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Liebe, Leid und Leben

Mamorus Jugend
von

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Es war blödsinnig. Er wusste eigentlich ganz genau, dass es blödsinnig war. Er tat es trotzdem.

Er verzichtete darauf, den Fahrstuhl zu benutzen; der machte immer so einen Krach, wenn er in einem Stockwerk ankam. Deshalb schlich Mamoru auf Zehenspitzen die fünf Geschosse hinauf. Den Schlüsselbund hielt er fest in seiner verschwitzten Hand, damit bloß nicht Metall auf Metall klirren konnte. Vor der Haustüre zur Wohnung zog er die Schuhe aus. Er zielte sorgfältig, trotzdem gab das Schloss verräterische, knackende Geräusche von sich, als der Schlüssel eingeführt wurde. In Mamorus Ohren klang dieses Geräusch wie Kanonendonner nach. Unendlich vorsichtig öffnete er die Tür einen Spalt breit, zog behutsam seinen Schlüssel wieder aus dem Schloss, was auch wieder mit diesem schabenden, knackenden Geräusch verbunden war, und klemmte sich dann seine Schuhe und die Plastiktüte mit Seigis Riesenlatschen so leise unter den Arm, wie es nur möglich war. Leider war es nicht sehr leise möglich, dagegen schien das Plastik vehement etwas zu haben. Auf Zehenspitzen betrat er die winzige Eingangsdiele der Wohnung. Er lauschte mit angehaltener Luft. Kein Laut war zu hören.

Er wusste ja so genau, dass es blödsinnig war! Er hatte die Regeln gebrochen, indem er seinen Hausarrest missachtet und sich nach draußen geschlichen hatte. Und selbst wenn es ihm gelänge, noch dreimal so leise zu sein, es würde ihn nie und nimmer vor dem Donnerwetter bewahren, das ihn jetzt erwartete. Vielleicht, aber auch nur vielleicht konnte er so die Standpauke aufschieben, er konnte sie aber nie und nimmer verhindern. Die Wahrscheinlichkeit, dass seine Tante seine Abwesenheit von mehreren Stunden nicht bemerkt haben könnte, war praktisch gleich null. Eigentlich sollte er sich direkt stellen und auf mildernde Umstände hoffen, wenn er ein Geständnis ablieferte.

Aber was sollte er denn auch gestehen?

Entschuldigung, Tante Kioku, dass ich nicht auf Dich gehört habe, aber ich musste mal eben zum Herrn der Erde werden, vielleicht? Pffft! Das war lachhaft!

Richtiggehend absurd!

...Aber immerhin die Wahrheit...

Vorsichtig drückte er die Klinke herunter und schloss die Tür hinter sich. Fast schon in Zeitlupe zog er seine Jacke aus und hängte sie auf. Dann zwang er sich zu einer extrem ruhigen Atmung und presste den Rücken fest gegen die Wand. So hatte er es schon oft im Fernseher gesehen, bei Actionfilmen, wo Spione und Geheimagenten umherschlichen. Mamoru schüttelte stumm den Kopf. Diese Agenten im Film hatten nie versucht, es mit einem Feind wie seiner Tante aufzunehmen! Das war denen doch ne gewaltige Nummer zu groß!

Er schlich weiter, einen Schritt neben den anderen setzend, die kalte, harte Wand der Diele im Rücken. Er musste nur noch um die Ecke spähen, ob die Luft auch sauber war, dann leise und schemenhaft wie ein Ninja den Flur entlang huschen und lautlos in seinem Zimmer verschwinden, dann hatte er es geschafft. Es klang ja so einfach! Gut, also dann mal los!

Er hielt die Luft an, lehnte sich gerade so weit zur Seite, dass er genug sehen konnte und spähte in den Flur. Was er dort sah, war der Alptraum eines jeden männlichen Wesens! Der Hausdrache persönlich stand da, cool mit der Schulter an die Wand gelehnt, ein Nudelholz in der einen Hand schwingend, den finstersten Blick der Weltgeschichte im Gesicht.

"Ha- Ha- Hallo, Tante Ki- Kioku! N- Nett, Dich zu- zu sehen...", stammelte Mamoru unschuldig grinsend.

