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1000 kleine Tode

oder: Die Kunst des Sterbens
von

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Endstation

Warnungen: Angst, Death
 

Das Copyright der Story liegt alleine bei mir und darf nicht - auch nicht in Teilen - ohne mein Wissen und schriftliche Zusage anderweitig veröffentlicht oder auf sonstige Weise verarbeitet werden.
 

~ Endstation ~
 

Fiona stand am Bahnsteig der Linie 47 Richtung Lutherplatz.

Alltäglich? Ja, auf eine gewisse Weise schon. Aber nicht für Fiona. Ihr Alltag hatte sich vor über acht Jahren radikal geändert.
 

Schon seit Jahren litt die junge Frau, die unauffällig etwas abseits der anderen Wartenden am Bahnsteig stand, unter Platzangst. Um die Panik endlich zu besiegen und so wieder mehr Freiraum zu erlangen, fuhr sie auf Anweisung ihres Therapeuten mit der U-Bahn. Tag für Tag.

Sie hatte schon ein paar Wochen lang geübt und kannte die Strecke nun schon einigermaßen gut. Fiona nahm immer die gleiche U-Bahn, Linie 47, und fuhr immer die gleichen Stationen ab. Das gab Sicherheit. So viel, dass seit zwei Wochen jeden Tag eine weitere Station hinzu kam.

Mittlerweile liebte Fiona 'ihr' Ritual. Am Schalter die Karte ziehen, vielleicht vorher noch am Kiosk vorbei schauen und eine Zeitschrift oder Kaugummi kaufen, die Treppe hinunter zu den Gleisen gehen und dann dort auf das Einfahren der Bahn warten. Manchmal traf sie sogar Leute wieder, die auch immer diese U-Bahn nahmen, wie sie. Geschäftsleute, Menschen, die durch die Stadt gebummelt waren und Reisende mit riesigen Rücksäcken auf den Rücken.

Alle mit ihren ganz eigenen kleinen oder größeren Problemen, die ihnen Niemand ansah.
 

Nachdem alles ein paar Wochen ohne großartige Störungen gut gegangen war, stand Fiona heute wie auch sonst immer an den Schienen und hörte aufgeregt auf die Durchsage, dass man bitte etwas zurücktreten solle, sobald der Zug in den U-Bahnhof einfuhr.

Fiona sah zu dem dunklen Gewölbe, aus dem gleich die Bahn heraus kam. Und da war sie auch schon. Ein silberner, recht moderner Zug, innen sehr hell, breite Gänge, große saubere Fenster, die Fiona ein Gefühl von Freiheit gaben, wenn sie drinnen saß. Alles bestens.

Der Zug hielt an und Fiona stieg ein.
 

Fiona schaute aus dem Fenster der U-Bahn und sah den vorbeirasenden orangefarbenen Lichtern an den Tunnelwänden zu.

Um sich von dem Rattern der Räder und dem Ruckeln des fahrenden Waggons abzulenken, sagte Fiona ganz leise, fast unhörbar zu sich: "Eine große freie Fläche, blauer Himmel, frische Luft, Vögel zwitschern..."

Im Notfall war das gut. Nur heute nicht. Fiona spürte trotz aller Ablenkungsversuche diese leichte Angst in ihr aufsteigen. Ihre beste Bekannte. Sie kam immer aus dem Bauch, fuhr in die Hände, ließ diese erkalten und kroch schließlich bis zum Hals, um ihn zuzuschnüren.

Fiona wurde nervös. Sie trommelte mit den Fingern ihrer rechten Hand auf den leeren Sitz neben sich, schlug die Beine übereinander und wippte ungeduldig mit dem Fuß. Doch das unruhige Flattern in ihrem Bauch, drohte die Überhand zu gewinnen und die Panik auszulösen, die sie mühsam zu unterdrücken versuchte.

Warum ausgerechnet jetzt? Hatte sie sich den Tag über zuviel zugemutet?

