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Das Glück der Erde

von

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Landei auf Probe

Die ersten Tage auf dem Gestüt waren aufregender als Genzo dachte. Elena begann mit Birins Training, nachdem er ihr eines seiner Sportjacken auslieh, damit die Stute sich langsam an seinen Geruch gewöhnen konnte. Das laute, wütende Wiehern und die direkten Angriffe auf den Dummy, der seine Jacke trug, deuteten allerdings nicht wirklich auf eine baldige Versöhnung hin. Allein die Reithalle zu betreten, während er wusste, dass Birin sich darin befand, bescherte ihm Bauchschmerzen und weiche Knie. Zu Elena sagte er, dass er nicht länger dem Training beiwohnen wollte.

Sie verstand es. Sie sah ihm an, dass er nicht nur nervös wurde, sondern richtig angst vor Birin bekam. Es war traurig mit anzusehen, dass Birin Genzo nicht mochte und das förderte den Heilungsprozess des Keepers nicht.

»Sie wartet in der Halle«, sagte sie und lächelte gezwungen, als sie Genzo allein am Tisch bei Timurs Haus sitzen sah.

»Ok«, antwortete er wenig selbstbewusst. »Sei bitte vorsichtig«

»Versprochen.« Elena verkniff sich einen neckischen Kommentar. Genzo war schon aufgewühlt genug, da wollte sie ihn nicht auch noch reizen. Sanft klopfte sie ihm auf die gesunde Schulter, dann marschierte sie Richtung Tür. Sie hielt die Klinke, aber drückte sie nicht nach unten.

»Genzo«, hörte er im Flur seinen Namen. »Ich verspreche dir, dass sie dich genauso gern haben wird wie die anderen Pferde.«

Dann trat sie aus der Tür und war verschwunden. Diese Zuversicht. Diese Zuversicht und der Glaube daran, dass sie es schaffte, machten ihm Mut. Das flaue Gefühl im Magen allerdings konnte es kaum mildern.

Er entschied sich zu joggen. Wenn er schon nicht mit seinen Armen trainieren konnte, dann wollte er zumindest etwas für seine Beine tun. Er räumte das Geschirr in die Spülmaschine ein, schnappte sich Timurs Ersatzschlüssel und sprintete aus dem Gestüt. Das Laufen am Land tat wirklich gut. Während seines Aufenthalts bei den Goldsteins lief er mit Elena, die beinahe zeitgleich am Morgen ihre Runden drehte, die Feldwege entlang. Meist redeten sie über alltägliche Dinge, oft auch über ihre Berufe. Gestern fragte sie den Keeper förmlich über den potentiellen neuen Spieler aus, als Genzo beiläufig erwähnte, dass sein Verein überlegte jemanden aus Grünwald zu verpflichten. Er wurde nostalgisch, als er ihr von seinen Anfängen in Deutschland erzählte. Er vermisste seine Jungs in Hamburg und den Grünwald – Verein. Besonders vermisste er seinen Kumpel Kaltz und die gemeinsamen Spiele mit ihm.

Er lehnte sich an einen Zaun und seufzte schwer. Er ließ gedankenverloren den Blick über die Koppel schweifen und achtete kaum auf die grasenden Hengste. Sein Smartphone rumorte und zog das schlanke Gerät aus seiner Hosentasche. Neugierig schaute er aufs Display und erhielt eine Nachricht von Karl:
 

Karl: Na, wie ist das Landleben so, du Landei?
 

Genzo schmunzelte und begann ihm zu antworten.
 

Genzo: Nicht übel. Viel Ruhe, nicht so beengt wie in der Innenstadt und Gesellschaft habe ich auch!

Karl: Ich habe Kaltz angerufen und ihm mitgeteilt, dass du für einige Wochen ausfällst. Amüsiert war er darüber nicht gerade und meinte dann, er wolle dich unbedingt im Finale schlagen.

Genzo: Ich dachte mir schon, dass er mir meine Schulterverstauchung übel nehmen wird (lach).

Karl: Ich soll Grüße von ihm dalassen. Von den Rotburgern genauso.

Genzo: Grüße zurück.
 

Minutenlang war es still im Nachrichten – Dienst. Genzo sah ab und an auf sein Smartphone. Karl schrieb, aber es kam nichts an. Offenbar wollte er ihm einen halben Roman verfassen, oder aber er schien nachzudenken, welche Nachricht er ihn senden wollte und überlegte sich passende Sätze zurecht.

