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Ein ganz normales Leben

Dritter Platz Herbst-FF Wettbewerb 2004
von

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Goldener Regen

Kurze Anmerkung zu diesem Kapitel:
 

Einige Passagen in diesem Kapitel sind eigentlich in Kursivschrift verfasst. Es sind die Abschnitte, in denen jemand sehr erschöpft an einem fremden Ort steht und jemand anderes um Hilfe ruft - ist leicht zu erkennen, da sie inhaltlich nicht zu der restlichen Geschichte zu passen scheinen - sowie die Szenen, in denen Jesse Blue kleine Kinder sieht und sich fragt, ob er träumt oder ob sein Kopf noch schwerer verletzt ist, als er das bisher angenommen hat. Diese Abschnitte sind meist nicht durch Sternchen (*) von den anderen abgetrennt.
 

Ich komme leider mit dem System hier auf dem Animexx nicht zurecht und da ich vermeiden will, dass plötzlich der komplette Text kursiv ist, lad ich es hier ganz normal hoch. Wer das Kapitel jedoch gerne in seiner Originalgestalt lesen möchte, kann mir gerne eine ENS oder Email schreiben und bekommt das Kapitel dann im Word-Format mit allen Besonderheiten.
 

Der erste Abschnitt ist übrigens kursiv.
 

Okay, danke für die Aufmerksamkeit, auf zum Lesen ^-^.
 

April

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Kapitel 3: Goldener Regen
 

Dunkelheit umgab ihn. Bedrückend. So als wollte sie ihn ersticken. Er hustete und hielt sich seine rechte Hand schützend vor dem Mund. Ihm kam der Gedanke, dass sein Helm ihn besser mit Sauerstoff versorgt hätte, aber er konnte ihn nicht finden.

"Hilfe."

Die dünne Stimme durchdrang plötzlich die vollkommene Stille. Er schwankte auf sie zu bis seine Beine ihren Dienst versagten und er hilflos auf seine Knie sank.

"So helft mir."

Er konnte nicht ausmachen, woher die Worte kamen. Seine Augen brannten und seine Lunge rang verzweifelt nach Luft, die ihr nicht vergönnt wurde. Er streckte seine linke Hand aus und bemerkte, dass sie zitterte. Warum? War er so erschöpft? Oder fürchtete er sich? Wovor? Vor der Dunkelheit? Vor der Stille? Vor der Stimme?

"Bitte."

Die Schwärze um ihn explodierte plötzlich in einem goldenen Licht, entblößte einen entstellten Körper. Weit aufgerissene Augen. Eine rasch größer werdende Blutlache.

Angst.

"Bitte..."

Todesangst.
 

***
 

Colt wusste nicht, ob er verrückt lachen oder verzweifelt weinen sollte, also lief er mit düsterem Gesichtsausdruck hinter dem Team her, dem er einst vollkommen vertraut hatte. Nun aber konnte er sich nur noch wundern, wann sie sich alle dem Wahnsinn verschrieben hatten, ohne ihm Bescheid zu sagen. Gestern war ein verregneter Donnerstag gewesen und der Cowboy war von einem Star Sheriff zum anderen gegangen, um auf die Unmöglichkeit ihres Vorhabens aufmerksam zu machen. Bei niemandem fand er Gehör. Nicht einmal bei Fireball. Dass sich April bei Saber hatte anstecken lassen, das war für Colt noch nachvollziehbar, aber dass der junge Japaner ebenfalls mit dem dämlichen Argument kam, dass es sich Johnny schließlich zu seinem siebzehnten Geburtstag gewünscht hätte, damit hatte er nicht gerechnet. Zornig hatte er sie angeschrieen, aber wieder reagierte niemand. Saber stellte ihn kühl vor die Entscheidung, dass er mitkommen, aber auch in Yuma City bleiben könnte. Und Johnny? Sein kleiner Bruder hatte ihn natürlich mit diesem verbettelten Ausdruck angesehen, der Zeit seiner Kindheit schon immer bewirkt hatte, dass er alles bekam, was er wollte. So auch dieses Mal. Colt hatte sie alle für total bescheuert erklärt, dann aber dennoch seine Tasche gepackt. Ein normaler Mensch musste ja schließlich auf dieser Expedition in die Hölle dabei sein!

"Wie weit ist es noch?" fragte Alex nun zum dritten Mal innerhalb von fünf Minuten. Als der Junge erfahren hatte, dass sein bester Freund über das Wochenende zur Erde flog, hatte er kurzerhand seine Eltern um eine Schulbefreiung erpresst und April so lange bebettelt, bis sie schwer seufzend ein weiteres Ticket buchte.

"Noch eine halbe Stunde." Antwortete die junge Französin geduldig und wandte sich wieder Fireball zu, der ihr irgendetwas aus ihrer Kindheit oder ähnliches erzählte, jedenfalls kicherte sie ab und zu und sah für Colts trübselige Gedanken viel zu fröhlich aus.

"Noch eine halbe Stunde!" Alex stöhnte auf und schulterte seinen Rucksack erneut. Der Cowboy fragte sich, was der Erbe glaubte, zu einem Campwochenende mitnehmen zu müssen, aber es schien mehr zu sein, als was Colt jemals in der Prärie gebraucht hatte. Der Junge mühte sich sichtlich ab und der Cowboy fand Gefallen an dem Gedanken, dass noch jemand außer ihm leiden musste. Obwohl es sich Alex ja selbst eingebrockt hatte, während Colt mehr oder weniger das Messer an die Brust gesetzt worden war. Entweder er blieb zuhause oder er begleitete seinen Bruder.

Colt drehte seinen Kopf und sah mit gemischten Gefühlen zu Johnny, der einige Meter hinter ihm lief und gemeinsam mit Jesse das Schlusslicht bildete. Der junge Texaner schien die warmen Sonnenstrahlen auf seinem Gesicht und das echte Laub unter seinen Schuhen zu genießen, während der ehemalige Kadett die Berge um sich herum skeptisch beobachtete. So als würde er versuchen, sich an sie zu erinnern. Colt war noch immer überzeugt, dass Jesse Blue ihnen allen nur ein Schauspiel darbot und nahm seine rechte Hand nie vom Griff seines Blasters. Auch achtete er darauf, dass Johnny und Jesse sich nicht all zu weit von der Gruppe entfernten. Wenn schon Saber so unverantwortlich war und den Verräter in seine alte Heimat schleppte, Colt war es nicht.

"Wie weit denn noch?" meldete sich Alex erneut zu Wort und der junge Cowboy verspürte das Bedürfnis, dem Erben eine Kopfnuss zu verpassen. Dieses Mal drehte sich Saber, der die Gruppe anführte, um und machte eine unglaublich präzise Angabe.

"Nicht mehr weit."

Colt hätte ihn dafür am liebsten getreten, hätte am liebsten von allen die Köpfe genommen und sie zusammen geschlagen, bis sie zur Vernunft kamen, Jesse dem Kavallerieoberkommando übergaben und zurück nach Hause flogen. Aber leider waren die Verrückten in der Überzahl, er konnte gegen sie nichts ausrichten.

"Gut." Alex schulterte seinen Rucksack erneut und setzte tapfer einen Schritt vor den anderen. Seltsamerweise schien er mit dieser Aussage zufriedener als mit Aprils zu sein. Colt verdrehte nur seine Augen. Er würde reiche Leute wohl nie verstehen!

Die nächsten fünf Minuten hielt der Junge sogar seinen Mund und schweigend konnten sie sich einen steilen Weg entlang schlängeln, der sie über eine höher gelegene Hügelgruppe führte. Die Highlands machten ihrem Namen wirklich alle Ehre. Colt war schon öfter hier gewesen und Schottland gefiel ihm ein wenig besser als Japan, zumindest vom Essen her. Vielleicht hätte er diesen Aufenthalt sogar genießen können, aber mit Jesse Blue war ihm das natürlich nicht möglich!

Am letzten Abend hatten sie sich noch auf den Weg gemacht und waren die ganze Nacht in einem Passagierschiff geflogen, das sie jedoch nicht bis zu ihrem Bestimmungsort bringen konnte. Also blieb ihnen nichts anderes übrig, als sie letzten zehn Kilometer zu laufen. Normalerweise hätte dies Colt auch nichts ausgemacht. Er war als Star Sheriff trainiert und wäre eigentlich nach dem Nachtflug auch ausgeschlafen gewesen, aber er konnte in der engen Kabine kein Auge zu tun und befürchtete immer, dass Jesse sich eine Waffe stehlen und sie nun töten würde.

"Wie weit..."

Jetzt war's genug! Jetzt würde er dieser verflixten Nervensäge den Hals umdrehen! Wenn es ihm zu weit zum Laufen war, hätte er ja nicht mitkommen müssen! Nein, ihm hatten sie ja schließlich eine Wahl gelassen!

Colt kam aber nicht dazu, seine Hände um den Hals des Jungen zu legen, denn dieser verstummte mit einem Mal und ein verklärter Ausdruck schlich sich in seine Augen. Der Cowboy runzelte seine Stirn und erkannte, warum das Balg plötzlich so wunderbar ruhig war, als er nun auch den Hügel erklommen hatte und in das Tal vor sich blicken konnte. Es war weit und ausladend. Es war von einer Bergkette umgeben, die golden im Sonnenlicht leuchtete. Die Wälder hatten sich bunt gefärbt und hier und da stieg noch der Nebel der Nacht empor. So weit war der Sonnenaufgang noch nicht her und die Strahlen des Himmelsgestirns besaßen kaum mehr Kraft, das Land noch wirklich aufzuheizen. In der Mitte des Tales lag ein See ausgebreitet wie eine faule Katze, die sich räkelt. Die Wogen waren geglättet und das Wasser reflektierte in einem angenehmen warmen Licht, obwohl man jetzt sicherlich nicht mehr baden gehen konnte.

"Wow!" murmelte Johnny neben ihm und setzte kurz seinen eigenen Rucksack ab, um den Ausblick vor sich zu genießen. Ein breites Grinsen erschien auf dem Gesicht des Jungen und Colt seufzte innerlich. Nun gut, so bescheuert wie dieses Vorhaben sich auch anmutete und wie wenig Lust er selbst darauf verspürte, wenigstens freute sich sein kleiner Bruder darüber. "Herbst ist wirklich eine mystische Jahreszeit."

"Ja." Stimmte ihm Jesse zu, der ebenfalls kurz stehen blieb. Die anderen hatten sich bereits an den Abstieg zum Tal hinab gewagt. April lachte laut und löste bunte Blätter von den Bäumen, während Fireball wie selbstverständlich nach ihrem Arm griff und sie fest hielt, damit sie nicht das Gleichgewicht verlor und hin fiel.

"Hier gibt's ja sogar ein Schloss." Jesse deutete zu dem großen Anliegen auf einem der Berge hinüber, dessen Türme ebenfalls noch vom Nebel eingehüllt waren. Colt überzog ein eiskalter Schauer, als er zu dem Gebäude hinüber sah, das einem Märchen hätte entsprungen sein können. Saber wollte doch nicht wirklich dort übernachten? Wozu schleppten sie sich sonst mit ihren Campingsachen ab? Das wäre doch total sinnlos? Und total gefährlich, denn das Schloss gehörte niemand anderem, als der Lancelot-Dynastie. Soweit Colt wusste, lebte Sabers Vater sogar in dem Schloss und es wäre bestimmt nicht klug, dort mit einem Verräter aufzutauchen.

Nein. Colt schüttelte seinen Kopf. Saber würde vermutlich am See das Lager errichten und seinem Vater möglichst aus dem Weg gehen. Es war ein offenes Geheimnis, dass sich die beiden nicht verstanden. Der Schotte würde Johnnys Geburtstag nicht gefährden, indem er seinen verhassen Vater einlud.

"In Schottland gibt es viele Burgen und Schlösser." Erwiderte Johnny grinsend und deutete zum Wasser hinüber. "Einige Legenden besagen, dass es auch Seeungeheuer gibt. Vielleicht sehen wir ja eins."

"Wäre doch ein tolles Haustier." Jesse grinste zurück und die beiden setzten kichernd ihren Weg fort.

Colt verdrehte erneut seine Augen und fragte sich, was er Böses verbrochen hatte, um hier zu enden. In Schottland. Mit Jesse Blue. Am Vorabend des zehnten Todestages seiner Eltern. Es klang einfach nicht fair.

Der junge Cowboy folgte seinem kleinen Bruder und dem Verräter. Er hatte schon vor Jahren erfahren müssen, dass das Leben niemals fair war.
 

***
 

Saber hielt wirklich inmitten des Tals, nahe des Sees. Nachdem Alex zum vielleicht fünfhundersten Mal gefragt hatte, wie weit es noch wäre und April in ihren Händen nun einen großen Strauß bunter Blätter hielt. Ein Steg führte hinaus auf das Wasser und drei große Bäume boten etwa zehn Meter entfernt Schutz vor plötzlichem Regen, ein geeigneter Platz zum Campen. Sogar eine Feuerstelle war zu finden, von früheren Urlauben, wie April berichtete. Sie müssten ihre Mahlzeiten also nicht kalt genießen.

Nachdem Saber sie in die Umgebung eingewiesen hatte, deutete er zum Waldesrand hinüber und im Schatten der Bäume sahen sie ein Haus, das nicht ganz so groß wie das ihrige in Yuma City war und auch aus purem Holz zu bestehen schien, in das Colts Elternhaus aber bequem drei Mal hineingepasst hätte.

"Wem's hier draußen zu ungemütlich wird, der kann gerne rein gehen. Es ist spärlich eingerichtet, aber es gibt warmes Wasser und Elektrizität." Erläuterte der junge Schotte und setzte das erste Mal während ihrer längeren Wanderung seinen schweren Rucksack ab. Wie die anderen auch trug er Kleidung, die auf herbstliches Erdenwetter zugeschnitten war. Darin konnte man nicht so leicht frieren, aber ihm war einfach wohler, wenn er wusste, dass er sich jederzeit vor einen warmen Kamin setzen konnte, sollte die Notwendigkeit bestehen.

"Das ist die kleine Gartenhütte." Ergänzte April, die schon mehrfach mit Saber Campen gewesen war. Damals, als sie noch keine ausgebildeten Star Sheriffs gewesen waren und einfach mal ein wenig Ruhe vor ihren Familien gebraucht hatten.

"Gartenhütte?" murmelte Fireball sichtlich überrascht. Vermutlich war das stattliche Haus ebenfalls größer als jede Bleibe in Japan, wohnten die Inselbewohner doch immer auf so beengtem Raum. Colt brachte den Sachverhalt auf den Punkt.

"Das Ding ist keine Gartenhütte, sondern ein verdammter Palast!"

"Nenn es, wie du willst, Colt. Der Schlüssel liegt unter der Fußmatte." Saber bückte sich und begutachtete die Feuerstelle.

"Schlüssel?"

"Fußmatte?"

Alex schüttelte seinen Kopf und zog Johnny am Ärmel von den sehr verständnislos dreinblickenden Star Sheriffs fort. Natürlich war das Holzhaus da drüben nicht mehr als eine Gartenhütte, aber er würde nicht darauf hinweisen. Schließlich war er hier, um morgen Johnnys Geburtstag zu feiern und ein paar schöne Tage zu verbringen. So wie das Wasser glitzerte und der Wind durch die echten Naturbäume wehte, war er sich sicher, dass sie sich alle auch prächtig amüsieren würden. Zumindest Johnny und er!

"Lass mal die Erwachsenen reden." Der Erbe des MacLeth-Imperiums lief über den Steg und blickte nach unten in das Wasser, das keinen Meter unter dem Steg gegen die Böschung schlug. Der Wind formte einige Wellen, aber ansonsten schien die Oberfläche sehr ruhig zu sein. Ganz anders als das Meer, das er von der Heimat seiner Mutter her kannte. "Schau mal! Hier gibt's sogar Fische!"

"Wo?" Johnny war nun näher an seinen besten Freund getreten und gemeinsam blickten sie in das klare Wasser hinab und quietschten beide vergnügt auf, als zwei besonders große Brocken seelenruhig an ihnen vorbei schwammen. Es versprach, eine reiche Beute zu werden. Wenn sie Saber oder Fireball dazu bekamen, die Angelrute aufzubauen.

"Kannst du angeln?"

"Na klar! Ich werd's dir zeigen!" Alex drehte sich um und lief zurück zum Lager. Dabei rempelte er beinahe Jesse an, der ihnen auf den Steg gefolgt war. Kurz entschuldigte er sich und war auch schon zu den anderen geflitzt. Jesse nickte nur und drehte sich langsam einmal um sich selbst und betrachtete die Berge, die ihn umgaben. Ein seltsames Gefühl beschlich ihn, so als würde ihm das Atmen schwer gemacht. Beklommen fragte er sich, ob er unter Klaustrophobie litt und sich deshalb eingeschlossenen von Gesteinsbrocken unwohl fühlte. Dann verwarf er aber diese Idee. Die anderen hätten davon gewusst und einen anderen Ort für das Wochenende ausgesucht.

Camping.

Jesse hatte absolut keine Ahnung, was er darunter zu verstehen hatte. Gut, April hatte ihm wetterfeste Kleidung gekauft und einen Schlafsack sowie einen Rucksack in die Hand gedrückt, aber so recht konnte er sich trotzdem nicht vorstellen, was ihn innerhalb der nächsten drei Tage erwartete.

"Es ist wunderbar ruhig hier, nicht wahr?" holte ihn Johnny aus seinen Gedanken. Der Junge schien den Anblick vor sich mit den Augen zu verschlingen und Jesse ahnte, dass es ihm innerhalb der nächsten Stunde nicht öde geworden wäre, auf den See hinaus zu starren. "Ich war schon öfter hier in Schottland gewesen, aber noch nie im Herbst." Johnny seufzte glücklich und setzte sich auf den Steg, ließ seine Beine baumeln. "Aber ich hätte nicht gedacht, dass es so wunderschön ist."
 

"Wunderschön!"

Ein kleiner Junge lief über den Steg. Er war in dicke Winterkleidung gehüllt und hielt einige bunte Blätter in seinen Händen. Seine Wangen waren gerötete und seine eisblauen Augen leuchteten voller Freude. Wind fuhr über seine kleine Gestalt hinweg, aber das hinderte ihn nicht daran, sich bis ganz vor an den Rand des Stegs zu wagen. Tapfer blickte er hinunter und lehnte sich leicht nach vorn...

"Sei vorsichtig, sonst fällst du hinein und wirst nass." Ein anderer Junge, der jedoch viel größer war, kniete sich hinter den etwa Dreijährigen und richtete die Mütze, die ihm bis tief in das Gesicht gezogen war, sowie den dicken Schal. Dann umarmte der größere Junge den kleinen und hielt ihn fest.

"Ich fall nicht." Lachte der kleine Wildfang und warf die Blätter hinunter, lachte vergnügt, als der Wind diese ergriff und einige Meter mit sich in die Höhe nahm. "Ich doch nicht!"
 

"Es ist auch so friedlich hier, Jesse." Johnny lehnte sich zurück und blickte in den azurblauen Himmel über sich. Nur wenige Wolken zogen vorbei und diese versprachen eine kalte, dafür aber trockene Nacht.

"Hm..." murmelte der Angesprochene und blinzelte verwirrt. Die Kinder verschwanden so plötzlich wie sie gekommen waren und er fragte sich, ob er gerade mit offenen Augen geträumt hatte. So etwas schien ihm ja in letzter Zeit öfter zu passieren. Den Traum von letzter Nacht hatte er auch nicht recht begriffen, genauso wenig wie diese Art Erscheinung eben. Hatte dies mit seiner Krankheit zu tun? Waren dies Erinnerungen? Woran aber? Er war in seinem ganzen Leben noch nie in Schottland gewesen. Jesse hatte April danach gefragt. Warum hätte sie ihn deswegen anlügen sollen?

"Schade, dass es zu kalt zum Schwimmen ist." Fuhr Johnny fort, der Jesses Schweigen als Zustimmung verstand.

"Verlernt man das, wenn man sich nicht mehr daran erinnert?" zwang sich der junge Mann aus seinen verwirrenden Gedanken. Er könnte sich später darüber Gedanken machen. Viel später. Nachdem er die kommenden Tage genossen hatte, denn obwohl ihm seine Erinnerungen vollkommen fehlten, so ahnte er, dass Urlaub in seinem früheren Leben selten gewesen war.

"Keine Ahnung. Besser, wir probieren es nicht aus." Johnny erhob sich und putzte seine Hosen ab. Seine Jacke hatte ihm April letztes Jahr im Winter gekauft, da sie die Kälte so gut fernhielt, aber er konnte sich einfach nicht von seinen ausgewaschenen Hosen sowie seinen Cowboystiefeln trennen. Colt komplettierte das Bild der zwei Texaner, indem er außerdem noch seinen typischen Cowboyhut trug. Nun, hier in der Wildnis würde sie wohl keiner deswegen verspotten oder schief anschauen. Gerade wollte der junge Texaner noch etwas hinzufügen, um Jesse aufzumuntern, der wieder ein wenig geknickt wirkte, sicherlich wegen seines fehlenden Gedächtnisses, als Alex zu ihnen lief. Hoch hielt er die Angelrute in die Höhe und erklärte, dass sie diese nach einem einführenden Spaziergang zu Sabers >Gartenhütte< und am See entlang ausprobieren würden.

Johnny fing sofort Feuer und konnte es kaum erwarten.
 

***
 

Ein Adler schwang sich in die Lüfte, breitete seine Schwingen aus und flog hoch über dem Tal. Seine kühnen Augen suchten den Boden nach etwas Essbarem, wie Mäusen ab. Kaum nahm er die vier Menschen wahr, die zwischen mehreren Bäumen umher liefen und seltsam bunte Sachen ausbreiteten, die ein wenig der herbstlichen Natur ähnelten und doch ganz anders aussahen. Der Raubvogel hatte Hunger, er beachtete sie nicht weiter, sondern stieß einen lauten Schrei aus und setzte seinen Flug fort.

"So was sieht man nicht oft, oder?" Jesse Blue, der mit Colt, April und Fireball zurückgeblieben war, um die Zelte nahe des Steges zu errichten, schirmte seine Augen ab und blickte hinauf zum Himmel. Saber und die beiden Jungen waren nach der kurzen Einführung in der >Gartenhütte< und der einstimmigen Erkenntnis, dass diese nur in Notfällen benutzt werden würde, zu einer anderen Stelle am See gelaufen, um dort Alex' Angelroute auszuprobieren. Vom Steg aus konnte es der Junge natürlich auch versuchen, aber Saber erzählte von einer nur ihm bekannten Stelle und natürlich wollten die beiden Jungen diese sofort in Augenschein nehmen. April, die so schon schwer genug mit den Zelten kämpfte, war ganz froh, dass die zwei Sack voll Flöhe aus der Schusslinie waren und trug ihnen spielerisch auf, ihr auch einen besonders großen Fisch mitzubringen.

"In Yuma City nicht, nein, aber hier auf der Erde." Erwiderte Fireball und rückte sein rotes Hemd zurecht, das er über einer alten Hose trug. Alle waren sie gut gerüstet für das Campen, nur Jesse kam sich seltsam fremd vor in der neuen Kleidung, die die junge Französin erst diese Woche gekauft hatte. Deswegen hatte er sich auch nicht weiter zum Zeltaufbau angeboten. Teilweise, weil er einfach nicht mehr wusste, wie das ging. Teilweise aber auch, weil er die Sachen nicht sofort kaputt machen und April damit traurig stimmen wollte.

Als sich der junge Japaner einem Schlafsack zuwandte, sah Jesse die Waffe an seinem Gürtel hängen. Er fragte aber nicht nach. Schließlich befand er sich hier in Gesellschaft mit mehreren Star Sheriffs. Wenn er noch seine Erinnerungen hätte, würde er vermutlich ebenfalls einen Blaster bei sich führen und sich gar nichts weiter dabei denken.

"Ob die zwei wirklich einen Fisch fangen?" Fireball schlüpfte in das eine Zelt und mit einem leisen Zischen wurde dieses noch ein wenig größer, wirkte stabiler. "Ich hätte ja nix gegen was Schuppiges zum Abendbrot, aber irgendwie trau ich dem Frieden nicht."

"Saber und ich waren schon oft hier am See, er kann angeln. Also selbst wenn Alex und Johnny versagen, müsste er es schaffen, um sie zumindest wieder aufzumuntern." April, die die ihr zugeteilten Schlafstätten fertig bestückt hatte, setzte sich vor einen Baum und lehnte sich an den Stamm, genoss das Gefühl von echter Rinde hinter sich, atmete den Geruch von frischem Laub und Harz tief ein.

"Ist dieses Superversteck eigentlich weit von hier entfernt?" Fireball war nun ebenfalls mit seiner Aufgabe fertig und streckte sich, ging an Colt vorbei, der noch schweigend an der Feuerstelle saß und diese reinigte. Der Cowboy hatte während der letzten Stunde kein Wort gesprochen, aber seine Freunde kannten ihn gut genug, um ihn in Ruhe zu lassen. Wenn Colt wieder mit ihnen reden wollte, würde er sie es wissen lassen. Vermutlich sogar mit einem Schimpfwort, wenn man den gestrigen Tag sowie Colts allgemeine Stimmung in Betracht zog.