'Nicht heute!', dachte Fiona trotzig.
 

Nicht heute, wo sie es geschafft hatte, durch alle Kaufhäuser zu gehen, egal, ob sie ohne Fenster waren und nur vom kalten Licht der Halogenstrahler beleuchtet wurden.

Nicht heute, wo sie sich das kleinste und bestbesuchteste Cafe der Stadt gewählt hatte, um darin einen Espresso zu trinken und einen riesigen Eisbecher zu essen.

Nicht heute, wo sie nach ihrem Einkaufsbummel sogar aus reinem Übermut durch ein dunkles Parkhaus spaziert war, ohne dass sie ein Auto besaß, das sie hätte dort parken können. Sie hatte ja noch nicht einmal einen Führerschein, da sie sowieso nicht in Autos hätte fahren können.

Nicht heute, wo sie zum ersten mal seit acht Jahren ein einziges Stockwerk mit einem Aufzug gefahren war - zwar mit einem gläsernen Aufzug mit Rundumsicht, wie man ihn von Einkaufspassagen und Hotels her kannte, aber immerhin ein Aufzug. Ein enger Aufzug!

Nein, nicht heute! Den Tag wollte sie sich nicht vermiesen lassen! Fiona schrie es fast laut heraus.

Sie musste sich beruhigen, warten, bis die Panik von selbst vorüberging. Das war sie bisher doch immer.
 

Ganz still.

Keine Angst.

Entspanne dich.

Renne nicht davon.

Dir kann nichts passieren.

Atme ruhig und atme bewusst.

Du hast die Kontrolle, nicht die Angst.

Sie ist nur ein ganz normaler Schutzmechanismus.

Alle körperlichen Symptome entstehen durch dein Denken.

Bleib in der Situation, die dir gerade Angst macht und schau dich um.
 

Wie ihr Therapeut es ihr geraten hatte, beobachtete Fiona die Leute, die sie umgaben.

Zwei Sitze rechts neben ihr saß eine freundliche alte Frau und strickte. Ihre faltigen Hände führten flink die Nadeln, die bei jeder ihrer Berührungen klickten. Reihe für Reihe wuchs das Wollmuster heran.

Stricken, das konnte Fiona nicht. Hatte sie nie interessiert. In der Schule als es Noten dafür gab, ja, aber danach hatte Fiona nie wieder Stricknadeln oder ähnliches angerührt.

Fiona schüttelte sich in Gedanken, als sie an ihre frühere Handarbeitslehrerin dachte, eine magere, bebrillte Frau, mit unglaublich keifender Stimme, die Fiona heute noch kalte Schauer über den Rücken jagte. Sie war so ganz anders, wie die Dame hier neben ihr, die eher etwas gemütliches, großmutterhaftes ausstrahlte.

Und als hätte Fiona es geahnt, erzählte die alte Frau genau in diesem Moment einer anderen Mitfahrenden, dass ihre Tochter bald ein Kind bekäme, ihr Viertes übrigens, und sie für das Baby nun ein Jäckchen stricken wolle.

Ein leises Schnarchen war die einzige Antwort, die die alte Dame erhielt. Sie war so in ihre Erzählung und das Stricken vertieft, dass sie nicht einmal mitbekommen hatte, dass ihre gleichaltrige Gesprächspartnerin schon vor etwa zwei Stationen eingeschlafen war.

Fiona grinste.

Das Ablenken half. Fiona freute sich, dass sie wirklich ruhiger wurde und sah sich weiter um.

Ein Vater mit einem knapp dreijährigen Kind saß ihr gegenüber. Er fütterte seine kleine Tochter gerade mit einem Stück Kuchen.

Wo kamen sie wohl her? Aus dem Kindergarten? Und wohin wollten sie? Zur Mutter? Wohnten sie alleine?

Fiona war auch alleine. Schon immer, wenn sie ehrlich war. Sie hatte mit sich selbst genug zu schaffen, dass sie sich nicht auch noch um irgendwelche Partner kümmern wollte.

