Zum Inhalt der Seite

Letzte Wiederkehr

von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

XXI


 

XXI

„Und was jetzt?“, fragte Atem tonlos in die Dunkelheit hinein. „Was weiß ich“, antwortete Bakura, jede Aggression war aus seiner Stimme gewichen, „wenn wir nun schon mal hier sind, lass und wenigstens nachsehen, ob die Schrift tatsächlich hier unten ist.“ „Wie sollen wir das ohne Licht bewerkstelligen?“ Statt einer Antwort hörte Atem ein Klicken und eine kleine Flamme tanzte nun vor Bakuras Gesicht. Er holte eine Kerze aus seiner Tasche und entzündete sie mit dem Feuerzeug in seiner Hand. „Wieso hast du die denn bei dir?“, wunderte sich der Pharao. „Wie schon gesagt, hab einige davon samt diesem praktischen Wundergerät, das Feuer zaubert, aus Ryous Haus mitgehen lassen. Hatte sie in meiner Hosentasche.“
 

Mit der Kerze voran tasteten sie sich ihren Weg durch ihr Verließ. Der kleine Keller bestand lediglich aus seinem einzigen Raum, deshalb dauerte ihre Suche nicht lang. Wo sie auch hin leuchteten, überall standen oder lehnten etliche Gemälde auf Leinwand. „Das ist es also“, stellte Atem ernüchtert fest, „dieser Keller ist nichts weiter als ein wohltemperierter Raum, in dem Pegasus seine Kunst aufbewahrt, damit sie sich lange hält.“ Schweigend ließen sie diese Erkenntnis auf sich wirken. „Könnte es denn das gewesen sein, was Pegasus hier heruntergetragen hat, als du ihn nachts gesehen hast? Kein Päckchen, sondern eine kleine Leinwand oder so?“ „Möglich ist es schon“, gab Bakura zu, „und es wäre sicher auch nicht ungewöhnlich, dass er bis spät in die Nacht an einem Bild malt.“ „Jedenfalls sollten wir einsehen, dass sich die Schrift sicher bereits weit weg von hier befindet.“ „Ja, ich schätze, du hattest Recht mit deiner Vermutung“, gestand der Pharao.
 

Stumm ließ er sich auf dem Boden neben einer Leinwand nieder und legte den Kopf auf die Knie. „Warum mache ich eigentlich immer alles falsch? Egal, wie ich es angehe? Kannst du mir das mal verraten?“, sprach er seine Gedanken offen aus. „Vielleicht, weil du so verkrampft versuchst, alles richtig zu machen“, gab Bakura zu bedenken und ließ sich neben Atem nieder, „ich meine, sieh mich an: Ich mache auch viele falsche Dinge, aber mich kümmert es nicht. Mach’s dir nicht selbst so schwer.“ Der Pharao seufzte. „Ich denke, du hast es ganz gut erfasst. Ich kann einfach nicht aus meiner Haut.“ „Redest du jetzt von deiner aufkeimenden Beziehung mit dem futuristischen Hohepriester?“, wollte Bakura in gespielter Langeweile wissen. „Vielleicht. Auch“, gestand Atem ein.
 

„Warum? Was will er denn von dir? Weshalb habt ihr euch gestritten?“, fragte Bakura weiter nach. „Er möchte nicht, dass ich zurückgehe.“ „Und was willst du?“ „Natürlich möchte ich in Setos Nähe bleiben und herausfinden, wo das hinführen kann, das ist klar. Aber ich … ich denke, ich habe keine andere Wahl als …“ „Was willst du?“, unterbrach ihn Bakura scharf, „ich habe nicht gefragt, was du denkst, dass das Richtige wäre, sondern was du selbst tun würdest, wenn du es dir aussuchen könntest.“ Atem schwieg. „Ich weiß nicht“, sagte er, „weißt du denn, was du tun würdest, wenn du entscheiden könntest? Hierbleiben oder zurückgehen?“ „Ja, ich wüsste es“, entgegnete der Dieb, wie aus der Pistole geschossen, „aber ich sag‘s dir nicht. Du brauchst nicht noch mehr Menschen, die dich beeinflussen. Weißt du noch, als ich dir den Handel angeboten hab? Und alle wollten dich zu etwas drängen? Am Ende hast du ganz alleine für dich entschieden.“ Atem nickte. „Und wie hat sich das angefühlt?“ „Im ersten Moment gut“, flüsterte der Pharao, „das richtig schlechte Gewissen kam erst hinterher, als du …“ „Jaja, überspringen wir dein Teil.“ „Trotzdem gibt es Dinge, die zu groß sind, als dass man sie selbst entscheiden kann“, sagte der Pharao ernst, „das hast du selbst gespürt, sonst würdest du mir jetzt nicht helfen.“ „Sonst würde ich jetzt nicht mit dir hier festsitzen“, sagte Bakura amüsiert.
 