Fireball hatte sich vorgenommen, sein gestriges Verhalten wieder gut zu machen. Der Texaner hatte gehofft, in ihm einen Verbündeten gegen Saber und seine verrückte Campingidee zu finden und war bitter enttäuscht worden, als er erfahren musste, dass es der Japaner gewesen war, der Johnnys Lehrer die Freistellung überreicht hatte. Ja, Fireball würde Colt ein großes Steak spendieren und ihm sein tölpelhaftes Verhalten beim nächsten Besuch in Japan nachsehen, aber im Moment hatte Johnny einen schönen Geburtstag verdient. Außerdem würden sie Jesse nicht außer Acht lassen, dieser würde gar nicht die Gelegenheit dazu haben, ihnen etwas anzutun. Wobei der ehemalige Kadett im Moment eher harmlos wirkte, wie er mit offenem Mund zum Himmel empor sah, so als wollte er einen zweiten oder gar einen dritten Adler beim Flug erhaschen. Der Überläufer wirkte heute schon den ganzen Tag wie ein kleines Kind, das zum ersten Mal in seinem Leben in ein Spielzeuggeschäft durfte. Alles wirkte so neu, so faszinierend, und man getraute sich nicht, es anzufassen in der irrationalen Angst, es zerstören zu können.

Hätte Jesse Blue seine Erinnerungen noch, so wäre ihm nichts und niemand heilig gewesen. Aber der junge Mann, der vor Fireball stand, war ein anderer Jesse Blue. Ein ehemaliger Star Sheriff, der eine zweite Chance verdient hatte, nicht nur, weil Saber eine abenteuerliche Geschichte über ihn zu erzählen wusste.

Colt würde das eines Tages auch begreifen. Bis dahin mussten sie eben abwarten, auf seine Einsicht hoffen und dabei Jesse Blue natürlich nie aus den Augen verlieren.

"Superversteck?" April lachte amüsiert und erhob sich von ihrer Position, um neben den jungen Japaner auf den Steg zu treten. Sie deutete mit ausgestrecktem Arm nach rechts zu einer Einbuchtung. Mit bloßem Auge waren nur ein paar Schatten zu erkennen, aber Fireball grinste, als er ein kleines Gerät aus seinem Hemd hervorholte und es sich vor die Augen hielt.

"Alex hat gerade ein paar Algen geangelt." Stellte er leise fest und reichte der jungen Frau neben sich das Gerät, damit sie ebenfalls dem Geschehen verfolgen konnte. Bald hielt sie sich den Bauch vor lachen und bereute es laut prustend, nicht mitgegangen zu sein. Es wären einfach nur phantastische Photos geworden.

Fireball grinste noch immer und drehte sich gerade um, um sich neben Colt zu setzen und ihm beim Säubern der Feuerstelle zu helfen, als April auf einer glitschigen Stelle ausrutschte und das Gleichgewicht verlor. Das kleine Gerät fiel aus ihren Händen und verschwand rasch im Wasser. Die junge Frau schrie überrascht auf und wollte sich festhalten, irgendwo, aber der Steg war leer und somit kippte sie hilflos zur Seite. Fireball, der die Bewegung aus den Augenwinkeln gesehen hatte, wirbelte herum und streckte seine Hand aus, aber er konnte April nicht festhalten. Das Wasser schloss über der jungen Frau und Fireball fluchte laut. Er bemerkte nicht, wie Colt im Hintergrund aufsprang, auch nicht, wie dieser einen verwirrten Jesse zur Seite stieß. Der junge Japaner warf seinen Blaster auf den Steg und sprang mit einem gekonnten Kopfsprung der jungen Französin hinterher. Das Wasser, das ihn umgab, war eiskalt, so wie er das im Herbst in den Highlands hätte erwarten müssen, dennoch schnappte er unbewusst nach Luft und musste husten, als er dabei Wasser einatmete. Aber er ließ sich von seiner brennenden Lunge nicht beeindrucken, sondern griff zielsicher nach Aprils Hand und zog die strampelnde junge Frau zur Wasseroberfläche zurück, wo er gierig nach frischer Luft sog, die sich keinen Deut wärmer als das verfluchte Wasser anfühlte.

"Sieht hier jemand schon die Eisschollen?" scherzte April und schüttelte ihren Kopf. Ihre langen Haare, die sich heute zu einer Knolle hochgesteckt hatte, hatten sich bereits mit Wasser vollgesogen und einige Strähnen klebten nass in ihrer Stirn. Kleine Wölkchen bildeten sich vor ihrem Mund und ihre Lippen bebten frierend.

"Alles ok da unten?" Colts Kopf erschien über ihnen am Rand des Stegs. Er schien sich hingelegt zu haben und streckte ihnen nun seine rechte Hand entgegen. Sein Cowboyhut fehlte und ein besorgter Ausdruck war auf seinem Gesicht zu sehen.

"Na klar. Du weißt doch, ich liebe solche Einlagen ohne Ende." April verzog schmerzlich ihr Gesicht und versuchte, zu Colt hinüber zu schwimmen, um endlich dieser eisigen Brühe zu entkommen. Ihr Fluchtversuch endete jedoch abrupt, als sie bemerkte, dass Fireball noch immer ihren linken Arm fest hielt.

"Kannst mich jetzt loslassen." Sie schluckte ein wenig Wasser und hustete. Fireball nickte nur, brach aber den Kontakt zu ihr nicht ab. Vielmehr half er ihr hinüber zum Steg, wo bereits Colts ausgestreckte Hand auf sie wartete und ihr hinauf half.

"Echt, April, dass du gerne baden willst, weiß ich ja, aber meinst du nicht, dass du dieses Mal ein wenig übertrieben hast?" witzelte Colt, dem der Schreck aber ebenfalls anzusehen war. April ging sofort darauf ein und spöttelte zurück.

"Wenn ich dich wieder zum Reden bekomme, Kuhhirte, vollführ ich noch ganz andere Kunststücke."

"Kunststücke? Soll ich mich bei so was etwa geehrt fühlen?"

"Und wie!"

Beide grinsten sich an, als habe der gestrige Tag nicht existiert und Colt hätte sie nie angeschrieen. Dann bückte sich der Cowboy zu dem noch immer schwimmenden Japaner, um ihn ebenfalls an Land zu ziehen. Fireball hatte die ganze Zeit über April angeschaut und versucht, seinen aufgebrachten Körper zu beruhigen. Sich davon zu überzeugen, dass es der jungen Frau gut ging und dass sie sich dieses Mal gar nicht in Gefahr befunden hatte. Nicht wie damals, als ein viel zu schwerer Anzug sie in die Tiefe zog. Während eines Einsatzes gegen die Outrider, die es gewagt hatten, über Yuma City herzufallen. Eigentlich wäre der tiefe See für April niemals gefährlich geworden, wäre nicht beim vorangegangenem Kampf gegen die Outrider ihr Sauerstoffbehältnis zerstört worden. April wäre beinahe ertrunken und nur Fireballs rasches Eingreifen sowie eine verdammt große Portion Glück hatten Schlimmeres verhindert.

Der junge Japaner hatte instinktiv reagiert, als er April erneut ins Wasser fallen sah. Aber lieber zitternd vor Colt stehen und zu hören bekommen, wie unglaublich ungeschickt sie beide doch waren, als zu spät zu sein und sie zu verlieren.

"Vielleicht solltet ihr in die Gartenhütte gehen und euch was Trocknes anziehen." Schlug Jesse vor, der die ganze Zeit über bei der Feuerstelle gestanden und zugesehen hatte. Die Lage schien rasch unter Kontrolle gewesen zu sein und da er sich an keinen Schwimmunterricht mehr erinnern konnte, wollte er nichts riskieren und hatte im sicheren Abstand der Dinge geharrt.

"Gartenhütte!" grummelte Colt, musste dem ehemaligen Kadetten jedoch zustimmen. Die Sonne schien zwar hell auf sie herab, aber sie besaß schon lange nicht mehr die Kraft des Sommers. Der angenehme Herbstwind, den man in normaler Wetterkleidung kaum spürte, konnte den beiden triefenden Star Sheriffs jedoch eine ordentliche Erkältung bescheren. "Aber gut, denn wenn das kein Notfall ist, weiß ich auch nicht."

April nickte bibbernd.
 

***
 

Jesse lag auf der Wiese nahe der Feuerstelle. Er hatte seine Arme hinter dem Kopf verschränkt und sich eine von Fireballs Sonnenbrillen ausgeborgt. Er mochte die sanften Strahlen, die so warm auf sein Gesicht schienen, dennoch war ihn dieser Herbsttag ein wenig zu hell, ein wenig zu bunt. Der junge Mann hatte nur mit seinen Schultern gezuckt, als er danach fragte, und heftig genießt. Woraufhin Colt noch schneller durch die Schränke gewühlt hatte auf der Suche nach großen Handtüchern, während April eine heiße Dusche genommen hatte. Seit einer Stunde verunstalteten die drei nun Sabers Privatbesitz und Jesse, der nicht in die Quere geraten wollte, hatte sich zurück gezogen und genoss die Natur um ihn herum in vollen Zügen. Natürlich kam ihm diese Umgebung ebenso fremd vor, so wie ihm das in Yuma City bereits ergangen war, aber Schottland fühlte sich nicht so kalt, so steril an wie die große Stadt auf dem fernen Planeten.

Jesse war sein früheres Leben vollkommen unbekannt, aber er glaubte zu ahnen, dass es nicht so friedvoll, so ruhig gewesen war.

Er spürte den Wind, der durch seine Haare fuhr und die Bäume raschelten über ihm, so wie das Wasser neben ihm leise plätscherte, wenn es gegen die Böschung schlug. Jesse schob die Brille ein wenig zur Seite und blinzelte hinauf in die golden glitzernden Wipfel, beobachtete einige rötlich gefärbte Blätter, die sanft zu Boden glitten.
 

"Fang mich doch! Fang mich doch!"

Der kleine Junge mit der tief ins Gesicht gezogenen Mütze und dem viel zu großen Schal lachte laut und lief durch die Bäume. Seine Beinchen stolperten und er fiel mehr als nur einmal hin, aber es schien ihm nichts auszumachen. Er weinte nicht, sondern rappelte sich kichernd wieder auf und drehte sich zu jemandem um, der ihn zu verfolgen schien. Seine Hände griffen nach dem Laub, das um ihn herum lag, und er warf es in die Luft. Es rieselte auf ihn herab und er freute sich darüber.

"Und ob ich dich fange."

Der größere Junge hatte ihn nun erreicht und wurde mit einem Schauer aus goldenen Blättern begrüßt. Er lachte ebenfalls und ergriff sanft den kleineren Jungen, um ihn auszukrabbeln. Dieser quietschte vergnügt auf und bald balgten sich beide im bunten Laub.

"Mich fängt trotzdem keiner..."
 

Jesse richtete sich ruckartig auf bis er saß, aber bevor er etwas hatte sagen können, waren die beiden Kinder verschwunden. So wie vor wenigen Stunden auch. Verwirrt blickte der junge Mann umher, aber er konnte von ihnen keine Spur mehr ausmachen. Selbst ihr helles Lachen schien der Wind mit sich genommen zu haben.

"Hallo, Jesse. Wo sind denn die anderen?"

Der junge Mann fuhr herum und starrte Saber einige Augenblicke sprachlos an, der wie aus dem Nichts aufgetaucht zu sein schien. Johnny und Alex folgten ihm, wobei letzterer seine Angel mit vor Stolz geschwollener Brust hielt und bereit war, jedem den Fisch zu zeigen, der daran hing - und mit Sicherheit die Geschichte des Einfangens zu erzählen.

"Die sind drüben im Haus, um sich trockene Kleidung anzuziehen." Jesse klappte nun die Sonnenbrille zusammen, denn es erschien ihm unhöflich mit anderen zu sprechen, während diese seine Augen nicht sehen konnten. Es machte ihn selbst auch immer nervös, oder zumindest glaubte er, dass es ihm so ergehen würde.

"Trockene Kleidung?" Saber hatte sich neben der Feuerstelle niedergelassen und fuhr in Colts Werk fort, diese zu säubern. Alex war mächtig stolz auf seinem Fang und würde den Fisch mit Sicherheit gerne überm offenen Feuer rösten und dann seinen Anteil gierig verschlingen. Feuerzeug war bereits an einen der Bäume gestapelt worden, es stand also einem zeitigen Abendbrot nichts im Wege, zumal sie den ganzen Tag bis auf ein paar Kleinigkeiten während der Wanderung noch nichts gegessen hatten.

"April und Fireball sind ins Wasser gefallen." Erklärte Jesse und zuckte seine Schultern. Er wusste auch nicht recht, was er dazu sagen sollte.

"Warum wundert mich das nicht?" Saber lächelte müde und wies Alex an, die Angel samt Fisch neben ihm abzulegen. Ihr Abendbrot musste noch ausgeweidet und geputzt werden, mit einem scharfen Messer, das er dem jungen Erben lieber nicht in die Hand drückte. Dieser hatte auch schon andere Pläne und gemeinsam mit Johnny durchstreiften sie die näher gelegenen Wälder. Saber ließ ihnen ihre Freiheit, sah sich aber ab und an um, um sicher zu gehen, dass beide noch in Reichweite waren.

"Kann ich dir irgendwie helfen?" Jesse musterte den Fisch, aber es mochte ihm einfach nicht einfallen, ob er so etwas schon einmal gegessen hatte, geschweige denn, wie man das sehr glitschig aussehende Wesen zubereitete. Dennoch wollte er nicht faul umhersitzen, während sich andere für ihn abmühten. Saber blickte kurz auf und schien zu überlegen. Dann zerrte er seinen Rucksack zu sich und holte eine viereckige Box hervor. Diese drückte er Jesse zusammen mit einem kleinen Messer, mit dem er niemanden schaden konnte, in die Hände.

"Schmier einfach ein paar Schnitten. So groß der Fisch und so stolz Alex auch sein mögen, davon werden wir alle kaum satt."

"Okay." Der junge Mann hob den Deckel und sah sich mit einer Aufgabe konfrontiert, die er bewältigen konnte, ohne sich dabei vollkommen der Lächerlichkeit preis zu geben, oder seiner Amnesie.

Eine Weile arbeiteten sie schweigend. Colt und die zwei nassen Star Sheriffs ließen sich nicht blicken, aber Saber gab ihnen Zeit. Vermutlich zog der Cowboy die beiden gerade ob ihrer Tollpatschigkeit auf und wurde von ihnen dafür gnadenlos durch das Haus gejagt. So war das eben mit Erwachsenen, die die ganze Woche über das Universum zu beschützen hatten, da benahmen sie sich eben am Wochenende umso kindischer.

"Bin ich schon einmal hier gewesen?" Jesse sah von dem Brot auf und blickte sich skeptisch um, betrachtete das Blätterzelt über sowie das glitzernde Wasser neben sich. Natürlich hatte er April bereits dieselbe Frage gestellt und er sah keinen Grund, der jungen Frau nicht zu vertrauen, aber er wurde dieses seltsame Gefühl nicht los, als wäre er nicht zum ersten Mal in den Highlands, sondern als würde er zurück kehren.

Oder spielte ihm sein gepeinigtes Gehirn einfach nur einen Streichen? Einen von vielen, auf die ihn Doktor Claire bereits vorbereitet hatte?

Saber sah von Alex' Fisch auf und musterte Jesse, der weiterhin zum See hinaus schaute. Automatisch dachte er an die vergilbten Photos, die seine Mutter vor über siebzehn Jahren gemacht hatte. Jetzt wäre eine Gelegenheit, Jesse die Wahrheit zu erzählen. Oder zumindest diesen Teil der Wahrheit. Als sich der junge Mann jedoch wieder zu ihm umdrehte und ihn erwartungsvoll ansah, wusste Saber, dass es dafür noch zu früh war. Jesses Unfall war gerade sieben Tage her und er hatte mit der neuen Umgebung, mit seinem neuen Leben genug zu kämpfen, Saber wollte ihn nicht noch mehr mit seiner Ungeduld verwirren. Mit Erinnerungen, die sie beide nie besessen oder aber verdrängt hatten. Deshalb schüttelte er nur unbestimmt seinen Kopf und konzentrierte sich wieder auf ihr Abendbrot.

"Du bist in Kanada aufgewachsen, Jesse, ich glaube nicht, dass du die Highlands kennst."

"Hat Kanada auch solche Wälder wie diese hier?"

"Ja." Saber hasste sich für diese Lügen, aber je mehr er sich einredete, dass Jesse noch nicht so weit war, um die alten Aufnahmen zu betrachten, umso mehr musste sich der Schotte eingestehen, dass es auch für ihn noch zu früh gewesen wäre.

"Dann liegt es vielleicht daran, dass ich mich hier so heimisch fühle." Der ehemalige Kadett legte die Brotscheibe vorsichtig zu den anderen auf einen Teller und sah sich erneut um. Seinen Kopf musste er in den Nacken legen, um die Gipfel der nahen Berge zu sehen und nicht zum ersten Mal wanderten seine Blicke zu dem stolzen Schloss zurück. Jesse konnte sich an kein Märchen erinnern, aber er wusste sofort, dass dieser Prachtbau einem König gerecht gekommen wäre. Er wusste, dass sie hier nur für wenige Tage campen würden und Johnny und sein morgiger Geburtstag im Mittelpunkt ihrer kurzen Reise standen. Ansonsten hätte er vielleicht Saber gefragt, ob sie das Schloss besuchen könnten. Zu gern hätte er es von innen gesehen, sich davon überzeugt, dass es real war und er sich die vielen Türme inmitten eines bunten Meeres aus Blättern nicht nur vorstellte.

"Gefällt es dir hier?" Saber weidete den Fisch geschickt aus und steckte ihn schließlich an einen Stock, den er über das Feuer halten würde, sobald sich die anderen wieder bei den Zelten einfanden. Dass seine Hände dabei leicht zitternden, bemerkte niemand.

"Oh ja." Jesses Gesicht hellte sich auf und er ergriff die nächste Brotscheibe. "Yuma City ist nicht schlecht, aber ich finde diese richtigen Bäume irgendwie schöner." Erneut hob der junge Mann seinen Kopf und blickte hinüber zum nächsten Gipfel. "Es ist wirklich schön hier, aber ich glaube, die Aussicht von dort oben muss noch viel atemberaubender sein."

Saber folgte seinem Blick und nickte unbewusst.

"Das ist sie."

"Kann ich mir vorstellen."

"Wir sind leider nur bis Sonntag da, aber wenn wir das nächste Mal hier sind, wandern wir bis dort hoch. Dagegen ist der Ausblick vom Hügel heute Vormittag mickrig."

"Wirklich?"

"Ja, der Berg ist dreimal so hoch..."

"Ich meine, dass wir dann dort hoch gehen?"

"Wirklich. Versprochen."

"Toll!"

Jesse wandte sich zurück zu Saber und der junge Schotte schluckte unbewusst, als er das fröhliche Lächeln auf Jesses leicht errötetem Gesicht sah. Er wollte etwas erwidern, obwohl er selbst nicht wusste, was er in dieser Situation sagen konnte, als das Donnern der Gartenhütte ihn herumfahren ließ. Ja, Donnern war der richtige Ausdruck. Colts Gesicht wirkte wie eine Gewitterwolke und mit großen Schritten legte er die Entfernung zwischen dem stabilen Holzhaus und ihrem Zeltplatz in kürzester Zeit zurück. Mit erhobener Augenbraue musterte der Cowboy Jesse und die fein säuberlich geschmierten Schnitten, bevor er sich möglichst weit weg von dem Verräter vor die Feuerstelle setzte. Tief zog er seinen Hut ins Gesicht und holte sehr tief Luft. Saber konnte ihn förmlich langsam bis zwanzig zählen hören.

"Weißt du, Saber, wenn du es nicht schaffst, mich mit deinen Superideen ins Grab zu befördern, dann erledigen das diese zwei Verrückten da drin!" seufzte er schließlich und zerrte seinen eigenen Rucksack zu sich heran. Saber überlegte gerade krampfhaft, wie er Colt davon abhalten konnte, sich wieder zu betrinken, aber sehr zu der Erleichterung des Schotten kramte der Cowboy nicht eine Schnapsflasche hervor, sondern eine große Tafel Schokolade. Dass sich Colt damit seinen Appetit aufs Abendbrot verderben würde, erwähnte er wohlweislich nicht, sollte er froh sein, dass der junge Texaner nach dem gestrigen Tag überhaupt wieder mit ihm sprach.

"Jesse hat schon erzählt, dass die beiden baden gegangen sind." Saber schüttelte seinen Kopf, als Colt ihm die Plastikstange entgegen hielt. Er hatte sich noch nie etwas aus Schokolade gemacht.

"Nein, danke." Lehnte auch Jesse lächelnd ab, der nun mit der Käseverpackung kämpfte. Butterbrote fand er instinktiv nicht so lecker. Colt musterte den Verräter einige Augenblicke überrascht, denn er hätte Jesse mit Sicherheit nichts abgegeben, ließ es dann aber auf sich beruhen und steckte sich ein großes Stück Schokolade in den Mund. Ja, er war süchtig nach dem Zeug, und?

"Unsere ungeschickte April hat dort draußen ihr Gleichgewicht verloren und ist ins Wasser geplumpst." Colt deutete mit einer Kopfbewegung zum Steg hinüber und fuhr fort, die Süßigkeit zu vernichten. "Natürlich musste unser Matchbox den Helden spielen und hinterher springen. Entweder das oder es ist in Japan normal, im Herbst in einem Gebirgssee baden zu gehen. Was weiß ich denn..." Der Cowboy zuckte seine Schultern und lehnte sich gegen einen der Bäume.

"Du durftest sie wieder rausfischen, oder?" Es war nicht wirklich eine Frage, Saber konnte sich auch so vorstellen, was danach abgelaufen war.

"Na klar, ich bin doch ein toller Angler. Apropos angeln, wem verdanken wir eigentlich diesen Fischschwanz da?"

"Alex."

"Hätte mich bei Johnny auch gewundert, Wilcox mögen kein Wasser. Außerdem müssten wir dann zwei von diesen Monstern essen."

"Du kannst ja morgen in die Wälder gehen und schauen, ob du zufällig einen Büffel findest, den du jagen kannst."

"Logisch." Colt grinste und rollte dann seine Augen, als erneut ein lauter Knall den friedlichen Spätnachmittag störte. Dieses Mal war es jedoch nicht die Fronttür gewesen, sondern eine irgendwo im Inneren des Hauses. "Diese zwei bringen mich wirklich noch mal um den Verstand!"

"April und Fireball?"

"Ja, genau die und niemand anderes! April wollte sich bei Fireball für ihre Rettung bedanken, aber er hat ganz seltsam reagiert und nun haben die beiden ihre schwierigen zehn Minuten." Colt stopfte sich ein weiteres Stück Schokolade in den Mund und schlug seine Stiefel übereinander. Schweigend beobachtete er das Ausweiden des sehr ekelig wirkenden Fisches und stahl auch ab und an einen Blick zu Jesse, der sie aber nicht jeden Moment überfallen wollte, sondern statt dessen tapfer mit dem Käse und den bereits mit Butter beschmierten Schnitten kämpfte. In Yuma City hätten sie bereits fertige Brote gekauft, aber genau das machte ja eigentlich den Reiz des Campings aus - so zu leben wie vor hunderten von Jahren. Colt musterte kurz die sehr komfortabel wirkenden Zelte und gab zu, dass, wenn schon ihr Essen beinahe mittelalterlich ausfiel, wenigstens ihre Nachruhe so modern wie immer sein würde. Vermutlich sogar noch bequemer als in Ramrod, der auch nicht zum Wohlfühlen, sondern zum Kämpfen konstruiert worden war.

"Ich raff's einfach nicht. Warum müssen die zwei immer um den heißen Brei herumschleichen? Seit fast zwei Jahren vollführen sie nun diesen Eiertanz! Wäre es nicht einfacher, wenn sie sich statt dessen Mal ihre Liebe gestehen würden und wir könnten alle etwas friedlicher leben?" platzte es schließlich aus Colt heraus. "Und sag mir jetzt nicht, dass da nichts dran ist, Saber, die benehmen sich wie zwei junge Pferde im Frühjahr."

"Deine Vergleiche faszinieren mich immer wieder." Erwiderte Saber, lächelte aber amüsiert, um Colt zu zeigen, dass er keinen weiteren Streit vom Zaun brechen wollte. "Aber das ist wohl alles etwas schwieriger, als wir uns das vorstellen."

"Warum denn? Er mag sie, sie mag ihn, aus, fertig." Colt aß ein letztes Stück Schokolade und ließ den Rest wieder in den sicheren Tiefen seines Rucksackes verschwinden. "Ich hab da nie so ein Trara draus gemacht!"

"Nicht jeder ist Bill Wilcox." Saber blickte hinüber zur Gartenhütte, aber dort bewegte sich nichts, nicht einmal ein Schatten hinter den Fenstern. Vermutlich saß Fireball versteinert in irgendeiner Ecke, während April in einem der Gästezimmer schmollte. Solche Streitereien dauerten nie besonders lange, aber Saber musste Colt insgeheim zustimmen, dass sie sinnlos waren.

"Trotzdem! Wenn die zwei sich schon wie ein altes Ehepaar benehmen müssen, könnten sie auch gleich eins sein!"