Das Kind kicherte, als ihm sein Vater das Gesicht und den scheinbar sehr kitzligen Hals von den Kuchenkrümeln säuberte.

Fionas Lippen bogen sich zu einem Lächeln. Sie ließ ihre Blicke weiter durch das Abteil schweifen.
 

Ein Jugendlicher saß einen Platz neben dem Vater. Der Junge hatte einen Discman bei sich. Die Arme hinter dem Kopf verschränkt saß er auf seinem Platz und lauschte mit geschlossenen Augen dem, was aus dem Hörer klang.

Was hörte er gerade, fragte sich Fiona? Diesen neumodischen Kram? Fiona legte den Kopf schief. Nein, könnte ja sein, dass er Mozart hörte. Warum auch nicht, Mozart hatte wunderbare Stücke komponiert, die nicht nur das ältere Publikum ansprachen?!

Oder - Fiona musste ein Lachen unterdrücken - vielleicht hatte er ja auch wie sie Angst vor der Enge und dem Eingeschlossensein oder sonst etwas, und hörte eine dieser CDs mit Meditationsmusik, die sie selbst zu Haufen in ihrer Wohnung herumfliegen hatte und die rein gar nichts brachten, außer dass man einschlief.

Zu Hause... Fiona sah aus dem Fenster, dann zu ihrer Armbanduhr. Noch geschätzte fünf Minuten, dann war sie an ihrer Station, wo sie heute ausstieg. Wieder ein Stück weiter, als gestern.

Erleichtert atmete Fiona aus. Die kurze Panik hatte sie überstanden. Stolz machte sich in ihr breit.

Dann ein Rucken und die Bahn blieb stehen.
 

Das Deckenlicht flackerte ein paar mal auf und erlosch schließlich ganz. Fast zeitgleich schaltete sich die Notbeleuchtung ein.

Der alten Dame entfuhr ein leises 'Huch', mehr aber nicht. Die Frau neben der Älteren schlief selig weiter. Das Kind klatschte vor Freude in die Hände und lachte. Auch der Jugendliche hob nur kurz den Kopf und senkte ihn gleich wieder.

Es schien wohl keinen zu stören, dass es nicht mehr weiter ging. Keinen, außer Fiona.

Sie rutschte auf ihrem Sitzplatz nach vorne. Oh nein, dachte Fiona und blickte panisch um sich, reckte ihren Hals, um das Abteil überschauen zu können.

Das war doch ein Witz - ein ziemlich schlechter sogar. Warum stand die Bahn? Weshalb ging es nicht weiter?

Wie auf Kommando waren die Magenkrämpfe wieder da.

Wie oft hatte sie eine solche Situation schon in Gedanken durchgespielt, aber als es jetzt wirklich so kam, traf es Fiona so unvorbereitet, als hätte es diese Überlegungen nie gegeben.

Fiona schaute aus dem Fenster, ihre angstgeweiteten Augen versuchten das Dunkel draußen zu durchdringen. Sie standen wohl noch immer im Tunnel, nirgendwo auch nur ein Schimmer der weißen Lichter, die eine nahegelegene Station kennzeichneten.

Fionas Hände fingen an zu zittern und auf ihrer Stirn bildeten sich feine Schweißtröpfchen.

Keine Panik, sagte sich Fiona und faltete ihre verschwitzten Hände ineinander. Es geht bestimmt gleich weiter. Noch ist jede U-Bahn wieder aufgetaucht. Sie verschwinden ja schließlich nicht so mir nichts dir nichts in einem Tunnel.

Fiona atmete tief ein und aus und ließ sich betont langsam auf ihren Sitzplatz zurück sinken. Sie beschloss, auf die Durchsage des Fahrers zu warten. Sicher meldete er sich bald. Er konnte seine Fahrgäste ja schlecht im Ungewissen lassen.

