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All For Myself

von

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Ivan kam ihm entgegen, als Sergeij im Treppenhaus gerade den Wohnungsschlüssel aus seiner Jackentasche gesucht hatte. Er hielt in der Bewegung inne, als er Ivan sah, der unter dem langen Schal und Mantel kaum erkennbar war und es trotzdem schaffte, verdrossen dreinzusehen.

„Die Wohnung ist mal wieder kalt und Yura auf hundertachtzig, der zerlegt grad die Küche, glaube ich“, informierte er Sergeij ohne eine Begrüßung. „Ich hab‘ echt keinen Bock drauf.“

Sergeij zog die Augenbrauen zusammen. „Was ist passiert?“

„Boris“, sagte Ivan kurz angebunden.

Ah. Sie hatten Boris seit gestern Abend nicht mehr gesehen. Er war nicht heimgekommen und irgendwann war auch sein Handy ausgefallen. Es war eine Herkulesaufgabe gewesen, Yuriy davon abzuhalten, nicht in die Nacht rauszustürmen und jeden einzelnen Club in Moskau abzuklappern. „Ist er wieder aufgetaucht?“

„Immer noch betrunken“, bestätigte Ivan, „mit aufgeplatzten Knöcheln. Und sein Gesicht schaut wild aus, meine Fresse, leider kann er sich nicht mehr erinnern, was passiert ist.“

„Ist er daheim?“

Ivan schüttelte den Kopf. „Ich war mit ihm beim Arzt, bevor Yura das Schlimmste gesehen hat, aber als wir zurück sind, haben er und Yura sich trotzdem so fett gestritten, dass er rausgestürmt ist. Keine Ahnung, wo er jetzt ist, ist mir aber auch egal. So ein scheiß Idiot. Beide. Wenn ich du wäre, würd‘ ich jetzt mit mir einen Kaffee trinken gehen und mindestens den ganzen Nachmittag im Café hocken bleiben. Wärmer wär‘s auch.“

Sergeij klopfte ihm auf die Schulter. „Trink’ einen für mich mit. Ich schreib‘ dir, wenn du wieder zurückkommen kannst.“

„Du bist echt zu nett, Seryoscha“, befand Ivan mit einem Kopfschütteln, steckte die Hände in die Hosentaschen und blinzelte zu ihm auf. „Yura ist grad ein richtiges Arschloch, der hat gar keine Aufmerksamkeit verdient.“

„Ich kümmere mich nur um die Heizung“, sagte Sergeij beschwichtigend.

„Wir wissen beide, dass das nicht stimmt“, erwiderte Ivan mit einem Schnauben, dann polterte er an ihm vorbei die Treppen hinunter. 

Sergeij sah ihm nach. Dann blickte er die Wohnungstür an, hinter der gerade etwas gewaltig schepperte, bevor es verdächtig still wurde. Er rieb sich über die Braue, stählte sich und trat zur Tür, um sie aufzuschließen.

Ein dunkler Gang erwartete ihn, aber aus der Küche schien Licht. Die Wohnung war still und tatsächlich so kalt, wie sie es nur war, wenn der Boiler wieder einmal nicht das tat, was er tun sollte. Sergeij zog in aller Ruhe seine Jacke aus, hängte sie auf, klopfte den Schnee von seinen Stiefeln und stellte sie dorthin, wo sie hingehörten, zupte die Handschuhe von seinen Fingern und warf sie mit Schal und Mütze auf die Ablage. Dann gab er sich einen Ruck und marschierte in die Küche.

Zwei Laden waren halb herausgerissen worden. Aus ihnen hatte sich eine Kaskade aus Töpfen, Pfannen und Besteck auf den Boden ergossen, das Basilikum - ohnehin schon länger nur noch vor sich hin röchelnd - hatte sein endgültiges Ende gefunden und lag inmitten der Topfscherben und herausgequollenen Erde. Sergeij betrauerte ihn einen Moment lang, dann sah er zu Yuriy, der in der Ecke zwischen Kühlschrank und Wand am Boden saß, die Knie an die Brust gezogen und das Gesicht in den Händen vergraben.

„Yura“, sagte Sergeij ein wenig hilflos. 

„Die verdammte Lade hat geklemmt“, sagte Yuriy undeutlich hinter seinen Händen hervor. 

„Okay“, sagte Sergeij beschwichtigend, dann suchte er sich vorsichtig einen Weg über das Minenfeld hinüber zu dem winzigen Abstellraum, in dem Yuriy die Putzutensilien angeordnet hatte wie Soldaten in einem Bataillon. Dementsprechend schnell war der Besen gefunden, den Sergeij gleich vorsichtshalber mit in die Küche nahm, um dann erst einmal die Laden zu inspizieren.

