Zum Inhalt der Seite

Das Auge des Phönix'

Fernandez' und Alsters erster Fall
von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Kapitel 3

Kapitel 3

1 Tag vermisst
 

Zu behaupten, Kai Hiwatari sei ein attraktiver Mann, wäre eine Untertreibung. Hiromi Tachibana hatte ein Foto für die Vermisstenanzeige geschickt, und selbst Mathilda ließ sich zu einem Kommentar hinreißen.

„Schöner Kerl”, murmelte sie mit Blick über Julias Schulter auf den Monitor. „Kein Wunder, dass er keinen Bock darauf hat, sich öffentlich zu zeigen.”

Vermutlich war das Foto auf einer der vielen Aussichtspunkte in der Nähe von Bakuten gemacht worden, zu denen die Menschen hier gern Tagesausflüge unternahmen, um aus der Stadt herauszukommen. Es zeigte Hiwatari an einer steinernen Balustrade lehnend, die Hände nach hinten abgestützt. Sein Haar war eines seiner auffälligeren Merkmale, denn ein großer Teil der vorderen Partie war bereits ergraut. Ungewöhnlich für einen Mann Anfang dreißig. Seine dunklen Augen lagen hinter einer Brille mit silbernem Rahmen und blickten direkt in die Kamera. Sein Mund war zu einem Lächeln verzogen und leicht geöffnet, als wolle er etwas sagen. Es reichte, um eine Reihe gerader, weißer Zähne zu erahnen. Unter dem enganliegenden, schwarzen T-Shirt zeichnete sich sein muskulöser Oberkörper ab.

Julia kam nicht umhin, sich zu fragen, wie jemand wie Kai Hiwatari noch die Zeit dazu fand, ins Fitnessstudio zu gehen. Noch einmal ließ sie den Blick über das Gesicht mit den hohen Wangenknochen und den vollen Lippen gleiten, über die lässige Haltung und die starken Arme - dann stockte sie.

„Sieh mal”, sagte sie an Mathilda gewandt. „Ist das nicht dieses Erbstück? Das Auge des Phönix?”

Mathilda beugte sich vor, und Julia erhaschte einen Hauch ihres Parfums. Sie roch erdig und warm. Irgendwie beruhigend.

Das Schmuckstück war in ein Armband eingearbeitet, das Hiwatari neben seiner Uhr trug. Jetzt, wo es ihr aufgefallen war, schien eine Verwechslung ausgeschlossen. Dafür war die Machart zu einzigartig. Es handelte sich um denselben Anhänger, der auch auf dem Porträt von Großmutter Hiwatari dargestellt war.

„Ich habe mich darüber informiert”, sagte Mathilda. „Der Stein ist ein Rubin aus dem Besitz einer russischen Adelsfamilie, den die Großmutter mit in die Ehe mit Soichiro Hiwatari brachte. Die Fassung ist Weißgold. Das Design macht das Stück zu einem Unikat. Der Wert allerdings ist, gemessen an dem, was die Hiwatari sonst so besitzen, relativ gering. Ich könnte mir vorstellen, dass Hiwatari eher aus sentimentalen Gründen daran hängt.”

„Das heißt, es ist unwahrscheinlich, dass er deswegen verschwunden ist.”

„So würde ich es sehen, ja.” Mathilda ging zu ihrem Platz zurück und setzte sich auf ihren Stuhl.

Julia hatte sich noch immer nicht an ihre Anwesenheit gewöhnt. Mariam war schon vor über einem Jahr versetzt worden. Danach hatte Julia gut im Alleingang gearbeitet, es hatte richtiggehend an ihrem Ego gekratzt, als man sie davon in Kenntnis setzte, dass sie eine neue Partnerin bekommen würde. Und auch nach einem Tag gemeinsamer Arbeit wusste sie nicht, was sie von dieser Situation halten sollte. Mathilda war schwer zu lesen. Professionell, ja, das musste man ihr lassen, aber Julia konnte nicht sagen, ob sie jemals so vertraut miteinander werden würden wie sie und Mariam es gewesen waren.