"Gib's zu, du willst doch nur das Schlemmerbüfett der Hochzeit einheimsen."

"Nein, ich will, dass die zwei endlich mal Klartext reden. Zwei Jahre Bedenkzeit reichen doch aus, oder?"

"Seit wann willst du denn Amor spielen?" Saber legte die nun aufgespießten Fischteile beiseite und machte sich daran, das Holz in die Feuerstelle zu schichten. April hatte fast den kompletten Mittwoch Abend damit verbracht, den alten Grill zu reparieren, gab es dann aber schließlich auf. Denn obwohl sie ihn halbwegs wieder zum Laufen brachte, verspürte sie keine Lust darauf, ihr Essen anbrennen zu lassen, da sich die Hitzezufuhr nicht mehr regulieren ließ. Also erklärte sie das Unterfangen für gescheitert, warf den unglückseligen Grill in den Müll und erklärte, dass ein Lagerfeuer nicht nur praktischer, sondern auch viel gemütlicher war.

"Amor?"

"Ja, der Liebesgott."

Allein die Vorstellung von Colt, der mit Flügeln und Pfeil und Bogen durch die Gegend lief, ließ ihn leise lachen. Johnnys Erzählungen über ein Faschingsfest vor fast fünfzehn Jahren sowie ein paar digitale Bilderrahmen konnten sein Amüsieren erst recht nicht zügeln.

"Du nimmst mich nicht ernst!" schnappte der Cowboy sofort, blieb aber faul sitzen.

"Das tu ich, Colt, aber was willst du daran ändern? Die beiden sind erwachsen." Saber holte ein Feuerzeug aus den Tiefen seines noch immer viel zu formell wirkenden Campinganzuges und zündete das aufgeschichtete Holz an. Im Dämmerlicht, das mittlerweile zwischen den Bäumen herrschte, leuchtete es orange und verbreitete eine angenehme Wärme. Jesse rückte ein wenig näher, bemerkte nicht, wie ihn Colt warnend anfunkelte. Wenn der Verräter versuchen würde, sie abzufackeln, so wäre es das Letzte, was er in seinem Leben tat, so viel stand fest!

"Ich befreif's nur einfach nicht. April ist doch der Fang! Sie ist hübsch, freundlich, lustig und vernarrt in ihn, das sieht doch ein Blinder!"

"Eifersucht?"

"Nee, sie ist nicht mein Typ." Wehrte Colt ab und verzog seinen Mund, als er begriff, dass Saber ihn nur aufzog. "Lenk nicht ständig ab, Schotte! Ich mein, wieso wehrt Fireball immer ab und warum schleppt sie ihn dann nicht einfach in ihre Höhle?"

Nun konnte Saber sein Lachen nicht länger unterdrücken.

"Deine Beschreibungen sind herrlich, Colt." Lachte er. Der Cowboy gab ein beleidigtes Geräusch von sich und stand schließlich auf, als nun auch Jesse dämlich grinste, so als würde er den Witz verstehen!

"Falls ich jemals wieder ein ernstes Gespräch mit dir beginnen will, warne mich bitte vorher, dass es nichts bringt, wenn wir dabei nicht über Ramrod sprechen." Brummte er eingeschnappt und wollte gehen, aber Saber hielt ihn zurück.

"Ich mische mich nicht in Aprils Liebesleben ein. Wenn die zwei eben einen >Eiertanz< aufführen, so sollten wir das akzeptieren. Immerhin mischen sich die beiden auch nicht bei dir oder bei mir ein."

"Das glaubst auch nur du." Colts Augen blitzten verschmitzt, aber Saber ignorierte es großzügig. Er wusste, worauf der Cowboy anspielte, aber er diskutierte jetzt lieber nicht mit ihm aus, dass sich April nicht einmischte, sondern lediglich den betreffenden Personen hier und da einen kleinen Schupps verpasste.

"Wahrscheinlich." Der junge Schotte blickte sich kurz um und fand schließlich, wonach er suchte. "Könntest du bitte Johnny und Alex holen? Sonst brennt ihre Beute an und ich will nicht den halben Abend zwei Trauerklöße vor mir sitzen haben."

"Wo sind die beiden denn?" Colt schob seinen Hut in den Nacken und fasste sich an die Stirn, als er die Jungen in einem Baum nicht weit von ihnen sitzen sah. "Der Mensch stammt eindeutig vom Affen ab." Meinte er kopfschüttelnd und schritt im großen Bogen an Jesse Blue vorbei, der ein kleines Messer ins seinen Händen hielt und damit einige Scheiben Wurst zerteilte. Solange Saber auf den Verräter aufpasste, musste sich Colt wohl oder übel damit abfinden, dass der ehemalige Kadett gemeinsam mit ihnen Abendbrot machte. Obwohl sich der Cowboy wohler gefühlt hätte, wenn der junge Schotte diesem Plastikbesteck in die Hände gedrückt hätte und keinen Stahl.

"Was macht ihr da oben?" rief er zu seinem kleinen Bruder empor, der rittlings auf einem Ast saß und angebannt in den Wald hinein starrte. Der Erbe des MacLeth-Imperiums schien ebenfalls einen Affen zu imitieren, nur schwenkte er eine kleine Kamera so rasch umher, dass sich Colt sicher war, dass man auf den Aufnahmen nichts erkennen konnte.

"Wir beobachten Eichhörnchen." Erklärte Johnny flüsternd und deutete Colt an, leiser zu sein, sonst vertrieb er noch die scheuen Tiere.

"Ein weiteres Schulprojekt?" argwöhnte der Cowboy und war froh, dass er die Schulbank schon lange nicht mehr drücken musste und sogar um die komplizierte Ausbildung der Star Sheriffs herum gekommen war.

"Nee, Interesse."

"Dann kommt runter, sonst verbrennt eure Fischstudie noch überm Feuer und Saber hat sich umsonst damit abgemüht."

Johnny und Alex tauschten nachdenkliche Blicke aus und entschieden sich, dann doch ihren knurrenden Mägen zu folgen und vom Baum herunter zu klettern.

Colt musste sich eingestehen, dass er eben mit lauter Verrückten in den Highlands war. Aber je länger er darüber nachdachte, desto weniger machte ihm das aus. Zumindest weniger als noch gestern, wo er am liebsten alle erwürgt hätte, besonders Saber. Johnnys leicht gerötetes Gesicht und das Lächeln auf seinen Lippen, während er ihm aufgeregt erzählte, wie Alex den Fisch an seiner Angel gehabt und er ihm zur Hilfe gekommen war, damit er ihr Abendbrot nicht wieder verlor, sagten Colt, dass sein kleiner Bruder das Risiko Jesse Blue wert war. Schließlich war es Johnnys Geburtstag und so sehr es den Cowboy auch nervte, Saber hatte Recht gehabt. Sie verbrachten schon viel zu wenig Zeit mit dem Jungen, Johnny hatte ein Wochenende in den Highlands wirklich verdient.

Colt seufzte unterdrückt und nickte sofort zustimmend, als Johnny den Fisch mit seinen Armen beschrieb und Alex stolz erklärte, dass es ein phänomenaler Fang gewesen war. Er wünschte nur, dass sich an Johnnys Geburtstag nicht der Todestag ihrer Eltern jähren würde. Vieles wäre einfacher.
 

***
 

Fireball saß auf den Stufen der >Gartenhütte< und blickte hinauf zum Himmel. Hier und da schoben sich Wolken über das Firmament, aber zwischen ihnen konnte er deutlich die Sterne blinken sehen. Die Dämmerung hatte bereits vor einer Stunde eingesetzt und je dunkler es wurde, umso mehr funkelte der Himmel über ihm. Es war beruhigend, wieder vertraute Sternenbilder zu sehen. Seit fast zwei Jahren lebte er nun in Yuma City, aber er hatte sich an die fremden Konstellationen am Rande des neuen Grenzgebietes noch immer nicht gewöhnt. Genauso wenig, wie er es gelernt hatte, April zu verstehen. Nein, das war falsch, er verstand April. Er verstand sie sogar sehr gut. Aber er wusste nicht, wie er mit ihr umgehen sollte. Wie er mit sich selbst umgehen sollte.

Der junge Japaner ballte seine Fäuste und blickte kurz zum Lagerfeuer hinüber, um das mehrere Gestalten saßen und laut lachten. Alex erzählte sicherlich wieder eine Anekdote aus seinem Leben. Der Erbe mochte noch nicht viel von Handelsgeschäften verstehen, aber er war ein ausgezeichneter Schauspieler, wenn es darum ging, einen unbeliebten Geschäftspartner darzustellen. Oder einen verhassten Lehrer.

Saber hatte sich um das Abendbrot gekümmert und April hatte sich sofort zu ihnen gesellt, als er nach ihr gerufen hatte. Fireball blieb zurück. Er verspürte zwar ein wenig Hunger, aber keinen Appetit. Eigentlich hatte er sich auf diese freien Tage gefreut, aber vermutlich hatte er sich wieder einmal daneben benommen. Den Ehrenkodex seines Heimatlandes kannte er auswendig und es wäre ihm niemals passiert, in so viele Fettnäpfchen zu treten, wie das Colt jedes Mal gelang. Aber wenn es um April ging, so schaffte er es immer wieder, das Falsche zu sagen und das Falsche zu tun - und das schon seit fast zwei Jahren.

Fireball seufzte leise und wandte seinen Kopf wieder dem Sternenhimmel zu. Nein, er würde es nie lernen. Er würde immer wieder überrumpelt sein, wenn April ihm zu nahe kam, so wie heute, als sie sich überschwänglich bei ihm bedanken wollte, dass er ihr in dem eiskalten Wasser geholfen hatte. Obwohl die Rettungsaktion im Nachhinein betrachtet eigentlich sinnlos gewesen war. April hatte nicht ihren defekten Kampfanzug getragen. Außerdem war sie eine ausgezeichnete Schwimmerin, die vermutlich vom eisigen Wasser erschrocken gewesen war, deswegen aber nicht gleich untergegangen wäre. Seine panische Reaktion war unangebracht gewesen. Genauso wie seine abweisenden Worte bei ihrer Dankesrede.

"Hunger?"

Fireball zuckte zusammen und tastete automatisch nach seinem Blaster, als die Gestalt plötzlich neben ihm stand. Dann aber entspannte er sich. Es handelte sich dabei Jesse Blue, der lediglich einen Teller in seinen Händen hielt und absolut uncharakteristisch lächelte, so wie er das den ganzen Tag über schon getan hatte. Zumindest schien sich der Überläufer in den Highlands wohl zu fühlen und hatte bis jetzt auch noch keine Anstalten gemacht, sie zu überfallen. Vermutlich war es doch die richtige Entscheidung gewesen, Johnny seinen Geburtstagswunsch trotz aller Risiken zu erfüllen. Ja, Sabers Befehle waren nicht immer einfach zu verstehen, aber später betrachtet erwiesen sie sich immer als vernünftig. Vernünftiger als Fireballs manchmal so hitziges Temperament.

"Eigentlich nicht." Der junge Japaner wollte lieber allein sein, ließ dennoch zu, dass sich Jesse neben ihn auf die Holzstufen setzte, die zu einer kleinen Veranda führten, welche Sabers >Gartenhütte< umgab. Für Fireballs Geschmack war das Haus auch zu groß für diese Bezeichnung, aber er war schon mehrmals in Sabers Schloss zu Besuch gewesen und wusste, dass für den Schotten andere Maßstäbe galten.

"Versuch es trotzdem. Alex' Geschichte wird bei jedem Erzählen abenteuerlicher. Mittlerweile hat er den Fisch schon unter Lebensgefahr gefangen und da solltest du das Tier nicht verschmähen." Erklärte Jesse freimütig und sein Lächeln vertiefte sich, als er hinüber zu den anderen Gestalten am Feuer blickte. Alex thronte noch immer über ihnen und war in seinen Beschreibungen vertieft. April und Johnny hingen förmlich an seinen Lippen, während Saber sein Lachen zu verstecken versuchte und Colt seine Schokolade wieder ausgepackt hatte. Ein Stich fuhr durch Fireballs Herz, als er seine Freunde so fröhlich sah, wissend, dass er sich diesen schönen Abend selbst verdorben hatte.

"Na gut." Murmelte er und nahm Jesse den Teller ab. Er entdeckte darauf ein gegrilltes Stück Fisch sowie die am ordentlichsten belegte Käseschnitte seines Lebens. Wer immer diese auch belegt hatte, er schien ein Lineal benutzt zu haben. Mit einem Schulterzucken tat Fireball das Mysterium ab und biss hinein. Sein Magen meldete sich sofort zu Wort und der junge Japaner war plötzlich froh, dass sie ihm etwas zu Essen aufgehoben hatten, und dass es Jesse war, der ihm sein Abendbrot brachte. Der ehemalige Star Sheriff kannte ihn nicht und würde dank seines Gedächtnisverlustes keine unangenehmen Fragen stellen, so wie das Saber sicherlich getan hätte. Colt hatte seinen Standpunkt am Nachmittag ja schon klar gemacht und Fireball verspürte keine Lust, mit seinen Teamkameraden über seinen Gemütszustand zu diskutieren.

"Habt ihr die Klamotten auch wieder richtig trocken bekommen?" Jesse hatte bemerkt, dass April wieder dieselbe Kleidung wie vor ihrem unfreiwilligem Tauchgang trug. Aber zu frieren schien sie darin nicht, hatte sich lediglich einen Schal umgebunden und ihre Haare zu einem losen Zopf zusammen genommen. Gerade lachte sie wieder laut auf und Fireball neben ihm stellte den Teller wieder hin. Das Brot hatte er gegessen, den Fisch jedoch kaum angetastet.

"Hai. In Sabers >Gartenhütte< befindet sich auch ein Trockner. Das Ding ist moderner eingerichtet als mein Elternhaus in Japan." Er verschränkte seine Hände hinter seinem Kopf und fuhr fort, den Sternenhimmel zu betrachten. "Wir waren in null Komme nix wieder trocken, aber ich denke mal, dass wir diese akrobatische Nummer nicht noch einmal veranstalten. Das Wasser war doch schon recht kühl."

"Du bist ohne zu zögern hinterher gesprungen." Bemerkte Jesse neben ihm und sah nun auch hinauf zu den Sternen, obwohl ihm die verschiedenen Konstellationen nichts sagten. Er kannte weder das Land noch den Himmel darüber, aber er fühle sich wohl. War es denn nicht egal, ob er die glitzernden Formationen über ihm erkannte oder nicht? Oder sollte er sich aus ausgebildeter Star Sheriff Gedanken darüber machen, dass es ihm so vollkommen gleichgültig war, sich an all das nicht mehr erinnern zu können?

"Ohne dein Schweizer-Käse-Gedächtnis würdest du dich an mehrere Situationen erinnern, wo ich das schon gemacht habe. April kann manchmal sehr ungeschickt sein." Fireball erwähnte jedoch nicht, dass diese Situationen meist während eines Kampfes gegen die Outrider gewesen waren und Jesse damals nicht auf ihrer Seite gestanden hatte.

"Hm..." Jesse beschlich das untrügliche Gefühl, dass ihm nicht so viele Menschen sofort hinter her gesprungen wären.

"Und so kalt war das Wasser auch nun wieder nicht." Beschwichtigte Fireball und griff blind nach dem Teller. Es schien, als wollte er noch etwas sagen, ließ es dann aber und steckte sich statt dessen ein kleines Stück gegrillten Fisch in den Mund. Es schmeckte zwar nicht so gut wie in den Sushihäusern seiner Heimat, aber Saber hatte sich große Mühe gegeben und den Fisch trotz des unberechenbaren Lagerfeuers lecker zubereitet.
 

"Komm schon rein! So kalt ist das Wasser doch gar nicht!"

Grelles Tageslicht durchflutete das Tal und der größere Junge stand im nahe gelegenen See. Das Wasser umspielte seine nackten Beine und er rückte seine Badekappe zurecht, unter der seine hellen Haare hervor lugten.

"Ich..." Der kleine Junge hatte eine dicke Wintermütze tief in sein Gesicht gezogen und schüttelte entschieden seinen Kopf. Es schien ihm nicht nur zu kalt zu sein, nein, er fürchtete sich sogar vor dem Wasser. Seinen großen Zeh steckte er kurz in den See, bevor er einige Schritte nach hinten tapste und dabei beinahe sein Gleichgewicht verlor. Der größere Junge hatte ihn aber bereits eingeholt und mühelos in seine Arme genommen.

"Das wird dir gefallen, glaub mir."

"Aber ich kann doch nicht schwimmen." Der kleine Junge errötete tief und strampelte mit seinen Beinchen, aber es gab kein Entkommen. Der andere Junge lachte nur vergnügt und lief weiter in den See hinein.

"Keine Bange, dann werd ich's dir beibringen."

"Nein! Ich will nicht ertrinken!"

Der größere Junge lächelte liebevoll und ließ den Kleinen runter. Das Wasser reichte ihm nun bis zum Bauch, schien ihn aber nicht weiter zu bedrohen oder gar anzuspringen. Der kleinere von beiden blinzelte überrascht und tauchte seine Hände in das Nass ein. Noch immer geschah nichts Schlimmes und so schaute er verwirrt zu seinem besten Freund hinauf.

"In meiner Nähe gehst du nicht unter. Versprochen."

Daraufhin musste der kleine Junge lachen und begann eine erbarmungslose Wasserschlacht.
 

Jesse blinzelte verwirrt in die nächtliche Dunkelheit, die ihn plötzlich umgab, ihn zu übermannen drohte. Das Sonnenschein war verschwunden, so auch die Kinder. Die Stelle am Ufer, wo sie sich eben noch gegenseitig mit kühlem Wasser bespritzt hatten, war leer, der See lag vollkommen ruhig im Licht der Sterne.

Was?

Jesse sah sich fragend um, aber er konnte selbst keine Antwort auf diese seltsamen Visionen finden, die ihn heimsuchten, seitdem er das Tal am Morgen betreten hatte. Er kannte jedoch keine kleinen Kinder. Saber und die anderen hatten ihm erzählt, dass er keine Familie, keine kleinen Brüder besaß. Auch war er noch nie in den Highlands gewesen. Und an Geister glaubte er nicht.

Was also war es dann gewesen?

"Geh wieder zurück zum Lagerfeuer, Jesse." Meinte Fireball mit einem Mal neben ihm und der junge Mann musste sich sehr zusammen reißen, um nicht erschrocken aufzuspringen. Er war so vertieft in seine Gedanken gewesen, dass er die Anwesenheit des Star Sheriffs vollkommen vergessen hatte - wie so vieles andere in seinem Leben auch.

"Kommst du mit? Vielleicht hat ja Alex mittlerweile ein Seemonster in seine Geschichte eingefügt." Antwortete er deshalb nach einigen Momenten, in denen er nach Atem rang und sein Herz zu beruhigen versuchte.

"Später vielleicht." Wich Fireball ihm aus und sah wieder hinauf zu den Sternen. Er war schon oft durch das Weltall geflogen, dennoch erschienen sie ihm unerreichbar, mystisch, wenn er sie von einem Planeten aus beobachtete. Wenn er sie von der Erde aus betrachtete. Dann musste er unweigerlich an seine Kindheit denken. Damals hatte er all die Mythen noch geglaubt, die sich um die glitzernden Objekte der Nacht rankten. Dass Sternschnuppen Wünsche erfüllten. In seinem ganzen Leben hatte er nur einen einzigen Wunsch gehabt. Dieser war ihm jedoch nie erfüllt worden.

"Ach, falls es um den Streit mit April geht, sie hat dir schon längst verziehen." Jesse richtete sich auf und sah erneut hinüber zum Lagerfeuer. Das Feuer warf weiter Schatten auf den See hinaus. Die junge Französin hatte Alex abgewechselt und erzählte nun ihrerseits eine Geschichte. Sabers leidender Gesichtsausdruck und wie er manchmal seine Augen mit seinen Händen bedeckte, ließen Fireball erkennen, dass sie höchstwahrscheinlich eine Anekdote aus ihren Kindertagen zum Besten gab. Saber spielte zwar immer den unnahbaren Schotten, den strengen Vorgesetzten, der sich genau an die Vorschriften des Oberkommandos hielt, aber in seinen Jugendtagen schien er mit seiner besten Freundin allerlei Blödsinn angestellt zu haben. Johnny amüsierte sich königlich und auch Colt schien sich die Missetaten seines Chefs genau einzuprägen, damit er ihn das restliche Wochenende aufziehen konnte.

"Ich komme später nach."

Damit war für Fireball die Sache erledigt, aber Jesse zögerte noch.

"Ich kann mich zwar an nichts mehr erinnern, was vor dem Unfall passiert ist, aber ich habe euch zwei die letzte Woche erlebt. Ihr scheint euch sehr zu mögen und mich verwundert es, dass sie dort am Lagerfeuer Geschichten erzählt, während du hier in der Dunkelheit sitzt und mit niemandem etwas zu tun haben willst."

Fireballs Kopf schnellte herum. Seine dunklen Augen funkelten zornig und Jesse fragte sich verwundert, warum er nicht einfach seine Klappe gehalten hatte. Colt und Saber waren einstimmig zu der Erkenntnis gekommen, die beiden in dieser Angelegenheit in Ruhe zu lassen. Verdammt, er konnte sich ja nicht einmal an ähnliche Vorfälle wie diesen erinnern. Wie hatte er es da nur wagen können, sich einzumischen?

Oder hatte er das früher auch schon gemacht? Zu handeln, ohne sich über die Konsequenzen im Klaren zu sein?

Auf der anderen Seite wusste er jedoch ganz genau, warum er nicht schweigend davongegangen war. Fireball war wütend auf sich selbst und zog sich zurück, während April Alex' Geschichten lauschte und dabei versucht unauffällig zur >Gartenhütte< hinüber schaute. Häufig. Vergeblich hoffend, dass sich Fireball zu ihnen gesellen würde.

Jesse konnte sich nicht entsinnen, ob diese Unverfrorenheit zu seinem Charakter gehörte oder er sich nur wegen seiner Amnesie so verhielt. Aber er wusste ganz genau, dass diese Menschen seine Freunde waren. Und dass er es nicht mochte, wenn sie wegen Nichtigkeiten litten.

Trotzdem schien er alles noch schlimmer gemacht zu haben, denn der junge Japaner wirkte noch wütender, auch wenn Jesse nicht erkennen konnte, ob dieser Zorn ihm oder dem jungen Mann selbst galt.

"Du hast Recht, es geht dich nichts an." Fireball stand ebenfalls auf und drückte Jesse den Teller in die Hände. Er würde diese Diskussion mit niemandem führen, erst recht nicht mit Jesse Blue, egal, wie nett sich dieser auch gab! "Leb du zwanzig Jahre mit einem leeren Platz am Tisch und in trügerischer Hoffnung, die doch nie in Erfüllung geht. Dann können wir dieses Gespräch gerne fortsetzen!"

Mit diesen Worten drehte sich Fireball um und schloss die Tür nicht unsanft, aber bestimmend hinter sich. Jesse, der die Worte nicht verstanden hatte, runzelte seine Stirn und ging schließlich zurück zum Lagerfeuer. Er ahnte, dass es nichts brachte, dem Rennfahrer hinterher zu gehen. Was hätte er auch sagen sollen? Nichts.

Schweigend setzte er sich zu den anderen und lauschte Colt, der nun eine Geschichte aus Johnnys Kleinkindtagen anpries, sehr zum Leidwesen des Jungen, aber zur Freude Alex' und Aprils.

Leise stellte Jesse den Teller beiseite und wunderte sich, ob er diese Menschen vorbehaltsloser Freunde nennen, ob er ihre Taten besser begreifen würde, hätte er seine Erinnerungen zurück. Oder ob er dazu verdammt wäre, den Rest seines Lebens nicht zu wissen, welche Grenze es nicht zu überschreiten galt, da er ansonsten eben gerade jenen Menschen unbewusst weh tat.
 

***
 

Bis jetzt war der Kurzurlaub in den Highlands nicht in totales Chaos ausgeartet. Colt hatte noch niemanden erschossen und April hatte die Gartenhütte vor einer Stunde betreten und war seitdem nicht mehr wiedergekommen, ein gutes Zeichen, dass sie sich mit Fireball wieder vertrug. Vermutlich wurde der junge Japaner gerade eben gemästet, denn die junge Französin hatte einen Teller mit den restlichen Schnitten vollgepackt und war entschlossenen Gesichtes zu dem Holzhaus hinüber geschritten.

Saber ließ seinen Blick hinüber zum See schweifen, in dem sich der einzige Mond der Erde spiegelte. Silbern glitzerte das Wasser. Colt hatte sich an den Rand des Steges gesetzt und seine restliche Schokolade aufgegessen. Natürlich hatte er ihnen allen - sogar Jesse, wie es dem Schotten vorkam - ein Stück angeboten, aber sie alle hatten wissend abgelehnt. Es gab zwei Möglichkeiten: Colt ertrank seinen Kummer in Alkohol oder besänftigte ihn mit Süßigkeiten. Saber war letztere Variante lieber, auch wenn er den Cowboy in der nächsten Woche mehrmals in den Trainingsraum würde treiben müssen, damit dieser nicht zu dick für seinen Raumanzug wurde.