„Die verdammten Laden klemmen, die Heizung funktioniert nicht und die eine Fliese im Bad ist jetzt endgültig hinüber“, sagte Yuriy von seiner Ecke aus, „es ist, als würden sie wollen, dass man sie wegwirft.“

Sergeij war sich relativ sicher, dass es hier nicht um die Bestandteile ihrer Wohnung ging, die sich daneben benahmen. Also gab er nur ein Summen von sich und richtete die klemmenden Laden, die nur einen sanften Schubs brauchten, bevor er begann, die Töpfe und Pfannen wieder an ihren Platz zu räumen.

„Ich meine, wie schwer ist es“, murmelte Yuriy vor sich hin, „es gibt nur eine Handvoll Regeln. Nicht auf die gesprungene Fliese im Bad treten, nicht das dreckige Geschirr am Tresen stehen lassen, nicht die großen Töpfe übereinander stapeln. Das ist simpel. Ich verlange nicht viel. Oder?“

„Nein“, versicherte Sergeij und sortierte das Besteck in die entsprechenden Fächer der Bestecklade. 

Yuriy streckte sich und blickte endlich auf, dann rieb er sich über das Gesicht. Unter seinen Augen lagen bläuliche Schatten und da war ein frustrierter, unglücklicher Zug um seinen Mund, der Sergeij einen Stich im Herzen bescherte. Er schloss die Laden, während Yuriy auf die Beine kam und aus einem der Küchenschränke eine Packung Zigaretten holte, um sich damit ans Küchenfenster zu stellen, das glücklicherweise heil geblieben war.

Sergeij zog die Augenbrauen zusammen. „Wann hast du das letzte Mal was gegessen?“

Yuriy antwortete nicht, sondern öffnete lediglich das Fenster und steckte sich eine Zigarette an, um einen tiefen Zug davon zu machen. Sergeij blickte einen Moment lang himmelwärts und betete stillschweigend um Geduld. Dann kehrte er die Überreste des Basilikums zusammen und warf sie fort. Er musterte Yuriy eine Weile und traf die Entscheidung, dass man ihn einen Moment lang alleine lassen konnte.

„Ich sehe mir den Boiler an“, sagte er dennoch.

Yuriy schloss einen Moment lang die Augen. Dann nahm er noch einen Zug von seiner Zigarette und der blaue Rauch ließ seine Züge zu etwas trügerisch Weichem verwischen. „Tu, was du nicht lassen kannst.“

Sergeij hatte das wilde Bedürfnis nach einem Glas Wodka. Stattdessen gab er einen tiefen Seufzer von sich und marschierte ins Bad, um sich dem Boiler zu widmen. Es war ein zäher Kampf, aber nach einer Viertelstunde wurde er mit dem Gluckern belohnt, das die Wiederaufnahme des Boilerbetriebs und damit Warmwasser und Heizung verkündete. Er lauschte dem insistierenden Klopfen der sich ausdehnenden Kupferrohre in ihren Heizungen, dann kehrte er in die Küche zurück. 

Yuriy stand immer noch am Fenster, auch wenn er scheinbar schon längst ausgeraucht hatte. Er schien nicht zu bemerken, dass er unter der Kälte zitterte; seine Augen starrten unfokussiert hinaus in den Lichtkegel einer Straßenlampe, der den fallenden Schnee ausleuchtete. Sergeij machte einen tiefen Atemzug.

Dann trat er an Yuriy heran und nahm seine Hände zwischen die eigenen, nur um mit wenig Überraschung festzustellen, dass sie eiskalt waren. Etwas zuckte in Yuriys Gesicht, aber er sagte nichts - hob nur den Kopf und sah Sergeij mit einem unergründlichen Blick aus seinen hellen Augen an. Er wurde nicht gerne angefasst, wenn er nicht den ersten Schritt machte, aber bei Sergeij hatte er noch nie etwas dagegen gesagt. Sergeij versuchte nicht darüber nachzudenken, was das bedeuten konnte, aber es war schwierig. Er hatte die Tendenz, über sehr vieles zu grübeln, das man besser in Ruhe lassen sollte, weil es sich nicht lohnte. Und Yuriy - Yuriy gehörte zu Boris, egal wie sehr der ihn aufregte.

„Er kommt wieder heim“, sagte er daher. 

