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Familientradition

Fanfiction-Adventskalender 2019
von

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Familientradition

"Absolut keine Alternative!", sagte meine Freundin Twonx und rührte mit dem oberen Ende ihres Kulis in einer riesigen Tasse mit der Aufschrift "Fröhliche Scheißweihnachten" herum. "Das sieht kernbescheuert aus. Kein Wunder, dass der Messias sich nicht mehr blicken lässt."
 

Ich drehte ein bisschen an der Plastiktanne, die neben dem Fernseher stand. Es lief eine Spotify-Playlist, in der sich gerade eine Horde krähender Kinder vor Freude über einen Schneemann fast in die Hose pinkelte.
 

"Nicht mal mit meinen großartigen Werbegeschenkkugeln?"

Twonx machte Würfelgeräusche. "Ist noch schlimmer als die Lichterkette. Ich muss vor jeder Tasse Kaffee nachdenken, ob es mir Wert ist, aufs Klo zu gehen und diesem Monster zu begegnen."
 

Twonx und ich kannten uns seit zwei Jahren und wohnten seit sechs Monaten zusammen. Sie lag in den letzten Zügen ihres Studiums und ich hatte gerade meinen letzten schrecklichen Job gekündigt und etwas neues gefunden - 500 km von meiner Heimat entfernt.
 

Im Bezug auf Weihnachten kamen wir beide aus klassischen Familien: echter Baum, echte Kerzen (mit echten Zimmerbränden, verursacht durch echte Katzen!) und Essen bis die Schwarte krachte. Weil uns beiden klar geworden war, dass wir es dieses Jahr nicht so bald gen Heimat schaffen würden, mussten wir für die vorweihnachtliche Stimmung improvisieren.
 

Und weil uns beiden auch klar geworden war, dass unsere läppischen Mäuse nicht für Weihnachten-non-plus-ultra reichen würden, hatten wir den Plan gefasst, weihnachtsmäßig dieses Jahr komplett auszurasten und zwar in die falsche Richtung.
 

Angefangen hatte alles mit Twonx' doofen Kollegen Flori. Der hatte nämlich dieses Jahr beim Weihnachtswichteln in ihrer Lerngruppe eine wahnsinnig witzige Tasse verschenkt: riesig, rotgrüngold und mit einem Rentierkopf als Henkel. Es war eben jene Tasse, in die Twonx gerade einen Kaffee geladen hatte, der sie garantiert zwölfmal zum Lichterkettenmonster schicken würde.
 

Als sie sie nach der Weihnachtsfeier (die fantasieloser Weise Ende November stattgefunden hatte) nach Hause geschleppt hatte, waren wir uns einig, dass das der hässlichste Weihnachtsartikel der Welt sein musste. Der doofe Flori war wahrscheinlich in einem Spezialgeschäft für möglichst schreckliche Geschenke gewesen.

Doch am nächsten Tag entdeckte ich in der Grabbelkiste bei der Arbeit eine LED-Lichterkette mit Tannenbaumanhängern, gefühlt 8 Meter lang - und sie hatte einen Strobo-Modus.
 

Nachdem ich das Monster nach Hause geschmuggelt hatte, wollte ich es Twonx erst großartig präsentieren, hatte dann aber die geniale Idee, es einfach auf einer Höhe im Bad anzubringen, an die sie niemals heranreichen würde.
 

Seitdem war zwischen uns ein kleiner Wettstreit ausgebrochen, wer die Wohnung schlimmer dekorieren könnte. Einzige Bedingung: keine neuen Sachen kaufen (weil Konsum, weil Plastikmüll und weil wir nicht wollten, dass bei Verkäufern dieser Unmöglichkeiten der Gedanke aufflammen würde, jemand bräuchte den Schrott wirklich). Stattdessen wühlten wir uns durch Fundsachenkisten und den Fundus unserer Bekannten.
 

Hauptsache war, dass jedes der Teile ein großer Mittelfinger an das war, was wir an Weihnachten mochten.

Jedesmal sollten wir uns die Frage stellen: können wir mit einem Menschen glücklich werden, der uns auch nur eins davon ernsthaft als Alternative zu unseren geliebten Traditionen anbieten würde?
 

Der aktuelle Gegenstand "in question" war eine silberne Plastiktanne, die kontinuierlich Glitzerstaub regnete, von mir liebevoll geschmückt mit Kugeln, auf der die Logos von verschiedenen Firmen zu sehen waren.

Twonx schaute versonnen in ihre Tasse. "So stelle ich mir die Hölle vor."

"Das heißt, sie darf bleiben?"

"Natürlich, ich hab eben drüber nachgedacht, auf dem Klo zu lernen und da fühlt es sich an wie auf einer Raveparty."
 

"Ich hätte gedacht, das braucht noch etwas Überredungskunst, da hab ich mir das Beste aufgespart", sagte ich und fummelte unten an der Tanne herum.

Twonx stöhnte. "Das einzige, was noch schlimmer sein könnte, wäre, wenn sie sich jetzt Transformer-mäßig in den Coca-Cola-Truck verwandelt!"

Ich drückte einen Knopf und die Tanne sang in einer emotionsfreien 8-Bit-Variante "Jingle Bells".
 

Twonx schnippte mir ein elektrisches Teelicht an den Kopf. "Mach das aus, sonst muss ich hier Glühwein statt Kaffee reintun."

Ich flitzte in die Küche. "Da haben wir doch noch..."

Wir hatten ganz ehrlich versucht, den schlimmsten Glühwein aus dem ganzen Laden zu kaufen, aber schlechter Glühwein war immer noch Glühwein und in dem Punkt hatten wir uns also nicht ganz an unsere eigenen Regeln gehalten.
 