Jesse hatte sich in eines der Zelte zurückgezogen und Alex war ebenfalls eingeschlafen, wenn auch im Sitzen an einen Baum gelehnt. April hatte ihn mit einem Schlafsack zugedeckt, bevor sie zu Fireball gegangen war.

"Yuma City ist in der Nacht viel zu hell." Flüsterte Johnny, der die anderen nicht wecken wollte, und setzte sich neben den jungen Schotten vor das heruntergebrannte Feuer. Die Asche glühte noch und Saber warf ab und an einen kleineren Holzscheit nach, damit die Flammen nicht vollkommen erstarben. Aber sie brauchten keinen Fisch mehr zu grillen und deswegen reichte ein kleinerer Feuerschein aus. Der junge Texaner hatte sich in seine dicke Jacke gehüllt und sich Handschuhe übergestülpt. Kleine Wölkchen tanzten vor seinem Mund, wenn er sprach. Natürlich wurde es in der Nähe des Wassers in der Nacht kälter, aber sie waren gut ausgerüstet und die Aussicht entschädigte.

"Es ist aber unsere Kommandozentrale."

"Ich weiß. Trotzdem würde ich viel lieber hier leben." Johnny blickte sehnsüchtig zu den Bergen hinüber, deren Gipfel er nur erahnen konnte, da sie sich schwarz gegen den dunkelblauen Himmel abhoben, einige Sterne verdeckten.

"Willst du denn wieder zurück auf die Erde?" Sabers Stimme klang ehrlich überrascht. Johnny nickte und kuschelte sich an den jungen Mann, der sanft einen Arm um ihn legte und näher zu sich zog.

"Nicht nach Texas, nein. Aber hier gefällt's mir."

"Auch mit dem da oben?"

Johnny lachte leise, als er sich bewusst wurde, dass Saber damit spöttisch seinen Vater bezeichnet hatte, der auf einem der Berge in dem Familienschloss der Lancelots wohnte.

"Er kann mir diese wunderschöne Landschaft nicht vermiesen." Der Junge schloss seine Augen und lächelte, als er spürte, wie Saber sanft durch seine Haare streichelte. Es erinnerte ihn ein wenig an seine Mutter, die das immer getan hatte, als er noch ein ganz kleines Kind gewesen war, und doch war es zugleich völlig anders. "Danke für das Geburtstagsgeschenk, Richard. Ich weiß, dass es in dieser Situation nicht einfach war."

"Wieso? Im Moment sind doch alle zufrieden, selbst Colt mit seiner Schokolade."

Johnny lachte wieder leise. Die Schatten der Vergangenheit, die ihn während der letzten Nächte gequält hatten, waren verschwunden und er fühlte sich rundum geborgen. So glücklich wie selten zuvor in seinem Leben. Seit jenem Tag, der sich morgen zum zehnten Mal jähren würde. Oder war es bereits nach Mitternacht? Johnny wusste es nicht, aber er würde nicht nachfragen. Nein, er wollte sich seine gute Laune nicht verderben lassen, selbst wenn ihm dadurch die Gelegenheit entging, dass es Saber war, der ihm dieses Jahr als erster zum Geburtstag gratulierte.

Vermutlich war er jetzt bereits siebzehn und Alex würde ihn nicht länger aufziehen können, dass er doch so viel älter wäre als er, als ob zwei Monate einen derartig großen Unterschied ausmachten. Insgeheim wäre Johnny lieber achtzehn geworden. Vieles würde einfacher werden, wäre erst einmal offiziell erwachsen. Colt würde nicht länger vom Jugendamt überwacht und müsste befürchten, dass sie ihm doch noch das Sorgerecht für seinen kleinen Bruder entzögen. Die verhasste Schule wäre endlich zu Ende, auch wenn er noch keinen blassen Schimmer hatte, was er danach tun sollte. Und außerdem könnte sich Johnny öfter so an Saber ankuscheln, nicht nur nach Alpträumen in der Nacht oder in den Highlands, weit weg von jeder Zivilisation. Ja, mit achtzehn könnte er mehr Freiheiten genießen. Im Moment war er aber erst siebzehn geworden und musste sich noch ein Jahr gedulden. Ein langes Jahr, dass noch länger als das vorangegangene wirken würde.

"Richard?"

"Hm?"

Johnny tastete nach Sabers Hand, die nicht durch seine Haare streichelte, und hielt sie sanft fest. Ihm fielen so viele Sachen ein, die er mit dem jungen Schotten besprechen, die er ihm sagen wollte, aber gleichzeitig wusste er, dass jetzt nicht der richtige Zeitpunkt dafür war. Er fühlte sich zu wohl, zu träge, um über etwas anderes nachzudenken als die nächsten Minuten, die er hier am Lagerfeuer sitzen und zum See hinausschauen würde, in Sabers Armen. Geschweige denn wollte er über seine Zukunft sprechen, die auf der einen Seite viel einfacher werden würde, auf der anderen Seite jedoch nicht weniger kompliziert als die letzten zehn Jahre seines Lebens. Er hatte keine Ahnung, ob sein Bruder wirklich aus dem Haus ausziehen würde, wenn er achtzehn wäre. Würde dessen nächster Wutanfall sie vielleicht nach Texas zurück führen? Was würde Johnny nach Beendigung seiner Schule machen? Studieren? Aber was? Star Sheriff wollte er nicht werden. Lieber würde er seine Zeit bei seinen Pferden verbringen, aber diese standen nun in Schottland und Sabers Vater wäre nicht begeistert, ihn für immer auf dem Schloss zu wissen. War es überhaupt ein Beruf mit Zukunft? Pferdezüchter? Oder müsste er sich für den Rest seines Lebens anhören, dass er ein Schmarotzer war, der auf Kosten anderer lebte? So wie sie ihm das jahrelang vorgehalten hatten...

Oder würde er sich von Alex zu einem ganz anderen Abenteuer überreden lassen? Zu einer Reise quer durch die Galaxis, von der der junge Erbe seit geschlagenen sechs Monaten sprach? Zwölf Monate, in denen er Colt und die anderen nur noch sporadisch sehen würde? Noch seltener als jetzt schon?

Was würde passieren, wenn die Angriffe der Outrider massiver werden würden? Wenn seine verrückte Patchworkfamilie, wie Alex das Ramrodteam immer nannte, so gut wie nie mehr nach Yuma City zurück kam? Wenn er wieder auf sich allein gestellt wäre wie nach dem Tod seiner Eltern?

Würde Saber sein Versprechen halten? Jene Worte, die er ihm so entschlossen gesagt hatte an jenem Tag, da er nach Texas kam und sich jenen Menschen stellte?

Johnny drehte leicht seinen Kopf und blickte in eisblaue Augen, die im Schein des kleinen Feuers zu leuchten schienen. Der Junge erwiderte automatisch das sanfte Lächeln des Schotten.

Nein, Saber würde sein Wort nicht brechen. Das letzte Jahr war er immer für ihn da gewesen, selbst wenn er deswegen seine Pflicht als Star Sheriff vernachlässigen musste oder eine Mission abbrach, um ihm zur Hilfe zu eilen. Es war Sabers Idee gewesen, ihm einen Kommunikator des Kavallerieoberkommandos zu geben, wenn auch illegal, damit er ihn überall erreichen konnte, sollte er in Schwierigkeiten stecken. Colt hätte ihn ja am liebsten gleich mitgenommen vor über einem Jahr. Weg von den Leuten, die sich Pflegeeltern schimpften, ihn aber nie wie einen Sohn behandelt hatten. Saber, April und schließlich auch Fireball hatten sie beide davon überzeugen müssen, dass es besser wäre, den Monat und die Gerichtsversammlung abzuwarten. Es hatte ihnen allen nicht gefallen, aber letztendlich hatten sie sich den Gesetzen beugen müssen.

Johnny konnte sich noch genau daran erinnern, dass er dem folgenden Monat die Tage gezählt hatte. Er rechnete fest damit, dass Colt vor Gericht gewinnen würde, andererseits wäre er fortgelaufen. Egal wohin, nur weg von dort. An dem Tag, an dem die Familie die Vorladung zum Gericht erhalten hatten, waren sie ausgeflippt. Johnny wusste noch, dass er den Kommunikator eingeschalten hatte, bevor er in Ohnmacht gefallen war. Im nächsten Moment war Saber bei ihm gewesen, obwohl der Junge ahnte, dass er viele Stunden in der Bewusstlosigkeit zugebracht hatte. Sein Pflegevater, ein bekannter Scharfschütze, hatte mit seinem Gewehr auf den Schotten gezielt und ihm gedroht, dass er schießen würde, sollte er Johnny mit sich nehmen. Saber hatte nichts erwidert, als der Schütze abdrückte. Vielmehr entwaffnete er den alten Texaner und brachte Johnny raus aus dem Vorort der Hölle.

Ja, Saber und die anderen hatten ihn gerettet und über die kommenden Monate gezeigt, dass er zu dieser verrückten Patchworkfamilie gehörte. Dass er geliebt wurde. Was auch immer die Zukunft bringen würde, wie oft Colt auch wütend um sich brüllen und unbedachte Drohungen machen und wie häufig die Outrider das neue Grenzgebiet auch angreifen würde, Johnny wusste, dass er diesen Menschen vertrauen durfte. Er sollte sich nicht von seinen alten Ängsten beeinflussen lassen, sondern an die Menschen glauben, die die sprichwörtlich die Welt auf den Kopf stellten, um ihm einen Geburtstagswunsch zu erfüllen.

Nein, über die Zukunft würde er sich erst Gedanken machen, wenn es so weit war. Und was immer dann auch geschehen würde, er war sich sicher, dass Saber dann immer noch an seiner Seite sein würde. Ansonsten hätte er ihn damals nicht gerettet. Ansonsten wäre er nicht während des letzten Jahres für ihn da gewesen. Ansonsten wäre er jetzt nicht hier und würde ihn in seinen Armen halten.

"Danke, Richard." Flüsterte er erneut und blickte hinaus zum versilberten See. Saber verstärkte sanft den Druck seiner Arme und Johnny wusste, dass er verstanden hatte, dass der Dank mehr als nur dem Campingwochenende in den Highlands galt.
 

***
 

Er schien in einem Regen aus Gold zu stehen. Flüssigem Gold. Es nahm ihm den Atem, brannte in seinen Augen, versengte seine Haut.

"Bitte..."

Keuchend rang er nach Luft und sein Körper gehorchte ihm nicht. Trotzdem wusste er, dass er zu der Stimme gelangen musste, egal wie.

"Bitte..."

Er sammelte all seine Kräfte und kroch auf allen Vieren über den harten Untergrund. Scherben schnitten sich tief in seine Handflächen und Knie, aber er schenkte dem Schmerz keine Beachtung. Auch nicht dem Blut, dass sich mit dem goldenen Leuchten um ihn herum zu einer zähen Masse verband.

"Bitte helft mir."

Es war ein kleiner Junge, der vor ihm lag. Die Beine waren in einem unnatürlichen Winkel verdreht und Tränen der Erschöpfung rannen über das verdreckte Gesicht. Dunkle Haare standen wirr vom Kopf. Eine kurze Hose war zerrissen und auch das kurzärmelige T-Shirt hing nur noch in Lumpen an dem zitternden Körper. Zitternd, obwohl es in dem Raum oder wo immer sie sich befanden mindestens dreißig Grad herrschten.

"Nicht bewegen!" Seine eigene Stimme klang rau und unbekannt. Mit bebenden Händen riss er ein großes Stück aus seinem dunklen Raumanzug und begann, vorsichtig blutenden Arme zu verbinden. "Ich hol dich hier raus."

"Es tut so weh..." wimmerte das Kind und weitere Tränen glitzerten auf aschfahler Haut.

"Ich weiß."

Er überlegte bereits, wie er den Jungen transportieren sollte, wo sich das nächste Krankenhaus befand und ob er noch irgendwo über Schmerzmittel verfügte, als eine großer Schatten durch das flüssige Gold zu schweben schien.

"Was machst du hier?" Die Stimme klang unnatürlich. Unmenschlich.

"Ich..."

"Erschieß ihn." Sie klang eiskalt. Tot.
 

***
 

Colt blickte hinauf zum Himmel und beobachtete, wie der Mond allmählich hinter den Gipfeln der Berge unterging. So langsam konnte man selbst die weniger hellen Sterne erkennen und der Cowboy hatte es sich zur Aufgabe gemacht, so viele Sternenbilder wie möglich zu entdecken. Entweder das oder darüber nachdenken, was vor exakt zehn Jahren geschehen war. Erinnerungen, die er im nüchternen Zustand nicht ertrug, die er aber dieses Mal nicht im Alkohol ertränken konnte. Johnny hatte einen schönen Geburtstag verdient und keinen Bruder, der betrunken umherwankte. Außerdem verspürte Colt noch immer Kopfschmerzen von seiner letzten Saufkapade, so dass er kein wirkliches Bedürfnis nach seiner Schnapsflasche verspürte. Statt dessen hatte er Unmengen von Süßigkeiten in sich gestopft und betrachtete nun die Sterne.

Es war mitten in der Nacht und alle anderen schliefen schon. Selbst Johnnys leise Stimme war irgendwann nach Mitternacht verstummt, sicherlich unwissend, dass sein siebzehnter Geburtstag bereits angebrochen war. Das Feuer war schon vor Stunden erloschen und das einzige Licht neben den Sternen stellte die Lampe auf der Veranda der >Gartenhütte< dar, das ihnen den Weg wies, sollten sie von Sturm, Kälte oder Regen überrascht werden. Das dunkle Wasser lag ruhig vor ihm, die nächtlichen Nullgrade waren in der warmen Winterkleidung gut zu ertragen und die Wolken versprachen noch viele trockene Stunden.

Colt hüllte sich stärker in seine Jacke und holte eine weitere Tafel Schokolade aus ihrem Inneren hervor. Schweigend betrachtete er die dunkle Masse, bevor er sie neben sich auf die Holzplanken legte. Hunger verspürte er eigentlich keinen mehr, aber er war auch nicht müde genug, um schlafen zu gehen. Also aß er mehr zum Zeitvertreib, während er erneut sein Wissen über die Sterne nahe der Erde durchforstete und erkannte, dass er während seiner Reisen durch das neue Grenzgebiet vieles bereits wieder vergessen hatte.

Leise Schritte erklangen hinter ihm und er richtete sich von seiner liegenden Position auf und drehte sich am Rande des Stegs um. Seine Beine baumelten über dem Abgrund, aber sein restlicher Körper verriet Anspannung. Instinktiv tastete er nach seiner Waffe und entspannte sich nicht wirklich, als er Jesse erkannte, der durch die Dunkelheit schlich und sich schließlich neben ihn auf das Holz niederließ. Dann hörte Colt ein unterdrücktes Seufzen, dem Stille folgte, die nur vom Plätschern des Wassers sowie dem Schreien einiger Nachtvögel durchbrochen wurde.

Der Cowboy hielt den Griff seines Blasters weiterhin umklammert und fluchte insgeheim, dass der Mond bereits untergegangen war und er dadurch keine Chance hatte, in Jesses Gesicht zu sehen. War der Moment gekommen, vor dem er Saber seit Tagen gewarnt hatte? Konnte sich der Verräter wieder an alles erinnern und plante gerade ihren Mord? Hatte er das Messer vom Abendbrot heimlich eingepackt und würde es nun verwenden, um sie alle zu erstechen? Ging das überhaupt mit einem Küchenmesser?

Colt räusperte sich, aber noch immer keine Reaktion. War Jesse Blue etwa ein Schlafwandler? Befand er sich womöglich noch im Reich der Träume? Hätte er, Bill Wilcox, das große Glück und der schlafende Überläufer fiel in den See und ertrank?

"Kalte Nacht." Sagte da plötzlich Jesse und Colt wäre vor Schreck beinahe aufgesprungen. Gerade noch rechtzeitig konnte er sich davon abhalten, Jesse seinen Blaster an die Schläfe zu drücken und abzudrücken. Er hätte sonst ein sehr peinliches Gespräch mit Saber führen müssen.

"Kannst du auch nicht schlafen?" Jesse fuhr fröstelnd zusammen. Colt hätte gerne dessen Gesicht gesehen und griff kurzentschlossen in seine Innentasche. Anstelle eines weiteren Blockes Schokolade beförderte er dieses Mal jedoch einen kleinen Stab zutage. Licht schoss aus dessen Ende und der Cowboy hielt dem ehemaligen Kadetten die Taschenlampe entgegen. Der junge Mann zog geblendet seine Augen zusammen und drehte sich leicht zur Seite, aber Colt hatte genug gesehen, um zu beurteilen, dass Jesse kein Küchenmesser und auch sonst keine andere Waffe vor ihm verbarg, noch, ihn jeden Moment angreifen wollte. Dafür war die Haltung des Kranken viel zu müde.

"Du hast Sonnenbrand." Stellte der Cowboy erstaunt fest und löschte das Licht, das selbst ihm zu grell erschien. Dann stopfte er die Taschenlampe zurück in seine Jacke und widmete sich erneut seiner Schokolade. "Brennt es sehr?"

Eigentlich sollte es ihm ja vollkommen egal sein, ob Jesse Blue es geschafft hatte, an einem sonnigen Herbsttag seine Haut krebsrot zu gestalten. Aber das Verhalten des jungen Mannes schrie förmlich auf vor Unbehagen, so dass er das nicht ignorieren konnte. Außerdem könnte er Jesse damit die nächsten Tage aufziehen. Wenn er dem Verräter sonst schon nichts antun durfte.

"Sonnenbrand?" Jesse hob seine Hände zum Gesicht und zuckte sichtlich zusammen. "Ich hab doch nur ein paar Minuten in der Sonne gelegen. Es ist doch kein Sommer mehr, oder?" Er klang hörbar verwirrt und Colt schluckte, als ihm bewusst wurde, warum Jesses Haut verbrannt war. Der Überläufer hatte die letzten zwei Jahre unter Outridern verbracht, hatte in ihren kalten Raumschiffen gelebt, in denen immer ein gespenstiges Zwielicht herrschte. Die Sonne hatte er kaum mehr zu Gesicht bekommen, vermutlich gab es in der Phantomzone keinen so hellen Planeten, bestand die Existenz der Outrider aus ewiger Finsternis. Jesses Körper hatte sich wahrscheinlich an die Dunkelheit gewöhnt und reagierte ungewöhnlich heftig auf die direkte Sonneneinstrahlung. Die letzte Woche hatte er im Krankenhaus oder im Inneren von Sabers Haus in Yuma City verbracht, gestern aber begab er sich das erste Mal in die Natur. Sein Körper rächte sich nun für die nachlässige Behandlung während der vergangenen Monate. Nachlässig für einen Menschen, normal für einen Outrider...

"Empfindliche Haut. Frag April nach Creme, sie wird dir helfen können." Colt betrachtete seine Schokolade nachdenklich. Er hatte sich noch nie darüber Gedanken gemacht, wie es wohl wäre, in der Phantomzone zu leben. Von Outridern umgeben zu sein, die in den Augen des Cowboys nicht nur unmenschlich, sondern irgendwie auch unlebendig wirkten. Hatte es Jesse dort wirklich gefallen? Ja, er war freiwillig dort hingegangen und hatte bei jedem Zusammentreffen mit den Star Sheriffs betont, wie weit die Outrider der menschlichen Rasse überlegen waren, aber ob er das nur zum Selbstschutz gesagt hatte? Colt war davon überzeugt, dass Jesse das Leben unter Nemesis verdient hatte, hatte er es sich selbst so herausgesucht. Dennoch ahnte er, dass es nicht unbedingt die Erfüllung gewesen war, wie sie das der Überläufer immer hatte weis machen wollen.

Nun, fragen konnte er Jesse Blue nicht. Denn entweder war die Amn... der Gedächtnisverlust echt und der junge Mann besaß keinerlei Erinnerungen mehr an seine Zeit jenseits des neuen Grenzgebietes oder er spielte ihnen all das nur vor - dann würde er ihm aber auch keine persönlichen Fragen beantworten.

Colt schüttelte seinen Kopf und öffnete die viereckige Plastikverpackung in seinen Händen langsam. Jesse Blue würde für immer ein Mysterium für ihn bleiben. Ein Mysterium, das er niemals würde leiden können. Aber er befand sich auf einem höheren Niveau als der ehemalige Kadett. Ja, das tat er. Und nein, er würde ihn nicht so einfach vom Steg in das eiskalte, pechschwarze Wasser schubsen.

Sonst würde ihm Saber die Hölle heiß machen. Wie April und Fireball auch, sollte der Anführer des Ramrodteams noch etwas von ihm übrig lassen.

"April hat meistens solche Sachen mit, wie Frauen eben so sind." Colt musterte seine Schokolade und gab sich einen innerlichen Ruck. Gern hätte er sie vergiftet, aber er wusste, dass das angeblich unter seiner Ehre - oder zumindest unter der Ehre der Star Sheriffs - lag. Also schob er die Plastik über den Steg, ohne vorneweg wenigstens ein Brechmittel unterzurühren.

"Auch ein Stück?"

"Danke." Jesse brach sich ein winziges Stück ab und schob es sich in den Mund. Es schmeckte angenehm süß, aber eine Schmerztablette wäre ihm lieber gewesen. Doch er wollte niemanden wecken oder gar Colt damit belästigen. Sein Kopf schien zu explodieren und das Spannen seiner Haut machte die ganze Situation auch nicht erträglicher. Schweißgebadet war er vor einer halben Stunde in seinem Zelt aufgewacht und brauchte mehrere Anläufe, um seinen zitternden Körper dazu zu bewegen, aus seinem Schlafsack zu kriechen und frische Luft zu schnappen. Die Kälte der Nacht vertrieb ein wenig die Benommenheit seiner Glieder, aber das Stechen hinter seiner Stirn blieb.

"April und Fireball verstehen sich wieder, oder?" fragte er nach längerem Schweigen, in dem sich Colt selbst ein Stück Schokolade abgebrochen hatte, ohne die Plastikverpackung wieder an sich zu nehmen. Sie lag zwischen ihnen wie ein Friedensangebot, obwohl Jesse ahnte, dass es zwischen ihnen lediglich einen Waffenstillstand gab - und den vermutlich auch nur, weil er sich an sein früheres Verhalten dem Cowboy gegenüber nicht mehr erinnerte. Dennoch wollte er nicht in völliger Stille hier am See sitzen, dann suchten ihn wieder diese furchtbaren Alpträume heim, über die er nicht nachdenken wollte. Nicht nachdenken konnte. Also begann er ein Gespräch über das erste Thema, das ihm einfiel.

"Ja. Das ist immer so. Sie streiten sich und zwei Stunden später ist alles wieder in Ordnung." Colt blickte kurz hinüber zum Holzhaus, drehte sich aber sofort wieder zu Jesse zurück. Er wollte dem Verräter nicht länger seinen Rücken zudrehen als nötig.

"Ich hab Fireball darauf angesprochen, als ich ihm sein Abendbrot gebracht habe." Jesse nahm sich ein weiteres Stück Schokolade und legte sich auf den Steg, verschränkte seine Arme hinter seinem Kopf und blickte hinauf zum Himmel. Seine Füße hingen über die Holzplatten hinaus und er wippte leicht, während er die fremden Sterne betrachtete. Dabei bemerkte er nicht Colts überraschtes Luftholen. Wenn Fireball seine bestimmt Stimmung hatte, ließ man ihn am besten in Ruhe. Das wussten sie alle - alle bis auf Jesse Blue. Sicherlich hatte sich der ehemalige Kadett einiges anhören müssen, denn Fireballs hitziges Temperament war berüchtigt.

"Was hat er daraufhin gesagt?" fragte Colt neugierig nach. Allein der Gedanke, dass der Japaner den Überläufer angeschrieen haben könnte, bereitete ihm ungemeine Genugtuung, denn das bewies, dass er nicht der einzige war, der unter der Entscheidung ihres Anführers litt.

"Das hab ich nicht verstanden." Jesse runzelte seine Stirn und schloss schließlich seine brennenden Augen. Die Kopfschmerzen machten ihn fast wahnsinnig und er hoffte, dass April neben einer Creme gegen den Sonnenbrand auch etwas gegen die Kopfschmerzen hatte. Denn er wollte das Campingwochenende nicht vorzeitig abbrechen, nur weil er einen Doktor aufsuchen musste. Doktor Claire hatte doch schließlich ihr Okay für seine Teilnahme an dem Trip nach Schottland gegeben und er nahm brav und pünktlich seine Medizin. Meistens wirkten die Pillen auch und am Tag waren die Schmerzen kaum mehr als ein dumpfes Pochen hinter seinen Schläfen. Jetzt aber fühlte sich sein Kopf an, als steckte er unter einem Presslufthammer. Ob ihm tatsächlich eine Schmerztablette aus Aprils Reiseapotheke reichte? Oder sollte er einfach ein paar mehr Tabletten nehmen? Und was bitte war ein Presslufthammer?

"Fireball hat etwas von zwanzig Jahren und einem leeren Platz geredet und dass ich das Gespräch mit ihm fortsetzen dürfte, wenn ich das gelebt hätte. Dabei erinnere ich mich ja nicht einmal daran, was vor zwei Wochen war, geschweige an eine Zeitspanne von mehreren Jahren."