„Ich weiß, dass er wieder heimkommt“, sagte Yuriy mit leiser Schärfe in der Stimme, aber er schien sich um Zurückhaltung zu bemühen und ließ die eiskalten Hände in Sergeijs. Er holte tief Luft, dann schloss er die Augen. „Ich weiß nicht, wie ich ihn bremsen soll. Der Idiot wird sich irgendwann abschießen und dann war‘s das.“

„Nicht alles ist deine Aufgabe, Yura“, erwiderte Sergeij. Als Yuriy die Augen öffnete, ergänzte er: „Wir können ihm ins Gewissen reden und bis vor die Tür seines Therapeuten begleiten, aber den Rest muss er selber machen.“

Yuriy atmete aus. „Vielleicht.“ Er sah mit einem so unergründlichen Ausdruck hinab auf ihre Hände, dass Sergeij die Hitze in die Wangen stieg. Es wurde noch eher schlimmer, als Yuriy den Kopf wieder hob und sein Gesicht studierte, ehe er sagte, die Stimme erstaunlich sanft: „Danke fürs Aufräumen.“

„Tja“, sagte Sergeij mit einem tiefen Seufzer, „ich bin vielleicht nicht Boris, aber ich schätze, ich habe meine Vorteile.“

Yuriy runzelte die Stirn. „Was soll das heißen?“

„Nichts.“ Sergeij atmete tief durch und ermahnte sich, kein Idiot zu sein. Es war, wie er schon oft in stillen Momenten reflektiert hatte, bescheuert, eifersüchtig auf die Vertrautheit zwischen Yuriy und Boris zu sein. Normalerweise hatte er sich deswegen gut im Griff, aber gelegentlich war auch er nur ein Mensch. 

„Du holst dir jetzt was Warmes zum Anziehen“, sagte er in einem so bestimmten Tonfall, dass Yuriy blinzelte. „Und dann stellst du dich unter die Dusche.“

Yuriy musterte ihn einen so langen Moment, dass er sich sicher war, dass er protestieren würde. Aber dann überraschte der Rotschopf ihn, indem er nur nickte, die Hände aus Sergeijs zog und nach draußen verschwand. Verdattert blickte Sergeij ihm hinterher. Er war es nicht gewohnt, dass Yuriy tatsächlich tat, was einer von ihnen ihm sagte. Dann beschloss er, einem geschenkten Gaul nicht ins Maul zu schauen und die Zeit stattdessen dafür zu nutzen, etwas zu essen zu machen. Er schloss das Küchenfenster und ging an die Arbeit.

Als Yuriy fast zwanzig Minuten später zurück in die Küche kam, hob Sergeij die Augen von der Schüssel aus dicker Keramik, die er gerade mit kräftiger Hühnersuppe füllte, und verbrühte sich in der Folge beinahe. Scheinbar hatte Yuriy lieber ihm einen Hoodie gestohlen als sich an seinem eigenen Kleiderschrank zu bedienen. Sergeijs Hoodie schien ihn halb zu verschlucken, aber Yuriy schien es nicht zu stören. Er blinzelte Sergeij zu, die untere Hälfte seines Gesichts bis zur Nase in dem Kleidungsstück verborgen, dann kam er zu ihm. 

Sergeij war wie erstarrt, als Yuriy ihm sachte die Schüssel aus den Händen nahm, seine eigene Haut wieder erfreulich warm, und sie beiseite stellte. Da war etwas in seinen Augen, das Sergeij noch nie zuvor gesehen hatte, und es stellte sehr seltsame Dinge mit seinen Eingeweiden und seinem Herzen an - besonders mit seinem Herzen, das außer sich geriet, als Yuriy erneut die Hände in seine legte, obwohl er jetzt wieder warm war, und zu ihm aufblickte, obwohl er so ungern zu anderen Leuten aufsah.

„Seryoscha“, sagte er leise, „du-“ 

Er stoppte sich, blickte einen Moment stirnrunzelnd drein, als ob er ratlos war, was seine nächsten Worte sein sollten. Dann schüttelte er den Kopf - vielleicht über sich selbst, vielleicht über Sergeij. Es war schwierig zu sagen, besonders wenn man wie Sergeij abgelenkt davon war, wie kräftig und lang Yuriys Finger in seinen waren, wie dunkel seine Wimpern über den lächerlich hellen Augen. Er fragte sich, ob irgendwer Yuriy schon einmal richtig gesagt hatte, wie hell er leuchten konnte, wenn er wollte.

„Ist dir wieder warm?“, fragte Sergeij und wusste nicht, wieso es wie ein Flüstern herauskam.

Yuriy nickte. 

„Gut“, wisperte Sergeij und wusste nicht, wieso sein Herz so bebte, fast als ob er Angst hatte, nur weil Yuriy ihn so ansah, auf eine Art, wie er ihn bisher nie angesehen hatte. „Der Boiler funktioniert wieder und die Laden sind gerichtet, und Boris geht es gut.“

„Seryoscha“, sagte Yuriy erneut leise. 