Noch einmal musterte sie verhalten das Gesicht der Frau, die ihr nun gegenübersaß. Mathilda hatte die hellen Augenbrauen gerunzelt und blickte konzentriert auf ihren Monitor. Selbst ihre Wimpern waren blond, stellte Julia fest, was ihre grünen Augen umso intensiver hervorhob. Sie mussten ein ungleiches Paar abgeben. Julia war nicht nur größer als Mathilda, sondern sah auch immer so aus, als käme sie gerade aus dem Sommerurlaub. Ihr Körper besaß Rundungen, die sie in ihrer Jugend, als Cocaine-Chic im Trend gewesen war, verflucht und erst in den letzten Jahren zu akzeptieren gelernt hatte. Denn warum sollte sie etwas an sich selbst verurteilen, das sie an anderen Frauen begehrenswert fand?

Julia fand viele Menschen attraktiv. MingMing, weil sie sexy und zielstrebig war. Ivanov, smart und souverän. Hiwatari war offensichtlich gutaussehend, und um ein Unternehmen wie Hiwatari Enterprises zu führen, brauchte es auch andere Qualitäten. Und Mathilda… ja, auch Mathilda war anziehend. Julia hatte eine Schwäche für Frauen in maßgeschneiderten Anzügen. Doch Mathilda war spröde, gelinde gesagt. Obwohl sie behauptet hatte, sich in Bakuten wohler zu fühlen als in Tokio, machte es keinen Anschein, als würde sie sich auf Julia, das Team oder irgendetwas sonst hier einlassen wollen. Es war, als wäre sie nur hier, um einen Job zu machen und dann wieder zu verschwinden. Julia war gewillt, zu glauben, dass dies einfach ihr Charakter war - aber sie dachte auch bei sich, wie anstrengend es sein musste, Menschen ständig auf Abstand zu halten.

„Eines verstehe ich nicht”, sagte Mathilda in diesem Moment.

Julia zuckte zusammen. Hatte sie gestarrt? Wenn dem so war, so schien Mathilda es nicht bemerkt zu haben, denn sie sprach weiter, als wäre nichts gewesen: „Warum ist jemand wie Hiwatari mit einem grauen Mäuschen wie Hiromi Tachibana zusammen?”

„Vielleicht ist er einfach verliebt?”, entgegnete sie. „Tachibana ist eine hübsche Frau, und sie ist beruflich extrem erfolgreich. Sie hat eine exzellente Bildung genossen und kennt sich anscheinend mit Literatur aus. Angeblich sind sich die beiden bei einer Lesung begegnet und ins Gespräch gekommen.”

Mathilda brummte zweifelnd. „Kommt mir trotzdem alles ein wenig zu gut vor. Wir sollten den Bodyguard fragen, was Hiwatari so macht, wenn Tachibana nicht bei ihm ist.”

„Denkst du, er hat eine Affäre?”

„Warum nicht? Er ist reich und schön. In dieser Welt kann er also tun und lassen, was er will.”

Julia schnaubte ungläubig und ergänzte „zynisch” auf ihrer Liste der Begriffe, mit der sie ihre neue Kollegin beschreiben konnte.

Eine E-Mail ging in ihrem Postfach ein. Gleichzeitig hörte sie den Nachrichtenton auch auf Mathildas Seite.

„Die Spurensicherung ist durch”, verkündete sie überflüssigerweise.

Mathilda stand auf und griff nach ihrem Jackett.

„Wollen wir wetten?”, fragte sie.

Julia, die sich ebenfalls erhoben hatte und gerade ihren Mantel überzog, hielt verdattert inne.

„Ich halte es immer noch für sehr wahrscheinlich, dass Hiwatari sich nur eine Auszeit gegönnt hat”, meinte Mathilda. „Hältst du dagegen?”

Julia nickte. „Ja. Ich sage, sein Verschwinden war nicht freiwillig. Um was wetten wir?”

„Die Verliererin zahlt eine Woche den Kaffee.”

„Einverstanden. Mach dich auf was gefasst, ich trinke mindestens vier Tassen am Tag. Und nicht den billigen!”