Nach dieser Aussage herrschte langes Schweigen, in dem Jesse beinahe einschlief. Dabei hatte er nicht vorgehabt, in dieser Nacht noch weiteren Alpträumen zu begegnen. Die Schokolade neben ihm knackte laut und als er seine Augen öffnete, sah der junge Mann, dass Colt die Verpackung sorgfältig geschlossen und in seiner Jacke verstaut hatte. Der Cowboy setzte seinen Hut auf, der bis eben noch auf dem Steg gelegen hatte, und starrte in den dunklen See, nicht länger zu den hellen Sternen.

"Fireball hat wohl seinen Vater gemeint. Er war ein Kommandant der Star Sheriffs und verschwand während des großen Krieges vor zwanzig Jahren spurlos. Seitdem wurden weder seine Leiche, noch irgendein Lebenszeichen von ihm entdeckt." Trotzdem wusste Colt nicht recht, wie er diese Information mit dem üblichen Streit zwischen seinen Teamkollegen in Verbindung bringen sollte. Das eine hatte doch mit dem anderen nichts zu tun. Oder?

"Diese Outrider, das sind unsere Feinde, richtig? Die Bösen, oder?"

Jesses so verdammt unschuldig ausgesprochene Fragen brachten Colts Blut in Wallung. Was dachte sich dieser Verräter dabei, ihm so etwas Dämliches zu fragen? Es zu wagen! Erinnerungen hin oder her, er war derjenige gewesen, der die Star Sheriffs in Stich ließ und zu eben diesen >Bösen< rannte, nur weil es nicht nach seinem Kopf ging. Nur weil April sich nicht in ihn verliebte. Das konnte sie doch auch gar nicht, hatte sie ihr Herz schon längst an Fireball verloren, der das aber nicht wahrhaben wollte.

Jesse Blue arbeitete für die Outrider, die nur Leid und Verderben über seine eigene Rasse brachten! Ein machtgieriger Kadett, dem nichts und niemand heilig war! Der sie jederzeit hatte kaltblütig abknallen wollen, am besten mit einem gekonnten Schuss in den Rücken!

Erneut war das Bedürfnis, den jungen Mann neben sich mit einem gekonnten Fußtritt in den nächtlichen See zu werfen und dort ertrinken zu sehen, übermächtig. Colt verabscheute Jesse Blue, der ihm wieder einmal in seinem Leben bewiesen hatte, dass Menschen ignorant, rücksichtslos und grausam sein konnten. Sollte er jemals sein Gedächtnis wieder erlangen, würde Colt ihn erschießen - denn sonst würde er sie töten. So viel stand fest.

"Die Bösen?" Colt spuckte das Wort förmlich aus, das viel zu harmlos, viel zu naiv für den Schrecken war, den die Outrider unter der Bevölkerung der Planeten im neuen Grenzgebiet verbreiteten. Jesse Blue hatte doch gar keine Ahnung! Für ihn war es vermutlich ein Fest, eine Stadt anzugreifen und auf ihre wehrlosen Einwohner zu schießen. Wie viele Männer hatte Jesse erschossen? Wie viele Kinder hatte er zu Waisen gemacht? Wie viele Familien hatte er mit brutaler Schadensfreude zerstört?

"Diese >Bösen< haben heute vor exakt zehn Jahren die Farm meiner Eltern überfallen. Es gab keinen Grund dafür, denn wir hatten nur ein paar Hektar Mais und etwa fünfzig Pferde. Wir waren Rancher und hatten mit dem Krieg gar nichts zu tun!" zischte der Cowboy und ballte seine Fäuste. Er konnte noch immer nicht in Jesses Gesicht sehen und es war ihm auch recht so. "Ich überlebte, weil ich gerade in der Schule war und Johnny wurde verschont, weil er sich im Sturmkeller versteckt hatte. Meine Eltern hatten leider nicht so viel Glück und wurden auf der Koppel erschossen."

"Ich..."

"Diese Outrider sind nicht einfach nur böse, sie sind der Leibhaftige in Gestalt!" Colt hätte am liebsten hinzu gefügt, dass Jesse einer von den >Bösen< geworden war, freiwillig. Dass er nicht besser als die Mörder von Anna-Marie und John Wilcox war. Dass er es verdiente, für immer im tiefsten Kerker des Kavallerieoberkommandos zu schmoren. Dass Saber viel zu gutmütig mit einem Verbrecher wie ihm umging, egal, ob er sein Gedächtnis verloren hatte oder nicht. Jesse hätte sich um einen verletzten Star Sheriff auch nicht gekümmert, sondern ihn kaltblütig ermordet.

Aber Colt wusste, dass es nichts brachte, Jesse all das an den Kopf zu werfen. Auch fühlte sich der Cowboy mit einem Mal zu erschöpft, um sich mit einem unwissenden Überläufer zu streiten.

"Du hast das alles immer extrem komisch gefunden, Jesse." Colt schüttelte seinen Kopf und seine noch eben angespannten Arme hingen schlaff an seinem Körper. Ja, ausgelacht hatte ihn der Verräter schon oft auf dem Schlachtfeld. Ausgelacht und verhöhnt. Während er ihm nun ruhig zuhörte. Der Cowboy hätte Jesse Blue am liebsten ins Gesicht getreten, statt dessen schritt er langsam an ihm vorbei. "Ich bin müde und geh jetzt ins Bett."

Jesse blieb schweigend zurück und betrachtete den Himmel bis die Sterne verschwanden und die Sonne aufging.
 

***
 

"Ich kann's immer noch nicht fassen! Wir sind hier in der totalen Wildnis und du schleppst so was an!"

Johnny erkannte die Stimme sofort, als er aufwachte. Ja, so laut konnte nur sein Bruder flüstern, wenn er sich entrüstet gab.

"Dies ist Schottland, keine Wildnis." Saber klang würdevoll und fuhr fort in was auch immer Colt ihn gestört hatte. Johnny kroch aus seinem Schlafsack und fuhr sich durch die zerwühlten Haare. Wie jeden Morgen gelang es ihm nicht wirklich, sie zu glätten.

"Ich finde die Idee gut!" verteidigte April Saber, wie sie das meistens tat. So wie sie Colt und Fireball gegenüber dem Kavallerieoberkommando jederzeit in Schutz nahm, egal, welchen Mist sie auch wieder verzapft hatten.

"Schließlich gehört das zu einem richtigen Geburtstag mit dazu." Alex' Stimme ließ Johnny hellhörig werden. Er beeilte sich umso mehr, seine Schuhe zu finden und überzustreifen. Colt hatte nie seinen Geburtstag vergessen, auch wenn es ihm nicht immer möglich gewesen war, persönlich aufzutauchen. Immer hatte er ihm jedes Jahr eine Kleinigkeit geschickt. Die Pflegefamilie hatte dies natürlich nicht für nötig gehalten und so fühlte sich Johnny auch mit siebzehn noch wie ein kleines Kind bei der Aussicht, Geschenke zu erhalten. Schließlich war er auch ein kleines Kind gewesen, als das letzte Mal sein Geburtstag gefeiert wurde, bevor Colt die Star Sheriffs kennen lernte und sich vieles änderte. Eigentlich nur zum Positiven. Johnny schaute hinüber zu dem zweiten Schlafsack in seinem Zelt und grinste.

"Was hast du eigentlich da drin?"

"Das wird nicht verraten."

"Ist das etwa vom Dachboden deines Großvaters?"

"Sag ich nicht."

"Oh Gott! Werden wir diesen Tag überleben?"

"Es ist ja auch nicht für dich!"

"Zum Glück nicht, aber mein kleiner Bruder tut mir leid."

"Pah!"

Johnny grinste noch breiter und entschied sich, aus dem Zelt zu krabbeln, bevor sich Colt und Alex weiter stichelten und sich womöglich noch Fireball in die Unterhaltung einmischte. Dann würden sich die drei die nächsten Stunden gegenseitig aufziehen. Johnny hatte das schon oft genug erlebt und so lustig es auch meistens war, heute wollte er in Ruhe seine Geschenke - Geschenke! - auspacken.

Als Johnny seinen Kopf aus dem Zelt herausstreckte, wusste er auch, was sein Bruder als fehl am Platze in der Wildnis empfunden hatte. Neben der Feuerstelle, die im Moment nur kalte Asche enthielt, war ein kleiner Tisch errichtet worden, vermutlich ein antikes Stück aus Sabers kleiner >Gartenhütten< - und darauf thronte unschuldig der größte Geburtstagskuchen, den Johnny jemals gesehen hatte. Nun, nicht ganz der größte, immerhin kannte er die Dimensionen, in denen Sabers Ehrentag offiziell im Schloss seines Vaters begangen wurde und Alex' Festivitäten wurden auch immer im ganz großen Stil abgehalten, dennoch war dies der schönste Kuchen, den Johnny jemals gesehen hatte, denn es war seiner.

Siebzehn richtige Kerzen brannten auf dem Kunstwerk aus Zucker und viel Sahne und die übergroße Süßigkeit, von der Colt sicherlich auch ein ganz großes Stück abhaben wollte, wirkte selbstgemacht. Nicht wie die Geburtstagskuchen, die er einmal beim Einkaufen mit April gesehen hatte, mit elektrischen Kerzen und einer viel kleineren und einheitlicheren Form.

Alex, der direkt vor der Köstlichkeit stand und ein Objekt abwehrend hinter seinem Rücken hielt, damit Colt es ihm nicht einfach so wegnahm, sah Johnny als erster und begann auch sofort, das Geburtstagslied zu singen. Es klang unglaublich schief und bewies erneut, dass Alex nur wegen Linda in den Chor ging und nicht wegen seiner unsterblichen Leidenschaft der Musik gegenüber. Colt verpasste seinen Einsatz, Saber sang zu leise, Fireball verwechselte die zweite mit der dritten Strophe und April schien sich als einzige wirklich sicher in der Melodie zu sein. Jesse Blue stand etwas abseits und blickte verzweifelt zwischen den verschiedenen Sängern hin und her, offensichtlich erinnerte er sich nicht an den Text. Ja, Hunde hätten bei diesem vorgetragenen Lied heulend mit eingestimmt, aber sie sangen es nur für Johnny und für Johnny allein. Es gefiel ihm.

Genauso wie ihm gefiel, dass ihm von allen, sogar von Jesse, gratuliert und ein kleiner oder, so in Alex' Fall, großer Gegenstand in die Hand gedrückt wurde. Sicherlich hatte April Jesse sein Geschenk zugesteckt, das eBook über französische Grammatik trug sehr die Handschrift der jungen Frau, aber Johnny würde sich nicht beschweren. Nein, heute könnten sie ihm zehn Nachhilfestunden in Fremdsprachen schenken und er würde sie mit einem glücklichen Grinsen auf dem Gesicht entgegen nehmen. Natürlich war er trotzdem froh, dass er keine erhielt.

April und Fireball hatten mit Colt zusammen gelegt und nun stand zumindest finanziell seinem Raumschiff-Führerschein nichts mehr im Wege. Fireball scherzte, dass er Ramrod nach bestandener Prüfung trotzdem nicht fahren durfte und Colt gab mit gespielt verzweifeltem Gesicht seinen Bronco Buster für Übungsstunden frei. Dann umarmte er seinen kleinen Bruder, etwas, das er selten tat, schließlich waren sie beide schon viel zu alt für solche Sentimentalitäten. Sabers Geschenk hatte eine seltsame Form und war recht schwer. Wenn Johnny es nicht besser gewusst hätte, so hätte er geglaubt, dass der Schotte ihm ein Hufeisen schenkte. So viel Glück benötigte er zu seinem Schulabschluss nun auch nicht. Bevor er es jedoch hatte öffnen können, drängelte sich Alex dazwischen, der es nicht länger aushalten konnte. Stolz hielt er ihm sein höchstpersönliches Geschenk entgegen und mit einem entschuldigenden Blick zu Saber wandte sich der junge Texaner erst einmal seinem besten Freund zu.

"Das ist vom Boden deines Großvaters, richtig?"

"Was ihr nur alle gegen meinen lieben Opi habt!"

"Ich will mal hören, was er sagt, wenn du ihn in seiner Gegenwart so nennst."

"Jetzt red keine Arien, sondern mach es schon auf!"

"Gut, aber auf deine Verantwortung."

"Mach schon!"

"Ja, ja."

Johnny bediente den komplizierten Mechanismus - Alex konnte seine Geschenke nie normal verpacken - und die Metallschachtel sprang auf. Der Junge lachte laut auf, als ihm ein Ungetüm entgegen sprang und die Star Sheriffs im Reflex beinahe darauf schossen.
 

***
 

"Wo auch immer dein Großpapa das Ding her hat, es ist spitze!" Johnny stand auf einer Anhöhe und ein hellblaues Dingsbums, wie Colt das Geschenk großzügig getauft hatte, erhob sich hoch über den See. Der junge Texaner hielt die Enden der Schnur fest in seinen Händen und strahlte über das ganze Gesicht. Zuerst hatten sie nicht gewusst, was sie damit anfangen sollten. Alex hatte - wieder einmal - ein Objekt verschenkt, ohne eine Gebrauchsanweisung zu besitzen. Zum zweiten Mal in dieser Woche konnte Jesse ihnen weiterhelfen. Er erklärte, dass es sich bei dem Objekt um einen Drachen handele und dass vor einigen Jahrzehnten noch Kinder damit gespielt hätten. Woher er über dieses Wissen verfügte, vermochte der Amnesiepatient natürlich nicht zu sagen, aber er stand nun neben Johnny auf der Anhöhe und schritt ein, wann immer der Drache ins Trudeln geriet und abzustürzen drohte. Colt stand keinen Meter hinter den beiden, unauffällig seine Waffe am Gürtel halten. Sollte Jesse auch nur eine falsche Bewegung machen, würde er ihn erschießen. Was auch immer Saber behauptete, Johnnys Leben war mehr wert als das dieses Verräters!

"Frag nicht, unser Dachboden ist eine wahre Schatztruhe." Alex, der Colts Theorie der biologischen Abstammung vom Affen zu untermauern schien, saß schon wieder auf einem nah gelegenen Baum und fuchtelte mit seiner Kamera durch die Gegend. Ob sich ein Normalsterblicher die Aufnahmen hinterher ansehen konnte, ohne sofort einen epileptischen Anfall zu bekommen, bezweifelten Colt, aber er verkniff sich seine stichelenden Kommentare, schließlich war der Erbe abgelenkt und stellte keinen weiteren Unsinn an.

"So erkältet war mir April gar nicht vorgekommen." Saber stand unter dem Baum und rang mit sich, ob er auf den reichen Sack voll Flöhe aufpassen oder ihn gekonnt ignorieren sollte. Der Chef des MacLeth Imperiums wäre sicherlich nicht glücklich, wenn sein einziger Erbe von einem Baum fiel und sich das Genick brach. Der Schotte wollte gar nicht an das Gespräch denken, in dem er dem älteren Mann erklären müsste, was sein Sohn überhaupt auf einem Baum verloren hatte.

"Meiner Meinung nach hat sie genug gehustet. Außerdem will ich nicht, dass sie bei unserer nächsten Mission krank ist. Das war das letzte Mal schon schlimm genug, als sie mit neuunddreißig Fieber gegen Outrider kämpfen wollte. Vermutlich wollte sie sie anstecken und Nemesis mit einer Grippe dahinstrecken." Colt zuckte seine Schultern und betrachtete Jesse für einen Moment. Als dieser jedoch nicht die Anstalten machte, auf Johnny loszugehen, entschied sich der Cowboy dafür, diesen Tag sinnvoll zu nutzen. Alkohol war für ihn tabu und er konnte sich nicht nur von Schokolade ernähren, da würde ihm am Abend so übel sein, als hätte er einen ausgewachsenen Kater. Also hatte er Alex' Angelrute mitgenommen. Vielleicht bissen ja die Fische heute wieder. Umständlich befestigte er den Köder an der alten Angel und fragte sich verwundert, ob alle Gegenstände, die Saber verborgte, antik zu sein hatten. Eine automatische Angel mit Fischerkennung wäre ihm, der in seiner Heimat ohne größere Gewässer aufgewachsen war, wesentlich lieber gewesen. Statt dessen schwang er die Angel umständlich durch die Luft, erschlug damit beinahe Jesse und der Harken hätte sich um ein Haar in Johnnys hellblaues Dingsbums gebohrt.

"Colt! Hilfe!" Sein kleiner Bruder duckte sich und Jesse hatte alle Hände voll zu tun, den Drachen vor einem schnöden Absturztod zu bewahren. "Lasso kannst du schwingen, aber keine Angel? Du bist mir ein schöner Cowboy!"

Colt streckte dem Geburtstagskind würdevoll die Zunge heraus und war froh, als Saber sich von seinem Wachposten unter dem Baum löste und zu ihm kam. Wortlos, aber mit deutungsvoll hochgezogenen Augenbrauen nahm er dem Cowboy das Mordsinstrument ab und warf den Harken mit einer gekonnten Bewegung ins Wasser. Dann drückte er Colt den Stil in die Hände und setzte sich auf einen Baumstumpf, von wo er sie alle im Blickfeld hatte. Im Moment machte er sich mehr Gedanken darum, dass sich Colt mit der Angel umbringen könnte, als dass Jesse über sie herfallen würde. Der ehemalige Kadett hatte nur Augen für den hellblauen Drachen und er griff nur nach der Schnur, wenn dieser abzustürzen drohte. Von ihm schien keine Gefahr auszugehen. Zumindest nicht im Moment.

"Ich bin nicht zu dumm zum Angeln! Wehe, du sagst das!" knurrte Colt und schob seinen Hut in den Nacken. Die Sonne hatte sich hinter graue Wolken verzogen und so konnte er über das Wasser sehen, ohne geblendet zu werden.

"Würde ich niemals wagen." Aber Sabers amüsiertes Grinsen verriet ihn.

"Aber ich wage das. Bill, du bist zu dumm zum Angeln." Mischte sich Johnny frech ein und sah sich bereits nach einem Fluchtweg um, als Colt Anstalten machte, zu seinem Bruder zu laufen und ihn auszukrabbeln.

"Du musst die Angel festhalten, sonst beißt da nie etwas an." Ermahnte ihn Saber jedoch noch rechtzeitig und schmollend blieb der Cowboy stehen.

"Genau, hör auf ihn, sonst musst du heute Abend hungern."

"Wieso, willst du den Kuchen ganz allein essen?"

"Wenn du nichts fängst, bleibt mir ja gar nichts anderes übrig."

"Das will ich sehen, wie du das alles verputzt."

"Bist ja nur neidisch."

"Und dir wird kotzübel sein."

"Kotzübel aber glücklich."

Die beiden Texaner streckten sich auf brüderliche Art die Zunge heraus, bevor sich jeder wieder seiner Aufgabe widmete. Saber schüttelte lächelnd seinen Kopf. Er war froh, dass Colt sich gegen seine Trauer und für Johnny entschieden hatte. Wie schwer es dem Cowboy fiel, am Todestag seine Eltern Witze zu reißen und mit seinem kleinen Bruder zu feiern, konnte der Schotte nur erahnen. Aber er war Colt dankbar. Dafür und für sein gesittetes Verhalten gegenüber Jesse Blue. Die beiden blieben auf Distanz und tauschten nicht mehr als die allernötigsten Worte aus, aber Colt hatte den ehemaligen Kadetten noch nicht erschossen, was in Sabers Augen einen großen Fortschritt darstellte.

"Es sieht nach Regen aus." Stellte Johnny fest, als eine Windböe den Drachen ergriff und er ihm beinahe entkam. Jesse griff beherzt zu und rettete das hellblaue Ungetüm vor einem traurigen Ende im See.

"Lenk nicht ab, wir waren bei deinem Kuchen!" Colt hielt die Angel etwas höher, aber er musste seinem Bruder zustimmen. Die Wolken wurden immer dichter und dunkler. Auf der einen Seite fand er das schade, weil er keine Lust verspürte, nass zu werden oder gar den ganzen Tag in Sabers >Gartenhütte< zu hocken, aber auf der anderen Seite passte ein Unwetter besser zu seiner Gemütslage. Außerdem hatte dann Jesse nicht länger eine Ausrede, Fireballs Sonnenbrille zu tragen. Der Verräter sah darin nicht nur unglaublich dämlich aus, es behagte Colt außerdem überhaupt nicht, nicht in die Augen des Überläufers sehen zu können. Mit Sonnencreme schien sich Jesse ja eingedeckt zu haben, aber seine Pupillen konnten nicht anders vor dem grellen Licht geschützt werden.

"Du kriegst schon dein Stück ab, Vielfrass."

"Wen nennst du Vielfrass?!" Colt, der sowieso nicht wirklich damit rechnete, einen erfolgreichen Fang zu erzielen, drückte die Angel kurzerhand Saber in die Hände, bevor er sich auf seinen kleinen Bruder stürzte. Jesse rettete den Drachen, während sich die Brüder durch das Laub der nahen Bäume wälzten. Johnny lachte laut auf, aber Colt kannte kein Erbarmen.

"Wah! Hör auf! Du kriegst ja schon zwei Stück ab!"

"Wen nennst du hier Vielfrass?"

"Drei Stück Kuchen!"

"Ich bin kein Vielfrass."

"Den halben Kuchen!" japste Johnny und strampelte mit seinen Beinen, erfolglos. Sein Bruder war stärker.

"Den halben Kuchen?" Colt hielt ein und blickte in das gerötete Gesicht Johnnys unter sich, der seine Seiten hielt und lachte.

"Jap, den halben Kuchen."

"Ist gebongt."

"Siehst du? Vielfrass."

"Das wirst du bereuen."

"Arg, hahahahaha!"

Sicherlich hätten die zwei Brüder den restlichen Tag damit zugebracht, sich gegenseitig aufzuziehen, wenn Alex nicht seine Kamera weggesteckt und lautstark auf sich aufmerksam gemacht hätte.

"Helft mir!" Er sprang behände vom Baum und lief zu einem anderen, vor dessen Stamm er sich im Laub auf die Knie nieder ließ. "Lasst den Quatsch und helft mir!"

"Was gibt's denn?" Colt ließ von Johnny ab und beide wirkten sehr zerwühlt. Bunte Blätter steckten in ihrem Haar und die Cowboykleidung war zerknittert. Beide Gesichter waren gerötet und beide grinsten. Sie kamen aber rasch auf ihre Beine, als sie Alex' trauriges Gesicht sahen.

"Es ist einfach so runtergefallen." Meinte der junge Erbe und zog seine Jacke aus. In diese wickelte er etwas, das er aus dem Laub befreite. "Bestimmt hat es sich weh getan!" Vorsichtig stand er mit der Jacke im Arm auf.

"Runtergefallen?" Johnny trat näher an seinen besten Freund heran und erkannte ein kleines Eichhörnchen inmitten des weichen Stoffes, das Alex sanft fest hielt.

"Lebt es noch?" Der junge Erbe kämpfte mit den Tränen. Den ganzen Vormittag über hatte er das Tier mit seiner Kamera beobachtet und hatte sich fürchterlich erschrocken, als es plötzlich wie ein Stein vom Baum fiel.

"Es ist am Leben." Stellte Colt sachlich fest, nachdem er behutsam über rotbraunes Fell gestreichelt hatte. "Aber es braucht unsere Hilfe."
 

***
 

"Hast du eigentlich eine Ahnung, was Saber Johnny geschenkt hat?" Fireball drehte sich zu April um und wartete geduldig, bis sie ihn eingeholt hatte. Die junge Frau hatte sich vor einer halben Stunde ihre Winterjacke übergeworfen und erklärt, dass sie gerne einen Spaziergang am See unternehmen würde. Da die anderen Drachensteigen gegangen waren, erklärte sich Fireball gerne bereit, sie zu begleiten. So ganz gesund erschien ihm die junge Frau nicht, die den ganzen Vormittag gehustet hatte, aber eine kleine Wanderung an der frischen Luft würden ihr gut tun, bevor er sie für den restlichen Tag vor den Kamin in der >Gartenhütte< verbannte.

"Neugierig?" lächelte April und blieb geduldig stehen, als Fireball ihren Schal ordnete. Er war besonders weich und lang, so dass sie sich öfters darin verhedderte.

"Ein wenig. Johnny hat's nach Alex' Attacke nicht mehr geöffnet und Saber hat die letzten Wochen so geheimnisvoll getan, wann immer ich ihn darauf angesprochen habe." Gab der junge Japaner zu und sie setzten ihren Spaziergang fort. April kannte einen kleinen Pfad, der sich nahe am Waldesrand entlang schlängelte, von dem man aber noch eine gute Aussicht auf den See hatte.

"Es wird Johnny gefallen." Gab April zu und lächelte, als Fireball erneut stehen blieb und sie überrascht ansah.

"Du weißt es also?" Der junge Mann runzelte die Stirn und seufzte schließlich ergeben. "Na klar, hätte ich mir denken können. Saber und du, ihr steckt immer unter einer Decke."

"Ist das schlimm?" April ergriff Fireballs Hand und zog ihn mit sich, bevor er noch auf die Idee kam, Geschenke zu raten. Sie wusste, dass sie nicht lügen konnte, sollte er durch Zufall auf das Richtige tippen. Sehr zu ihrer Freude folgte ihr der junge Japaner und ließ ihre Hand nicht los.

