Ausflug
Kapitel 06 - Ausflug
Seto saß in seinem Auto und breitete die Karte über dem Lenkrad hinweg aus. Wieder besah er sich die natürliche Bucht, an deren nördlichem Ende Domino City lag. Er fuhr mit dem Finger über das Papier, von seiner Heimatstadt gen Süden und traf dort erneut auf den Fischerort, in dem Honda mit Otogi am Strand gewesen war. Dort hatte Honda diesen Jungen gefunden, der Jonouchis Medaillon getragen hatte.
Dann nahm Seto eine weitere Karte zur Hand und faltete sie auseinander. Sie zeigte ebenfalls die Bucht, doch in der Wasserfläche waren mit Pfeilen die Strömungsverhältnisse vor der Küste und in der Bucht eingezeichnet. Seto suchte die Stelle in Domino City, an der ihre Abschlussfeier stattgefunden hatte. Wenn man dort ins Wasser gefallen und nicht von den Wellen zurück an die Steilwand geworfen worden wäre, dann hätte die Strömung einen erst aufs Meer hinaus gezogen, bevor die Strömung zurück an die Südspitze der Bucht geführt hätte. Genau an den Ort, an dem dieser Fischerort lag.
Grob faltete Seto die beiden Karten ineinander wieder zusammen und warf sie auf seinen Rücksitz. Er griff nach seinem Kaffeebecher und vom Beifahrersitz eine Akte. Diese legte er auf das Lenkrad und schlug sie auf. Die Vermisstenanzeige schlug ihm entgegen, welche vor vier Jahren von Jonouchis Mutter aufgegeben worden war, nachdem dieser schon zwei Wochen verschwunden gewesen war.
Wieso hatte sie so lange gebraucht eine Vermisstenanzeige aufzugeben? Er war bei einer Geschäftsreise in die USA mal bei ihr gewesen und hatte sie gefragt. Doch sie hatte nur pikiert die Tür geschlossen und war ihm die Antwort schuldig geblieben. Vielleicht hatte sie gedacht, dass er ihr eine Mitschuld zuschreiben wollte, doch tatsächlich hatte das ihm gänzlich fern gelegen. Es war nur eine Frage, die ihn marterte und auf die er sich eine Antwort erhofft hatte. Seto seufzte und nahm einen Schluck aus seinem Thermobecher. Der Kaffee war sogar noch warm.
Er blätterte weiter. Einige wenige Seiten von der Polizei: Das Ergebnis ihrer halbherzigen Suche. Die Polizei hatte sich nie wirklich für den Fall interessiert. Ein Halbstarker, der in der Mittelschule einer Gang angehört hatte und in zahlreiche Schlägereien verwickelt war. Aber seit Jonouchi an der Oberschule war hatte er sich von der Gang ferngehalten und war polizeilich nicht mehr aufgefallen. Dennoch hatten die Polizisten keine Spuren gefunden und hatten sich dann anderen Fällen zugewandt.
Danach kamen einige Seiten Protokolle von den beiden Privatdetektiven, die Seto beauftragt hatte. Erst den Firmendetektiv, der schon schnell einräumte, dass diese Suche nach dem Blonden nicht gerade in sein Metier fiel. Der Zweite, der sich selbst Spezialist für vermisste Personen schimpfte, hatte auch kaum mehr in Erfahrung gebracht.
Trotz all dem hatte Seto die Hoffnung, dass Jonouchi doch noch irgendwo herum wuselte, nicht aufgeben können. Einer nach dem anderen hatten sich mit dem vermeintlichen Tod des Blonden abgefunden. Zuerst hatte Jonouchis Mutter aufgegeben. Sie war zurück in die USA geflogen. Anfangs hatte er versucht sie noch auf dem Laufenden zu halten, doch irgendwann war sie nicht mehr ans Telefon gegangen.
Dann hatte Mokuba ihm gesagt, dass es Zeit wurde einen Schlussstrich unter das Verschwinden zu ziehen. Das hatte schlussendlich zu ihrem Zerwürfnis geführt und ihr Verhältnis war zerbrochen.
Auch die Clique hatte nach und nach ihr Leben wieder aufgenommen. Einer nach dem anderen. Sie glaubten nicht daran, dass Jonouchi tot war, doch irgendwie... hatten sie geschafft das Verschwinden ihres Freundes zu überwinden. Alle, bis auf Honda. Während all der Wochen und Monaten war er der einzige - von allen Betroffenen - der Jonouchi genauso sehr finden wollte, wie Seto. So hatten sie sich angefreundet... soweit, dass sie sich heute sogar mit Vornamen ansprachen.