Mathilda lachte nur, und dieses Geräusch war etwas, das Julia gleichzeitig überraschte und erleichterte. Vielleicht war es doch nur eine Frage der Zeit, bis Mathilda sie hinter ihre harte Schale sehen ließ.
 

Als sie erneut in Hiwataris Haus standen, verging ihnen das Lachen allerdings recht schnell. Emily York, ihre Kollegin von der Spurensicherung, führte sie durch die Räume und erklärte, was gefunden worden war - oder besser: was nicht.

„Es gibt keinerlei Einbruchsspuren”, begann sie. „Weder an den Türen, noch an den Fenstern. Also warum auch immer die Haustür offenstand, sie wurde nicht gewaltsam geöffnet. Wenn eine fremde Person hier drin war, so wurde sie hereingelassen. Womit ich zum zweiten Punkt komme: Es könnte eine fremde Person hier gewesen sein. Muss aber nicht. Wir haben Fingerabdrücke von mindestens drei verschiedenen Personen gefunden. Das wird aber noch untersucht. Im Wohnzimmer herrscht zwar ziemliches Chaos, die Dinge, die laut Miss Tachibana entwendet wurden, waren aber keineswegs versteckt.”

„Das heißt, jemand könnte absichtlich alles durcheinandergeworfen haben, um von irgendetwas abzulenken”, meinte Mathilda.

„Oder es hat ein Kampf stattgefunden”, ergänzte Julia. „Auch das würde bedeuten, dass die geraubten Gegenstände nur eine Ablenkung sind.”

Emily hob die Schultern. „Die Schlussfolgerungen überlasse ich euch. Das einzige, was mich wirklich beunruhigt, ist der Flur.”

Sie folgten ihr die Treppe hinunter. Emily ging auf den Eingangsbereich zu und deutete auf die Scheuerleisten und dann auf den Türrahmen.

„Wir haben hier überall kleine Blutspritzer gefunden”, sagte sie. „Jemand scheint sich ordentlich den Kopf am Türrahmen gestoßen zu haben, und zwar genau… hier.” Sie deutete auf eine Stelle des Rahmens, an der tatsächlich etwas Blut zu kleben schien.

Julia trat näher. Von Hiromi Tachibanas Beschreibung wusste sie, dass Hiwatari und sie etwa dieselbe Größe hatten. Der Blutfleck am Türrahmen befand sich auf der passenden Höhe. Sie verzog nachdenklich den Mund.

„Das spricht für meine Theorie mit dem Kampf”, sagte sie.

„Das Blut schicken wir zum Abgleich ins Labor. Im Wohnzimmer standen zwei Gläser, die schicken wir auch mit. Das Ergebnis habt ihr dann in ein paar Tagen”, informierte Emily.

Julia nickte ihr dankend zu, und Emily ließ sie und Mathilda allein, um die letzten Formalien zu erledigen.

Auch Mathilda setzte sich in Bewegung. Sie stieß die Haustür auf und lief, den Blick nach unten gerichtet, einmal den Weg zur Gartentür entlang. Als sie wieder zurückkam, war ihre Miene grimmig.

„Es sind auch ein paar Blutstropfen auf den Gehwegplatten”, berichtete sie. „Also, wenn es Hiwataris Blut ist…”

„...dann ist hier vielleicht ein Verbrechen passiert”, schlussfolgerte Julia.

„Wir sollen annehmen, dass hier ein Einbruch und Raub passiert ist, wenn es in Wirklichkeit nie um etwas Materielles ging”, sagte Mathilda. „Sondern immer nur im Hiwatari selbst. So langsam glaube ich auch an deine Theorie, Julia. Was denkst du? Eine Entführung?”

Julia kommentierte es nicht, aber es gefiel ihr, wie Mathilda auf sie einging. Trotzdem reichten die Spuren noch nicht aus, um zu wissen, was genau passiert war. Wenn Hiwatari entführt worden war, wo blieben die Forderungen des Entführers? Blieb also Mord. Doch ohne eine Leiche kein Mord. Und die Menge an Blut, die sie gefunden hatten, reichte bei Weitem nicht aus, um jemanden zu töten.