"Nun ja, ist es etwas Gefährliches?" Fireball, der erlebt hatte, welchen Schaden Ramrod unter den Outridern anrichten konnte, hegte großen Respekt gegenüber den Erfindern des Raumschiffes. Wer tödliche Kanonen baute, konnte sonst welche verrückte Geburtstagsgeschenke basteln.

"Nein, das nicht." Lachte April leise. "Aber es ist etwas Besonderes und ich will nicht, dass du dich verplapperst, bevor Johnny die Gelegenheit hatte, es selbst auszupacken."

"Als würde ich mich jemals verplappern!"

"Ich kann mich genau erinnern, dass du deiner Schwester nicht sagen wolltest, dass du Star Sheriff wirst - und du hast es ihr noch vor eurer Begrüßung gestanden."

"Das mit Onee-chan ist was anderes."

"Natürlich." April lachte erneut hell auf, als sie sich an die energische Japanerin erinnerte, deren größte Sorge dem Wohl ihrer Mutter und ihres kleinen Bruders galt. Mit ihrer lieben aber zugleich kompromisslosen Art hatte sie April gezeigt, von wem Fireball sein Temperament hatte. Es hieß, ihr gemeinsamer Vater wäre genauso gewesen. Hitzköpfig, aber loyal bis in den Tod...

Aprils Lachen erstarb und schweigend musterte sie Fireball, der neben ihr lief und ab und an einen Blick hinaus zum See warf. Vermutlich dachte er gerade daran, wie der Herbst wohl in seiner Heimat aussah. So sehr ihm Schottland auch gefiel, sein Herz hing an Japan. Umso mehr schätzte April den Fakt, dass Fireball letzte Woche so zeitig abgereist war, obwohl er noch mindestens zwei Tage seine Mutter und seine Schwester hätte besuchen können. Nein, Fireball hatte sich, sobald die Gespräche mit dem Suzuki-Chef abgeschlossen waren, in Ramrod geschwungen und war nach Yuma City gedüst. Zu ihr...

"Vermisst du deinen Vater, Shinji?" fragte sie unvermittelt. Fireballs Kopf schnellte herum und erstaunt musterte er sie mit diesem seltsamen Blick, den sie nicht zu deuten vermochte. April gab ihm keine Zeit zum Antworten, sondern trat entschlossen näher an ihn heran und umarmte ihn, bevor er hatte reagieren können.

"April? Was...?" stammelte er verwirrt, stieß sie aber nicht von sich, wie sie das zuerst befürchtet hatte. Ihr Streit vom Vortag hatte so ähnlich begonnen. Vielleicht wollte Fireball nicht schon wieder mit ihr streiten, vielleicht dachte er aber auch gar nicht daran, sie wegzuschieben. Statt dessen schlossen sich seine Arme um sie, drückten sie sanft an sich.

"Colt hat gesagt, dass deine Reaktion gestern etwas mit deinem Vater zu tun hatte." April hob ihren Kopf und sah in Fireballs Gesicht, in dem sich Verwirrung, Erkenntnis und maßlose Überraschung abzeichnete.

"Colt spricht mit Jesse Blue? Und beide leben noch?" fragte er erstaunt und schien sich erst jetzt seiner Lage bewusst zu werden, denn er ließ sie plötzlich los und drehte ihr den Rücken zu. Stumm starrte er zum See hinaus und April seufzte leise, als sie seine abweisende Haltung erkannte. Heute würden sie sich wohl nicht streiten, dafür aber würde er nun auf Abstand gehen und den restlichen Tag in Schweigen verharren.

Das wollte sie jedoch nicht. Nicht hier in den Highlands an ihrem einzigen freien Wochenende seit Monaten. Dass Colt mit Jesse gesprochen hatte, kam ihr gar nicht so mysteriös vor, schließlich konnten sich die beiden ja nicht ewig ignorieren. Viel wichtiger war ihr, das Mysterium des jungen Japaners vor sich zu lösen. Bevor sie es zu spät war. Bevor sie es eines Tages auf dem Schlachtfeld bereuten.

"Was hat Colt damit gemeint? Oder Jesse?" Laub raschelte, als April den Pfad verließ und sich neben Fireball stellte. Sanft legte sie ihm ihre Hand auf den linken Arm. Sanft, aber bestimmend. So einfach würde er ihr heute nicht entkommen.

"Nichts."

"Nichts? Das nehm ich dir nicht mehr ab, Shinji. Wann immer ich dir mal zu nahe komme, reagierst du so komisch. Gestern wollte ich dich umarmen aus Dankbarkeit für deinen kühnen Kopfsprung in die eisigen Fluten, weil ich zu dämlich bin, auf einem einfachen Holzsteg zu stehen, ohne ins Wasser zu fallen. Aber anstelle meine Dankbarkeit anzunehmen, haben wir uns gestritten. Und ich weiß absolut nicht, warum." April legte ihren Kopf zur Seite, um besser in Fireballs Gesicht sehen zu können. Ihr geflochtener Zopf fiel dabei über ihre linke Schulter, glich einem zweiten, einem goldenen Schal.

"Colt hat mir erzählt, dass das alles mit deinem Vater zu tun hat, der vor zwanzig Jahren verschwunden ist, aber so richtig weiß ich nicht, wie ich das mit meiner Ungeschicklichkeit in Verbindung bringen soll." April wartete ab, aber der junge Japaner reagierte nicht, sondern starrte weiterhin schweigend zum See hinaus. Die junge Frau holte tief Luft und stellte sich auf ihre Zehenspitzen. Mit ihrer freien Hand ergriff sie Fireballs Kinn und zwang ihn, direkt in ihr Gesicht zu sehen. "Jetzt ignorierst du mich wieder. Mein Gott, wie ich es hasse, wenn du das tust. Rede mit mir!"

Aber Fireball sagte noch immer nichts. Stumm blickte er sie mit seinen dunklen Augen an, die heute nicht hinter seiner üblichen Sonnenbrille verborgen lagen, da er diese an Jesse hatte abtreten müssen. Wind fuhr durch seine schwarzen Haare, in die seine große Schwester so gerne Stäbchen steckte und sich dann halb tot lachte. Während diverser Familienfeste lachte Fireball mit ihr. Heute aber lächelte er nicht einmal, sondern sah April schweigend an. Schweigend und... sehnsüchtig? Traurig?

"Ich dachte, wir könnten über alles sprechen." April hielt noch immer Fireball fest, keiner von ihnen wagte es, sich zu bewegen. Keiner von ihnen blickte weg. Die junge Frau erinnerte sich plötzlich daran, wie sie sich das erste Mal begegnet waren. Während eines Kampfes gegen die Outrider war sie aus Versehen in die für den Grand Prix abgesperrte Strecke gekommen und wäre beinahe mit Fireballs Auto kollidiert. Obwohl Fireball sie nicht kannte, hatte er sie in sein Auto genommen und damit den Sieg über das Rennen gefährdet. Die Outrider, die nun seinen Red Fury Racer verfolgten, um sie beide in die Luft zu schießen, jagten sie erbarmungslos. Fireball jedoch entkam ihnen, fuhr sogar Rekordzeit. Aber er hielt nach der Ziellinie nicht an, sondern beschleunigte sogar noch. Während sich Saber und andere Star Sheriffs, die hinzu kamen, um die Outrider kümmerten, steuerte Fireball direkt das Krankenhaus an. April hatte es damals gar nicht bemerkt, aber sie war auf ihrer Flucht angeschossen worden und benötigte dringend ärztliche Hilfe. In der Unfallaufnahme verlor sie wegen starkem Blutverlustes das Bewusstsein und wachte erst zehn Stunden später wieder auf. Wie erwartet hatte Saber an ihrem Bett gesessen. Blass und besorgt, denn an jenem Tag war irgendwie alles schief gelaufen, was nur hätte schief laufen können. Was April jedoch überrascht hatte, war, dass Fireball ebenfalls auf einem der unbequemen Stühle gewartet und die Ärzte noch aufdringlicher mit Fragen um ihr Wohlbefinden traktiert hatte als der junge Schotte.

"Ich dachte, ich bin mehr als eine Kollegin." Obwohl sie lieber noch mehr als eine gute Freundin gewesen wäre. Sie wusste nicht, ob es an der Tatsache lag, dass Fireball ihr ohne zu zögern geholfen hatte, dass er seine Rennfahrerkarriere für den silbernen Sheriff Stern aufgab oder dass er immer für sie da war, wenn sie ihn brauchte. Vielleicht waren es all diese Faktoren zusammen. Auf jeden Fall hatte sie schon lange ihr Herz an diesen sturen Hitzkopf verloren, der sie nun so einsam ansah. Der in jeder Situation das Richtige zu sagen wusste, oder zumindest zu sagen glaubte. Nun aber blieb er stumm und sein Schweigen kam ihr hilflos vor, so als wüsste er auf einmal nicht, was er ihr entgegnen könnte.

Oh ja, sie wollte so viel mehr sein als einfach nur eine Arbeitskollegin und gute Freundin. Zwei Jahre hatte sie nun abgewartet. Eine lange Zeit.

April beugte sich vor und drückte ihre Lippen auf Fireballs. Über die Konsequenz ihrer Tat dachte sie nicht nach. Sie dachte überhaupt nicht, sondern folgte ihren Gefühlen, ihren Sehnsüchten, die diese Idee ausgezeichnet fanden. Für einen elendig langen Moment stand Fireball regungslos vor ihr, bevor er leise seufzte und erneut seine Arme um sie schloss und sie näher an sich zog. Dann erwiderte er den Kuss. Erst zögerlich, dann zärtlich.

Wie lange sie so standen, konnte April im Nachhinein nicht beurteilen. Es war ihr wie eine süße Ewigkeit vorgekommen, die ihr zeigte, dass Fireball ebenfalls mehr als nur Freundschaft für sie zu empfinden schien.

Dann aber beendete er den Kuss und trat einen Schritt zurück. Ihre beiden Gesichter waren gerötet und beide rangen sie nach Luft, als wären sie soeben eine lange Strecke gelaufen. April konnte sich nicht mehr daran erinnern, ob sie durch die pechschwarzen Haare des jungen Mannes gestreichelt hatte oder ob es am immer stärker werdenden Wind lag, auf jeden Fall wirkte Fireballs Haarpracht noch wirrer als sonst.

"Shinji..." April wollte die Distanz zwischen ihnen überbrücken, aber Fireball schüttelte heftig seinen Kopf und hielt abwehrend seine rechte Hand in die Höhe, um sie nicht wieder so nah an sich heran zu lassen. Die junge Frau blickte verwirrt auf die ausgestreckte Hand, sah, wie diese zitterte.

"Nein, April. Nicht. Bitte." Murmelte Fireball. Er senkte seinen Blick und schüttelte erneut seinen Kopf.

"Aber..."

"Nicht." Fireball ließ ihr gar keine Gelegenheit, ihre Gedanken in Worte zu formulieren. Statt dessen hob der bis jetzt sehr schweigsame junge Mann an zu sprechen. April brauchte einige Augenblicke, um zu begreifen, dass Fireball seine Muttersprache gebrauchte. Vermutlich bemerkte er das nicht einmal. Rasch sprach er in jenem Sington, der Japanisch auszeichnete. April verstand noch nicht viel von der fernöstlichen Sprache. Aber sie lebte nicht umsonst seit knapp zwei Jahren mit einem Japaner unter einem Dach, um nicht wenigstens hier und da ein paar Wörter aufzuschnappen. Alltägliche Wörter, die sie noch mehr verwirrten. Sie verstand >Oto-san<, was so viel wie Vater bedeutete. Genauso wie >Okaa-san<, Mutter. Mehrfach fiel ihr eigener Name, der sich im Japanischen immer seltsam anhörte, da es in dieser Sprache keine Unterschiede zwischen >r< und >l< gab und sie Aplil ausgesprochen wurde. Heute konnte sie jedoch nicht darüber schmunzeln. Heute fühlte sie sich elend, als sie die einzelnen Teile zu einem Puzzle zusammen setzte.

"Moment." Unterbrach sie schließlich seinen Redefluss. "Ich bin nicht so ein Sprachgenie wie du, aber hab ich das richtig verstanden, dass du wegen deines Vaters auf Abstand zu mir gehst?" April runzelte ihre Stirn. "Liegt es daran, dass ich keine Japanerin bin?" Eigentlich hatte sie Fireballs Familie ja für recht aufgeschlossen gehalten und geglaubt, dass seine Mutter und seine Schwester sie mochten. Aber was verstand sie schon von der fremden Kultur am anderen Ende der Erde?

"Iie!" Fireball runzelte seine Stirn und schien erst jetzt zu begreifen, dass er nicht länger die internationale Sprache sprach, April ihn nicht verstanden oder zumindest die paar Brocken, die sie Japanisch beherrschte, vollkommen verkehrt zusammen gefügt hatte. "Nein." Meinte er deshalb erneut und ließ seine Schultern hängen.

"Mein Vater ist vor zwanzig Jahren spurlos verschwunden. Man konnte nie seinen Tod beweisen, aber ein Lebenszeichen gab es von ihm auch nicht. Trotzdem hat meine Mutter nie aufgehört zu hoffen. Ihr Leben stoppte an jenem Tag, an dem dein Vater und Graf Lancelot zu ihr kamen und ihr erzählen mussten, dass Oto-san nicht mehr zurückkommen würde. Seitdem lebt sie in der Vergangenheit." Fireball holte tief Luft und hob wieder seinen Kopf. Aber er blickte direkt an April vorbei auf den See hinaus. "Sie ist eine wunderbare Mutter, das war sie all die Jahre. Aber sie ist nie weitergegangen, sondern an jenem Punkt stehen geblieben, an dem sie ihn zum letzten Mal gesehen hat. Jeden Abend steht sie vor unserem Haus und wartet auf ihn. Immer zu der Stunde, zu der er meistens nach Hause kam. Nur dass er nie zurück gekehrt ist. Zu Weihnachten und zu seinem Geburtstag kauft sie ihm Geschenke, die dann doch ungeöffnet im Wandschrank verschwinden. Zu Familienfesten bleibt immer ein Platz unbesetzt, es könnte ja sein, dass er plötzlich doch zurück kommt. Er soll doch sehen, dass er willkommen ist!" Tränen glitzerten in Fireballs Augen, aber April kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass er sie nicht weinen würde.

"Onee-chan und ich haben zu Beginn ihrem grenzenlosen Optimismus vertraut, haben daran geglaubt, dass Oto-san bald nach Hause kommen würde. Aber die Jahre vergingen und er kehrte nicht zurück. Uns beiden hat es beinahe das Herz gebrochen, als wir erkennen mussten, dass wir ihn nie wieder sehen würden. Ich denke, dass Okaa-san das auch weiß, es aber nicht wahrhaben will."

"Dass es so schlimm ist, wusste ich nicht..." erwiderte April ehrlich geschockt. Fireballs Blick kehrte kurz zu ihr zurück, bevor er sich wieder auf den See konzentrierte.

"Dein Vater hat sicherlich sehr gelitten, als deine Mutter bei deiner Geburt gestorben ist, April, und es hat bestimmt weh getan, als Gräfin Lancelot starb, aber ihr konntet um eure Lieben trauern und irgendwann weitermachen. Meine Mutter kann das nicht. Ihre Hoffnung verbietet ihr, ihre Trauer hinter sich zu lassen und wieder glücklich zu sein." Fireball verschränkte die Arme vor seiner Brust in einer schutzsuchenden Geste. "Eigentlich hatte ich nie Star Sheriff werden wollen. Natürlich empfohlen es mir alle, die Oto-san noch von früher kannten, aber ich wandte mich lieber dem Motorsport zu. Ich hätte nur nach ihm gesucht und meine Mutter die zusätzliche Angst aufgebürdet, auch noch um ihren einzigen Sohn bangen zu müssen."

"Wieso...?"

"Warum ich dann doch den Stern nahm? Am Anfang war es wohl aus Trotz, weil ich das Gefühl hatte, dass Saber unfähig ist." Fireball zuckte entschuldigend seine Schultern. April verstand ihn sofort, konnte sich noch zu gut an den Streit erinnern, der an ihrem Krankenbett entbrannte. Der Rennfahrer hatte dem Star Sheriff vorgeworfen, nicht richtig auf April aufgepasst zu haben. Man setzte keine junge Frau als Lockmittel ein! Das war unehrenhaft! "Eigentlich wollte ich ja wieder gehen, als ich mich davon überzeugt hatte, dass mein erster Eindruck von ihm falsch gewesen war. Dann aber flogen wir unsere erste Mission und ich sah, dass ich mit dieser Arbeit so vielen Menschen helfen konnte, denen sonst niemand zur Seite stand. Ich konnte nicht mehr zurück."

"Da ging es dir wohl genauso wie uns allen."

"Vermutlich." Fireball zuckte erneut seine Schultern, den Blick weiterhin stur auf das trübe Wasser gerichtet. "Diese Menschen sind es wert, dass sich Okaa-san Sorgen um mich macht. Dass ich jedes Mal, wenn ich sie besuche, ihre Hoffnung aufs Neue zerstöre, dass ich Oto-san mitbringen könnte. Schließlich fliege ich jetzt durch das neue Grenzgebiet, in dem er vor zwanzig Jahren verschwand." Unbewusst trat Fireball zwei Schritte zurück und stand auf dem kleinen Pfad, der sie hergeführt hatte. Endlich blickte er April wieder ins Gesicht und die offene Trauer, die sie dort sah, tat weh.

"Diese Menschen sind es wert, sollte ich eines Tages genauso wie mein Vater bei einer Mission verschwinden. Aber eine Familie ist es nicht wert." Fireball seufzte leise. "Ich will weder meiner Frau noch meinen Kinder das antun, was Onee-san und ich durchlitten haben, was Okaa-san noch immer quält. Ich will dir nicht dasselbe antun, April-chan."

Die Wipfel der Bäume rauschten über ihnen und bunte Blätter wirbelten durch die Luft wie Kirschblüten während des Frühlingsfestes in Japan. Ein Adler kreischte in der Höhe. Wasser schlug regelmäßig gegen die Böschung.

"Bist du da nicht ein wenig voreilig, Shinji?" flüsterte April, die ihrer Stimme nicht so recht traute.

"Nicht, wenn ich es ernst nehme. Und das würde ich, das weißt du auch." Fireball wich erneut ihrem nun entgeisterten Blick aus und drehte sich um, um zum Lager zurück zu gehen. Um so zu tun, als hätte diese Unterhaltung nie stattgefunden. April ahnte, dass der junge Japaner das konnte. Sie war dazu jedoch nicht fähig. Fünf entschlossene Schritte später hatte sie ihn eingeholt und griff nach seiner linken Hand. Sie fühlte sich eisig an in ihren bereits recht kalten Fingern.

"Mich fragst du da nicht nach meiner Meinung?" fuhr sie ihn an, verspürte plötzlich eine ungemeine Wut auf ihn. Am liebsten hätte sie ihn geschüttelt und gleichzeitig umarmt. "Ich bin genauso wie du ein Star Sheriff und kenne die Gefahren. Verdammt, ich bin damit aufgewachsen, schließlich ist Père der Kommandeur! Ich bin schon mehrfach durch die Phantomzone geschritten und habe Nemesis gegenüber gestanden. Natürlich hatte ich Angst! Angst um euch und auch um mich, aber wie du schon sagtest, die Menschen da draußen brauchen uns und mir ist es meine Familie immer wert gewesen! Deine Mutter lebte zu Hause, während dein Vater in den Krieg zog. Ich sitze nicht daheim und warte, ich kämpfe an deiner Seite!"

"April..."

"Ich denke noch nicht an Kinder und sollte einmal ich welche haben, dann kann man sich ja immer noch überlegen, ob man sich versetzen lässt. Den Rest meines Lebens werde ich sicherlich nicht in Ramrod sitzen und mich mit Sabers Vater und anderen Vorgesetzten streiten!"

"Als ob du jemals deine größte Erfindung im Stich lassen würdest."

Fireball wollte sich von April losreißen, aber ihre Wut hatten ihr Kräfte verliehen, die er so nicht erwartet hatte. Ihre blauen Augen funkelten und er wusste, dass dieses Gespräch ernster war als alle ihre Streitereien, die aus Kleinigkeiten entstanden waren.

"Es gibt Wichtigeres für mich als Ramrod."

"Du verstehst mich nicht, April..."

"DU verstehst MICH nicht, Shinji!" Der Wind wurde stärker und April fuhr fröstelnd zusammen. "Dein nobles Verhalten in allen Ehren, aber du entscheidest gerade über meine Zukunft, ohne mich zu fragen! Eine Zukunft, die ich mit dir verbringen möchte, egal, welche Risiken das für uns beide auch haben mag! Verdammt, du Sturkopf, ich liebe dich!"

Fireballs Augen weiteten sich sichtbar bei ihrer Aussage. Er hob seine freie Hand, um mit zitternden Fingern die Tränen fortzuwischen, die unbemerkt über Aprils Wangen gelaufen waren. Kurz blickte er zum See hinüber, bevor er sie erneut in seine Arme zog und fest an sich drückte.

"Mach jetzt keine unvorhersehbaren Bewegungen." Flüsterte er in ihr Ohr, während seine rechte Hand nach dem Blaster tastete, den sie unter ihrer dicken Winterjacke verborgen hatte. Für einen Außenstehenden hätte diese Pose wie der Beginn eines Liebesspieles gewirkt, aber Fireballs Gedanken konnten ferner nicht sein.

"Was gibt's?"

"Outrider. Vielleicht fünf, vielleicht sechs. Alle Richtung See zwischen den Bäumen."

"Na super." April amte Fireballs Taktik nach und angelte sich seine Waffe. Bis auf Colt benutzten sie alle dieselben Blaster und konnten ohne Probleme mit den Gerätschaften der Teamkollegen kämpfen.

"Auf drei. Eins. Zwei."

"Das Gespräch ist aber noch nicht beendet, Hikari Shinji."

"Nein. Ist es nicht." Fireball lehnte sich kurz vor und drückte der jungen Französin einen raschen Kuss auf die Lippen. "Drei!"

Die beiden Star Sheriffs wirbelten herum und schossen.
 

***
 

"Wer ist denn der Knilch?"

Colt musterte den untersetzten Mann, der auf dem Bock der pferdelosen Kutsche aus einem Spaßfilm entsprungen sein schien, besonders in den altmodisch geschnittenen Kleidern und der Perücke.

"Na fabelhaft." Stöhnte Saber alles andere als erfreut, als er den Diener seines Vaters erkannte. Also hatte der Graf Lancelot doch herausgefunden, dass sein Sohn in der Nähe weilte und wollte ihn sprechen. Der junge Schotte konnte sich keine wirkungsvollere Art vorstellen, ihm den Tag zu verderben. "Kümmert ihr euch um das Eichhörnchen, ich statte derweil meinem alten Herrn einen Besuch ab. Ich beeile mich auch." Saber warf Johnny, der den hellblauen Drachen unter seinem rechten Arm trug und ebenfalls wenig begeistert dreinschaute, einen entschuldigenden Blick zu, bevor er sich straffte und hinüber zu dem Diener schritt, der sich prompt vor ihm verbeugte und in einem starken schottischen Akzent etwas zu Saber sagte.

"Stimmt, Eichhörnchen." Colt, der wusste, dass Saber mit seinem Vater selbst am besten zurecht kam, ging hinüber zur Holzhütte. Alex war ihm immer dicht auf den Fersen und erkundigte sich bereits seit einer halben Stunde aller fünf Minuten nach dem Wohlbefinden des kleinen Tieres.

"Ist es noch am Leben?" So wie jetzt auch.

"Ja, aber schwach." Colt legte die Jacke behutsam auf den Tisch des großen Wohnzimmers ab und sah sich in der >Gartenhütte< um. April und Fireball waren nicht da, vermutlich machten sie einen Spaziergang oder suchten Pilze oder ähnliches. Colt kam aber auch ohne ihre Hilfe zurecht. Er war auf einer Ranch aufgewachsen mit fünfzig Pferden, mehreren Hunden und manch anderen Tieren, die seinem Bruder zugelaufen waren. Ja, er würde dem Eichhörnchen helfen können!

"Ich forste nach der Hausapotheke und du untersuchst den Kühlschrank, ob er Milch beinhaltet! Johnny, du bewachst den Kleinen." Als die Aufgaben verteilt waren, stoben die angesprochenen Personen auseinander auf ihrer Suche nach Medizin und Nahrung.

Johnny betrachtete das kleine Eichhörnchen, das sich nicht mehr bewegt hatte, seit Alex es fand, und blickte zurück durch die offene Tür. Die Kutsche hatte sich längst in die Lüfte erhoben und war weggeflogen. Hinauf zu dem Schloss der Lancelots, in dem Sabers Vater alles daran setzen würde, um ihnen allen diesen Tag zu verderben. Um Johnny den Geburtstag zu verderben, wenn auch unbewusst, da sich der junge Texaner sicher war, dass der Graf seine Lebensdaten nirgendwo notiert hatte.

"Wenn ich da nicht einschreite, kommt er vor morgen früh nicht wieder!" murmelte er genervt und legte den Drachen auf einen Stuhl. Dann schnappte er sich eine Taschenlampe, verschloss seine Jacke und trat hinaus in den dämmrig wirkenden Mittag. Es sah wirklich aus wie Regen, aber Johnny kümmerte sich nicht darum. Sie mussten lediglich den Fuß des Berges erreichen, von da an kannte der Junge eine Abkürzung. Zumindest hatte Saber ihm einmal davon erzählt und er vertraute dem jungen Schotten. Mit dieser Abkürzung wären sie in null Komma nix im Schloss und zusammen mit Saber wieder zurück, um in aller Ruhe seinen weiteren Geburtstag zu feiern!

