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Nadira

und das Erbe der Finsternis
von

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Gabriel

Leise klapperten die Dachziegel, ehe ihr schepperndes Aufeinandertreffen in der Dunkelheit der Nacht verhallte. Verspielt klackten die Absätze der zierlichen Lederschuhe über den gebrannten Ton, auf dem bereits der Nebel der morgendlichen Frische zu kondensieren begann. Die blonden Kringellöckchen hüpften wild im Takt ihrer Bewegungen umher, während die winzigen Ärmchen, in zarte Rüschen gehüllt, die Balance hielten. Das leise Lächeln in ihrem Rücken ging an ihr vorbei, als die augenscheinlich Zehnjährige ihren Gleichgewichtssinn im Spiel austestete. Einzig die Tatsache, dass sie dies in schwindelerregender Höhe über den Dächern der Metropole tat, verwies darauf, dass das vermeintliche Kind kein gewöhnliches war. Einen kurzen Augenblick verharrte das grüne Augenpaar der Mutter in einiger Entfernung auf ihr, beobachtete das unbekümmert dahin summende Ergebnis ihrer Entscheidung. Das einzigartige Geschenk, das viele so lange für unmöglich gehalten hatten. Und der Grund für alle ihre Bemühungen.

Dann befahl der zarte Windstoß, der ihre eigenen hellbraunen Locken zum Tanz aufforderte ihren Blick wieder vor sich. Das Summen in ihrem Rücken verstummte, sobald ihr im darauffolgenden Moment kalkweiß-gefiederte Schwingen die Sicht nahmen. Strahlendes Himmelblau traf tiefes Waldgrün, während die imposante Kriegergestalt geräuschlos auf dem Dach an ihrer Seite aufsetzte. Einzig das leise Trippeln kleiner Füße in ihrem Rücken durchbrach die angespannte Stille, bevor die Jüngere die zart behandschuhte Hand ihrer Mutter suchte. Erst da ließen die gegensätzlichen Augenpaare voneinander ab, um in unterschiedlichster Form auf dem verunsicherten Antlitz der Jüngsten zwischen ihnen zu liegen. Beruhigend drückte die Braunhaarige in wallender Seide die bleiche Kinderhand in ihrer, während sich deren Besitzerin der interessierten Musterung des Goldblonden nicht minder neugierig stellte.
 

„Weiß er, dass du hier bist?“, vibrierte die sonore Männerstimme durch die frische Nachtluft.
 

„Interessiert dich das wirklich, Gabriel?“, lenkte die Braunhaarige seinen Blick von ihrer Tochter, deren Hand sie immer noch hielt.
 

„Sie dürfte nicht einmal existieren“, war keine Antwort.
 

„Und dennoch tut sie es“, protestierte das Mutterherz.
 

„Du hast keine Ahnung, worauf du dich da eingelassen hast.“
 

Unterband sie umgehend: „Soll das ein Scherz sein? Seit meiner Geburt weiß ich…“
 

„Gar nichts weißt du. Was willst du also, Aurora?“, tat er es rabiat ab.

Kurz senkten sich die grünen Smaragde auf den Blondschopf zwischen den beiden so konträren Gestalten.

Dunkelblaue Kulleraugen blickten irritiert von einem zum anderen, als auch das himmelblaue Augenpaar undeutbar auf sie herabsah.
 

„Sie kann nichts dafür und obwohl er Lilith Brut ausgerottet hat, so erlaubt er ihm doch, zu existieren; so wie ihr…“
 

„Das kann unmöglich dein Ernst sein“, grollte es unheilvoll vor der besorgten Mutter.
 

„Jedem seiner Menschen lässt er die Wahl. Er ließ zu, dass sie geboren wurde.“
 

„Sie ist seine Tochter, das allein besiegelt ihr Schicksal, ebenso, wie das deine.“
 

„Aber ich hatte die Wahl“, begehrte die einstige Evatochter auf.
 

„Die Wahl?“, schnaubte ihr Gegenüber abfällig.