„Ganz ehrlich, ich werde aus dieser ganzen Wohnung nicht schlau”, meinte Mathilda in diesem Moment. „Es gibt keine Familienfotos. Keine Anzeichen für Hobbys, keine Erinnerungsstücke. Nicht mal irgendwelche verrückten Kinks. Ich habe fest damit gerechnet, dass Hiwatari ein Sexzimmer im Keller hat, aber nein. Das einzige, das wir gefunden haben, sind ein Gemälde der Großmutter, ein Schmuckstück und jede Menge Kram, der offensichtlich nur als Geldanlage dient. Also ganz ehrlich: Entweder, Kai Hiwatari ist der langweiligste Millionär der Welt - oder er hat Geheimnisse.”

Aber konnte er diese Geheimnisse wirklich für sich behalten? Anscheinend war Kuznetsov, der Bodyguard, die meiste Zeit mit ihm zusammen. Das machte es schwer für Kai, Dinge vor ihm zu verbergen. Es war natürlich auch möglich, dass Kuznetsov log, wenn er behauptete, nichts zu wissen. Hiwatari war an Kuznetsov erstem freien Tag nach einer halben Ewigkeit verschwunden. Das allein war verdächtig genug.

„Dann nehmen wir uns die Leute aus seinem Umfeld noch mal vor“, sagte Julia. „Tachibana. Kuznetsov. Diesen Volkov, mit dem Hiwatari angeblich Streit hatte. Meinetwegen auch Smith, den Assistenten.“

„Und Ivanov“, ergänzte Mathilda.

„Und Ivanov“, wiederholte Julia.

Sie wollte zurück zum Auto gehen, doch in diesem Moment schloss sich eine kleine Hand um ihren Arm. Mathildas Griff war fest, ihre Nägel, das merkte Julia jetzt, waren kurzgeschnitten.

„Es tut mir leid, was ich neulich gesagt habe, nachdem wir bei Ivanov waren”, sagte Mathilda. „Ich wollte nicht deine Professionalität in Frage stellen. Schon gar nicht von Frau zu Frau.”

Verwundert hielt Julia inne. Hatte diese Sache Mathilda etwa seit gestern beschäftigt? Instinktiv legte sie ihre Hand auf Mathildas, in deren Augen dabei zum ersten Mal so etwas wie Unsicherheit, vielleicht auch Verlegenheit, aufflackerte. Aber sie entzog sich nicht ihrem Griff. Julia nahm es als gutes Zeichen. Sie mussten sich vertrauen können, sonst wäre ihre Zusammenarbeit arg gefährdet.

„Ich nehme meine Aufgabe sehr ernst, das solltest du wissen”, sagte sie.

„Ich weiß”, bestätigte Mathilda nickend. Dann nahm sie doch die Hand von Julias Arm. „Das ist auch der Eindruck, den ich von dir habe. Vielleicht war ich deswegen so überrascht.” Sie ignorierte Julias fragenden Blick und schlug den Weg Richtung Auto ein. Julia blieb nichts anderes übrig, als ihr zu folgen.

Erst als sie den Motor gestartet hatte, hörte sie, wie Mathilda erneut Luft holte.

„Ehrlich, Julia”, sagte sie. „Ivanov spielt nicht in deiner Liga.”

„Huh?!”, entfuhr es Julia.

Mathilda sah sie fast aufgebracht an. „Blass, rothaarig, kein Arsch in der Hose? Im Ernst?”

Julia konnte nicht anders, sie lachte schallend auf. Ihr war, als würde sie Mathilda ebenfalls leise kichern hören.
 

3 Tage vermisst
 

„Beschreiben Sie doch mal Ihre Beziehung”, sagte Mathilda. „Wir möchten uns ein Bild von Ihrem Partner machen.”