Wieder schwiegen sie. Die kleine Flamme der Kerze flackerte schwach und hypnotisch. Sie wussten nicht, wie viel Zeit verstrich und was draußen vor sich ging. Vollkommene Stille umfing sie.
 

Schließlich hörte Atem, wie Bakura sich erhob. „Weißt du was?“, sagte er bitter, „mich nervt es tierisch, dass wir hier tatenlos herumsitzen. Dabei können wir doch etwas tun!“ „Was denn?“, Atem blickte in sein Gesicht, in das die Flamme flackernde Schatten warf. „Wir können zu Ende bringen, was wir vorhin begonnen haben, bevor dieser Gunther oder wie auch immer uns unterbrochen hat. Wir können den Erinnerungszauber durchführen.“
 

***Uyedas Geschichte***

„Ja, das klingt toll. Ich freu mich für dich“, Uyeda lächelte, während er sein Handy ans Ohr hielt und an seinem Kaffee nippte. In Gedanken war er nicht im dem kleinen, urigen Coffeeshop, in dem er sich gerade befand, sondern im Heimatland seiner Mutter. „Du wirst es lieben!“, schwärmte sein Bruder Toya jetzt in den Hörer, „hier gibt es überall Spielecenter und Bildschirme auf den Straßen. Alles ist bunt und laut und voll – Tokyo ist echt die Stadt meiner Träume! Ich gehe nie wieder zurück! Auch wenn meine Bude hier noch klein ist, das ist mir egal. Jeder lebt hier so.“
 

Uyeda nickte, obwohl Toya es nicht sehen konnte. „Uyeda? Bist du noch da?“, drang die Frage schließlich zu ihm durch. „Äh ja, klar. Das hört sich wirklich toll an. Ich bin schon gespannt, wie du wohnst, wenn ich nachkomme.“ „Und wann wird das genau sein?“, erkundigte sich sein Bruder jetzt inquisitiv. Uyeda knirschte mit den Zähnen. „Ich weiß noch nicht, Toya, ehrlich.“ „Du bist doch mit der Schule fertig, also worauf wartest du noch?“, ließ der ältere der beiden nicht locker. „Schon, aber du weißt doch, dass das Geld recht knapp ist. Mama und Papa können uns erst mal nicht beiden eine Ausbildung in Japan finanzieren. Und momentan habe ich ehrlichgesagt nicht mal genug für den Flug zusammen.“ „Nicht so lukrativ, dein Job an der Kinokasse, hm?“, fragte sein Bruder nun mitleidsvoll. „Es geht. Nicht so schlimm, ehrlich. Ich komme schon noch nach Japan, wart’s ab. Auf ein paar Monate kommt es nicht an.“ „Schön. Und deine Ausbildung als Rettungssanitäter wird sicherlich auch nicht so teuer wie mein Studium. Dann musst du dir kein Geld vom Staat leihen.“ „Ja, das hoffe ich.“ „Also, halt solange die Ohren steif.“ „Du auch.“
 

Als er auflegte, schwappte eine Welle der Enttäuschung über Uyeda hinweg. So gerne wäre er seinem Bruder gefolgt in das Land, an das er von Verwandtenbesuchen in seiner Kindheit so schillernde Erinnerungen hatte. Er gab es ungerne zu und hätte es ihm nie zum Vorwurf gemacht, aber er fühlte sich zurückgelassen. Seit Toya und er Kinder waren, träumten sie davon, gemeinsam in Japan zu leben. In den beiden Malen, in denen sie dort waren, wollten sie die Insel kaum wieder verlassen. Deshalb hatten sie immer dafür gesorgt, ihre Sprachkenntnisse zu schulen und sich im Lesen von Kanji, Hiragana und Katakana zu üben. Rational betrachtet wusste Uyeda, dass er der jüngere war und auch Toya nach der Schule bereits ein Jahr hatte warten müssen, bis ihre Eltern ihm endlich die Reise finanzieren konnten. Auch für sein Informatikstudium hatte er bereits einen Studienkredit aufgenommen und ständig gejobbt.
 