Okay, Zeit sich wieder zu entspannen.
 

Große weite Flächen - Gleisarbeiten vielleicht, dachte Fiona.

Eine Wiese, sanfte grüne Hügel - Bald würden sie weiter fahren.

Du spürst das weiche Gras unter deinen Fußsohlen - Fiona entspannte sich zusehends.

Die Sonne scheint hell - Ihre Hände wurden wieder wärmer.

Zwitschernde Vögel - Lauschend hob Fiona ihren Kopf.

Vögel.

Fionas Augen wurden zu zwei schmalen Schlitzen.

Fliegende Vögel.

Verdammte freie Vögel, die jetzt verdammt nochmal draußen herumflogen, während sie hier in diesem verdammten Tunnel saß!

Fiona schwankte zwischen einer Panikattacke, Hysterie und Wut auf sich, ausgerechnet heute in der Stadt gewesen zu sein. Hätte sie sich doch nur das Heft mit den Kreuzworträtseln am Kiosk gekauft. Hätte sie, hätte sie... Jetzt war es zu spät.

Bevor Fiona endgültig überzeugt war, dass sie gleich durchdrehen würde, kam die erlösende Lautsprecherdurchsage.

"... Probleme mit... Stromnetz... plötzliche Schwankungen, die an... Überlastung der... liegen." Das Knistern wurde wieder lauter. Die Stimme des Schaffners war kaum noch zu verstehen, erstarb schließlich ganz.

Gott, ich hab's gewusst! Fiona lachte verzweifelt auf und krampfte die Hände zu Fäusten. Ihre Fingernägel bohrten sich fest in ihre Handflächen, aber Fiona nahm davon nichts wahr. Andere Gedanken beherrschten sie.

Alleine. Stecken geblieben. In einem Tunnel. Kein Ausweg. Keine Luft.
 

Nur wenige Sekunden später hörte man wieder die knarrende Stimme des Zugführers, die blechern und hohl aus dem Lautsprecher über ihren Köpfen schallte. "Wir müssen auf... bis... warten, dann..." Ende der Durchsage.

"Was denn?", fuhr Fiona hoch und ignoriert die fragenden, befremdlichen Blicke ihrer Mitfahrer. "Wieso spricht er nicht weiter? Er muss doch sagen, was wir nun tun sollen! Wann geht es weiter?"

"Schon gut, Miss, wir fahren sicher gleich weiter. Tun müssen wir nichts, nur warten."

"Nein! Ich kann nicht warten!", schrie Fiona aufgebracht. Ihr Herz schlug so wild in ihrer Brust, pumpte das Blut mit unglaublicher Geschwindigkeit durch ihren Körper, dass das hämmernde Pochen hinter ihren Schläfen schmerzte. "Ich will jetzt raus!"

Alles so mühsam Erlernte war verflogen. Die Arbeit der letzten Wochen dahin. Keine Vögel, keine grünen Flächen, kein gar nichts gab es hier unten. Nur sie und diese dämliche U-Bahn, die in dem Tunnel festsaß!

Fiona war kurz davor vollends die Nerven zu verlieren. 'Raus! Raus! Raus!', schrie es in ihr.

Das kleine Kind saß mit großen Augen neben seinem Vater. Es hatte seine Hand in die seines Vaters geschoben und beobachtete Fiona stumm.

'Ich will jetzt auch eine Hand, an der ich mich festhalten kann', dachte Fiona. 'Sofort!'

Fiona sprang auf und stürmte zur Abteiltür.
 

Eine Hand legte sich auf Fionas Schulter. Jemand versuchte sie zurück zu halten, als sie gerade aus dem Waggon hinaus wollte.

"Miss, es ist besser, wenn wir hier alle ruhig sitzen bleiben und warten, bis die Techniker da sind."

Fiona sah den Mann vor sich mit großen Augen an.