Hiromi Tachibana seufzte und nickte dann traurig. Sie wirkte übernächtigt. Julia, die auf der Couch saß, konnte von dieser Position aus in die Küche blicken, wo sich Geschirr auf der Ablagefläche stapelte. Auch der Rest ihrer Wohnung sah unordentlich aus. Nicht verwunderlich in der Situation, in der sie sich befand. Julia wollte sie nicht noch mehr unter Druck setzen, doch bisher waren sie einfach nicht weitergekommen. Niemand hatte etwas von Hiwatari gehört. Sie hatten alle Krankenhäuser, die Flughäfen, sogar Fitnessstudios und Restaurants, die er frequentierte, abgegrast. Nichts. Der letzte, der Hiwatari gesehen hatte, war Kuznetsov. Und an dessen Alibi war nicht zu rütteln. Kuznetsov war in seiner Stammkneipe gesehen worden, und seine Nachbarn waren ihm zu Zeiten begegnet, die es unmöglich machten, dass er zwischendurch zum Anwesen von Hiwatari gefahren war.

Kurzum: Ihre Anhaltspunkte führten bislang ins Leere. Also mussten sie mehr über den Mann selbst in Erfahrung bringen. Julia hatte keine Ahnung, wie sie sich Hiwatari vorzustellen hatte. War er zuvorkommend? Egoistisch? Arrogant? Zärtlich?

„Sie wissen ja schon, wie wir uns kennengelernt haben”, sagte Hiromi. „Ich wusste zunächst nicht, wer er war. Für mich war Kai ein ganz normaler Typ, der sich für Literatur interessiert. Ein sehr attraktiver, ganz normaler Typ”, ergänzte sie mit einem kleinen Lächeln. „Kai gehört zu dieser unmöglichen Sorte Mensch, die extrem viele Privilegien in die Wiege gelegt bekommen und trotzdem nicht zu Arschlöchern werden. Er hat nicht den einfachsten Charakter, aber wir konnten uns von Anfang an vertrauen. Ich glaube, deswegen hat er sich in mich verliebt. Vertrauen ist ihm unglaublich wichtig.”

„Was meinen Sie damit, wenn Sie sagen, er hat nicht den einfachsten Charakter?”, hakte Mathilda nach. „Verzeihen Sie, ich habe das schon oft gehört, über Personen, die zu Jähzorn und häuslicher Gewalt neigen.”

„Das wollte ich damit nicht sagen”, entgegnete Hiromi ruhig, und instinktiv glaubte Julia ihr.

„Kai ist ehrgeizig, und wenn er etwas will, dann bekommt er es in der Regel auch”, fuhr Hiromi fort. „Aber das zeigt sich eher in der Firma. Und er löst Probleme lieber mit Finesse als mit Fäusten. Wenn wir uns streiten, läuft es immer sehr zivilisiert ab.”

„Ist er gut im Bett?”, fragte Mathilda.

Sowohl Hiromi als auch Julia starrten sie entgeistert an.

„Bisher klingt es für mich so, als wären Sie Kollegen”, fuhr Mathilda unbeirrt fort. „Sie sagen, Sie wären ineinander verliebt - ist Ihre Beziehung so? Ist er eher der kühle Typ? Sind Sie es?”

Überraschenderweise lachte Hiromi kurz auf.

„Die meisten würden sagen, er ist nicht nur kühl, sondern eiskalt”, sagte sie. „Es braucht eine Weile, bis Kai zeigt, wie er wirklich ist: Voller Pläne und Ideen. Ein bisschen exzentrisch. Und ja, er ist gut im Bett. Wir sind vielleicht nicht das verruchteste Paar, aber ich komme auf meine Kosten.”

„Also alles ganz normal und harmonisch”, murmelte Mathilda, während der Stift über ihr Tablet fuhr. Wahrscheinlich wollte sie, dass Hiromi den sarkastischen Unterton hörte, doch diese ließ sich nicht auf die Provokation ein.

„Warum wurde Kuznetsov eingestellt?”, übernahm Julia jetzt. „Einen Bodyguard zu engagieren, legt nahe, dass es Ärger gibt.”