"Wo gehst du hin?" fragte Jesse, der ihm gefolgt war. In der Gegenwart des kranken Eichhörnchens schien er sich auch nicht besonders wohl zu fühlen. Oder aber er wollte Colt nicht im Weg stehen und womöglich deshalb für das Ableben des kleinen Waldbewohners verantwortlich gemacht werden.

"Zum Schloss, um Saber zurück zu holen." Erklärte Johnny und schritt entschlossen an den Zelten vorbei. "Wenn du willst, kannst du ja mitkommen."

Jesse zögerte einen Moment. Zwar hatte er seine Medizin pünktlich genommen und ein wenig schien sie die Schmerzen auch zu lindern, dennoch tat ihm sein Kopf sehr weh und er hätte sich lieber auf seinen Schlafsack gelegt und eine Runde geschlafen. Andererseits wollte er auch nicht, dass Johnny allein durch den Wald lief. Colt und Alex würden das Eichhörnchen jetzt nicht im Stich lassen, während der junge Texaner nicht von seinem Vorhaben abzuhalten schien. Außerdem musste sich Jesse eingestehen, dass er schon neugierig war und das Schloss gerne von der Nähe betrachten wollte.

"Okay, ich bin dabei." Erklärte er sich deshalb bereit und folgte Johnny in das Innere des Waldes.
 

***
 

Trotz der Abkürzung, über die Johnny nicht müde wurde zu schimpfen, oder vielleicht gerade deswegen benötigten sie zwei ganze Stunden, um in einer entlegenen Ecke des ausladenden Schlossgartens herauszukommen. Der Rasen sah unnatürlich grün aus und es schien Diener zu geben, die das Laub der hohen Kastanienbäume aufsammelten, jedenfalls konnten sie keine Blätter auf dem Boden ausmachen.

"Das ist riesig!" bemerkte Jesse beeindruckt. Die Hecken waren in Figuren geschnitten worden. Manchmal erkannte er ein Pferd oder einen Hasen, meistens aber musste er sich angesichts der komplizierten Muster geschlagen geben. Die Grünfläche erstreckte sich scheinbar in den Horizont. Vermutlich hätte ein kleines Dorf in dem Privatgarten der Lancelots Platz gehabt.

"Riesig und leer." Johnny sah sich kurz um, so als erwarte er, dass ihn ein Diener sah und raus warf. In ihrer Nähe befand sich jedoch niemand, der Garten war menschenleer. "Früher hat hier die ganze Familie der Lancelots gelebt: Tanten, Onkel, Großeltern Geschwister, Enkel. Der Clan umfasste vor hundert Jahren noch über fünfzig Menschen. Heute aber leben hier nur noch der Graf und seine Dienerschaft."

"Fünfzig Menschen?" Jesse musterte einen weiteren zurechtgeschnittenen Busch stirnrunzelnd. "Muss ja ganz schön was losgewesen sein."

"Bestimmt, aber mittlerweile sind fast alle tot. Und die wenigen Nachfahren haben sich mit dem Grafen verstritten und sind fortgezogen." Johnny hob seinen Kopf in den Nacken und betrachtete das eindrucksvolle Schloss, das hinter den goldenen Wipfeln langsam auftauchte. Die Türme mochte er selbst sehr, empfand er die runden Turmzimmer als gemütlich. Das restliche Schloss bereitete ihn Unbehagen, wobei er nicht sagen konnte, ob dies wirklich an dem unübersichtlichen Gebäude oder aber an dem verbitterten Grafen lag.

"Früher haben hier teilweise zehn Kinder gewohnt. Muss ein Paradies für die Kleinen gewesen sein." Johnny seufzte traurig, denn er wusste, dass es hier keine Kinder mehr geben würde. Jedenfalls keine mit adeliger Abstammung. Mit Saber würde die Linie der Lancelots aussterben.
 

"Das ist ein Zebra."

Der ältere Junge deutete auf einen besonders großen Busch, dessen Form aber nicht mehr richtig erkennbar war, da er all seine Blätter verloren hatte. Eine dicke Schneeschicht bedeckte die Zweige und weiße Flocken schwebten sanft auf sie herab.

"Hast du auch einen... El... El... fant?" Der kleinere Junge stapfte ihm hinterher und blickte mit großen Augen auf die angeblichen Tiere. Seine Phantasie war noch ungestüm genug, er hätte in den Büschen so ziemlich alles erkannt, was man ihm erzählte.

"Das glaube ich nicht, aber dort hinten steht ein Pferd. Kein echtes, aber ein ganz liebes." Der ältere Junge drehte sich zu dem kleineren um, als dieser auf einer gefrorenen Pfütze unter dem Schnee ausrutschte und hin fiel. Sofort war er bei ihm und half ihm auf.

"Alles in Ordnung, Jess?"

"Klar, Richy. Und jetzt zeig mir das Pferd!"

"Gerne." Der ältere der beiden stülpte die Mütze, die der jüngere verloren hatte, über blaue Haare. Dann ergriff er eine kleine Hand und gemeinsam liefen sie hinüber zu der Hengstparade aus Büschen und Schnee.
 

"Komm mal hier rüber!"

Jesse blinzelte und im nächsten Moment war der Schnee verschwunden und anstelle des weißen Elements des Winters bedeckten bunte Blätter die Bäume und Büsche. Von den beiden Kindern war auch weit und breit keine Spur. Hatte er sich das eingebildet? Schon wieder? Handelte es sich dabei womöglich um Nebenwirkungen seiner Medizin? Oder hatten sie eine Verletzung seines Gehirnes im Krankenhaus nicht erkannt? Litt jeder Amnesiepatient unter Halluzinationen? Denn es konnte sich nicht um Erinnerungen handeln. Er war dieses Wochenende ja das erste Mal in den Highlands, hatte dieses Schloss noch nie zuvor in seinem Leben gesehen. Oder?

Jess? Richy?

Oder?

"Die Aussicht von hier ist umwerfend!" Johnny war zu einer dicken Brüstung aus Stein gelaufen und spähte hinüber. Jesse verwarf seine seltsamen Gedanken. Er würde gleich am Montag mit Doktor Claire darüber sprechen. Sicherlich gab es für all das eine ganz simple Erklärung. Vermutlich hatte sie ihm sogar davon erzählt, aber er hatte es vergessen. So wie er vieles vergessen hatte.

Also ging er hinüber zu dem Teenager und blickte hinaus in das Tal. So hoch wie auf dem Gipfel, den Saber später einmal mit ihm besteigen würde, befanden sie sich nicht, aber die Höhe reichte ihm aus, um über die großen See hinaus zu sehen und dort noch weitere Täler und Bergketten zu erkennen. Auf einigen von ihnen lag sogar schon Schnee. Die Baumgrenze war bei allen Bergen, egal ob mittel oder sehr hoch, gleich. Pures Gold schien sich in das Tal zu ergießen, während auf den Gipfeln eintöniges Grau oder schon das erste Schnee lag. Silbern glänzte das Wasser der Mitte des Tales. Der Himmel schien unendlich zu sein, auf dem die Wolken einen bizarren Tanz veranstalteten. Immer heftig werdender Wind zog sie quer über das Firmament und die Wälder rauschte und wogten wie ein riesiges Meer.

"Beeindruckend, nicht wahr?" unterbrach Johnny die ehrfurchtsvolle Stille. Er hatte die Arme auf den Stein gestützt und sein Kinn in seine Handflächen gebettet. Verträumt blickte er hinaus in die Natur, so als wollte er all diese Eindrücke in sich saugen, damit er genug zum Träumen hatte, wenn sie wieder in Yuma City wären. Einer modernen Stadt mit künstlichen Bäumen. Sehr sauber und sehr öde.

"Ja."

"Ich liebe dieses Land." Fuhr Johnny leise fort und musterte die Berge um sich herum mit einem letzten sehnsuchtsvollen Blick. "Ein paar Mal bin ich schon hier gewesen, weil zur Zeit die letzten Pferde meiner Eltern hier untergestellt sind. In Yuma City ist kein Platz für sie und ich weiß, dass es ihnen hier gut geht. Graf Lancelot mag kein netter Mensch sein, aber er ist ein Pferdenarr." Johnny riss sich schließlich von der Aussicht los und lief über den Rasen. Jedoch ging er nicht in Richtung des Schlosses, sondern vielmehr darum herum. Jesse war das Recht. Hier gab es so viel zu sehen, dass es ihm sogar lieber war, wenn sie einen ausführlichen Rundgang machten und nicht nur auf direktesten Weg zu Saber rauschten. Auf der anderen Seite des Schlosses gab es weitere Kastanien, aber das Gras war verschwunden. Statt dessen begrüßte sie ein großer Reitplatz mit allerlei Gerätschaften. Das Wiehern verriet Jesse, der sich nicht daran erinnern konnte, jemals einem Pferd auch nur begegnet zu sein, dass sich hier die Stallungen befanden. Johnny schritt zielstrebig in das kleinere Gebäude hinein und an den Boxen vorbei, in denen Pferde vor sich hin kauten oder neugierig zwischen den Stangen hindurch spähten. Hier und da standen Menschen in den Boxen, die Johnny zu kennen schienen, denn sie lächelten und grüßten ihn freundlich. Jesse argwöhnten sie, ließen ihn aber wahrscheinlich passieren, weil er zu Johnny gehörte.

"Hier wird alles noch genauso gemacht wie vor vielen hundert Jahren. Alte Traditionen werden von den Adeligen hoch gehalten, besonders von Graf Lancelot, der glaubt, dass es seinen Tieren so am besten geht." Sagte der Teenager und blieb vor einer besonders großen Box stehen. Dahinter befand sich ein weißes Pferd, ein Schimmel, wie Jesse sein Schweizer-Käse-Gedächtnis mitteilte. Es drehte sich in der großen Box und trabte hinüber zu den Gitterstäben. Jesse trat automatisch einige Schritte zurück, als es hörbar nach Luft sog. Egal, was der junge Texaner ihm da auch erzählten mochte, er vertraute diesen großen Tieren nicht. Instinktiv.

"Hallo, Kleines." Johnny öffnete die Schiebetür und lachte leise auf, als die Stute ihren Kopf an seiner Brust rieb und gierig nach etwas Essbarem in seinen Jackentaschen fand. Geduldig ließ sie sich von dem Teenager auf den Hals klopfen.

"Hallo, Jonathan. Ich hab dich gar nicht kommen gesehen." Ein großgewachsener Mann, zu dem Jesse aufsehen musste, als er an ihm vorbei schritt, betrat ebenfalls die Box und lächelte den Teenager erfreut an.

"Hallo, George. Richard wurde von seinem Vater herbeordert und da dachte ich, ich besuche die Pferde." Johnny legte beide Arme um den Hals der Stute. Sie ließ es sich gefallen und begann statt dessen, Stroh zu fressen.

"Master Richard ist auch da? Und ich wurde mal wieder von nichts benachrichtigt. Na ja, ich bin eben nur der Stallknecht." George warf seine Hände theatralisch in die Höhe, dann gab er der Stute eine Möhre und tätschelte ihren stark angeschwollenen Leib.

"Stallknecht? Ich dachte immer, du wärest Oberstallmeister, George."

"Namen sind nur Schall und Rauch." Der hochgewachsene Mann verließ die Box und deutete Johnny an, das Gleiche zu tun. "Sie ist trächtig und braucht ihre Ruhe, Jonathan. Besuch lieber deine eigenen zwei Rabauken, die werden sich sicherlich auch freuen."

"Ja."

"Und sag ihm, dass Pferde nicht beißen." Er deutete auf Jesse, der recht blass an der Wand lehnte und sich den großen Kreaturen nicht weiter als bis auf zwei Meter und Stahlgitter dazwischen zu nähern wagte.

"Dafür haben sie aber ziemlich große Zähne." Gab Jesse zu bedenken und lächelte, als George daraufhin in schallendes Gelächter ausbrach und ihm sofort zu erklären begann, dass Pferde Pflanzenfresser waren und nicht so scharfe Zähne wie zum Beispiel Hunde besaßen. Wenn ein Pferd zu biss, erhielt man meist einen ordentlichen blauen Fleck, aber daran war bis jetzt noch niemand gestorben.

Johnny hörte den Ausführungen des Oberstallmeisters nur oberflächlich zu. Normalerweise sog er jedes Wort auf, das George sagte, konnte ihm der erfahrene Schotte viele hilfreiche Tipps in Bezug auf Dressur und Zucht geben, heute aber galt seine ganze Aufmerksamkeit der Schimmelstute in der Box. Es handelte sich dabei um Sabers Lieblingspferd, Blanca. Johnny konnte sich noch gut erinnern, dass der junge Schotte sie zum Decken mit dem besten Hengst seines Vaters im Sommer auf eine eigene Weide gelassen hatte. Nun war Blanca trächtig und würde Anfang Winter ein hoffentlich gesundes Fohlen zur Welt bringen. Ein wunderschönes Fohlen, das Johnny gehören würde. Die Besitzurkunde hatte sich neben einem altmodischen Hufeisen in Sabers Geschenkverpackung befunden. Alles, was Johnny nun noch zu tun hatte, war im Winter den Namen einzutragen.

Und Saber dafür zu danken, indem er sich immer gut um das Fohlen kümmerte.
 

***
 

"Ist das alles echt?" flüsterte Jesse beeindruckt, während sie durch das Innere des Schlosses schlichen. Die Dielen unter ihnen knarrten und beide wollten die eisige Stille, die das Gemäuer umgab, nicht all zu laut stören. Johnny hatte noch die letzten zwei Pferde aus dem Vermächtnis seiner Eltern besucht, zwei in die Jahre gekommene Hengste, die nun ihr Gnadenbrot erhielten und ihren Lebensabend auf einer saftigen Weide verbringen würden. Die beiden freuten sich sichtlich und nachdem genügend Streicheleinheiten verteilt worden waren, erinnerte sich Johnny an ihre eigentliche Mission, Saber aus der Höhle des Löwen, sprich aus dem Arbeitszimmer seines Vaters zu befreien. George, der den pferdeverrückten Texaner zu mögen schien, half ihnen durch einen Hintereingang in das Innere des Schlosses, bevor er sich seiner weiteren Arbeit zuwandte.

Nun standen sie in einem prachtvoll ausstaffierten Gang. Die linke Fensterfront schien nur aus Glas zu bestehen, während die reche Wand mit meterhohen Gemälden behangen war. Die Rahmen leuchteten golden und Jesse trat näher an den Rahmen heran, um zu sehen, ob es sich dabei wirklich um das Edelmetall handelte oder ob es sich hierbei nur um eine besonders gute Fälschung handelte. Nicht, dass er den Unterschied erkannt hätte.

"Natürlich!" Johnny gab sich entrüstet über Jesses Frage, kicherte aber kopfschüttelnd und trat näher an das besagte Gemälde heran. "Für die Lancelots darf es nur vom Feinsten sein. Nur das Teuerste ist gut genug." Er schaute zu der Dame hinauf, die ernst in die Welt blickte. Seit über zweihundert Jahren, wenn man der Inschrift auf dem Rahmen trauen durfte. "Saber ödet das alles ganz schön an, aber solange sein Vater lebt, kann er hier nichts verändern. Falls er den Schinken nicht sofort nach dessen Tod verkauft."

"Weggeben würde ich das nicht." Jesse drehte sich langsam einmal um sich selbst und bewunderte die Verzierungen an den Decken. "Aber ein wenig mehr Wärme würde diesen alten Mauern gut tun."

"Vielleicht vermacht er's auch April. Sie ist eine gute Innenausstatterin. Sie sagt, die Teppiche in Yuma City waren ihre Idee gewesen." Johnny wandte sich um und zuckte leicht zusammen, als er die Gestalt sah, die entschlossen auf ihn zu schritt. Dann straffte er seine Schultern und steckte seine geballten Hände tief in die Taschen seiner Jacke. Nein, er würde sich keine Blöße geben lassen, sondern ruhig nach Saber verlangen und mit ihm dieses Schloss verlassen. Schließlich war heute sein Geburtstag, da durfte er den jungen Schotten zu seiner Party entführen!

"Na, sieh mal einer an, wer aufgetaucht ist!" begrüßte sie ein recht großer Mann, den Saber aber vermutlich schon überragte. So richtig konnte das Jesse nicht einschätzen. Eine Ähnlichkeit zwischen Vater und Sohn war auf den ersten Blick nicht erkennbar. Die Haare des Mannes waren braun, wurden von silbernen Strähnen durchzogen. Der Vollbart untermauerte den drohenden Eindruck, den er auf Jesse machte. Er hatte diesen Menschen noch nie in seinem Leben gesehen, aber er mochte ihn auf Anhieb nicht. Saber war wesentlich höflicher, ruhiger. In der Nähe des jungen Schotte fühlte sich Jesse wohl, während er der Gegenwart des Vaters am liebsten geflohen wäre.

"Ich dachte, ich würde heute von dir verschont bleiben!" Eisblaue Augen blitzten Johnny verächtlich an und Jesse erkannte die einzige Ähnlichkeit, die zwischen Vater und Sohn bestand. Zu gern hätte er ein Bild von Sabers Mutter gesehen. Denn je länger Jesse Graf Lancelot betrachtete, desto mehr kam er zu der Überzeugung, dass Saber das Ebenbild der verstorbenen Gräfin sein musste.

"Ich wünsche Euch auch einen schönen Tag." Erwiderte Johnny sarkastisch und gab sich betont lässig. Die beiden starrten sich an und Jesse hatte das Gefühl, als würde er dem Kampf zweier Raubkatzen beiwohnen, die sich jeden Moment ansprangen.

"Als ich mich bereit erklärte, deine Gäule aufzunehmen, wusste ich nicht, dass ich dein Gesicht auch noch zu ertragen hätte!"

Johnny blinzelte nicht einmal ob der offensichtlichen Beleidigung. Jesse wunderte sich, ob sich Sabers Vater ihm gegenüber immer so aufführte oder ob sie einfach nur einen extrem schlechten Tag im Leben des alten Grafen erwischt hatten.

"Ich möchte gern Richard abholen. Danach verschwinde ich sofort wieder." Erwiderte der Teenager kühl, aber höflich. Er wich nicht zurück, als der Graf auf ihn zu kam. Der alte Mann wirkte gefährlich, trotz des seltsam karierten Rockes, den er trug. Jesse würde Johnny später dazu befragen, im Moment schien in eine Kulturstunde in schottischen Traditionen weniger angebracht.

"So, so, das möchtest du also." Der Schotte lehnte sich noch weiter vor und Jesse sah, wie der Teenager erbleichte, sich aber nicht von der Stelle rührte. Ob er dazwischen gehen sollte? Denn sehr schienen sich die beiden ja nicht zu mögen, im Gegenteil! Ob der Graf Lancelot seinem eigenen Sohn gegenüber auch so hartherzig war?

"Ja, Sir."

"Als ob du ein Recht darauf hättest. Merk dir das, du bist ein Nichts und Richard befasst sich mit dir nur aus Mitleid."

"Ja, Sir." Johnnys Stimme blieb kühl. Er hatte gelernt, dass Widerspruch nur zu elendig langen Diskussionen führte. An jedem anderen Tag hätte er sich diesen gestellt, aber heute wollte er nur Saber so rasch wie möglich befreien und seine Geburtstagsparty feiern. Colt wartete sicherlich schon sehnsüchtig auf sein persönliches Stück Kuchen.

"Eines Tages wird er dich Schmarotzer fallen lassen."

"Ja, Sir."

"Willst du dich über mich lustig machen?"

"Nein, Sir."
 

"Willst du dich über mich lustig machen?" Die tiefe Stimme schallte durch den Gang und ein junger Mann, fast noch ein Kind, knetete nervös die Mütze in seinen Händen. Blaue Haare hingen nass in seine bleiche Stirn. Es regnetet, aber er hatte hier her kommen, hatte ihn sehen müssen.

"Nein. Es ist die Wahrheit."

"Die Wahrheit? Pah!" Der Mann im Schottenrock trat näher und der junge Mann wich automatisch zurück. "Ich habe nur einen Sohn und der studiert in Yuma City. Also erzähl mir hier keine Lügenmärchen!"

"Aber es stand in Mamas Nachlass, dass Ihr..."

"Ich war meiner Gemahlin immer ein treuer Ehegatte. Und nun scher dich fort, ich will deine dreckigen Lügen nicht länger hören!"

Der Mann wollte sich umdrehen und zurück in sein Arbeitszimmer gehen, aber der junge Mann hielt ihn zurück. Tränen standen in eisblauen Augen.

"Meine Mutter ist letzten Monat gestorben und in ihrem Nachlass habe ich erfahren, dass Ihr mein Vater seid."

Der junge Mann stürzte zu Boden, als ihn der Schotte von sich stieß. Die blasse Wange brannte, wo er den Teenager geschlagen hatte.

"Du bist ein Schmarotzer, der es auf mein Geld abgesehen hat. Deine Sorte kenn ich gut genug. Lügen, nichts als Lügen!"

"Aber..."

"Wie alt bist du, Kleiner?"

"Fünfzehn..." antwortete der junge Mann ehrlich und hielt seine brennende Wange. Hart kämpfte er gegen seine Tränen an. Einen Kampf, den er nicht gewinnen würde.

"Vor fünfzehn Jahren erkrankte meine geliebte Gattin an einer tödlichen Krankheit. Glaubst du allen Ernstes, ich hätte sie zu jenem Zeitpunkt betrogen?" Der Mann schüttelte seine Fäuste drohend. "Verschwinde von hier und lass dich nie mehr hier blicken, Lügner. Mein Geld bekommst du nicht!"

Mit diesen Worten kehrte er in sein Arbeitszimmer zurück und schlug die Tür hart hinter sich ins Schloss. Der junge Mann davor blieb noch lange auf dem harten Boden sitzen. Bis ein Diener kam und ihn zur Tür geleitete.

"Ich wollte doch kein Geld, sondern wieder eine Familie..." schluchzte er, aber niemand antwortete ihm.
 

"Natürlich willst du dich über mich lustig machen!" Der alte Lancelot hatte seine rechte Faust um den Kragen von Johnnys Winterjacke geschlossen und nun stand der Teenager nur noch auf seinen Zehenspitzen, verzog aber noch immer keine Miene. "Ich hab' dich schon lange durchschaut, du Schmarotzer. Aber mein Geld bekommst du nicht!"

"Nein, Sir." Johnny schluckte sichtbar, brach aber den Blickkontakt zu dem alten Schotten nicht ab. Ihm würde er keine Angst zeigen. Nein, ihm nicht! "Das will ich auch nicht."

"Was willst du dann?"

"Das habe ich bereits bekommen."

Angespannte Stille herrschte zwischen den beiden und Johnny wäre beinahe hingefallen, als ihn der Graf Lancelot plötzlich aus seinem Zangengriff befreite und von sich stieß.

"Da irrst du dich! Meine Dynastie bekommst du nur über meine Leiche!"

"Ja, Sir." Johnny konnte nicht verhindern, dass er seine Augen verdrehte, obwohl er wusste, dass das Sabers Vater nur weiter provozierte. Manchmal wünschte er sich, dass der alte Lancelot anders reagiert hätte. Aber für den Grafen gab es nur Geld und Macht. Er glaubte nicht an Liebe, sondern nur an Berechnung und Intrigen. Selbst wenn Johnny die nächsten vierzig Jahre in diesem Schloss, an der Seite des alten Lancelot leben müsste, könnte er diesen selbst dann nicht von seinen aufrichtigen Gefühlen überzeugen. Der junge Texaner war kein Adeliger, er besaß keine Ländereien oder Geld, sondern nur zwei ausgediente Pferde. Ach ja, und er war keine Frau. Obwohl Johnny mittlerweile der festen Überzeugung war, dass sein fehlender Reichtum das Hauptproblem darstellte. Nachfahren konnte man ja auch mit jemandem zeugen, der einem nicht viel bedeutete. So wie Sabers Mutter...

"Du..." Der Graf funkelte ihn zornig an, hielt aber inne, als er Jesse das erste Mal bemerkte. Der junge Mann schnappte hörbar nach Luft und rutschte an der Wand entlang zu Boden. Seine Augen hatte er weit aufgerissen, während er seinen Kopf zwischen seine zwei Hände presste. Sein Gesicht war sehr bleich und mit einem feinen Schweißfilm überzogen.

"Jesse?" Johnny vergaß das Streitgespräch augenblicklich. Er eilte zu dem Amnesiepatienten und kniete sich neben ihm nieder. "Jesse? Alles Okay?"

"Ja..." flüsterte eine heisere Stimme und Johnny spürte, dass dieser zitterte, als er seine Hand beruhigend auf die rechte Schulter legte. "Kopfschmerzen... aber wenn ich meine Medizin genommen habe, geht's wieder besser."