„Das denkst du vielleicht und dennoch hast du keine Ahnung, was oder wer er ist. Er gestattet dir doch nur einen Einblick so tief, wie du es ertragen kannst.“
 

„Das ist nun nicht mehr dein Belangen, denn wie du schon richtig angemerkt hast, ich habe mein Schicksal bereits längst besiegelt. Also, sag mir, meinst du, er gedenkt sie zu bestrafen, weil ihre Mutter sich von ihm abwandte?“
 

„Seine Wege sind selbst für mich unergründlich, Aurora.“
 

„Darum bat ich um deine Meinung…“

Wieder beäugte der großgewachsene Blonde die kindliche Gestalt skeptisch, die darunter längst gelangweilt an einer Schleife ihres Kleides spielte, solange, bis ihre messerscharfen Krallen den seidenen Stoff geräuschvoll zerschnitten. Die Brauen des breitschultrigen Erzengels zückten in die Höhe und legten als Einziges Zeugnis davon ab, dass er es zur Kenntnis genommen hatte.
 

„Sag mir, Gabriel, wirst du sie auch jagen? Wirst du mein Kind auf seinen Befehl strafen und in die Hölle verdammen? Für mein Vergehen?“
 

„Das obliegt nicht meiner Entscheidung, Aurora“, entgegnete der Angesprochene, ohne von besagtem Kind abzulassen.

Da stachen die tiefblauen Kulleraugen in das unruhige Himmelblau. Er wandte den Blick nicht ab, hielt den Unschuld anmutenden Ozeanen der Verführung und Lasterhaftigkeit stand, ebenso wie sie, die ihm so voller kindlicher Sorglosigkeit begegnete.
 

„Es wird mir kein Vergnügen bereiten, da sei dir gewiss“, bekundete der Goldblonde, ehe er aufsah in das entschlossen funkelnde Smaragdgrün seiner einstigen Schutzbefohlenen.
 


 

Protestierend kreischten die schweren Flügeltüren in ihren Angeln auf und rissen sie schlagartig in die Realität zurück. Der Schmerz brach umgehend durch die dämmrige Schläfrigkeit, weil sich ihre Wangen wohl bereits seit einer geraumen Weile schmerzhaft gegen das harte Holz des Tisches drückte. Die Zellulose dagegen bettete ihre blasse Hand im blauen Licht des Rechners umso weicher.
 

„Ah, da bist du also“, offenbarte sich ihr umgehend der Störenfried, ehe der dunkelbraune Lockenschopf in ihr Blickfeld trat.

Kurz folgten ihre tiefblauen Augen den schwingenden Hüften der Anderen, die wie so oft ihre feurigen Kurven in eine enge Jeans und ein noch spannenderes Mieder gehüllt hatte. Sie schmunzelte ahnungsvoll, noch ehe die rassige Schönheit die Vorhänge erreicht hatte, um sie sogleich mit einem Ruck entschlossen zur Seite zu ziehen.
 

„Zeit das Silber unserer `Sonne´ zu begrüßen. Oder willst du etwa unseren Tag verpassen?“, trällerte Kelly überschwänglich, während sich Nadira erst blinzelnd in ihrem Stuhl aufzurichten begann.

Sie wurde dabei mit schief gelegtem Kopf beäugt – ein eindeutiger Tadel. Weil sie ihre müden Glieder streckte.

Da klackerte die schlanke Brünette bereits auf ihren hohen Hacken schimpfend heran: „Sag bloß, du hast schon wieder den ganzen Tag über diesen Büchern verbracht. Was ist das überhaupt?“, unterbrach Kelly sich dann selbst, ehe sie eines der weit über den antiken Eichentisch verstreuten Wälzer zur Hand nahm, noch ehe Nadira Widerspruch einlegen konnte.

Ergeben lehnte die sich daraufhin zurück und beobachtete stattdessen ihre Schöpfung dabei, wie sie ihren knackigen Hintern aus ihrer Reichweite neckisch auf einer der Tischkanten platzierte.
 