Aber Twonx schüttelte den Kopf: "Ich habe hier einen Reader, der dicker ist als der fünfte Harry Potter, wenn ich jetzt was trinke, schmilzt mein Gehirn."
 

"Du lernst seit Ewigkeiten und es bringt nichts, Zeit für den Alkohol-Test. Vielleicht wird es ja besser."

"Klar, und das nächste Mal probieren wir dann den Einfluss von LSD auf mein Gehirn?"
 

Twonx schnippte ein weiteres Teelicht in meine Richtung, traf aber nur unsere Playmobil-Krippe. Playmo-Josef stürzte von der Kommode und Playmo-Maria blieb als alleinerziehende Mutter zurück. Der Sohn von meiner Arbeitskollegin hatte kein Playmo-Baby besessen, deswegen hatte ich mit einer Erdnuss improvisiert. Wenigstens wurde der Erdnussjesus von einer Armada von Piraten bewacht, die um die Krippe herumstanden.
 

In der Zwischenzeit erwärmte ich eine Flasche "Herzlichen Glühstrumpf" auf dem Herd. Das Zeug war so zuckerhaltig, dass es im erkalteten Zustand praktisch fest war und schmeckte nach Kinderpunsch mit Sirup. Ungleich Kinderpunsch machte es nach zwei Tassen aber auch saubesoffen. Der Ekel schien den Alkohol schneller ins Blut zu treiben. Das Zeug war ein Geschenk von der Tante vom doofen Flori und jetzt glaubte Twonx hartnäckig daran, dass sie die Besitzerin des Spezialladens für Schrecklichkeiten war.
 

Mit gespitzten Lippen schlürfte sie den Glühstrumpf. "Ich glaube, mein Magen fängt genau jetzt an, sich selbst zu verdauen."

Ich ließ die Tanne nochmal Jingle Bells singen und trank auch was.

"Ich glaube, ich sehe keine Farben mehr."

"Fühlt sich hier sicher besser an", antwortete Twonx.
 

"Unsere Vorweihnachtszeit ist echt absolute Scheiße geworden", sinnierte ich. "Und kein Ende in Sicht."

"Man wird aber nicht enttäuscht", sagte Twonx. "Alles ist genauso kacke, wie man es erwartet hat. Ist das traurig?"

"Ich find's eher beruhigend. Wir können hier in Ruhe mit Erdnussjesus und seiner Piratengang abhängen und in der Zeit sorgen unsere Eltern für hundertprozentige Erfüllung unserer Familientraditionen."
 

"Aber wir sind ja nicht mal da!", wandte Twonx ein.

"Ja, ist doch super. Bis Heiligabend sind wir doch eh so ungenießbar wie dieses Gebräu hier. Unsere Eltern halten die Deko-Traditionen ein und wir kommen erst, wenn wir geistig in der Lage sind, uns traditionell weihnachtlich zu verhalten."

"Und das könnten wir jetzt noch nicht?"

"Tu nicht so, ich hab gemerkt, dass du neulich Jesus gefuttert hast und ihn dann einfach ersetzt hast! Wir sind definitiv noch nicht so weit."
 

Twonx guckte schuldbewusst. "Es ist schon Jesus der Vierte."

"Siehst du und das macht nichts, weil wir hier in Antistimmung sind und alles sowieso hässlich ist. Aber stell dir vor, ich würde Massivholzjesus von meiner Mama anknabbern, da wäre aber was los."
 

"Oder ich würde ständig betrunken von Glühwein sein, das mögen meine Eltern gar nicht."

"Wir meckern auch ziemlich oft."

"Ja."

"Ja."

Wir schwiegen eine Weile und nippten am Glühstrumpf.
 

Ich drückte den Knopf und die 8-Bit-Tanne spielte Jingle Bells. Twonx langte in die Krippe und aß zum vierten Mal Erdnussjesus.



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Kommentare zu diesem Kapitel (3)

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Von:  Pureya
2019-12-09T16:55:02+00:00 09.12.2019 17:55
Hammer. Hab sehr lachen müssen, was schlecht ist, weil ich die Geschichte auf Arbeit lese, aber sie ist einfach mega. Freu mich schon sie zu Weihnachten daheim vorzulesen.
Für mich bisher mein Highlight! Klasse Türchen! <3
Von: abgemeldet
2019-12-07T22:46:06+00:00 07.12.2019 23:46
Schön was man im Kalender alles so findet.

Ich habe an einigen Stellen sehr grinsen müssen und finde du hast einen wirklich tollen Humor. :-D

Eine Perle in der Vorweihnachtszeit - herzlichen Glühstrumpf... äääh: Cheers! ;-D
Von:  Kerstin-san
2019-12-07T18:17:09+00:00 07.12.2019 19:17
Hallo,
 
ich finde den OS total witzig. Eine wirklich lustige Idee mal so durch die Vorweihnachtszeit zu gehen und iich mag den Humor deiner beiden Protagonistinnen echt gerne. Ich habe ja auch schon die ein oder andere (in meinen Augen) potthässliche Deko bei mir hier in der Gegend entdeckt und insbesondere diese ganzen permanent blinkenden Lichterketten sind mir ein Dorn im Auge, aber das, was Twonx und ihre Freundin da alles zusammentragen, stellt das ja wohl locker in den Schatten.
 
Ich wünsche den beiden auf jeden Fall eine Menge Durchhaltevermögen bis Weihnachten und dass sie bis dahin noch die ein oder andere Scheußlichkeit auftreiben, die ihre Wohnung bestimmt enorm aufwerten wird ;)
 
Liebe Grüße
Kerstin


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