Jesse ließ kurz seinen Kopf los und kramte in den Tiefen seiner Hose. Er beförderte einige Pillen zu Tage und nahm dankbar die Plastikflasche entgegen, die Johnny die ganze Zeit über in seiner Jacke bei sich getragen hatte. Entschlossen schluckte er die Medizin und spülte kalten Tee hinterher. Anschließend schloss er seine Augen und lehnte seinen Kopf gegen die kühle Wand hinter sich. Seine Gedanken schwirrten wild durcheinander. War das eine Vision gewesen? Oder gar eine Erinnerung? Was hatte er dann in diesem Schloss verloren gehabt? Warum hatte er sich mit Sabers Vater gestritten? Das Gespräch ergab überhaupt keinen Sinn. Oder spielte ihm sein angeknackstes Gehirn einen weiteren Streich? Jesse wusste es nicht. Es wurde ihm immer schwieriger, Realität und Traum auseinander zu halten und sein Kopf brachte ihn noch um. Als ob jemand glühende Nadeln direkt durch seine Augen stechen würde. Es war kaum mehr auszuhalten!

"Wer ist das?" Die Stimme des Grafen klang mit einem Mal seltsam leise, gar nicht mehr so aggressiv wie noch vor wenigen Minuten.

"Das ist Jesse, ein Freund."

"Ach, so einer bist du also."

"Nein, er ist ein Freund von Saber, genauso wie Fireball, April und mein Bruder." Jesse konnte förmlich das Augenrollen des Teenagers neben sich hören. Dann seufzte Johnny und erhob sich.

"Können wir diese Unterhaltung vielleicht ein anderes Mal fortsetzen, Sir? Jesse geht's nicht gut und wir wollen wieder zurück zu den anderen. Könntet Ihr bitte Richard Bescheid sagen, damit wir gehen können?"

"Nein, kann ich nicht." Schritte. Der Graf schien sich zu entfernen. Jesse öffnete seine Augen einen Spalt breit und sah Johnnys trauriges Gesicht, das sich ein wenig aufhellte, als er den nächsten Satz des alten Lancelot hörte. "Richard ist bereits vor einer Stunde wieder gegangen. Er sagte, ihm sei dein Geburtstag wichtiger als seinen eigenen Vater zu besuchen!"

Mit diesen Worten wurde eine Tür zugeknallt und Jesse zuckte bei dem lauten Geräusch zusammen. Zitternd rang er nach Luft und zwang sich schließlich auf die Beine. Er hatte keine Ahnung, wie er den Rückweg bewältigen sollte, aber er hoffte, dass dieser kürzer war, schließlich gingen sie nur bergab. Johnny war sofort an seiner Seite und ergriff stützend seinen rechten Arm, um ihn durch das Schloss Richtung Ausgang zu führen.

"Da müssen sich die beiden ganz schön gestritten haben, wenn Saber schon wieder gegangen ist." Stellte Johnny grimmig fest.

"Der Graf ist herzallerliebst, oder?"

"Kannst du laut sagen, Jesse. Sei froh, wenn du niemals was mit ihm zu tun hast."

Jesse nickte und gemeinsam schleppten sie sich die Eingangsstufen herab. Einige Bedienstete öffneten das große Portal und damit standen sie wieder außerhalb des Schlosses. Jesse drehte vorsichtig seinen Kopf und blickte die hohen Wände empor, musterte die Türme sowie die prachtvollen Verzierungen im Gestein.

"Saber ist ganz schön reich." Meinte er nachdenklich. "Aber ich beneide ihn nicht darum."

"Ich auch nicht." Stimmte Johnny ihm zu und half ihm quer durch den Garten zum Ausgang, der sie direkt zu der berühmten Abkürzung führte.
 

***
 

"Und, war's toll?" Colt blickte von dem quirligen Eichhörnchen in seinen Händen auf, als Saber das Holzhaus betrat und sich sichtlich erschöpft auf einen Stuhl setzte.

"Einfach nur phantastisch." Saber musterte das kleine Tier und seine Miene erhellte sich ein wenig. "Wie ich sehe, ward ihr erfolgreicher als ich."

"Doktor Wilcox kuriert sie alle." Erwiderte Colt und reichte das Eichhörnchen in Alex' wartende Hände.

"Es hatte einfach nur Hunger. Na ja, und tollpatschig ist es auch, vermutlich hat es daneben getreten und ist deshalb vom Baum gefallen." Der junge Erbe streichelte durch rotbraunes Fell und lächelte erleichtert. Er hatte wirklich befürchtet, dass das Tier sterben würde und sie hatten während der letzten Stunden auch gekämpft wie die Löwen, bis das Eichhörnchen sein Bewusstsein wieder erlangte und eifrig zu fressen begann.

"Passt doch zu uns." Saber rieb seine müden Augen und richtete sich in dem Stuhl auf. "Wo sind die anderen? Johnnys Geburtstagstorte wurde noch gar nicht angeschnitten. Außerdem hab ich noch ein paar Steaks im Kühlschrank, die gegrillt sicherlich dankbare Abnehmer finden werden."

"April und Fireball sind noch auf ihrem Spaziergang." Colt sah auf seine Armbanduhr und grinste, als ihm bewusst wurde, wie lange die beiden schon unterwegs waren. "Vielleicht haben sie's ja mal endlich geschafft, sich auszusprechen."

"Oder sie streiten wieder."

"Oder das." Colt zuckte seine Schultern und blickte zum Fenster hinaus, das erste Mal seit er das bewusstlose Tier in das Holzhaus geschafft hatte, immerzu umgeben von einem aufgelösten Alex, der das Eichhörnchen nicht sterben sehen wollte.

"Johnny ist draußen bei den Zelten. Ihm schien das mit dem Tier etwas zu anstrengend zu sein."

"Johnny ist nicht draußen." Saber runzelte seine Stirn und das Grinsen auf Colts Gesicht erstarb.

"Nein?" fragte er und sprang auf seine Beine. Saber folgte ihm zu den Zelten, aber von dem jungen Texaner war nirgendwo eine Spur. Weder von ihm noch von...

"Jesse Blue ist auch nicht hier." Stellte Colt entsetzt fest und ein kalter Schauer jagte ihm über den Rücken. Er sah sich um, aber der Steg sowie die Feuerstelle waren leer. Auch befand sich niemand am Waldrand.

"Vielleicht ist es Johnny ja langweilig geworden und sie sind zu April und Fireball gegangen." Versuchte sich der Cowboy zu beruhigen. Aber es mochte ihm nicht recht gelingen, denn diese Möglichkeit war ziemlich unwahrscheinlich. Die beiden Star Sheriffs waren weit vor ihrer Rückkehr aufgebrochen, Johnny hatte nicht gewusst, welche Richtung die zwei eingeschlagen hatten.

"Wir suchen sie trotzdem und fragen nach." Saber griff in seinen Rucksack und holte seinen Kommunikator hervor, mit dem er April anrufen würde. Lokalisieren konnte er sie leider nicht, da diese Technik nur im neuen Grenzgebiet funktionierte. Vermutlich war das alles nur ein großes Missverständnis und Johnny war wirklich bei ihnen. Bestimmt hatte Jesse keine Dummheit angestellt, sondern lief erinnerungslos hinter der Gruppe her. Wahrscheinlich erzählte Johnny den beiden gerade von seinem Drachen. Sicherlich.

Saber drehte sich mit dem Kommunikator in der Hand zu Colt um, der angespannt den Griff seines Blasters umklammerte.

Hoffentlich...
 

***
 

"Regen!" Johnny blickte hinauf zum wolkenverhangenen Himmel und seufzte tief. "Superwetter zu meinem Supergeburtstag."

"Sorry, dass es nicht schneller geht." Flüsterte Jesse, der sich auf einen Baumstamm gesetzt hatte und ausruhte. Das dritte Mal während der letzten Stunde.

"Das ist nicht deine Schuld, Jesse. Ich bin mal wieder ohne nachzudenken losgestürmt." Johnny lachte humorlos und setzte sich schließlich neben den Kranken in das noch trockene Laub. Dicke Topfen plätscherten aber durch das Blätterdach. Sie beide würden vollkommen durchnässt sein, wenn sie die >Gartenhütte< erreichten und die anderen würden ihn die Ohren lang ziehen. Zu Recht.

"Da bin ich meinem Bruder wohl doch ähnlicher als wir alle dachten." Er reichte Jesse die Plastikflasche, damit dieser die letzten Schlucke nehmen konnte und betrachtete traurig sein Handy. Es war ein Geschenk Sabers gewesen und er hatte ihn auch anrufen wollen, aber kurz nachdem sie den Schlossgarten verlassen hatten, rutschte Jesse aus und riss ihn mit sich in die Tiefe. Es waren nur etwa fünf Meter gewesen, die sie durch das Laub gerollt waren, aber es reichte aus, um sein Handy zu zerstören. Nun konnte er nicht einmal um Hilfe rufen, sondern musste es irgendwie schaffen, dass Jesse die restliche Entfernung auch noch meisterte. Irgendwie. Gut sah der Kranke wirklich nicht aus. Er zitterte unkontrolliert und die Kopfschmerzen schienen unerträglich zu sein. Johnny hatte bereits in Erwägung gezogen, zurück zum Schloss zu gehen und dort um ärztliche Hilfe zu bitten, egal, was der Graf ihm auch für Gemeinheiten im Gegenzug an den Kopf werfen würde. Aber der Weg war zwar eine Abkürzung, die dennoch steil nach oben führte. Jesse war nicht mehr in der Lage, dort zurück zu gehen und Johnny wollte ihn in seinem Zustand nicht allein lassen.

"Da hab ich ja ganz schön Mist gebaut." Murrte er und steckte das Handy wieder in die Tiefen seiner Jacke.

"Du kannst nichts dafür. Die..." Jesse stöhnte unterdrückt und fuhr sich durch die blauen Haare, die im Dämmerlicht feucht glänzten. "... Kopfschmerzen hatte ich schon seit letzter Nacht. Ich... hab sie einfach nicht... ernst genommen..." Er trank die letzten Schlucke und blieb einfach so sitzen. Nur ein paar Minuten, dann würde es ihm besser gehen. Dann könnte er die restlichen Schritte auch noch laufen. Dann könnte er sich hinlegen und bräuchte nie mehr aufzustehen. April hatte sicherlich noch andere Schmerzmittel. Welche, die halfen. Vielleicht hatte Doktor Claire ihr noch welche mitgegeben. Jesse war sogar mit intravenöser Verabreichung einverstanden. Solange es nur aufhörte.

"Ruh dich noch fünf Minuten aus. Dann versuchen wir's noch mal. Okay, Jesse?"

"Okay."
 

"Erschieß ihn!"

Er glaubte, seinen Ohren nicht zu trauen. Der Junge in seinen Armen brauchte ärztliche Versorgung. Es handelte sich dabei doch nicht um einen räudigen Hund, dem man den Gnadenschuss verpasste!

"Er ist doch nur ein kleines Kind." Brachte er hervor und hustete, als der Qualm um ihn herum zu nahm.

"Er ist ein Mensch." Die Gestalt lehnte sich vor und alles, was er noch sah, waren glühende Augen, blutrot glühend. "Er gehört vernichtet."

Mit diesen Worten wurde eine Waffe auf ihn gerichtet und ein Schuss erklang, der lauter in seinen Ohren klang als jede Explosion, die er schon in seinem Leben gehört hatte. Der Junge in seinen Armen röchelte und sackte leblos in sich zusammen. Blut floss aus einer tiefen Wunde in seiner Brust, rann über seine Arme und seine dunkle Uniform. Entsetzt starrte er auf den toten Körper vor sich, auf seine blutverschmierten Hände, die heftig zitterten. Er hörte seinen eigenen gehetzten Atem, hörte das entsetzte Schluchzen darin. Kräftige Arme packte ihn, zogen ihn auf seine bebenden Beine. Der Junge fiel mit einem dumpfen Schlag auf den Boden und ihm war, als müsse er sich übergeben. So lange den Dreck aus sich erbrechen, bis er selbst starb.

"Du weißt, dass diese Rasse keine Zukunft hat, du hast ihr selbst abgeschworen. Nun ist das Zeitalter der Outrider angebrochen." Die Gestalt ließ ihn los und er taumelte, ging aber nicht auf die Knie, das hätten sie ihm nie verziehen. "Du kennst die Wahrheit, nicht wahr? Wir sind den Menschen überlegen, Jesse Blue."

Jesse Blue konnte nicht nicken. Mit weit geöffneten Augen sah er sich in dem kleinen Dorf um, auf dessen Marktplatz er gemeinsam mit Nemesis stand, einen toten Jungen zu seinen Füßen liegend. Rauch füllte die Luft und als Jesse seinen Kopf drehte, erkannte er, dass der goldene Regen um ihn herum Feuer gewesen war.

Sie hatten das Dorf niedergebrannt - und mit ihm alle Einwohner.
 

"Jesse?" Johnny war panikartig aufgesprungen, als der junge Mann laut aufstöhnte, sich nach vorne beugte und zu würgen begann. Da er nichts anderes zu tun wusste, hielt er den Kranken an der Schulter fest und strich beruhigende Kreise über dessen nassen Rücken. Ob es nun an dem Regen oder an Jesses Schweiß lag, konnte er nicht sagen. Er stand einfach nur da, während sich der junge Mann erbrach. Es war nicht viel, denn Jesse hatte den ganzen Tag über nicht mehr als eine Scheibe Brot gegessen, aber es hörte sich an, als würde der junge Mann daran verenden.

Johnny fluchte laut. Jetzt hätte er sonst etwas gegeben, um Saber oder die anderen bei sich zu haben, egal, wie sehr sie auch mit ihm schimpfen und ihm das Taschengeld streichen würden. Sie wüssten, was es in dieser Situation zu tun galt, konnten helfen. Verdammt, er könnte Jesse ja nicht einmal tragen, sollte er plötzlich bewusstlos zusammen brechen! Und wenn er ihn hier zurück ließ, war er sich nicht sicher, ob er ihn in der zunehmenden Dunkelheit wieder fand!

"Jesse?" fragte er, als das trockene Würgen langsam abklang und wühlte in seinen Jackentaschen nach einem Taschentuch.

"Ich bin Jesse Blue." Murmelte der Kranke und legte sich das ihm dargebotene Tuch auf das Gesicht, bevor er dieses in seinen Händen verbarg.

"Ja. Das haben wir dir schon mehrmals gesagt." Johnny blickte sich verzweifelt um, aber bis auf Bäume und nasses Laub konnte er in dem immer stärker werdenden Regen nichts erkennen. Keine Hoffnung, keine Rettung. "Hast du etwa schon wieder deine Erinnerungen verloren? Ist das Kurzzeitgedächtnis etwa auch angegriffen?" Johnny schluckte und blickte auf das verhangene Gesicht des jungen Mannes, der laut aufstöhnte. "Ist's so schlimm, Jesse?" fragte er ängstlich und verdammte sich und seine bescheuerte Idee, Saber aus den Klauen seines Vaters zu befreien, erneut. Der Schotte hatte bewiesen, dass er alt genug war, um sich selbst zu retten.

"Viel schlimmer." Jesse zog das Tuch von seinem Gesicht und Johnny wäre beinahe einige Schritte zurück getaumelt, wenn er den jungen Mann nicht bereits gestützt hätte. Sein Griff verstärkte sich um die Schulter des anderen, der mehr einem Toten denn einem Lebendigen glich. Jesse war weiß wie eine Wand und Tränen standen in seinen müden Augen, die jeglichen Glanz, jeglichen Lebenswillen verloren hatten. Johnny durchfuhr der Gedanke, dass Jesse hier sterben könnte. An den Folgen des Unfalls, in dem er ihm das Leben gerettet hatte. Tot, weil Johnny so egoistisch gewesen war und seinen Geburtstag in den Highlands hatte feiern wollen, wissend, dass es dem Amnesiepatienten noch nicht wirklich gut ging. Genauso tot wie Johnnys Eltern, weil er nicht bei ihnen gewesen war, sondern sich im Sturmkeller versteckt hatte, hoffend, dass sie ihn suchen kamen. Dass sie sich wieder vertrugen, wenn sie sich lange genug Sorgen um ihn gemacht hatten. Dabei war es nur eine Kleinigkeit gewesen, über die sie sich gestritten hatten. Über ein dummes Reitturnier, an dem Johnny hatte teilnehmen wollen, für das ihn seine Eltern aber noch zu jung gehalten hatten. Verdammt, er war damals erst sieben gewesen!

Johnny hatte niemals die Gelegenheit bekommen, sich mit seinen Eltern zu versöhnen, da sie noch an jenem Nachmittag von Outridern ermordet wurden.

"Kannst du aufstehen, Jesse? Ich muss dich zurück ins Lager bringen." Flüsterte er zitternd und fuhr sich mit der freien Hand über das Gesicht, als die Tränen überflossen und über seine Wangen rannen. "Dort gibt es Medizin und Leute, die dir helfen können."

"Viel schlimmer." Wiederholte Jesse, als ob er den Teenager nicht gehört hatte. Seine leblosen Augen wanderten zu dem weinenden Gesicht Johnnys hoch und betrachteten ihn ohne jeglichen Gefühls. So als sei er plötzlich taub geworden. Gelähmt. "Ich gehöre zu ihnen. Zu den Bösen, die Colt verabscheut. Die deine Eltern getötet haben. Ich bin nicht besser als sie..."

"Jesse?!" Johnnys Stimme überschlug sich, als er an den Schultern des jungen Mannes zog, ihn zum Aufstehen bewegen wollte. Zu allem Übel schien der Kranke nun auch noch zu phantasieren, denn Johnnys Eltern waren vor zehn Jahren gestorben. Damals war Jesse selbst noch ein Kind gewesen, wie also hätte er da zu jenem Todeskommando dazugehören können, das an jenem Tag viele Rancher in Texas niedermetzelte? "Komm, steh auf! Ich muss dich von hier fort bringen!" Der Regen wurde immer stärker, durchweichte sein Haar und seine dreckige Kleidung an den Stellen, an denen sie bei dem Sturz gerissen war. Ihn fror und er wollte gar nicht wissen, wie elendig sich der zitternde Mann neben ihm erst fühlen musste.

"Ich bin wirklich die Ausgeburt des Leibhaftigen." Plötzlich musste Jesse kichern, aber es gelang nicht gesund. Ganz und gar nicht.

"Jesse Blue?"

Die fremde Stimme ließ Johnny herum fahren und entsetzt starrte er den Schatten an, der sich ihnen geräuschlos bis auf wenige Meter genähert hatte. Es handelte sich dabei weder um die Star Sheriffs noch um Bedienstete des Grafen. Diese Gestalt war böse. Durch und durch. Das spürte Johnny instinktiv.

"Ist das der Kleine?"

Der Texaner holte seine Taschenlampe hervor und richtete den kleinen Stab direkt auf den Fremden. Entsetzt schrie er auf und stolperte nach hinten über einen bewegungslosen Jesse, als er die Gestalt vor sich erkannte. Es handelte sich um einen Outrider. Einen Outrider, der sie nun umbringen würde.
 

***
 

Colt wusste, dass etwas nicht stimmte, als Saber sich kraftlos auf dem Steg niederließ, während er mit zitternden Händen den Telekomunikator ausschaltete. Colt hätte ebenfalls gerne mit April geredet, aber er hielt es für klüger, zurück zur >Gartenhütte< zu gehen und Alex dazu anzuhalten, mit seinem Eichhörnchen das Haus zu verlassen. Als er zum Lager zurück kehrte, wirkte der Anführer ihres Teams, als sei gerade seine Welt eingestürzt. Als seien all seine schlimmsten Befürchtungen wahr geworden.

"Saber?"

"April und Fireball sind im Wald von sechs Outridern überrascht worden. Sie haben sie besiegt, aber sie haben sich alle in die Phantomzone geflüchtet, bevor sie auch nur eine Chance hatten, sie zu befragen." Saber holte tief Luft und schloss für einen Augenblick seine Augen. "Johnny und Jesse sind nicht bei ihnen."

"Scheiße!" fluchte Colt laut und zog reflexartig seinen Blaster. Aber es war kein Jesse da, den er bedrohen, den er erschießen könnte, sollte er seinem kleinen Bruder auch nur ein Haar gekrümmt haben.

"Noch sind das alles Spekulationen." Saber öffnete seine Augen wieder und erhob sich. Ein entschlossener Ausdruck lag auf seinem Gesicht. Einen, den er immer trug, wenn sie zu einer Mission starteten oder sich in einen Kampf gegen die Outrider begaben.

"Outrider in den Highlands? Johnny und Jesse gemeinsam verschwunden? Das ist kein Zufall, das war von Anfang an so geplant!" tobte der Cowboy, aber ein ernster Blick von Saber ließ ihn verstummen. Vor ihm stand nicht länger einer seiner besten Freunde, sondern der Anführer des Ramrodteams.

"April und Fireball sind unterwegs, sie sollten gleich da sein." Saber steckte den Kommunikator an seinen Gürtel und nahm seine eigene Waffe in die Hand. "Einer von euch bleibt bei Alex, der Rest sucht die Wälder ab. Bleibt in ständiger Bereitschaft!"

"Und was machst du?"

"Ich werde mit jemandem mal ein wirklich ernstes Wort sprechen!" Saber entsicherte seine Waffe und für den Bruchteil einer Sekunde hatte Colt fast Mitleid mit dem Verräter. Der junge Schotte war nicht nur wütend, er war außer sich vor Sorge. In diesem Zustand war Saber zu allem fähig.
 

***
 

"Sieht für sein Geld aber ganz schön dreckig aus, der Kleine." Lachte der Outrider höhnisch und gab ein kurzes Signal, worauf weitere Schatten auftauchten. Natürlich. Outrider agierten nie allein, sondern immer in Gruppen. Sie waren wie Hyänen, die nur in Rudeln angriffen und sich selbst zerfleischten bei dem anschließenden Kampf um die Beute.

"So ist das mit Menschen eben. Sie werden ständig schmutzig." Jesse holte tief Luft und erhob sich. Johnny lag noch immer neben ihm im nassen Laub und hielt die Taschenlampe wie eine Waffe vor seinem bebenden Körper. Angst war ihm deutlich ins Gesicht geschrieben. Todesangst. Wie damals...
 

"Wir werden die Daten erpressen und anschließend den gesamten Planeten vernichten!" Nemesis war guter Laune und siegessicher. "Und du wirst ihn mir bringen, Jesse Blue."

"Jawohl."

Die dunkle Gestalt erhob sich von seinem Thron und schwebte die Stufen herab zu dem am Boden knienden jungen Mann.

"Die Rasse der Menschen muss vernichtet werden, Jesse. Entweder bist du auf unserer Seite oder auf ihrer. Du weißt, welches Schicksal dich erwartet, wenn du dich auf die Seite der Menschen schlägst."

"Jawohl."

"Gut so."

Nemesis kalte Hand fuhr über seinen Kopf und Jesse unterdrückte nur mit eisernem Willen die Übelkeit, die in ihm empor stieg.
 

Jesse nahm Johnny die Taschenlampe fort und zerrte den zitternden Jungen auf die Beine, hielt ihn nahe bei sich, damit die Outrider nicht auf die Idee kamen, ihm seine Beute zu entwenden.

"Hat aber lange gedauert, bis ihr auftaucht." Der junge Mann stieß den plötzlich erstarrten Teenager an, damit dieser sich in Bewegung setzte. Man durfte sich vor Outridern keine Schwäche leisten, sonst war man sofort tot.

"Du hast es uns aber auch nicht einfach gemacht."

"Strategien, Vanquo, aber davon hast du noch nie was verstanden." Erwiderte er bissig und folgte den fünf Outridern, vier Wranglern und dem Geschwaderführer, die den Weg in der einbrechenden Dunkelheit ohne Probleme sahen. Er leuchtete sich selbst mit der Taschenlampe, vermied es aber, in Johnnys bleiches Gesicht zu sehen. Eines Jungen, der ihm vertraut, der sich um ihn gesorgt hatte - und den er nun auch verraten hatte.

"Menschliche Strategien sind mir herzlich egal, Jesse. Hauptsache wir haben den Jungen. Das wird Nemesis sehr fröhlich stimmen."

"Genau." Stimmte Jesse ihm zu und ignorierte seine Kopfschmerzen, die kaum abgeklungen waren. Für die kommenden Stunden brauchte er klare Gedanken, denn jede falsche Bewegung konnte ihnen das Leben kosten.
 

"Entweder bist du auf unserer Seite oder auf ihrer."
 

Wie vor einer Woche wurde Jesse schmerzlich bewusst, dass er auf keiner von beiden stand. Er hatte sie alle verraten.
 

***



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Kommentare zu diesem Kapitel (3)

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Von:  CharmedWitch
2005-01-18T08:26:39+00:00 18.01.2005 09:26
Hallo,

ich finde die FF auch super klasse, bin super gespannt wie es wohl weiter geht.
Ich schließe mich den Aussagen von babybell an! Bitte lade das nächste Kapitel ganz schnell hoch, bitte, bitte, bitte! :-)

Liebe Grüße
charmedwitch
Von: abgemeldet
2005-01-17T21:35:50+00:00 17.01.2005 22:35
weiter, weiter, weiter
lad bitte das nächste kapi hoch, BIIIIIIIIIIITTE!!!!!!!!!!!!!!!
deine ff ist absolute klasse

*wink* babybell
Von:  Sannyerd
2005-01-17T15:17:40+00:00 17.01.2005 16:17
Hi,

ich finde die FF einfach klasse..

Lieben gruß


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