Kapierte er denn nichts? Woher sollten die anderen denn wissen, dass die Bahn hier steckte, wenn es keine Möglichkeit mehr gab, den nächsten U-Bahnhof zu informieren?

Und was wusste dieser Lackaffe schon, was für sie am besten war?!

Der junge Mann hatte noch immer seine Hand auf Fionas Schulter und lächelte sie hoffnungsvoll an. Er wollte sie beruhigen, zu den Sitzen bringen, kam aber nicht weit.

Wütend schlug Fiona die fremde Hand von ihrer Schulter. "Nein, ich muss raus!", sie weinte nun fast.

Verstand sie denn niemand? Draußen war der Tunnel, der zur Station führte, in die Freiheit! Drinnen war die bedrückende Enge, die ihr die Luft nahm.

Fiona stieß den Mann grob zur Seite und zog die Tür auf, die die Abteile voneinander trennte. Sie bückte sich und streckte die Hand nach der kleinen Kurbel aus, die die Tür manuell öffnete. Dann kurbelte und kurbelte sie, bis die Tür einen Spalt breit offen war, der genügte, dass Fiona hinausschlüpfen konnte.
 

Wie dunkel es draußen war. Und wie seltsam es hallte, als Fiona über die Gleise und Steine der Zugstrecke stolperte.

Vorsichtig hielt Fiona eine Hand an den Zug gelegt und tastete sich an der kalten Außenwand der Bahn voran, bis sich ihre Augen an das Zwielicht hier unten gewöhnt hatten.

Wenigstens funktionierte auch die Notbeleuchtung im Tunnel, sonst hätte sie doch wieder in den Zug gemusst, um dort zu warten.

Wie lange war es eigentlich bis zur nächsten Station?

Bei voller Fahrt weniger als fünf Minuten. Aber zu Fuß?

Fiona zögerte einen Wimpernschlag lang.

Komm, so weit kann es nicht sein!, machte sie sich selbst Mut.

Als Fiona am Anfang der U-Bahn ankam, sah sie den Fahrer in seiner Kabine. Er war mit irgendetwas auf dem Schaltpult vor sich beschäftigt.

Möglichst unauffällig wollte die junge Frau vorbei schleichen, aber der Mann bemerkte sie.

Erwischt!, dachte Fiona. Abwartend sah sie zu dem Mann in der Bahn auf, der sie mit offenem Mund anstarrte.

Als er begriff, was die bleiche Frau auf den Gleisen vorhatte, hob er die Hände, fuchtelte wie wild damit herum und deutete zu seiner Tür.

Fiona schüttelte trotzig ihren Kopf. In die Bahn? Nie im Leben!

Der Zugführer schrie noch etwas, aber Fiona konnte es durch die geschlossenen Scheiben hindurch nicht hören. Er war in der Bahn und sie Gott sei Dank draußen.

Aber sie wusste sehr wohl, was er ihr mit den Handzeichen verständlich machen wollte. Sollte er winken, bis ihm der Arm abfiel, zurück kam sie sicher nicht.

Fiona hätte dem guten Mann am liebsten den Vogel gezeigt, konzentrierte sich aber wieder auf ihre Flucht.

Der Fahrer stürzte zur Tür der Zugführerkabine.

Fiona rannte weiter, bevor der Mann die Tür geöffnet bekam und sie gegen ihren Willen wieder zurück in die Bahn beförderte.
 

Schuhe mit hohen Absätzen entwickelten sich zur überflüssigsten Erfindung der Welt, wenn man schnell sein musste - vor allem, wenn man um sein Leben durch einen U-Bahntunnel lief.

'Nur noch flache Schuhe kaufen! Und eine Taschenlampe für die Handtasche...' Fiona starrte ins Dunkel. Das Echo ihrer Schritte hallte in dem langen Gewölbe wie tausend Füße. Beruhigend, wenn man sich einbilden konnte, nicht alleine zu sein.