„Es gibt ständig Ärger bei Hiwatari Enterprises”, behauptete Hiromi. „Aber das fragen Sie besser Ivanov. Kai trennt Privates und Berufliches lieber, er erzählt mir nicht immer alles. Kann er auch gar nicht. Hiwatari Enterprises ist ein riesiges Unternehmen. Die Familie Hiwatari ist sehr einflussreich. Soichiro hatte noch als Präsident der Firma drei Bodyguards. Ich finde es nicht ungewöhnlich, dass Kai es ihm gleichtut.”

„Ist es auch Tradition in der Familie, dass Russen für diesen Job eingestellt werden? Gibt es da eine Verbindung?”

„Ja, allerdings. Kais Großmutter war Russin, und es bestehen einige Geschäftsbeziehungen nach Russland. Ich bin erstaunt, dass Sie das nicht wissen.”

Julia kommentierte das nicht, sondern machte sich Notizen. Das erklärte wahrscheinlich auch, warum Hiwatari ausgerechnet jemanden wie Ivanov zu seiner rechten Hand machte. Sie wollte nicht in die Stereotypenfalle tappen, wollte nicht sofort an die Mafia und zwielichtige Machenschaften denken. Aber sie konnte auch nicht verhindern, dass ihre Gedanken kurz in diese Richtung drifteten.

„Wie ist eigentlich das Verhältnis zwischen Soichiro und Kai?”, fragte sie.

Dieses Mal verdüsterte sich Hiromis Miene.

„Ich will nicht lügen”, sagte sie. „Ich habe Soichiro nie gemocht. Und Kai mochte ihn auch nicht. Ihr Verhältnis war bestenfalls geschäftlich und schlimmstenfalls ein offener Krieg. Ich weiß nicht, was genau damals mit Kais Vater passiert ist, aber das war eines der Dinge, über die sie ständig gestritten haben. Soichiro hat Kai extrem unter Druck gesetzt, weil er sein einziger Nachfolger war. Kai musste die Last, die früher sein Vater geschultert hat, zusätzlich tragen. Er konnte sich keinen einzigen Fehler erlauben.”

So war das also. Ein klassischer Generationenkonflikt zwischen einem ehrgeizigen Enkel und einem Großvater, der wahrscheinlich auf seinem Reichtum saß wie ein Drache auf einem Berg Gold. Das Ganze garniert mit einer Prise Familientrauma, dank Suzumus. Und doch schien Kai Hiwatari von allen respektiert zu werden.

Wer würde ihm etwas antun wollen, und warum?

Das Geld war, nach Julias Ansicht, das größte Motiv. Vielleicht zwang jemand Hiwatari dazu, sich selbst freizukaufen. Deswegen kein Erpresserschreiben. Aber auf seinen Konten hatte es seit Tagen keine Bewegung gegeben. Sie hatten gleich zwei Kollegen darangesetzt, seine vielen Besitzungen zu beobachten und nach Auffälligkeiten zu suchen. Dass keiner von ihnen etwas gemerkt hatte, war ein denkbar schlechtes Zeichen.

Ihre Gedanken kehrten immer und immer wieder zur gleichen Frage zurück: Warum sollte Kai Hiwatari einfach so verschwinden? Ja, der Mann war reich. Aber er führte ein Leben wie in einem goldenen Käfig. Behütet und langweilig. Es ergab einfach keinen Sinn.

Was zur Hölle war hier los?
 

Am Nachmittag kam Boris Kuznetsov ins Präsidium. Wenn er ihnen schon nichts über die Nacht, in der Hiwatari verschwunden war, erzählen konnte, so doch vielleicht etwas über seinen Arbeitgeber selbst.

„Wie kommt es, dass er sie eingestellt hat?”, fragte Julia.

Boris hatte auf dem Besucherstuhl Platz genommen. Da dies nur eine routinemäßige Befragung war, war ein Vernehmungszimmer nicht nötig. Sie hatten ihm sogar einen Kaffee und Kekse angeboten. Zugegeben, es war nur der Automatenkaffee des Präsidiums. Julia hingegen schlürfte Coldbrew aus einem Becher, den Mathilda ihr von der Mittagspause mitgebracht hatte. Immerhin hatte sie ihre Wette verloren. Doch Mathilda, so stellte sich heraus, war eine Ehrenfrau, die Wettschulden ohne zu murren beglich. Auch dadurch stieg sie in Julias Ansehen.