Ein warmer Luftstoß erwischte seine Wangen. Genzo blinzelte, ehe er das schimmernde Fell von Dilas vor sich hatte.

»Hi!«, freute sich der Keeper das cremefarbene Pferd zu sehen und begann ausgiebig sein Kinn zu kraulen. »Du hast es sicher mitbekommen, dass Lenchen gerade dabei ist Birin zu trainieren. Ich hoffe nur, sie wird herausfinden, warum die Stute mich nicht mag. Dabei bin ich doch ein ganz Lieber, oder was meinst du?«

Dilas rieb seinen Kopf an Genzos Gesicht. Er lachte warm und klopfte ihm beherzt am starken Hals.

»Ich wusste doch, dass du mich magst.«

Endlich kam die erlösende Nachricht des Fußballkaisers und las sie durch:
 

Karl: Btw wir wollen gerne wissen, ob du mit dem Liebäugeln einer gewissen Reiterin vorankommst ;D
 

Genzo stieß abermals ein lautes Seufzen aus. Wie kamen die Jungs nur darauf, dass er was von Elena wollte? Er leugnete nicht, dass sie sehr hübsch war und dass sie sich Zeit für seine Probleme nahm, rechnete er ihr hoch an. Auch, dass sie kein Blatt vor den Mund nahm und ihm oft Paroli bot... gefiel ihm eigentlich auch...
 

Genzo: Da liebäugel ich eher mit Dilly als mit der nervigen und fiesen Ponyhalterin. Er ist zumindest nett und reibt mir keine gemeinen Sprüche ins Gesicht ;P
 

Bevor Karl antworten konnte, bekam er vom Keeper ein Selfie zugeschickt. Zu sehen waren Genzo und Dilas. Letzterer streckte frech seine lange Zunge heraus, während der Keeper grinsend daneben stand und mit einer Nachricht betitelt mit „Eine aufblühende, neue Männerfreundschaft (Herzchen – Symbol)“ geschmückt war. Es dauerte keine zwei Sekunden für seine Antworten und musste unweigerlich schmunzeln.
 

Karl: Wir sind dir nicht mehr gut genug?! Ich bin schockiert!

Genzo: Tja, ich kann Dilas all meine düstersten Geheimnisse anvertrauen, ohne angst zu haben, er könnte es jemandem verraten.

Karl: Als ob wir das nicht auch könnten!

Genzo: Ihr Jungs seid schlimmer als jedes tratschende Schulmädchen am Pausenhof.
 

Er erinnerte sich an diese Zeit, als er als Zwölfjähriger in eine deutsche Schule kam. Zu seinem Glück war es eine, die der internationalen japanischen Schule in Düsseldorf ähnelte und es japanischen Kindern einfacher machte sich in Deutschland einzuleben. In den Pausen hatte er oft Mädchen beim tuscheln und kichern beobachtet und fühlte sich sogleich in seiner alten Schule zurückversetzt. Sonderlich viel Beachtung hatte er ihnen nie gegeben. Er interessierte sich eher für den Fußball als für Mädchen. Dass sie ihn und seine Mannschaft während der Spiele anfeuerten, brachte ihn oft in Verlegenheit, die er geschickt unter seine Kappe verbarg. Die Bewunderung um seine Person pushte sein Ego ordentlich hoch und der Erfolg, den er bereits als kleiner Junge erzielte, stieg ihm zu Kopf. Oft gab er großspurig mit seinen Fähigkeiten als Torwart an. Die Arroganz zeigte sich selbst dann, als er von seinen Eltern verlangte den besten Torwart als sein Privattrainer einzustellen und Tatsuo Mikami abschätzig musterte, da dieser bei einer Meisterschaft nur dritter wurde.

Dieser Hochmut kam ihm teuer zu stehen, als Tsubasa in sein Leben trat und nicht nur er, sondern auch sein Mentor ihm die wahre Bedeutung des Fußballs lehrten. Seit dem Ereignis spielte er Fußball nicht nur für sich. Er spielte es mit seinen Freunden und vor allem aus der Freude darin.