"Wo zum Teufel warst Du so lange?", fragte sie ohne Umschweife. Selbst der bösartigste Racheengel hätte nicht so unheilvoll schauen können.

Er zuckte mit den Schultern und trat nun hinter der Ecke hervor. Es hatte ja doch keinen Sinn mehr, jetzt Geheimagent spielen zu wollen.

"Ich hab den Weg zum Müllcontainer nicht sofort gefunden", log er.

"Wie bitte?", donnerte sie jetzt los. "Und zwischenzeitlich bist Du ins Bermudadreieck geraten, oder was?"

Er nickte heftig. "Ja, ja!", bestätigte er. "Ich hab mich auch schon gewundert, das ich auf einmal so knallbunte Sachen getragen hab ... das waren Bermudashorts!"

"Jüngelchen..." Uh, je, sie war übelst sauer, wenn sie ihn so nannte. "...ich bin stinkwütend! Du setzt Dich einfach so über meine Anordnungen hinweg, obwohl Du ganz genau weißt, dass Du Hausarrest hast! Und dann versuchst Du mir hier so einen Bären aufzubinden! Klasse! Große Klasse! Bist Du zumindest stolz auf Dich? Ich kann's nicht glauben, dass Du mich hier so zum Narren hältst!"

Sie schnappte erregt nach Luft. Sie hatte sich anscheinend zur Genüge in Rage geredet. Nun versuchte sie allmählich, ihren Blutdruck wieder zu senken.

"Und jetzt sag mir endlich: Wo warst Du überhaupt so lang?", wollte sie wissen. Die Ruhe, die nun in ihrer Stimme mitschwang, war beinahe noch bedrohlicher als das Donnerwetter von gerade eben.

Er druckste herum und sah betreten zu Boden.

"Ich höre!", drängte sie.

"Das ... das kann ich Dir nicht sagen."

"Und warum nicht?"

"Schweigepflicht."

Darauf lachte Kioku lauthals los. Es klang allerdings weniger humorvoll als umso mehr hysterisch.

"Na, wunderbar!", rief sie aus. "Erst zettelst Du ne Schlägerei mit Deinem besten Kumpel an, nachdem Du seine Freundin ausgespannt hast..."

"Nicht wirklich ausgespannt. Nur geküsst", unterbrach er.

"...wie auch immer! Dann kümmerst Du Dich einen Scheißdreck um die Regeln, die ich aufstelle. Wer weiß, was Du gerade noch alles verbockt hast, wo auch immer Du Dich rumgetrieben haben magst! Und nun bist Du auch noch respektlos mir gegenüber! Was hab ich nur falsch gemacht?"

"Nimm's positiv", meinte er und versuchte, mit einem Lächeln zu retten, was noch zu retten war. "Ich hab's immerhin geschafft, Dich zu überlisten. Und das war alles andere als leicht. Das heißt, Du hast mich zu nem klugen Kerlchen erzogen."

"Ja", seufzte sie, "das hast Du von Deinem Vater geerbt. Den konnte man auch nicht einsperren. Ich sag Dir was, Kleiner, ich hasse die Pubertät. Die war bei mir schon grässlich. Aber Du schießt den Vogel echt ab."

Sie hatte sich anscheinend wieder beruhigt. Zumindest nannte sie ihn wieder <Kleiner>, das war ein gutes Zeichen.

"Danke", meinte er und fiel seiner Tante um den Hals. "Danke, dass Du es mir nicht allzu krumm nimmst. Du bist so verständnisvoll und gütig! Ich hab Dich lieb."

"Versuchst Du gerade, Dich einzuschleimen?", grinste Kioku. Sie schloss ihren Neffen in die Arme.

"Nö. Wie kommst Du denn da drauf?"

"Falls es doch so ist, dann mach Dir lieber keine falschen Hoffnungen, mein Kurzer. Denn eins ist sicher: Nach dieser Aktion hast Du Hausarrest bis Du fünfunddreißig bist."

"Was, so lange willst Du ständig ein Auge auf mich haben? Wird Dir das nicht bald lästig?" Mamoru löste die Umarmung ein wenig und grinste seine Tante an. Diese wies aber nur den Flur hinunter.