Der Stuhl war definitiv zu klein für Boris. Er war wirklich eine imposante Erscheinung: an die zwei Meter groß, gebaut wie ein Panzer, den Kurzhaarschnitt aschblond gefärbt, sodass er schon grau wirkte, Nasenpiercing, Augenbrauenpiercing und - wenn sie die Erhebungen unter dem Shirt richtig deutete - Nippelpiercings. Aus den Ärmeln und dem Kragen lugten Tattoos.

„Ich habe eine Weile für einen seiner Geschäftspartner in Russland gearbeitet”, erzählte Boris. „Er hat mich abgeworben.”

„Warum haben Sie sich darauf eingelassen?”

Boris hob die Schultern. „Ich wollte schon immer andere Länder sehen. Die Bezahlung ist außerordentlich gut. Und ich verstehe mich mit Kai. Ich würde behaupten, wir sind befreundet.”

„Wie genau muss ich mir Ihren Alltag vorstellen?”

„Ich bin quasi in achtzig Prozent der Zeit in seiner Nähe”, erklärte Boris. „In der Regel arbeite ich tagsüber, es sei denn, er ist auf Veranstaltungen. Wir treffen uns morgens bei ihm. Ich begleite ihn, wo immer er hinmuss. Fitnessstudio. Ein Essen. Meist einfach ins Büro. Wenn er den ganzen Tag bei Hiwatari Enterprises ist, habe ich weniger zu tun. Die Sicherheitsstandards dort sind extrem hoch. Aber er hat oft externe Meetings. Abends bringe ich ihn nach Hause, checke das Sicherheitssystem dort und fahre dann zu mir. Rinse and repeat”, fügte er mit einem Grinsen hinzu.

„Und dabei ist Ihnen nie etwas aufgefallen?”, fragte Julia. „Nichts, was Aufschluss darüber geben könnte, dass etwas passieren würde?”

Jetzt lehnte Boris sich zurück. Er schlug ein Bein über das andere und biss sich nachdenklich auf den Daumennagel.

„Genau diese Frage stelle ich mir seit Tagen”, sagte er. „Es macht mich wahnsinnig. Habe ich etwas übersehen? Gab es Warnzeichen? Was ist eigentlich mit den Kameraaufzeichnungen, die Sie mitgenommen haben?”

„Sind noch in der Auswertung”, antwortete Mathilda ungerührt.

Boris verdrehte die Augen. „Hätten Sie mich das machen lassen, wüssten wir jetzt vielleicht schon mehr.”

Im Stillen stimmte Julia ihm zu. Das Forensikteam ließ sie wirklich lange zappeln, dabei hatte sie extra eine schnelle Bearbeitung angefordert. Sie hoffte einfach, das Ergebnis zusammen mit Emilys Auswertungen zu bekommen. Und, dass sie das ein Stück weiterbrachte. Es war ermüdend, so im Dunkeln zu stochern.

„Sie wissen sicherlich, was ihr Arbeitgeber in seiner Freizeit macht”, sagte sie.

„In seiner was, bitte?” Boris’ Lachen klang heiser. „Der Mann arbeitet zehn Stunden am Tag. Er geht viermal die Woche ins Gym und trifft sich fast jeden Abend mit seiner Freundin, wenn er nicht noch irgendwelche Geschäftsessen hat. Er nimmt sich vielleicht zwei Wochen Urlaub im Jahr, dann fahren Hiromi und er ans Meer oder nach St. Petersburg zu ein paar Verwandten, die Kai nicht hasst. An seinen freien Wochenenden bleibt er auf dem Sofa und liest.”

Verdammt noch mal, Hiwataris Leben war wirklich dröge.

„Welchen Eindruck haben Sie von Hiromi Tachibana? Also, vor allem von ihrer Beziehung zu Hiwatari?”, fragte sie weiter.