„Oho. Sieh einer an. Gabriel und hier wieder Gabriel. Und nochmal Gabriel. Mann, da sieht er ja direkt mal gut aus. Warum trägt er die Rüstung eigentlich nicht mehr? Hast du ihn je in der Rüstung zu sehen bekommen? Macht echt was her…“

Nadira rollte mit ihren großen Kulleraugen und ließ sie plappern und blättern.
 

„Du…“, setzte sie erneut an, ehe sie abrupt innehielt und sich eine der unzähligen Seiten skeptisch besah.
 

Mit gerunzelter Nase erkundigte sie sich dann: „Ich dachte, alle Nephilim seien mit der Sinnflut beseitigt worden. Große, bösartige Halbwesen und so, du verstehst? Sag mal, was machst du da? Wirst du wohl endlich mit deiner Paranoia aufhören. Seit diesem Abend im Club, was war da bloß? Du bist ja richtig besessen von der Idee, dass die noch existieren.“
 

„Nein, kein Nephilim, Kelly. Ein Seher“, korrigierte sie aufseufzend.
 

„Na, ist doch völlig egal. Beides existiert nicht mehr. Das hast du mir beigebracht, weißt du noch? Also, was verschwendest du deine Zeit mit solchem Unsinn? Oder geht es nur um unseren beflügelten Vollstrecker hier?“, deutete sie dann diabolisch grinsend auf eine schwarz-weiß Abbildung in dem antiken Schmöker.
 

„Der zugegeben direkt mal eine Sünde wert wäre“, neckte Kelly weiter.

Nadira tat ihr den Gefallen. Und so musste die aufgeweckte Brünette wenig später kichernd der wenig motivierten Klaue ausweichen, die nur halbherzig nach ihr gelangt hatte und nun -wie zu erwarten- ins Leere fischte.
 

„Tja, da müsst ihr euch schon aus dem Stuhl bequemen, Mistress“, sprang die Braunhaarige schäkernd auf - das Buch dabei in ihren Händen.

Nadira schürzte verstimmt die verführerischen Schmolllippen, ehe sie sich fahrig durch ihre wilde Mähne strich. Sie beschloss, es dabei zu. Also hielt sie dem neckenden Blick unbeeindruckt stand. Nachsichtig wanderten ihre düsteren Saphire die verführerische Figur ihrer Gegenüber ab. Über ihre schlanken und feinzügigen Gesichtszüge, die stets aufgeweckt und vor Energie zu sprudeln schienen, hinab zu ihren üppigen Brüsten, die ihr aus dem freizügigen Dekolleté des engen Mieders aufgebracht entgegen wippten. Letzteres betonte zugleich ihre schlanke Taille. Die enge Jeans schmeichelte dagegen ihrer gut proportionierten Hüfte. Ihr dunkelbraunes Haarmeer fiel in seichten Wellen um ihre nackten Schultern und reichte ihr bis zu den Schulterblättern. Die Jeans verlor sich in den dunklen Stiefeln.

Eigentlich war es überraschend, wie schnell sie ihre Gesellschaft zu genießen gelernt hatte. Man konnte durchaus sagen, dass sie die quirlige Vampirin dort vor sich erquickend fand. Und nicht nur sie, ihrem Bruder ging es genauso. Dieser Gedankengang raubte Nadira sogar einen charakteristischen Zug um die Mundwinkel, ehe sie ihre krallenbesetzten Finger durch ihre Lockenpracht trieb.

Kelly brachte Farbe in ihren grauen Alltag. Das musste sie ihr lassen. Seit die Brünette hier war, war keine Nacht vergangen, in der sie sich gelangweilt hatte. Dabei war das so eigentlich gar nicht geplant gewesen. Aber, die süße Studentin aus Amerika hatte einfach nicht sterben wollen. Und so hatte sie letztlich Franςois darum bitten müssen, ihr den Kuss der Unsterblichkeit zu geben. Sie selbst tat das nicht. Nicht mehr, jedenfalls.
 

„Ach, komm schon. Das hast du jetzt davon. Warum kannst du es denn nicht einfach lassen? So macht das doch keinen Spaß“, meckerte die Jüngere und zog ihren verlockenden Schmollmund.