»Hätte sie mich damals auch gemocht?« Genzo erntete einen neugierigen Blick des Pferdes und wunderte sich plötzlich über seine Frage. Hatte er gerade an Elena gedacht und wie es gewesen wäre, sich bereits als Kinder zu kennen? Eine absurde Vorstellung, dachte er und verwarf diesen schnell wieder.
 

Zwei Stunden waren vergangen, als Genzos Verletzung sich bemerkbar machte und den Rückzug zum Gestüt antrat. Kaum setzte er einen Fuß aufs Gelände, da bemerkte er die Angestellten, die ein Paar freudig umschwärmten und grüßten. Einige von ihnen brachten bereitwillig das Gepäck des Paares ins Anwesen. Der sehnige Körper des Mannes verbarg sich unter einem maßgeschneiderten Anzug; ein gepflegter Spitzbart zierte seine gebräunte Haut und strahlten ein sonniges Gemüt aus. Die Dame neben ihn, sehr wahrscheinlich seine Ehefrau, trug ein cremefarbenes Kostüm und ihr hellblondes Haar wallte hinunter bis zu ihrem Rücken. Auch sie grüßte die Angestellten mit einem warmen Lächeln, ehe sie auf Bitten ihres Mannes sich in die Villa zurückzog, um nach dem Gepäck zu schauen.

»Elenas Eltern.« Genzo hatte keine Zweifel daran, dass diese Personen ihre Eltern waren. Timur erzählte ihm, dass sie für ein paar Wochen auf Geschäftsreise in Russland waren, um mögliche Abwicklungen mit Züchtern und Käufern zu machen. Solche Themen war für den Keeper an manchen Stellen etwas zu hoch – nun, er war auch kein Geschäftsmann. Er hielt sich in solchen Dingen eher fern und blieb bei seinem geliebten Fußball. Er erschrak sich, als die dunkelbraunen festen Augen des Herren die des Keepers erfasste und sein Gegenüber neugierig sowie interessiert seine Brauen anhob.

»Na, das glaub ich wohl nicht. Da steht doch tatsächlich der berühmte Genzo Wakabayashi hier auf meinem Hof!« Der Mann ging auf ihn zu und reichte ihm freudig seine Hand. »Alexandr Goldstein. Ist mir eine Freude dich mal hautnah zu sehen«

»Gleichfalls, Herr Goldstein.« Genzo verzog kurz sein Gesicht, als er den kräftigen Händedruck des Mannes spürte. Die kräftigen Hände eines Arbeiters.

»Mein Sohn hat mir bereits mitgeteilt, dass er dich in seinem Haus beherbergt. Das mit der Schulter ist wahrlich ärgerlich. Ich hoffe sehr, dass du schnell wieder am Platz stehen kannst«

»Solange ich die Anweisungen des Arztes befolge, denke ich, dass ich wieder spielen kann«

»Das wird es sicher. Ich hoffe es gefällt dir hier bei uns«

»Sehr sogar«, lächelte Genzo. »Ich danke auch Ihnen, dass Sie kein Problem haben, dass ich hier sein darf, Herr Goldstein«

»Du brauchst nicht so förmlich sein, Genzo. Alexandr oder Alex reicht völlig aus«, lachte er dann. »Und freut mich zu hören. Scheu dich nicht nach uns zu rufen, solltest du was brauchen«

»Das werde ich.«

Plötzlich durchfuhr Genzo ein Zucken, die von der Reithalle stammte. Sofort spannte sich sein Körper an und kleinste Tropfen kalter Schweiß mischte sich mit denen beim Laufen.

»Ist alles in Ordnung, Genzo?«

»Nun, Elena trainiert Birin«, erklärte er nervös.

»Sie trainiert ihn? Das ist normalerweise Timurs Aufgabe. Dürfte ich fragen, warum?«

»Sie hasst mich«, kam der Keeper sofort zur Sache. »Alle anderen Pferde mögen mich. Einzig für Birin bin ich ein Dorn im Auge. Sie will herausfinden, woran das liegt und trainiert seitdem mit ihr«

»Ich verstehe«

»Nie habe ich der Stute etwas getan, das müssen Sie mir glauben!«

»Genzo, ich vertraue dir, dass du dir nichts zu Schulden hast kommen lassen«, beruhigte Alexandr den aufgeregten Keeper. »Ich weiß nicht, was zwischen dir und Birin vorgefallen ist, aber ich bin zuversichtlich, dass Elena den Grund ganz schnell herausfinden wird«