All das leuchtete ihm ein und dennoch fragte er sich jetzt deprimiert, ob er ihm jemals würde folgen können. Er hatte nicht mal die Hälfte des Flugtickets erspart. Frustriert krallte er die Hände in die Tischdecke.
 

„Schlechte Laune?“, riss ihn plötzlich eine Stimme aus seinen trüben Gedanken. Er schreckte hoch und blickte überrascht in das Gesicht eines großen, schlanken Mannes mit langem, silbrig-schimmerndem Haar, der neben seinem Tisch stand, eine Hand lässig in die Hosentasche gesteckt. Er lächelte, als könne ihn nichts aus der Ruhe bringen. Uyeda blinzelte zu dieser imposanten Erscheinung empor.
 

„Entschuldige, wenn ich dein Gespräch belauscht habe. Ich saß am Nachbartisch“, erklärte sich der Mann auf Japanisch. „Sind Sie Japaner? Sie sehen nicht so aus“, war das Einzige, was Uyeda auf die Schnelle einfiel. „Du ja auch nicht“, entgegnete der Mann amüsiert, „Nein, ich bin kein Japaner. Aber ich lebe teilweise in Japan. Mein Name ist Maximilian Pegasus“, erläuterte er dann höflich. „Und was wollen Sie von mir?“, wollte Uyeda skeptisch wissen.
 

„Dir ein Angebot unterbreiten. Mir ist nicht entgangen, dass du nach einer Möglichkeit suchst, nach Japan zu gelangen.“ „Ja“, gab der junge Ägypter zu, „ich will dort eine Ausbildung machen und arbeiten. Aber es ist nicht so wichtig. Das hat Zeit.“ „Schön, schön, Geduld ist eine Tugend“, nickte Pegasus, „aber was wäre, wenn ich dir sage, dass ich dir eine Möglichkeit biete, schon in wenigen Tagen dorthin zu gelangen.“ „In wenigen Tagen … aber … wie?!“ Uyeda schwirrte der Kopf. Die Gedanken rasten nur so durch seine Synapsen. Wer war dieser Kerl? War ihm zu trauen? Was hatte er davon, ihm zu helfen?
 

„Ich leite ein Unternehmen in Japan und Amerika. Zurzeit habe ich einige Stellen im medizinischen Bereich ausgeschrieben. Eine davon beinhaltet zum Beispiel eine vollständige Ausbildung zum Rettungssanitäter, inklusive Kost und Logie und natürlich die Anreise zum Arbeitsort.“ Uyeda zog die Augenbrauen zusammen. „Okay … und wo ist der Haken an der Sache?“
 

Pegasus brach in schallendes Gelächter aus, sodass die anderen Gäste neugierig zu ihnen herüberblickten. „Cleverer Junge, hm? Das gefällt mir. Nun, da du so offen mit mir bist, will ich es auch mit dir sein“, nun senkte Pegasus seine Stimme etwas, „ich suche aktuell jemanden, der auch gewisse kleinere Erledigungen diskret für mich bewerkstelligt. Ich gebe dir ein Beispiel, damit du nicht in die falsche Richtung denkst: Ich suche zum Beispiel konkret jemanden, der einen kleinen Botendienst für mich verrichtet.“ „Sie meinen, einfach nur etwas von jemandem annehmen?“ „Genauso ist es. Und dieses Etwas dann jemand anderem bringen. Das ist alles. Betrachte diese kleine Aufgabe als dein Initiationsritual. Wenn du dich zuverlässig erweist, bekommst du all das, was ich dir eben in Aussicht gestellt habe. Und sogar eine kleine Zusatzprämie von meinem privaten Konto.“
 