'Ein Lied', dachte Fiona. Lieder waren immer gut. Erst recht wenn man Panik hatte. Fiona begann zu singen, was durch das Rennen und ihre daraus folgende Kurzatmigkeit mehr nach Asthmaanfall, statt Schlager klang. Aber egal. Hauptsache es lenkte ab.
 

Endlos lange lief Fiona wohl schon durch den Tunnel. Zwei Biegungen hatte sie bereits hinter sich gebracht und nach der Letzten die erhoffte Station erwartet, aber da war nichts. Nur noch mehr Schwärze. Gleise. Und ihre ängstliche Stimme, die noch immer stockend und unverständlich vor sich hin sang.

Nahm der Tunnel denn gar kein Ende? Dieser hässliche, lange, dunkle Schlauch. Er musste doch irgendwohin führen.

Nein, nicht anhalten, hämmerte es in Fionas Kopf. Schön weiter rennen und das Singen dabei nicht vergessen.

Und tatsächlich. Da, ein heller Schimmer!

Fiona lachte auf.

Die Station! Sie hatte es gewusst!

Fiona rannte auf das Licht zu. Das Adrenalin, das durch ihren Körper rauschte, gab ihr die Kraft zu laufen, ihre Knie zum Weitermachen zu zwingen, die ihr ständig einknickten und den Dienst versagen wollten.

Ihr hektischer Atem entflog ihren bebenden Lippen.

Stehen bleiben, ausruhen oder einfach nur sich hinlegen, wo sie gerade stand. Das war es, was Fiona eigentlich wollte. Aber jetzt war die Station schon zu nahe.

Das Licht wurde heller.

Das bisschen schaffte sie jetzt auch noch. Der Weg nach vorne war kürzer, als der, den sie nun schon hinter sich hatte.

Neuer Mut durchströmte Fiona, lockerte ihre verspannte Muskulatur.

Bald war sie dort.

Das grelle Licht kam immer näher.

Zu schnell!
 

Fiona stoppte ihre Schritte abrupt. Vollkommen ruhig stand sie da, aber das Licht kam noch immer auf sie zu. Ratternde Geräusche begleiteten es und in dem Moment fühlte sie auch die Vibrationen unter ihren Füßen.

Langsam dämmert es Fiona. Es war nicht die Station, dessen Licht sie gefolgt war. Es war eine andere U-Bahn, die auf sie zuraste!

Fiona schrie auf. Sie drehte sich wieder um und rannte dorthin zurück wo sie hergekommen war. Rannte so schnell, wie noch nie zuvor in ihrem Leben. Selbst die Panikattacken hatten sie nie in einem solch hohen Tempo flüchten lassen.

Sinnlos.

Züge waren schneller als kleine verängstigte Menschen.
 

Das Scheinwerferlicht der Bahn huschte über den Boden und streifte die junge Frau auf den Gleisen.

Der Zug stieß einen schrillen Warnton aus, Bremsen quietschten und Funken sprühten, als die eisernen Räder auf den Gleisen Halt zu finden versuchten.

Fiona hob hilflos die Hände vor ihr Gesicht.
 

Dann...

Der Lärm verstummte.

Der Tunnel wurde schwärzer.

Die Angst war endlich weg und Fiona frei.
 

~
 

"So eine Verschwendung."

Der junge Mann, von dem der letzte Satz stammte, nahm seine dunkelblaue Schirmmütze mit dem silbernen Aufdruck einer Polizeiwache ab. Die Mütze unter seinen linken Arm geklemmt stand er vor Fiona, die mit seltsam verdrehten Gliedmaßen vor ihm auf dem steinigen Tunnelboden lag.

Die hellen Scheinwerfer, die man rund um die Unfallstelle aufgestellt hatten, erleuchteten Fionas letzten Ruheplatz mit ihrem kalten weißen Licht und gaben das ganze Grauen preis, das sich den versammelten Rettern bot.

Matthews, ein etwas ältlicher Polizeibeamte trat neben den ersten. "Bedauernswert, dass sie nicht mehr mitbekommen kann, dass sie noch zur Heldin wurde."