Als Seto erneut an seinem Becher nippen wollte wurde das Auto ruckartig auf einer Seite angehoben, so dass der Kaffee nicht in seinem Mund, sondern in seinem Schoss landete. Leise fluchte er und griff hastig nach einem Taschentuch in seiner Brusttasche. Damit tupfte er den Kaffee in seinem Schritt weg, während er seinen Becher wieder in die Halterung gleiten ließ.
Der Brünette hob seinen Blick und ließ ihn über die Motorhaube seines Wagens und die Absperrung davor gleiten: Das Wasser der Bucht war heute etwas unruhig, aber nicht besorgniserregend. Dennoch würde Seto es begrüßen, sobald er wieder von der Fähre auf festen Grund fahren konnte. Vielleicht würde er auf dem Rückweg doch eher die Landstraße nehmen, auch wenn die Fahrt gut zwei Stunden in Anspruch nehmen würde. Die Fahrt mit der Fähre dauerte dagegen nur zwanzig Minuten. Er seufzte.
Doch dann sah er, wie die Fähre begann sich langsam zu drehen. Der Blick auf die Bucht änderte sich zum offenen Meer hin und dann drängte sich von der Seite die Südspitze der Bucht ins Blickfeld. Das erste, was Seto von dem Fischerort sah war das Industriegebiet. Man konnte erkennen, dass die meisten Gebäude hier ursprünglich wohl mal dem Walfang gedient haben mochten. Soweit Seto gelesen hatte war diese Gemeinde die erste japanische Stadt, die mit dieser Tradition - dem Walfang - gebrochen hatte. Sie hatte sich auf andere Industriezweige verlagert und viele der damaligen Gebäude wurden heute anderweitig genutzt.
Die Fähre drehte sich noch etwas und machte sich bereit anzulegen. So kam mehr von dem beschaulichen Ort ins Blickfeld und der Brünette konnte sehen, wie dieser sich die Hügel hinauf erstreckte. Dabei standen vor allem auf der Hügelkette Apartmentgebäude, in denen mehrere Wohnungen zu günstigen Preisen vermietet wurden. Dann klappte die Absperrung nach unten und Seto bekam ein Wink von dem Fährmitarbeiter, dass er nun runterfahren konnte, was er sogleich auch tat.
Etwas ziellos fuhr er herum, ohne genau zu wissen, was er sich von diesem Ausflug eigentlich erhoffte. Im Büro der Kaiba Corp hatte er sich auf nichts konzentrieren können. Immer wieder hatte er am Fenster gestanden und über die Stadt geblickt. Zur Bucht. In die Ferne, wo er diesen Ort vermutet hatte. Dann, ohne, dass es wirklich einen Auslöser gegeben hätte, hatte er Hayashi, seiner neuen Sekretärin, gebeten ihm einen Thermobecher Kaffee zu besorgen.
Sie war irritiert gewesen, war aber sofort losgeeilt. In der Zeit hatte er Isono noch schnell eine Mail geschrieben, in der er den Älteren bat einen Teil seiner heutigen Meetings zu übernehmen und Hayashi Bescheid zu geben, welche Meetings verschoben werden sollte. Dann hatte er alles ausgeschaltet und war in seinen Mantel geschlüpft. Gerade als er sein Büro verlassen wollte war Hayashi herein gekommen und er hatte ihr dankend den Becher abgenommen. Völlig verwirrt, wo ihr Chef jetzt auf einmal hin wollte war sie ihm bis zum Aufzug nachgelaufen und hatte förmlich um eine Erklärung gebettelt, doch Seto hatte sie einfach an Isono verwiesen.
So gedankenverloren war Seto vor sich hingefahren, bis er im Industriegebiet in eine Sackgasse gelangt war. Er blinzelte kurz, schüttelte seinen Kopf und ging sich mit den Fingern durch das braune Haar. Langsam wendete er den Wagen und wollte wieder zurückfahren und stieß dabei auf die Schwierigkeit, dass er nicht wusste, wie er überhaupt hier her gekommen war.
Nachdem er eine viertel Stunde durch das fremde und verschlungene Industriegebiet gefahren war sah er schließlich ein Restaurant - nun ja, er würde es Imbiss, wenn überhaupt, nennen - und beschloss dort nach dem Weg zu fragen. Direkt davor war ein Parkplatz frei, in den Seto fuhr und parkte. Er brauchte noch einen Moment, bevor er sich überwand auszusteigen. Noch einmal musterte er den Laden eingehend. Die Front war offen und die berühmt-berüchtigten Wimpel mit dem Namen des Imbiss hingen bis auf Schulterhöhe. Der Geruch von Nudelwasser und Gegrilltem drang zu ihm und erinnerten ihn daran, dass er das Frühstück ausgelassen hatte.
Dann hob er einen Wimpel zur Seite und schritt über die Schwelle. Abrupt blieb er stehen und konnte seinen Augen kaum trauen: Da saß... Jonouchi Katsuya.