Nadira zeigte sich nachsichtig, indem sie keine Miene verzog. Ihr Tiefblau lag einfach nur abwartend auf ihrer Gegenüber. Eine stille Form der Duldung – wie die Schöpfung bereits früh gelernt hatte.
 

„Gewandelte“, murmelte es ihr einzig verächtlich entgegen, „ungeduldig und unersättlich.“
 

„Das will ich aber meinen“, unterband dann der wohlklingende Tenor die traute Zweisamkeit und lenkte damit beide Augenpaare sogleich zu den schmuckvoll verzierten Flügeltüren.

Ein dunkelblonder Igelschopf spitzte durch den schmalen Spalt herein, während die goldenen Klinken unter der Last seiner Hände, die sich darauf stützten, immer noch hinuntergedrückt wurden, als er sich gegen diese stemmte.
 

„Franςois“, vertieften sich dann die Sorgenfalten auf den zarten Gesichtszügen der Brünetten – eindeutig um Hilfe heischend.
 

„Sie war den ganzen Tag in der Bibliothek“, beklagte die Tochter sogleich verzweifelt, sodass das Sorgenkind einzig in stummem Aufstöhnen mit den Augen gen stuckverzierter Decke rollte.
 

„So? Müssen wir uns etwa Sorgen machen, mon petit chérubin?“, kam der Angesprochene daraufhin hinter sie.

Er stützte sich auf den verzierten Holzlehnen ab, ehe er einen sanften Kuss in den goldenen Lockenschopf tupfte.

Interessiert überflogen seine silbrig-blauen Augen das Meer an aufgeschlagenen Buchseiten.
 

„Zerbrichst du dir etwa immer noch wegen diesem… Sterblichen den süßen Kopf, Schwesterchen?“, flüsterte er dann zärtlich gegen ihre Stirn, während er eines der Bücher zur Hand nahm und kurz studierte.
 

„Er hat mich erkannt, Franςois.“
 

„Ach, was“, tat es dieser lapidar ab.
 

„Das ist unmöglich. Der wird ein wenig betrunken gewesen sein und Hollywood eben mal gut interpretiert haben. Oder er hat dir gelauscht…“, legte er den dicken Wälzer daraufhin wieder zurück, zugeschlagen.
 

„Unfug. Ich hätte ihn bemerkt. Er sah mich an…“, sie rang um Worte, „als wäre da keine natürliche Anziehung.“
 

„Nadira. Van Helsing war der Letzte. Du hast seinem Tod beigewohnt. Wir alle haben das. Glaub mir, es ist vorbei.“
 

„Aber Gabriel…“, begehrte Ermahnte vehement auf, um sogleich wieder nur besänftigend auf die Stirn geküsst zu werden – dem kleinen Kind gleich, das er soeben noch als Engel bezeichnet hatte –, ehe es sie mit Nachdruck erreichte: „…war eben aus Zufall dort. Glaub mir, sie sind mit den van Helsings endgültig von dieser Welt verschwunden. Und außerdem sieht Vater es nicht gerne, wenn du dich mit unserem Goldjungen beschäftigst. Das weißt du.“
 

Ihr Blick versprach höllischstes Qualen. Nichtsdestotrotz konnte er die aufmunternde Miene ihrer Gegenüber nicht trüben. Natürlich stimmte die Tochter mit ihrem Schöpfer überein.

Sie lenkte ein – weil kein weiterer Protest erfolgte. Sie zeigte keine Regung, als der warme Atem des Dunkelblonden zart über die dünne Haut ihres Halses blies, während er sich noch einmal nach vorne beugte, um den Rechner herunterzufahren.

Der Zahn baumelte an der braunen Lederkette an ihrer Seite. Sie betrachtete ihn kurz abschätzend. Wieso nur wollte sie sich nicht beruhigen lassen? Franςois hatte Recht, das wusste sie. Zumal Gabriel solch ein Geheimnis doch niemals vor ihrem Vater geheim hätte halten können. Andererseits, es war nicht seine Art zu lügen und seine Reaktion sprach eine deutlich andere Sprache. Nur wie sollte sie das dem Älteren begreiflich machen?
 