Uyeda war noch immer nicht überzeugt. „Ich weiß nicht. Ich kenne Sie doch gar nicht.“ Pegasus schob eine Karte über die Tischplatte zu ihm herüber. „Wir machen es so“, schlug er vor, „hier ist meine Karte. Google mich, recherchiere über mich, was immer du willst. Morgen um die gleiche Zeit trinke ich hier wieder meinen Tee. Solltest du dich für das Leben, das ich dir biete, entscheiden, komm ebenfalls wieder her.“
 

Am Abend gab Uyeda den Namen seines mysteriösen Gönners in eine Suchmaschine ein und las viele positive Schlagzeilen über den berühmten amerikanischen Geschäftsmann. In dieser Nacht wälzte er sich unruhig in seinem Bett hin und her. Nüchtern betrachtet wusste er, dass dieses Angebot nicht Gold sein konnte, auch wenn es glänzte und schillerte. Aber die Frage war: Wollte er es trotzdem riskieren? Jetzt, wo sein Ziel so zum Greifen nah war … Bis zum darauffolgenden Nachmittag saß er hauptsächlich da und zermarterte sich den Kopf. Und als der Zeitpunkt nahte, den Pegasus ihm genannt hatte, hatte er sich nach wie vor nicht entschieden.
 

Dennoch stand er, wie von Zauberhand geführt, um Punkt 16 Uhr vor dem Coffeeshop. Pegasus lächelte ihm bereits von Weitem zu. „Nun, ich schätze, du hast dich entschieden.“ „Ja“, nickte Uyeda, „ich schätze auch. Also, wo ist dieser Ort, wo ich etwas im Empfang nehmen soll?“
 

Der Ort war das Museum in Kairo. Nahe einem Hintereingang sollte er warten, bis ein schwarz gekleideter Mann ihm ein kleines, schmales Päckchen in die Hand drückte. Dann sollte er unauffällig weiter dem Gehweg folgen. Er tat wie ihm geheißen, obwohl sein Herz ihm bis zum Hals schlug, besonders als er sah, dass besagter Mann eine Strumpfmaske abstreifte, als er auf ihn zukam, und sich dann zügig davonmachte und in ein Auto stieg, das mit laufendem Motor auf ihn wartete. Das Päckchen brachte Uyeda noch am selben Tag zu der Adresse, die Pegasus ihm gegeben hatte. Ein schrulliger älterer Herr nahm es in Empfang und er war froh, dass er es los war. Er hatte sich nicht getraut, nachzusehen, was in dem länglichen Paket war, aber als er in den Nachrichten davon hörte, dass aus dem Museum eine wertvolle antike Schrift entwendet worden war, wurde er bleich.
 

Pegasus zeigte sich zufrieden und so saß Uyeda eine Woche später im Flieger. Anfangs lief alles gut. Er absolvierte seine Ausbildung in Tokyo und alles wurde von Industrial Illusions finanziert. Er traf Toya wieder und sie hatten eine wirklich gute Zeit. Als er jedoch seine Ausbildung erfolgreich abgeschlossen hatte, beorderte Pegasus ihn ins Königreich der Duellanten. Das alles war so gar nicht, was er sich vorgestellt hatte. Das Leben im Trubel der Stadt lag ihm viel mehr, als hier mit sich alleine in Abgeschiedenheit zu hausen.
 

Als er dieses Thema bei seinem Arbeitgeber versuchte, anzuschneiden, schnalzte dieser nur pikiert mit der Zunge. „Na na, ich hätte ein wenig mehr Dankbarkeit von dir erwartet. Ich habe dir schließlich viele Wünsche erfüllt. Und abgesehen davon: Deine Position hier ist ja nicht für die Ewigkeit. Irgendwann wirst du wieder an einem anderen Standort arbeiten können.“ Ihm blieb nichts anderes übrig als sich wohl oder übel damit zufriedenzugeben.
 