»Ich hoffe es. Ich fühle mich hier sehr wohl und besuche das Gestüt gerne.«

Alexandr lächelte warm. »Darf ich ehrlich sein, Genzo? Ich habe dich nicht wirklich für jemanden gehalten, der etwas für Pferde übrig hat«

»Ich kam nie mit Pferden in Berührung«, gestand Genzo. »Das passierte alles zufällig, als ich Elena vor ein paar Wochen kennen lernte. Durch sie traf ich auch Timur und sind schnell Freunde geworden. Elena ist mir in der Zeit auch eine tolle Freundin geworden«

»Es freut mich sehr das zu hören. Und ich bin auch ein wenig verwundert«

»Verwundert?«

»Sie hat dir sicher erzählt, dass sie von Fußball absolut nichts hält, oder?«

Genzo lachte warm. »Mehr als oft sogar. Sie macht sich sogar über mich lustig und zieht mich immer mit meiner Leidenschaft für diesen Sport auf«

»Das kommt ganz nach Lenchen«, klopfte Alexandr Genzo beherzt auf seine breite Schulter. »Vielleicht kommt die Liebe zum Fußball zu ihr zurück. Wünschen würde ich es mir sehr für sie.«

Genzo wurde hellhörig und das fiel Alexandr auf.

»Sie hat sehr gerne Fußball gespielt«, erklärte er. »Als Kind ist sie mit ihrem Bruder oft auf dem öffentlichen Fußballplatz gegangen, um mit den anderen Kindern zu spielen. Sie ist sehr schnell gewesen und hatte es auch hin und wieder geschafft den Jungs den Ball abzuluchsen. Selbst der Unfall hielt sie nicht davon ab den Ball durch die Gegend zu kicken«

»Ein Unfall?«

»Ihr ist ein Pferd auf den Fuß getreten. Da war sie zwölf. Das Hufeisen hat ihr Bein aufgerissen und zertrümmerte ihren Fuß. Es mussten Schrauben angebracht werden und wenn ich in meinen Gedanken wieder die ganzen Bilder ihrer Verletzung abspiele, grenzte es an ein Wunder, dass es überhaupt möglich war«

»Und... wieso das?«, fragte Genzo vorsichtig.

»Das Pferd war ein echtes Schwergewicht. Kein Vollblut wie die Tekes hier, sondern ein Kaltblut. Diese Pferde werden nicht selten bis zu einer Tonne schwer. Es fehlte nicht viel und Elena würde heute mit einer Prothese herumlaufen.«

Die Farbe des Japaners wich aus seinem Gesicht. Er spürte wieder den kalten Schweiß auf seiner Haut, während er an seine Situation mit Birin dachte. Der ganze Körper spannte sich an, als er plötzlich das hallende Wiehern der Rappstute vernahm.

»Ich schaue mal nach meiner Tochter«, kam es rundheraus von Alex. »Auch, um zu sehen, welche Fortschritte sie mit Birin gemacht hat«

»Ich möchte nicht anmaßend klingen und ich will auf gar keinen Fall ihre Fähigkeiten als Trainerin in Frage stellen, aber glauben Sie wirklich, dass sie das in so kurzer Zeit schafft? «

Alexandr lächelte aufrichtig. »Du hast Lenchen nicht besonders oft bei ihrer Tätigkeit beobachtet. Sie hat ein ungeheuer feines Gespür für die Befindlichkeiten der Pferde. Ich sah das auch bei meiner Mutter.«

Die dunklen Augen des Mannes glitten zur Halle und Birins Temperament trommelte gegen die Wände.

»Die Bindung zwischen Reiter und seinem Pferd ist speziell. Als mein Volk einst durch die endlosen Steppen und Wüsten zogen, gab es Fälle, wo das Pferd seinen Reiter erwählte. Nicht selten geschah es bereits in Kindesalter, wo neue Fohlen geboren und die Kinder ein Band knüpften, der im Laufe ihres Lebens stärker wurde. Wir nannten es Eartheriň bagty. Übersetzt heißt das so viel wie „Das Glück der Erde“. Es ist wahrlich ein Segen und ein Privileg, dass der Mensch mit solch einer majestätischen und mächtigen Kreatur Seite an Seite auf dieser Erde leben darf und solch ein Band habe ich auch bei meiner Tochter gesehen. Sie war sieben, als Dilas zur Welt kam. Sie sahen sich einander in die Augen und ab da war jedem bewusst: Die beiden kann man nicht mehr voneinander trennen. Sie bleiben zusammen, bis zum Ende ihres Lebens.«