"Heldin?" Peterson, der jüngere Officer, lachte tonlos auf. "Sie ist doch keine Heldin! Sie ist nur eine Selbstmörderin, eine weitere in der endlosen Statistik."

Der zweite Officer ließ Fionas leblosen Arm los. "So, und was sind für Sie Helden, Peterson? Superman?"

Der jüngere der beiden Polizisten zuckte mitleidslos mit den Schultern. "Helden laufen nicht durch Tunnel, sie werfen sich nicht vor Züge und liegen dann mit zerschmettertem Gesicht und abgetrennten Gliedern auf U-Bahngleisen."

"Mann, Peterson, werden Sie erwachsen!", antwortete Matthews seinem jüngeren Kollegen und stand auf. Er nahm einen kleinen Notizblock aus seiner Jackeninnentasche und schrieb etwas auf.
 

"Sie ist keine Selbstmörderin." Matthews deutete mit der Spitze seines Stiftes zum düsteren Tunnelgewölbe hinter sich. "Wahrscheinlich kam sie aus dem anderen Zug, der feststeckte. Ich habe keine Ahnung weshalb sie nicht dort blieb und stattdessen durch den Tunnel lief, aber sie hatte nicht vor sich umzubringen. Der Führer des Zuges, der sie erfasste, hat ausgesagt, dass sie wegrannte, statt dem Zug entgegen zu laufen oder auf ihn zu warten."

"Macht das einen Unterschied?" Peterson schob gelangweilt die Hände in seine Hosentaschen. "Jetzt ist sie tot."

"Aber völlig umsonst war ihr Tod nicht." Officer Matthews nickte zu der stillstehenden U-Bahn. Der Aufprall mit Fiona hatte kaum Spuren an dem Zug hinterlassen.

"Herrgott, das war knapp. Nur ein paar hundert Meter noch..." Die Hände in die Hüften gestützt sah Officer Matthews zwischen dem Unglückszug und den Gleisen hin und her, die in der unendlichen Schwärze der Erde verschwanden.

"Die ganze Anlage des U-Bahnnetzes hat zeitweise verrückt gespielt", sprach der Ältere weiter. "Laut Protokoll der zuständigen Station hatte der Zug, der die junge Frau tötete, freie Fahrt. Aber eben der Fehler hätte beinahe zur Katastrophe geführt. Hätte die Bahn hier nicht wegen ihr bremsen müssen, wäre sie mit dem im Tunnel stecken gebliebenen Zug zusammen gestoßen und wir würden jetzt zwischen weit aus mehr Toten und Verletzten stehen." Der ältere Officer beugte sich zu Fiona hinab und deckte ihre Leiche zu. "Doch, sie ist eine wahre Heldin."
 

~ Ende ~



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Kommentare zu diesem Kapitel (24)
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Von: abgemeldet
2007-07-10T11:38:29+00:00 10.07.2007 13:38
WOW
Ganz ehrlich: Ich bin sprachlos

...

Also^^
Du hast einen sehr schönen und eindringlichen Schreibstil (und schaffst es unglaublich gut die Angst deiner Hauptpersonen festzuhalten).
Was soll ich noch großartig sagen?
Gefällt mir sehr gut...muss ich doch gleich zum zweiten One-Shot XD

Chu Francis
Von:  Hepho
2007-06-03T20:37:16+00:00 03.06.2007 22:37
Wow.
Ich muss zugeben: Ich bin geplättet.
Dein Schreibstil ist so eindringlich. Richtig mitreißend und er treibt die Fantasie an. Während ich deine Kurzgeschichte gelesen habe, war ich hellwach, das ist bei mir immer so mit guten Geschichten. ^^

Fiona hauchst du viel Leben ein. Ihre Gedanken und Gefühle sind so realistisch und nachvollziehbar, sie zogen mich in ihren Bann und ich bin der Story fieberhaft gefolgt.