"Ab in Dein Zimmer, aber sofort!", lachte sie.

Er setzte sich in Bewegung. Ein schleichendes Gefühl der Unbehaglichkeit ließ ihn allerdings noch mal anhalten. Er drehte sich wieder zu seiner Tante um.

"Hast Du das ernst gemeint? Ich meine, das mit dem Arrest bis ich fünfunddreißig bin?"

Doch als Antwort erntete er nur ein diabolisches Grinsen.

Mamoru seufzte resigniert.

"Eines will ich aber auf jeden Fall noch wissen", meinte er. "Hast Du wirklich die ganze Zeit nur darauf gewartet, dass ich zurück komme?"

"Natürlich nicht!", erklärte Kioku. "Aber man hört doch schon aus einem Kilometer Entfernung, wie Du die Treppe hochgestapft kommst! Und selbst, wenn ich das überhört hätte, was ich nicht habe: Allein das Geräusch, das entsteht, wenn Du den Schlüssel ins Schloss steckst, reicht aus, um einen Bären aus dem Winterschlaf zu reißen."

Mamoru schüttelte seufzend den Kopf. "Du warst in Deinem früheren Leben ein Luchs."

Kioku kicherte darauf nur. "Wegen der guten Ohren?"

"Auch", antwortete Mamoru gedehnt und machte sich schon mal auf den Weg in sein Zimmer. "Aber vor allem, weil Du noch andere Gemeinsamkeiten mit diesen Tieren aufweist." Er öffnete die Tür zu seinen vier Wänden.

"Welche Gemeinsamkeiten?", fragte Kioku in skeptischem Ton.

"Nun ja", antwortete er zögerlich und setzte vorsorglich einen Fuß in sein persönliches Reich, "Luchse sind - wie Du - klein, haarig und unglaublich bissig."

Damit schlug er die Tür hinter sich zu und riegelte sie ab. Und das gerade noch rechtzeitig, ehe Kioku ihm eins mit dem Nudelholz überziehen konnte.
 

Die Nacht war inzwischen angebrochen und legte den Mantel der Dunkelheit über die immer ruhiger werdende Stadt. Der Vollmond und die Sterne strahlten und funkelten heller, als es normal gewesen wäre. Dafür schienen die Lichter und die Geräusche der Metropole gedämpft, als hätte jemand ein feines, dunkles Seidentuch über den Dächern ausgebreitet, das für Ruhe und Frieden sorgen sollte.

Mamoru stand am Balkon, sah in den prächtigen Sternenhimmel hinauf und verbrachte seine Zeit mit nachdenken und träumen. So sehr in das kleine Wunderland seiner Fantasie vertieft, bemerkte er nicht, wie Kioku auf den Balkon hinaustrat, doch er zuckte erschrocken zusammen, als er ihre Stimme hörte:

"Kurzer? Was tust Du da?"

"Erschreck mich nicht so!" Er atmete erst mal tief durch ehe er antwortete. "Ich sehe mir die Sterne an. Heute Abend ist es wirklich wunderschön hier!"

"Und kalt", stellte Kioku bibbernd fest. "Du solltest nicht ohne Jacke rausgehen. Und überhaupt, es ist schon spät. Geh lieber ins Bett."

"Och, nö. Noch nicht." Mamoru versuchte, wie ein kleines Kind zu greinen. Flüsternd fuhr er fort:

"Ich bin hier gerade so glücklich."

Er empfand tatsächlich so ein wohlig warmes Gefühl ums Herz, das ihn sehr zufrieden stimmte. Er hatte zwar noch immer nicht recht begriffen, was genau mit ihm geschehen war und was es für ihn bedeutete, nun zum <Herren der Erde> geworden zu sein, aber irgendwie spürte er keine Angst mehr vor dem, was ihn von nun an erwarten mochte. Es war fast so, als erfülle ihn das Licht des Vollmondes mit einem ungeahnten inneren Frieden.

Lächelnd fuhr ihm Kioku durch die schwarzen Haare, die im Glanz dieser himmlischen Pracht einen starken, bläulichen Schimmer hatten. "Aber nur noch fünf Minuten, hörst Du? Höchstens!"