Genzo faszinierte es immer wieder neue Dinge über ihre Familie zu erfahren. Er wusste bereits von Timur über deren tiefe Verbundenheit zu den Tieren. Wenn er an den Reitsport im Allgemeinen dachte, hatte er meist das Bild von Kindern - vornehmlich Mädchen - im Kopf, die entweder mit ihrem Pferd über eine Blumenwiese galoppierten oder schicke Zöpfe in Mähne und Schweif flochten.

»Ich danke Ihnen«

»Wofür?«

»Dafür, dass ich die Ehre habe, Ihre Familie besser kennen lernen zu dürfen.«

Er lächelte. Alexandr stand direkt vor ihm und sofort schloss er den jungen Japaner in sein Herz.

»Nun denn, so wie ich mir dich ansehe, warst du gerade Laufen und du würdest dich gerne zurechtmachen«

»Wäre schön, ja«

»Gut, dann halte ich dich nicht mehr auf. Komme zu mir, solltest du etwas brauchen.«

Da verschwand der Herr Richtung Reithalle und ließ Genzo allein. Alexandr Goldstein, wiederholte der Japaner im Geiste den Namen. Der Besitzer und Chef des Gestüts – und Elenas Vater. Schon ein paar Minuten reichten vollkommen aus, um in ihm großen Respekt auszulösen. Das versprachen acht aufregende Wochen zu werden.
 

»Stopp, Birin!«

Laut wiehernd bäumte sich die Rappstute auf und fuchtelte mit ihren Vorderhufen. Elena erhob ihre Hände, ihr stoischer Blick eisern auf das Pferd gerichtet. Die Stute beruhigte sich rasch und trabte in eine Ecke. Sie seufzte. Birin hegte wirklich einen tiefen Groll auf den Keeper. Die Spuren auf dessen Sportjacke waren unübersehbar.

»Elena!«

Sie schlug ihre haselnussbraunen Augen auf und wirbelte herum.

»Vater!«, rief sie aus und rannte freudestrahlend Alexandr in die Arme. »Wie schön dich wiederzusehen. Wie war der Besuch in Russland?«

»Anstrengend, aber lohnenswert. Grigor hat weiter sein Interesse an einige Tekes bekundet und will sie sich persönlich ansehen«

»Wann?«

»Nächste Woche Donnerstag. Sein Sohn Milan kommt ebenfalls. Die Ausbildung der Pferde hast du sicher fortgesetzt, oder?«

»Natürlich«, antwortete sie pflichtbewusst. »Gabi, Björn und Iris waren mir dabei eine enorme Hilfe. Niemals hätte ich zwölf Tiere alleine stemmen können«

»Dafür haben wir auch Trainer eingestellt, aber ich bin froh, dass ihr alle Fortschritte machen könnt und ich bin mir sicher Grigor wird hocherfreut mit eurer Arbeit sein.«

Alexandrs Blick ging zu Birin, die mit federnden Gang neben der Holzwand trabte. Dabei hielt sie bewusst Abstand von der Attrappe, die mittig in der Halle drapierte war und die verdreckte Sportjacke trug,

»Und Birin ist... dein persönliches Projekt?«

»Ja.« Sie klang müde.

»Und Genzo wird in den nächsten Wochen hier im Gestüt leben?«

»Das war Timurs Idee gewesen«, antwortete sie rasch. »Kaum verletzte sich der Balljunge an der Schulter, da bot der Spinner ihm an bei ihm zu wohnen«

»Und das sagt dir absolut nicht zu, hm?«

»Solange Genzo mir nicht auf die Nerven geht, ist mir alles recht«

»Und dennoch scheinst du nicht abgeneigt über seinen Besuch zu sein, meine Sandrose«

»Er hängt eher mit Timur ab«, kommentierte sie plump. »Und in der Halle hält er sich auch nicht auf, was auch gut ist. So habe ich immerhin meine Ruhe vor ihm.«

Alexandr lächelte aufrichtig. »Du klingst dabei enttäuscht«

»Gar nicht wahr«

»Doch.« Er merkte, dass seine Tochter sich ertappt fühlte, auch, wenn sie es nicht zeigte. Ein Vater jedoch kannte sein Kind besser als jeder andere.