Ich stimme Poo zu, was den treppenartig angelegten Absatz angeht. Ein faszinierender Absatz, ich hab ihn bestimmt drei Male gelesen! ^^

Das Ende hat mich mitgenommen, vor allem die Sache, dass Fiona als "Heldin" bezeichnet wurde, weil ihr Tod den Zusammenstoß der U-Bahnen verhindert hat. Zwar konnte ich es mir irgendwie denken, aber es war ernüchternd, dies zu lesen, also eine Bestätigung zu erhalten, nachdem ich die ganze Zeit mit Fiona gefühlt hatte.

Meinen Respekt zu diesem gelungenen One-Shot!
Liebe Grüße
Black_Shell
Von:  theDraco
2007-04-01T15:21:20+00:00 01.04.2007 17:21
Servus! ^^

Deine Geschichte ist mir zufällig ins Auge gefallen, und wie ich sie einmal angefangen habe, konnte ich nicht mehr mit dem Lesen aufhören. Du hast einen fantastischen Schreibstil, auf den man neidisch sein kann!

Besonders hat es mir das erste Kapitel angetan. Am Ende davon ist mir ehrlich ein eiskalter Schauer den Rücken runter gerast!

Deine Ideen sind absolut super!
Gäbe es für FanFictions eine Benotung, bekämest Du von mir eine "sehr gut" mit Sternchen und Smiley. ^^

Ich nehme die Story in meine Favoritenliste auf und wünsche Dir noch viel Erfolg bei all Deinen weiteren Texten!

Dein Draco
Von: abgemeldet
2006-12-31T10:21:59+00:00 31.12.2006 11:21
Was soll ich noch schreiben??? Ich finde die FF einfach Klasse ... sehr schön geschrieben, stilistisch und... ne das wurde schon gesagt oder xD
Nun, ich hoffe es geht bald weiter, und irgendwie finde ich deine FF's witizg... auf ne makabre art und Weise +g+
Von: abgemeldet
2006-10-16T07:52:08+00:00 16.10.2006 09:52
wirklich tolle story! hab eine richtige gänsehaut bekommen da man sich in die hauptperson gut hineinversetzten kann! Hevvi, klasse, toll!^^
Von: abgemeldet
2006-08-16T16:04:31+00:00 16.08.2006 18:04
Wow, eine tolle Geschichte. Sowohl vom Stil wie auch von der Handlung her. Man kann sich alles richtig gut vorstellen und in die Person hineinversetzen.

Respekt!
Von:  Spiegelfee
2006-06-18T17:17:57+00:00 18.06.2006 19:17
Wirklich eine sehr gute Geschichte, sowohl stilistisch, als auch vom Inhalt her...einfach nur sehr gut gelungen.
Von: abgemeldet
2006-03-31T20:22:48+00:00 31.03.2006 22:22
meine güte, WOW!!!!!
echt genial....ich hatte cht angst auchz wenn ich mir am ende wo sie dann aus der bahn ausgestiegen ist denken konnte was wohl passiert....aber es ist genial geschrieben und die idee ansich sowieso
dickes lob ^^(kann mich all den anderen nur anschließen)
Von: abgemeldet
2006-03-08T17:41:57+00:00 08.03.2006 18:41
Wow!
Was für ein Schreibstil!
EInfach genial, du hast richtiges Schuspielerisches Talent bewiesen und dich in diese Frau hinein versetzt!

Das Ende (mit den Polizisten) war sehr überraschend und interessant!

Ich füge den FF in meine Favo Liste ein!
Mach weiter so!
Du hast Talent!
Von: abgemeldet
2005-12-20T18:15:33+00:00 20.12.2005 19:15
Wann gehts denn in deiner FF endlich weiter? Gucke fast jede Woche mal wieder, ob du was neues hochgeladen hast. Würde mich gaaaaaanz doll über ein weiteres Chappi freuen.


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