Sie wandte sich um und wollte gerade wieder im Wohnzimmer verschwinden, als sie Mamoru rufen hörte:

"Hast Du das gerade gesehen?"

Sie drehte sich ihm wieder zu und fragte:

"Was denn?"

Mamoru beugte sich leicht über das Balkongeländer, um besser in den Himmel sehen zu können. Er strahlte über das ganze Gesicht. "Da ist gerade irgendwas runtergefallen! Irgendwas golden Glänzendes!"

"Das war bestimmt eine Sternschnuppe", mutmaßte Kioku und suchte flüchtig den Himmel mit den Augen ab, in der Hoffnung, auch etwas sehen zu können. Doch da war nichts mehr.

Mamoru schüttelte entschieden den Kopf. "Eine Sternschnuppe, die direkt aus dem Mond gefallen kommt? Unmöglich!"

Kioku lachte und legte die Hand auf die Schulter ihres Neffen. "Es war einfach ein Gesteinsbrocken - oder sonst was - der genau zwischen Erde und Mond in der Atmosphäre verglüht ist. Interpretier nicht rein, was nicht drin ist, Kurzer. Oder glaubst Du etwa noch an das Märchen vom Hasen im Mond?"

"Natürlich nicht!", brummelte er verlegen.

"Na also!" Kioku nickte zufrieden. "Ich glaube, die kühle Luft hier draußen tut Dir nicht gut. Komm lieber rein."

"Ich spinne nicht!", empörte sich Mamoru. Dann seufzte er und fügte sich. Mit einem letzten Blick auf den silbernen Vollmond folgte er seiner Tante ins Warme. Als er den Zugang vom Balkon zurück ins Wohnzimmer durchschritt, dachte er dummerweise nicht an den unteren Balken des Türrahmens. Er stieß mit den Zehenspitzen gegen das Holz, verlor das Gleichgewicht und fiel mit einem leisen Schreckensschrei vorwärts. Seine Unterarme fingen das Gröbste des Sturzes auf, dennoch war der Aufprall alles andere als angenehm.

"Mamoru, hast Du Dir was getan?" Kioku kam zu ihm, um ihm aufzuhelfen, doch ehe er auch nur den Mund aufmachen konnte, um eine Antwort zu geben, spürte er ein leichtes Ruckeln und Zittern unter sich. Der Boden vibrierte, wenn auch nur leicht. Geschirr klapperte, lose Schranktüren krachten in kurzen Abständen immer wieder zu und das leise Klingen zusammenschlagender Gläser durchzog den Raum.

"Ein Erdbeben", stellte Kioku fest und kniete neben Mamoru nieder. Doch keine drei Sekunden, nachdem sie das gesagt hatte, war es auch schon wieder vorbei.

"Das ist ja noch mal gutgegangen", lachte sie und half Mamoru auf die Beine.

Er bedankte sich und sah sich dann misstrauisch um. Nachbeben? ... Nein, keine. Irgendwie wusste er, dass es dabei auch bleiben würde. Eigentlich konnte man das nie so genau sagen, aber Mamoru ... fühlte es einfach.

Er rieb sich gedankenverloren die Unterarme. Sie schmerzten leicht vom Sturz.

<War dieses Beben die Reaktion dieses Planeten auf meinen Schmerz?>, überlegte er. <Um Himmels Willen, wie wird die Erde dann erst reagieren, wenn ich mir richtig wehtue? Anscheinend sind wir doch auf eine feinere Art miteinander verbunden, als ich dachte.>

"Ich gehe ins Bett", verkündete er leicht geistesabwesend. Als er gerade in seinem Zimmer ankam, verspürte er wieder dieses eigenartige Stechen und Ziehen in seiner Magengegend, das ihn schon seit längerer Zeit verfolgte. Noch immer konnte er sich nicht wirklich erklären, was es genau war. Seit an diesem Spätnachmittag dieser seltsame goldene Kristall erschienen war, hatte Mamoru nichts mehr von diesem Schmerz gespürt, doch jetzt, wo sich allmählich wieder alles zu beruhigen schien, kehrte er zurück. Mamoru hoffte, dass es nichts Ernstes war und bald verschwinden möge. Er vermutete, es handelte sich dabei um das Leid, das diesem Planeten ununterbrochen wiederfuhr. Immerhin, das wusste der neu erwachte Herr der Erde, wurde diese lebende Insel des Sonnensystems ohne Unterlass von Erdbeben, Vulkanausbrüchen und ähnlichen unangenehmen Dingen heimgesucht. Mamoru biss vor Schmerz die Zähne zusammen.
 