„Kleines, bemühe deinen Spürsinn nicht weiter, nur weil du dem Irrtum erliegst, einer längst erkalteten Spur nachzujagen. Benutz ihn eher für was Reales“, holte sie Franςois aus ihren Überlegungen.

Sein Grinsen war schelmisch, das er der hibbeligen Kelly damit entgegnete. Die erwiderte es, wenn auch deutlich unsicherer.
 

„Ihr habt ihn also noch nicht gefunden?“, konstatierte Nadira nahezu gelangweilt.

Es war eindeutig zu lange her. Oder die Bedeutung verlor sich unter den geborenen Vampiren.
 

„Hab ein wenig Nachsicht. Es ist ihr Erster. Da darf sie etwas nervös sein“, nahm der Ältere die junge Erstlingsvampirmutter in Schutz.
 

„Dir ist aber schon klar, dass nur du ihn tatsächlich aufspüren kannst. Er ist dein Werk“, erinnerte Nadira und Kelly nickte eifrig.
 

Die Geschwister tauschten einen Blick, ehe Franςois wieder Kelly ansah und anordnete: „Na, dann, wollen wir dich mal stilgerecht in der Erwachsenenwelt willkommen heißen, Kelly.“
 

In die blonde Mähne vor sich merkte er noch an: „Und vielleicht finden wir ja auf dem Weg zum Friedhof noch ein wenig frisches Blut für dich. Du bist gar so blass, Kleines.“

Besagtes Kleines hob ein wenig die Mundwinkel – der Versuch einer müden Reaktion - und blickte zu ihm auf. Zielsicher ließ sie da ihre Zeigefingerkralle über die raue Haut seines Halses streicheln – unter seiner aufmerksamen Musterung ihrer Züge, um, kaum bei der ruhigen Halsschlagader angekommen, leichten Druck auszuüben. Gezielt durchstach sie die dünne Haut so und legte den dickflüssigen Lebenssaft frei, den sie in genussvoller Langsamkeit von ihrer Nagelspitze ableckte. Kelly beobachtete die Zärtlichkeit unter den Geschwistern ungeduldig, konnte sich das leise Lächeln aber dennoch nicht verkneifen, sobald sie den Älteren zuerst lächeln, dann jedoch alsbald tadelnd mit der Zunge schnalzen hörte. Aus dem Alter war sie eindeutig bereits seit Ewigkeiten raus.
 

„He, ich störe euch ja nur ungern. Aber mein Untoter wartet, wenn ihr euch erinnert und ich kann euch versichern, es ist sicherlich nicht schön aus seinem Grab aufzuerstehen, ohne jemanden, der einen bereits mit Erklärungen erwartet“, nörgelte die nervöse Kelly.
 

„Als wenn du darin Erfahrung hättest“, kritisierte Nadira abfällig.

Franςois lächelte ihr nur verschmitzt entgegen.
 

„Geh dich schon umziehen“, bat er sie dann liebevoll und tupfte einen hauchzarten Kuss auf ihre blutunterlaufenen Lippen.

Elegant schwang sie ihre Hüften an ihm vorbei in Richtung Ausgang, um dann, sobald er sich über die Akten beugte, zum nächsten Dolch, der in einer Befestigung an der Wand hing, zu greifen und diesen in einer flüssigen Drehbewegung knapp an seinem Ohr vorbei zu werfen. Die Spitze grub sich zielsicher zwischen seinen Zeige- und Mittelfinger, die er auf dem Tisch abgestützt gespreizt hatte. Kelly zuckte erschrocken zusammen. Er blieb dagegen die Ruhe selbst, als er den Dolch aus dem Holz zog und einlenkte: „Deine Mutter hätte dir das niemals beibringen sollen.“
 

„Und du solltest endlich lernen, mich nicht zu überprüfen.“
 

„Deine Mutter hat dir das beigebracht?“, machte die Brünette ihrer Verblüffung da Luft.

Welche Mutter brachte ihrer Tochter den Umgang mit Waffen bei?

Nadira strafte ihre Verwunderung mit Nichtachtung und trat gelassen aus der Bibliothek.
 