Doch auch nach sechs Monaten hatte sich nichts an seiner Situation geändert. Also suchte er erneut das Gespräch mit Pegasus konfrontierte ihn damit, dass er sich wegbewerben und woanders Arbeit finden würde. „Das steht dir natürlich vollkommen frei“, erwiderte Pegasus leichthin, „du solltest aber auch wissen, dass alle potenziellen Arbeitgeber natürlich zuerst bei einem renommierten Unternehmen wie meinem nachfragen werden, wie du dich so gemacht hast. Und da ich noch nicht wünsche, dass du weggehst, werde ich ihnen sagen, was mir beliebt. Sobald ich dich aber nicht mehr brauche, verspreche ich dir, dass ich dir ein herausragendes Arbeitszeugnis schreiben werde, das dir alle Türen öffnen wird. Du hast mein Wort.“
 

Uyeda wusste nicht mehr weiter ohne seinen Bruder und ohne die Möglichkeit, ein normales Sozialleben zu führen. Dabei hatte er sich von seinem Aufenthalt in Japan auch gewünscht, endlich einen Partner zu finden und sich zu verlieben. Diesen Wunsch konnte er auf dieser einsamen Insel wohl endgültig zu den Akten legen.
 

Pegasus trug ihm in seiner Zeit im Königreich der Duellanten wenig auf. Einmal bekam Pegasus Besuch von Zigfried von Schroeder, der gestern nochmals angereist war. Uyeda hörte nicht, was die beiden zu bereden hatten, aber er erhaschte einen Blick auf Pegasus, als er nach seiner Abreise eilig eine kleine Vitrine in seinen persönlichen Flügel trug. Im Inneren erkannte er die gestohlene Schrift. Uyeda wunderte sich, weshalb sie letztlich zu Pegasus zurückgekehrt war. Danach zeichnete Pegasus wie ein Besessener immer neue Entwürfe von zwei DuelMonsters-Karten. Auf all das wusste sich der Sanitäter keinen Reim zu machen.
 

Vor wenigen Tagen dann kam Leben in das stille Dasein auf der Burg, als Seto Kaiba und Atem und kurz darauf ihre Freunde eintrafen. Uyeda spürte, dass sich hier etwas Wichtiges abspielte, aber er hatte keine Ahnung, was das sein konnte – er wusste nur, dass Atems hübsches Gesicht und seine herrschaftliche und zugleich sanfte Art es ihm von Anfang an angetan hatten. Und nun – nun hatte er diesen durch und durch schönen Menschen eigenhändig in einen Keller gesperrt. Nur weil er glaubte, dass Pegasus, dieser manipulative Tyrann, ihn in der Hand hatte! Wie konnte er es nur zulassen, dass jemand so viel Macht über ihn ausübte? Dass jemand sich anmaßte über seine Existenz zu entscheiden? Ein heißes Gefühl der Scham hatte jetzt von ihm Besitz ergriffen. Was hatte er da nur getan? Ihm wurde schlecht, wenn er nur daran dachte. Warum hatte er nicht gewartet und das Geld für seinen Flug gespart? Dann wäre er jetzt ein freier Mann. Er hielt es keine Sekunde länger aus. Er musste das irgendwie wiedergutmachen!
 

***

Erneut saßen Atem und Bakura einander gegenüber. „Schau mich jetzt an, konzentrier dich ganz auf mich“, wies Bakura den Pharao an. Dieser starrte angestrengt in das Gesicht des Diebes. Dann jedoch musste er unwillkürlich lachen. „Was soll das, du Nervensäge!“, beschwerte sich Bakura. „Entschuldigung, aber das ist irgendwie zu komisch. Schon gut, schon gut, ich bin ganz ernst“, kicherte Atem.
 

Und tatsächlich konnte er sich nun vollkommen auf die Person vor sich konzentrieren. Auch Bakura war jetzt ganz fokussiert und souverän. Er wirkte wie ein Fels in der Brandung. Der Pharao konnte nicht sagen, warum, doch er vertraute darauf, dass der Grabräuber wusste, was er da tat, und er ließ sich gedanklich in die Situation sinken.
 