»Was genau ist das Problem mit Birin?«

»Sie greift Genzo scheinbar grundlos an«

»Du weißt, dass niemand, nicht einmal ein Tier, ohne Grund andere verletzt«

»Ja«, seufzte sie schwach. »Birin aber wirkt auf mich, als wolle sie ihn fortjagen, wenn ihr die Gelegenheit dazu geboten wird. Schau.«

Sie deutete mit ihrem Finger auf die Rappstute, die wachsam die Attrappe im Auge behielt. Luft wurde stoßweise aus ihren Nüstern geblasen und ihre spitzen Ohren waren aufgerichtet. Nach langem, intensiven Starrens ließ sie von der Puppe ab und trabte in die hintere Ecke.

»Sie wahrt den Abstand und macht keine Anstalten ihn anzugreifen«, erklärte sie ihrem Vater den Verlauf. »Wenn sie Genzo in der Ferne bemerkt, ignoriert sie ihn daraufhin gleich. Als Timur den Dreck von den Hufen kratzte und Genzo sich in seine Richtung bewegte, drehte sie durch. Sie war am Gurt gesichert und wäre beinahe über ihn hergefallen. Das hat mir zumindest Timur berichtet«

»Ich verstehe«

»Es ist seltsam, wirklich.« Elena machte einige Schritte auf die Attrappe. Birin beobachtete sie aufmerksam und auch Alexandr sah seiner Tochter nach. »Seit gut drei Tagen versuche ich eine Lösung für ihr Problem zu finden, aber –«

Die Rappstute wirbelte den Boden auf. Lautes Schnaufen grollte aus ihren Nüstern und ein nervöses Wimmern ließ ihre Lippen vibrieren. Elena setzte eine verwirrte Miene auf, bevor sie sich unbehelligt der Attrappe näherte.

»Lenchen, Vorsicht!«

Birin stürmte voran und Elena hechtete rechtzeitig zurück. Das Tier trat gegen den hölzernen Rumpf, ehe sie rasch um die Reiterin trabte und sich vor ihr wie eine schützende Mauer stellte.

»Birin...« Elena verstand die Welt nicht mehr. Ihr Vater jedoch wusste sofort.

»Elena, komm«, winkte er seine Tochter zu sich. Sie stand vor ihm, ein fragender Ausdruck hatte sich auf ihr Gesicht gelegt.

»Habt ihr euch gestritten? Du und Genzo meine ich«

»N... nein. Nicht, dass ich wüsste«

»Sieh sie dir genau an. Was fällt dir auf?«

Elena besah sich auf die Stute. Sie beruhigte sich wieder, nachdem die junge Frau sich von der Attrappe entfernte und das Tier auf sich zukommen sah.

»Sie ist ruhig«, sagte sie. »Das ist sie, wenn ich nicht in die Nähe der Attrappe komme.«

Alexandr lauschte geduldig weiter.

»Sie... beschützt mich«, dämmerte es ihr langsam. »Sie... sie will mich vor Genzo... beschützen.«

Birin stupste sanft ihre rechte Hand.

»Etwas ist zwischen dir und Genzo vorgefallen«

»Ehrlich, Paps, ich weiß es wirklich nicht. Klar, wir ärgern uns hin und wieder, aber es ist nie etwas schlimmes gewesen. Gut, bis auf die eine Sache mit der Schulter und war niedergeschlagen, da haben wir uns ein wenig gestritten und –«

In Elenas Kopf durchfuhr ein brennender Geistesblitz. Langsam neigte sie ihren Kopf zu Birin und es fiel ihr wie Schuppen von den Augen.

»Elena?«

»Du hast uns gesehen.« Sie blendete ihren Vater komplett aus und konzentrierte sich einzig auf das Tier. »Der Tag, an dem ich Genzo kennen lernte. Du hast uns gesehen. Jetzt wird mir alles klar. Ich weiß es endlich!«

Alexandr öffnete seinen Mund, doch Elena ließ ihm keine Gelegenheit auszureden.