Er lag noch lange wach. Auch als Seigi und Kioku längst im Bett lagen, und es auf Mitternacht zuging, vermochte er kein Auge zuzutun. Seine Gedanken schwirrten immer noch um den goldenen Kristall, der ihn heute zum Herrn der Erde gemacht hatte, um den langgezogenen, leuchtenden Streif, den er an diesem Abend am Himmel gesehen hatte, und um das Erdbeben, das ihm gezeigt hatte, wie eng er doch mit diesem Planeten verbunden zu sein schien. Zwischenzeitlich machten sich immer wieder die Schmerzen in seinem Bauch bemerkbar, die auch nicht sehr schlaffördernd waren.

Aber irgendwann versank er doch noch im Reich der Träume.

Dort ging er Hand in Hand mit Hikari in einem Wald spazieren. Die Bäume waren beeindruckend groß. Hier und da drangen einige Sonnenstrahlen durch das sonst so dichte Blattwerk der majestätischen Riesen. Schmetterlinge schwirrten umher, ihre Flügel waren groß und schillerten in den schönsten Farben, die man sich nur vorstellen konnte. Überall vernahm man ein Rascheln und das Knacken von trockenen Ästen. Ein Bild des Lebens und des Friedens.

Mamoru warf einen raschen, verliebten Blick auf Hikari. Sie war in der Realität schon so atemberaubend schön, dass sie nicht mal im Traum noch schöner dargestellt werden konnte. Beide lachten vergnügt, während sie den Wald durchschritten.

Doch mit einem Male verschwand Hikari. Sie löste sich einfach in Luft auf.

Goldfarbene Nebel, die von selbst zu leuchten und zu schimmern schienen, versperrten Mamoru die Sicht. Der Dunst verdichtete sich schnell weiter und bald war der Wald nicht mehr zu sehen. So laut er auch nach Hikari rief, sie blieb spurlos verschwunden. Als hätte der Nebel sie einfach verschluckt.

Mamoru ging weiter, in irgend eine Richtung, ohne auf irgend ein Hindernis zu stoßen. Er lief immer schneller, rannte zum Schluss und kam doch nirgendwo an. Mit einem Male blieb er stehen. Trotz der Rennerei ging sein Atem ganz ruhig. Die Nebel zogen sich leicht zurück und ließen einen Blick auf den silbernen Vollmond zu, der anscheinend in sekundenschnelle die Sonne von gerade eben abgelöst hatte. Wieder erschien das winzige goldene Licht vor dem Mond und stürzte, einen leuchtenden, goldfarbenen Schweif hinter sich herziehend, zu Boden. Die Nebelschwaden wurden wieder etwas dunkler, aber es war ein angenehmes, schützendes Dunkel, wie in Ehrfurcht; als wollten sie den kleinen goldenen Neuankömmling nicht erschrecken.

Mamoru rannte auf die Stelle zu, an der das Ding heruntergekommen sein musste. Der Vollmond verschwand allmählich hinter dem dichter und dunkler werdenden Nebel. Die Stimme einer jungen Frau ertönte. Er hörte sie nur, aber er konnte durch den dichten Nebel hindurch nichts erkennen. Diese Stimme kam ihm bekannt vor, aber er konnte sie nicht wirklich zuordnen. Sie lachte vergnügt. Dann sagte sie:

"Endymion?"

Eine männliche Stimme, die Mamoru ebenso eigenartig vertraut vorkam, antwortete:

"Ja?"

Da fragte die Frau:

"Sag mal, liebst Du mich?"

"Ja, das tu ich", antwortete er.