Kelly starrte ihr verwirrt nach, ehe sie sich an den Älteren wandte: „Ihre Mutter?“
 

„Das Porträt gegenüber ihrem Bett“, antwortete der Dunkelblonde kurz angebunden und ergänzte auf ihren zynischen Blick hin: „Lass das Thema lieber ruhen, sonst trifft der hier dich vielleicht das nächste Mal.“

Damit ließ er die kurze Klinge, die im fahlen Mondlicht aufblitzte andeutungsvoll durch seine Finger gleiten, ehe er sie wieder auf ihren Platz zurückpinnte.
 

Eine gute Weile später standen Franςois und Kelly im Atrium. Der dunkle Tweet-Mantel betonte dabei seine schlanke Linie und schien doch perfekt auf den figurbetonten Ledermantel seiner Nebenfrau abgestimmt zu sein.

Die baldige Vampirmutter konnte einfach nicht mehr stillstehen. Seit einer geraumen Weile trat sie bereits ungeduldig von einem Bein auf das Andere. Und eben das brachte den Älteren ein ums andere Mal zum Schmunzeln. Ein Glück, befand er, konnte sie ihr Mundwerk noch im Zaum halten. Immer mal wieder fing sein silbrig helles Blau den verhassten Blick aus den zwei tiefschwarzen Augen auf, die die Brünette an seiner Seite vom Treppenabsatz weg nur zu gerne auf der Stelle zu erdolchen gedachten. Er verzog lediglich verstimmt die Lippen, schwieg allerdings dazu. Das war nicht seine Angelegenheit. Da knarrten im oberen Stockwerk endlich die Türen und wenig später hallten die gleichmäßigen Schritte majestätisch über den marmornen Flur.

Der spitzenbesetzte Stoff ihres dunklen Mantels, dessen besticktes Muster nur das Nötigste verbarg, lugte unter ihrem knöchellangen Mantel hervor. Einer Schleppe ähnlich glitt der dunkle Stoff ihren schlanken Beinen hinterher über die weißen Marmorstufen - dabei ein gut hörbares Knistern in den feinen Ohren heraufbeschwörend.

Ihre goldene Lockenpracht trug Nadira offen. Ihr flacher Bauch spitzte unter dem durchsichtigen Schleier des Stoffmantels hervor, da ihr Mantel noch offen war, als sie erhobenen Hauptes die Prunktreppe hinabstolzierte. Auf dem tiefschwarzen Augenpaar der rassigen Schönheit am Fußende verweilten ihre dunklen Saphire einen kurzen Augenblick. Kein Wort fiel und dennoch zeugte ihre Mimik von einer kurzen Absprache, nur für die beiden ungleichen Frauen verständlich.

Dann war Nadira auch schon zwischen ihren Bruder und den herbeigeeilten Glatzkopf mit dem grauen Haarkranz getreten. Der Ergraute reichte ihr kommentarlos den Autoschlüssel. Sie nahm ihn unkommentiert entgegen.
 

„Behalte Elena im Auge“, vermochten einzig die Drei in ihrer unmittelbaren Umgebung zu hören.

Sie blickte sich nicht nach der rassigen Vampirin am Treppenabsatz um, sondern knöpfte unbehelligt ihren Mantel zu, als hätte sie nichts Wichtiges verlauten lassen. Doch der Vertraute erkannte durchaus die Brisanz, nicht anders wie die anderen beiden, die es vorzogen, dazu zu schweigen.
 

„Wie Ihr wünscht, Mistress Nadira“, versicherte der augenscheinlich Ältere.

Damit suchte sie das silbrige Blau ihres Bruders. Der trat mit ihr und Kelly, nach einem knappen Nicken, auch bereits durch die Türen in den Vorraum und von dort hinaus in die Dunkelheit der Nacht.

Das empörte Aufschnauben in ihrem Rücken erahnte sie gerade noch, ehe sich die Türen schlossen und das laute Klirrgeräusch einsperrten, welches die alte Vase verursachte, sobald die geräuschvoll auf dem hochwertigen Marmor zerschellte.



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