»Bleib bei ihr! Ich muss kurz weg!«

»A – aber...«

»Nichts aber, das ist wichtig!«

Bevor er auch nur ein Wort herausrückte, war die junge Frau aus der Halle gestürmt.

»Genzo! Ich weiß es endlich!«, rief sie aus und wie ein geölter Blitz rannte sie zu Timurs Haus. Leicht schnaufend stand sie vor der Tür, fummelte an ihrem Schlüsselbund herum und sperrte sie auf.

»Genzo!« Sie huschte durch den Flur. »Genzo, ich weiß endlich, was... oh.«

Der Keeper stand mit schwarzer Sporthose und einem weißen Handtuch um die Schulter vor ihr. Sein schwarzes Haar war feucht und übriges Wasser tröpfelte auf seinen muskulösen, nackten Oberkörper.

»Verzeihung, ich wollte nicht...«

Er lachte. »Was denn, genierst du dich etwa vor mir?«

»Halt die Klappe, Balljunge«, streckte sie ihm die Zunge raus. »Ich habe Männer gesehen, die viel hübscher waren als du«

»Charmant wie eh und je«, erwiderte er darauf. »Du bist sicher wegen etwas anderem hier, richtig?«

»Richtig!«, bedankte sie sich innerlich bei Genzo für die Auffrischung ihrer Erinnerung und ging auf ihn zu. »Ich weiß, warum Birin aggressiv auf dich reagiert.«

Er hatte ihre volle Aufmerksamkeit. Er setzte sich auf einen Barhocker nahe der Kücheninsel und erwartete mit Spannung ihre neuesten Erkenntnisse.

»Unser Kennenlernen war recht schwierig«

»Das ist noch untertrieben«, lachte er herzlich. »Es ist ein Wunder, dass du mir nicht ins Gesicht gesprungen bist und mir die Augen ausgekratzt hast«

»Birin hat uns gesehen.«

Er blinzelte irritiert. »Was?«

»Als wir uns stritten hat sie uns gesehen. Sie hat dich als jemanden in Erinnerung, von dem eine Gefahr ausgeht. Mich kennt sie. Sie beschützt nicht nur mich, sondern auch Timur vor dir, weil du ein Aggressor für sie bist. Sie hat sich deine aufbrausende und drohende Haltung gemerkt und jedes Mal, wenn du unser Gestüt besuchst, scheint sie sich wieder an das Erlebte zu erinnern.«

Genzo konnte nicht glauben, was er da gerade hörte. Wegen eines kleinen Zwischenfalls war Genzo ein rotes Tuch für Birin?

»Bist du dir wirklich sicher, dass das so ist?«

»Ich hab es auch erst nicht glauben können. Mein Vater hat mich erst auf den Gedanken gebracht und es macht tatsächlich Sinn. Man sagt Pferden eine hohe, soziale Intelligenz nach und können Menschen anhand ihres Charakters und ihrer Emotionen erkennen und merken. Die anderen Pferde ignorieren dich oder reagieren friedlich auf dich. Dilas ist ein Fall für sich, der hat dich als seinen neuen Kumpel erkoren, gleich in dem Moment, als er dir deine Kappe geklaut hat.«

Genzo wusste noch immer nicht, was er darauf sagen sollte. Elena musste dabei schmunzeln.

»Ich weiß, was du gerade denkst, aber die gute Nachricht ist, ich kann dieses Problem endgültig aus der Welt schaffen«

»Das ist... der helle Wahnsinn. Ich wusste gar nicht, dass Pferde so etwas können«

»Ja, die sind verdammt schlau. Im Nachbarhof hat ein Pferd nachts das Schloss von seiner Box geöffnet und ist die Stallgasse entlanggelaufen«

»Die können Schlösser knacken?!«

»Wenn sie sehen, wie das geht, dann können sie es.« Sie nahm seine Hände und drückte sie sanft. »Ich freue mich sehr, dass ich endlich weiß, wie ich ihr helfen kann. Ich ich euch beide helfen kann.«

Sie ließ ihn los und ging zur Tür, doch bevor sie das Haus verließ, drehte sie sich noch einmal zum Keeper um – mit einem Lächeln, dass ihm ein sanftes Kribbeln auf der Haut entlockte.

»Birin wird deine Freundin, noch bevor deine Schulter wieder völlig gesund ist. Das verspreche ich dir.«



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