Alles um sie herum verschwand. Die Gemälde, der Keller, Uyedas Verrat. Es war, als befänden sie sich jenseits von Zeit und Raum. Da war nichts als die zitternde Flamme und Bakuras warme Augen in seinem Blickfeld und nun begriff er, wieso der Dieb darauf beharrt hatte, dass die Kerze wichtig war. Atem schien durch sie in sich zu ruhen. „Also gut. Öffne jetzt deinen Geist“, sagte Bakuras dunkle, ruhige Stimme, „geh zurück zu dem Tag, als wir in das Grab gegangen sind. Ich werde ebenfalls zurückgehen. Wir sind jetzt beide dort.“ Atem spürte augenblicklich die Kühle der Grabkammer und den Staub von Erinnerungen auf seiner Haut, die unmittelbare Nähe zu dieser feinen Membran zwischen Leben und Tod. „Du hältst nun die Schriftrolle in Händen. Du blickst darauf“, fuhr Bakura fort. Seine Stimme existierte nun bereits mehr in Atems Kopf als dass sie ein äußerer Einfluss gewesen wäre.
 

„Halte diesen Augenblick ganz fest. Und nun öffne deine Gedanken für mich. Lass es zu, dass sie mit meinen Gedanken ein feines Gewebe spinnen, dass unsere Geister sich berühren.“ Atem versuchte, diese letzte Blockade, die er um sein Inneres spürte, herunterzufahren. Es war mehr eine Angst. Eine Furcht davor, was passieren würde, was Bakura gleich von ihm sehen und ob er sich selbst verlieren würde. Ob er die Teile, die er jetzt verstreute, jemals wieder würde zusammenpuzzeln können.
 

Aber dann schoben sich Bilder in seinen Kopf und er war zu abgelenkt von all den Eindrücken, um diese Mauer noch aufrechtzuerhalten. Er nahm Dinge wahr, von denen er wusste, dass er sie nicht selbst wahrgenommen hatte, dass sie zu Bakura gehörten. Er sah Bakuras Gedanken vielmehr als dass er sie hörte. Doch bald schon gab es kein „bekannt“ und „fremd“ mehr, konnte er seine eigenen Empfindungen nicht mehr von denen Bakuras unterscheiden. Alles schien miteinander zu verschmelzen. Alles wurde eins. Ein großes Bild, das sich weiter und weiter zusammenfügte und erhellte. Ein einziges Bewusstsein, ein Gedanke, in zwei Körpern. Sie waren eine Person, ein Subjekt, das die Welt um sich herum einsaugte.
 

Plötzlich war ihnen beiden klar, dass dies genau der Ort und der Augenblick war, an dem sie sein mussten, zu dem eine höhere Macht sie hingelenkt hatte. Es war seltsam für Atem, zu denken, wie Bakura dachte, zu empfinden, wie er empfand. Eine Neugierde erwachte in ihm, diese Gedankenwelt zu durchwühlen, aber da ihre Verbindung sich ganz und gar auf diese eine Erinnerung beschränkte, blieb alles drumherum dunkel.
 

Dann waren da Zeichen vor ihrem geistigen Auge. 'Ring' konnten sie lesen. Und ein Wort, das ihm sehr viel sagte: 'Millennium'. Und dann ein böses, hart klingendes Wort, das ihm nichts sagte. Es lautete 'Zorc'. „Zorc, der auch den Namen ‚der große Schatten‘ trägt“, murmelten Atem und Bakura wie aus einem Mund und plötzlich wussten sie, dass dies der Name des Schattens war, den Pegasus durch das Ritual beschworen hatte, „Dieser alles verschlingende Schatten kann nur zerstört werden, wenn …“
 

Atem stockte der Atem. Er spürte jetzt, wie der Zauber ihm alles abverlangte, um den Text aus seinen und Bakuras Erinnerungen ans Licht zu zerren wie durch einen viel zu engen Tunnel. Aber endlich war es, als umfange ihn Licht und die Schrift stand gestochen scharf vor seinem geistigen Auge, so, als hätte sie gerade frisch die Hand des Schreibers verlassen. Da waren sie endlich, die Worte, denen sie so begierig hinterhergejagt hatten.
 

Bleierne Erschöpfung legte sich über den Pharao, als sein Geist sich Stück für Stück wieder von dem des Grabräubers löste. Als er die Pyramide verließ und wieder in dem kleinen Keller ankam. Er und Bakura blickten sich an. Nun kannten sie das volle Ausmaß der Bedrohung. Und sie ahnten, was zu tun war.


 


 


 


 


 



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (0)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.

Noch keine Kommentare



Zurück