auf viel zu vielen Ebenen falsch. Er seufzte und schüttelte den Kopf.

„Siehst du. Und was Kniveburn anbelangt, diesen Spinner-“

„Katsuki.“

Sie tauschten einen Blick. Der Zorn in den Augen seines Freundes wich einer gewissen, herausfordernden Belustigung. Sie war so greifbar, dass sie auf Shotos Haut kribbelte.

„Kommt jetzt die Es-ist-Weihnachten-Rede?“

Shoto schnaubte.

„Ich dachte, die bekomme ich von dir.“

Ein leises „Tsk!“ und ein noch leises Lachen antworteten ihm und plötzlich war Katsuki ihm viel zu nah. Shoto konnte seinen Atem spüren, wie er über seine Haut strich.

„Die hättest du dir verdient. Wir hätten draufgehn können.“ Katsukis Grinsen war verschwörerisch, der Situation entsprechend äußerst unpassend - und ansteckend. „Du hättest die verfickten Rentiere grillen können. Oder mich! Und es ist Weihnachten, verdammte Scheiße nochmal. Du hättest wenigstens dieses graue Walross grillen können. Aber nein. Nein.“

Ohne den Blickkontakt zu brechen, ohne sich auch nur einen Millimeter aus Shotos Wohlfühlzone abzurücken, drückte er Shoto seine Uniformjacke gegen die Brust.

„Hier“, verkündete er, ohne die Jacke loszulassen. Auf den irritierten Blick hin, fügte er hinzu: „Dein Ärmel ist im Arsch. Als hättest du wirklich wen wichtiges angezündet. Oder dich. Mögen die hier nicht.“

Bevor Shoto protestieren konnte, stoppte der Fahrstuhl und öffnete sich zum einundzwanzigsten Stock. Die Tür ruckelte einen Moment, dann gab sie den Blick frei auf eine lange Glasfront. Hinter den Scheiben leuchteten Weihnachtsbäume, Sternschnuppen und die Auslagen diverser Restaurants um die Wette. Die Abenddämmerung, die durch die Fenster der Restaurants bis in den Flur strahlte, versprach einen wunderbaren Ausblick. Vielleicht konnten sie sogar die U.A. von hier oben sehen.

Die Frage, was sie ausgerechnet hier oben wollten, stellte sich nicht mehr. Shoto sah das Soba-ya von weitem und verstand. Er griff nach der Jacke.

„Das ist kein KFC.“

„Ist es nicht“, stimmte Katsuki ihm zu. Seine Lippen waren den seinen so nah, dass Shoto die Worte förmlich auf ihnen spüren konnte. „Aber ich habe einen Tisch für zwei in vor fünf Minuten.“


Nachwort zu diesem Kapitel:
Hallo Leute,

danke, dass ihr meine Geschichte gelesen habt. Ich hoffe, sie hat euch gut unterhalten. :)

Was die Anspielung auf KFC anbelangt - in Japan ist es eine lang gehegte Tradition, an Weihnachten bei Kentucky Fried Chicken essen zu gehen. Zu verdanken ist das einer Werbekampagne aus dem 1970ern.

Fröhliche Weihnachten,

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Kommentare zu diesem Kapitel (3)

Kommentar schreiben
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Von:  Kuro_Kami
2022-12-26T23:18:44+00:00 27.12.2022 00:18
Tolle FF. Hat sehr viel Spaß gemacht zu lesen.
Antwort von: Arcturus
28.12.2022 07:33
Danke für deinen Kommentar. :)
Von:  Taigana
2018-12-26T16:38:17+00:00 26.12.2018 17:38
Tolle Fanfic, Katsuki ist ja mal super getroffen worden. Hat spaß gemacht sie zu lesen ~
Antwort von: Arcturus
26.12.2018 17:45
Hey, danke für deinen Kommentar. :)
Von:  _Delacroix_
2018-12-24T01:00:41+00:00 24.12.2018 02:00
Also ich finde Katsuki eigentlich ganz gut getroffen. Dieser Berg aus Beleidigungen und anderen Unverschämtheiten passt sehr gut zu ihm. Und ich freu mich nach wie vor über das Pairing. Ist mal was Anderes und zu dem Stichwort passt es, zugegebenermaßen auch sehr gut.^^
Antwort von: Arcturus
24.12.2018 02:02
Katsuki ist ja auch ein Berg aus Beleidigungen und Cluster-F-Bombs. :D
Danke~


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