„Und wenn du auch noch was gegessen hast, wird es dir besser gehen“, sagte Sergeij fast hilflos, „nicht wahr?“

„Vielleicht“, sagte Yuriy genauso sanft, wie er zuvor Sergeijs Namen ausgesprochen hatte, dann stellte er sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn. 

Seine Lippen waren trocken und er schmeckte ein wenig nach kaltem Rauch, aber er war warm. Er war so warm, und seine sonst so scharfen Ecken und Kanten wurden weich unter Sergeijs Händen. Er neigte sich zu ihm hinab, bis Yuriy nicht mehr auf den Zehenspitzen stehen musste, und umschlang ihn mit beiden Armen, alles von ihm, Haut und Haare und Hoodie, und küsste ihn. Küsste ihn, küsste ihn, bis sich Yuriys Finger in seine Arme gruben und er harsch gegen seine Lippen atmete, als er Sergeij näher an sich zog. Sie standen einen Moment lang da, so nahe beieinander, dass Sergeij nicht wusste, ob sein eigener Herzschlag durch seine Brust zitterte oder Yuriys. 

Yuriy hatte die Augen geschlossen, aber er lächelte wie jemand, der erst gemerkt hatte, dass es dunkel geworden war, nachdem das Licht angedreht worden war. Sergeij strich ihm rotes Haar aus dem Gesicht, berührte scharfe Wangenknochen und lächelnde Lippen, und er erlaubte sich, darüber nachzudenken, dass das hier ihm gehören konnte - jede Berührung davon und jedes Lächeln. 

„Die Suppe isst du trotzdem“, sagte er.

„Gleich“, sagte Yuriy und legte den Kopf an seine Brust, und das war ein Argument, dem Sergeij nicht gewachsen war. 

Er strich ihm über die Haare, blickte hinaus, wo der Schnee immer noch lautlos im Laternenlichtkegel fiel, und hielt ihn so fest, wie er konnte.



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Kommentare zu diesem Kapitel (5)

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Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  lady_j
2020-05-13T11:49:33+00:00 13.05.2020 13:49
Ich habe das endlich zu Ende gelesen und jetzt habe ich so viele Feels(tm) in meiner Mittagspause und kann nicht weiterarbeiten?! ❤️❤️❤️❤️
Von:  Phoenix-of-Darkness
2020-04-19T10:07:49+00:00 19.04.2020 12:07
Ich muss [[LittleLionHeard]] zustimmen.
Das Kapitel ist Bittersweet. Ich freue mich mega für Sergej. Er hat es verdient geliebt zu werden und glücklich zu sein. Doch ich glaube ihre Gruppe würde zugrunde gehen...
Aber du hast geschafft unglaublich viele Emotionen zu wecken und ich liebe diesen Sergej, den sanften Riesen.

Von:  FreeWolf
2020-04-18T17:13:06+00:00 18.04.2020 19:13
Ich zerfließe in FÜHLS!
Von:  WeißeWölfinLarka
2020-04-18T16:05:25+00:00 18.04.2020 18:05
♥_______________________________________________________________________♥
Ich mag bärenstarke Menschen, die sanft sind?!
Und die Boiler reparieren, Scherben zusammenfegen und eine leckere Hühnersuppe kochen können!
LIeblingssatz ist zum einen:
>>Sergeij atmete tief durch und ermahnte sich, kein Idiot zu sein.<< ♥♥♥

Aber auch wieder eine sehr glorreiche Formulierung, wie ich finde:
>>Yuriy hatte die Augen geschlossen, aber er lächelte wie jemand, der erst gemerkt hatte, dass es dunkel geworden war, nachdem das Licht angedreht worden war.<<
Ich frage mich immer, woher du solche Redewendungen kriegst. Ich mein, das ist... so poetisch!

Und du bist eine Maschine. Wie schnell und wie oft holst du jetzt raus - das ist Big Dick Energy ohne Ende, es ist ergreifend, beeindruckend und furchteinflößend zugleich!

Aber zurück zur Geschichte: Sie ist warm.
Yuriy in dem viel zu großen Hoodie von Sergei ist Liebe! ich hab mir glucksend vorgestellt, wie er darin versinkt... LIEB und KLEIN! wie du vllt sagen würdest.

Ansonsten find ich, dass diese Anmerkungen von "Boris gehört zu Yuriy" in BoYu-Ways schon Konfliktpotential bietet, vor allem, nach dem Kuss. Aber ich mag den SerYu-Fluff sehr und gratuliere deiner Mood, die es hervorgebracht hat und danke ihr von Herzen!!!

Von:  LittleLionHead
2020-04-18T16:03:03+00:00 18.04.2020 18:03
Uuuuuuuffff.... Das ist wunderschön und furchtbar traurig zugleich, das überfordert mich gerade etwas...


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