„Ach Gott.” Boris machte es sich wieder bequem, rutschte ein Stück nach unten und spreizte die muskulösen Beine. „Die beiden sind schon niedlich, oder? Ich war quasi dabei, als sie sich kennengelernt haben. Ich wusste ja, dass in Kai ein kleiner Nerd steckt, aber dass er dann ausgerechnet bei einer Lesung seine Zukünftige entdeckt? Das ist schon sehr lustig. Es gibt eine Menge Frauen aus gutem Hause, die liebend gern Hiromi Tachibana wären. Aber Kai ist da eigen. Und scheißt auf Konventionen, wenn ich das so sagen darf.”

„Also alles normal?”

„Die beiden sind ein Powercouple”, antwortete Boris. „Bisschen unheimlich, wenn Sie mich fragen. Beide extrem karrierefokussiert, ehrgeizig, schlau. Interessieren sich für ähnliche Themen - Kunst, Kultur, Geschichte, Reisen. Hiromi ist eine klasse Frau, und eine klasse Frau für Kai.”

Julia nickte und notierte sich die Worte, die Boris gebraucht hatte. Powercouple. Klasse Frau. Irgendwie passten diese Ausdrücke nicht zu ihm.

„Haben Sie eigentlich eine Partnerin?”, fragte Mathilda. „Ich kann mir vorstellen, dass das ziemlich schwer ist, wenn Sie die ganze Zeit mit Hiwatari zusammen sind.”

„Das stimmt”, antwortete Boris ungerührt. „Viel Zeit bleibt nicht. Ich beschränke mich eher auf Flirts und kürzere Abenteuer.”

„Ist das okay für Sie?”

„Hören Sie”, sagte Boris. „Ich bin kein Kind von Traurigkeit. Und Kai bezahlt mich verdammt gut. Ich werde diesen Job nicht ewig machen können, also nehme ich jetzt, was ich kriegen kann, und der Rest kommt später. Prioritäten, hm?!”

Dagegen ließ sich nur schwer argumentieren. Das schien auch Mathilda zu denken, denn sie hörte auf, zu fragen. Stattdessen erkundigte Julia sich nach Soichiro. Boris bestätigte das, was Hiromi ihnen bereits erzählt hatte. An dem Familienkonflikt schien also etwas dranzusein. Ob sie das weiterbringen würde, war dahingestellt, immerhin war Soichiro tot und hatte die Fehde mit ins Grab genommen.

Nach einer Stunde ließen sie Boris ziehen. Julia hatte das Gefühl, keinen Schritt weitergekommen zu sein. Auch wenn Sie sich Hiwatari etwas besser vorstellen konnte, blieb er weiterhin ein Rätsel.

Sie seufzte.

„Ich habe das Gefühl, schon vom Zuhören Staub anzusetzen”, murmelte sie. „Hiwatari führt das Leben eines alten Mannes.”

Wenn er ein Geheimnis hatte, dann musste Kuznetsov davon wissen. Und der sollte doch ein Interesse daran haben, dass seinem Geldgeber nichts passierte. Warum also sollte er dichthalten?

Wahrscheinlich gab es kein Geheimnis, abgesehen vom Grund, weshalb Hiwatari verschwunden war.

Julia begann, Schlimmes zu ahnen. Wenn es keine vernünftige Erklärung für das Verschwinden eines Menschen gab, so blieb nur eines: Jemand wollte ihn loswerden. Oder er war zum Opfer eines spontanen Verbrechens geworden.

„Wir müssen Hiwatari Enterprises durchkämmen”, drang Mathildas Stimme zu ihr durch.

Julia nickte müde. Sie hatte gehofft, dies nicht tun zu müssen. Ermittlungen innerhalb eines Unternehmens verursachten eine Menge unnötige Publicity. Aber auch hier galt: Wenn sie Hiwataris Privatleben durchkämmt hatten, ohne etwas zu finden, mussten sie mit seinem beruflichen Leben weitermachen.

„Nun, ich habe gesagt, ich mag es, wenn es hässlich wird, nicht wahr”, stellte sie fest.



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (0)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.

Noch keine Kommentare



Zurück