Sie wollte wissen:

"Und wie sehr?"

Er antwortete:

"Mehr als mein Leben."

Mamoru wunderte sich. Aus welchem Grund kamen ihm diese Stimmen so vertraut vor? Waren das vielleicht die Stimmen seiner Eltern? Aber der Name seines Vaters hatte nicht Endymion gelautet, sondern Keibi! ... Oder war das womöglich nur ein Kosename, von dem niemand gewusst hatte?

... Wenn es denn hier tatsächlich um seine Eltern ging! ...

Plötzlich erschien ein Blitz vor Mamorus Augen. Alles wurde völlig schwarz um ihn herum. Blutrot schimmernde Nebelschwaden krochen wie böse Geister umher; nicht greifbar, und ebenso tödlich wie körperlos. Der gellende Schrei der Frau zerriss die Finsternis:

"ENDYMION! ... ENDYMIOOOOOOOOOON!!! ... BITTE NICHT! ... NEIN!"

Inmitten der Dunkelheit und der roten Nebel erschien ein silberner Strahl, der senkrecht in den Himmel emporschoss und sich in der Unendlichkeit verlor. Ein Schemen bewegte sich darin.

Da erst erkannte Mamoru die Silhouette: Es war die unbekannte Frau mit den langen, goldenen Haaren, die ihn schon so oft in seinen Träumen gerufen hatte.

Er vernahm die sanfte Melodie einer Spieluhr, die plötzlich allgegenwärtig durch den Raum tönte. Es war eine wunderschöne, beruhigende Melodie, die Mamoru früher einmal gehört, und dann wieder vergessen hatte.

Ein sanfter Wind strich durch die rot glühende Dunkelheit und spielte mit den goldenen Haaren der Unbekannten.

"Nur der Silberkristall kann uns jetzt noch helfen", sagte die Frau, und ihre Stimme klang hilflos und traurig, aber auch irgendwie fordernd und immer noch voller Hoffnung. "Der Silberkristall hat die Macht, unsere Träume wahr werden zu lassen. Du musst ihn unbedingt finden! Wenn Du ihn findest, dann findest Du auch Dich selbst und Deine Erinnerung wieder!"

"Aber wie soll ich das machen?", entgegnete Mamoru. "Und was ist überhaupt heute geschehen? Was war das heute für ein eigenartiger, goldener Kristall? Wer bist Du? Und vor allem: Wer bin ich?"

"Ich weiß, das alles ist sehr viel für Dich. Aber der Silberkristall wird all Deine Fragen beantworten. Er wird Dir die vergangene Zeit offenbaren und Dir Deinen Weg weisen. Bis Du den Silberkristall gefunden hast soll Dir der Goldene Kristall als Freund, Begleiter und Werkzeug dienen. Er ist das Symbol des Lebens, die Energiequelle der Erde und der Schutzpatron der Träume. Er wird Dir Deine Suche erleichtern. Denn er war schon vom Anbeginn der Zeit an mit dem Silberkristall verbunden. Und nun, Herr und Krieger der Erde, wird es Zeit für Dich, mit der Suche fortzufahren. Das hier soll Dir dabei behilflich sein..."

"Krieger?", fragte er verblüfft nach. Doch darauf erhielt er keine Antwort.

Die Melodie war plötzlich nicht mehr allgegenwärtig, sondern sie kam aus einer sanft schimmernden, goldenen Kugel, die sich vor Mamoru materialisierte. Er griff beherzt in die Kugel hinein und spürte etwas kleines, hartes. Die Kugel verschwand, und in seiner Hand lag eine goldene, sternförmige Spieluhr.

"Diese Spieluhr besitzt eine außergewöhnliche Macht", erklärte die Fremde. "Sie wird die Kräfte, die zwischen Dir und Deinem Planeten wirken, regulieren und kontrollieren."

Er sah auf. Als er sich bei der Fremden für das Geschenk bedanken wollte, war sie verschwunden. Dann war der Traum vorbei und Mamoru schlug die Augen auf.

Er fühlte sich müde, so unendlich müde und abgekämpft. Gerade so, als wäre das alles nicht nur ein Traum gewesen. Der kühle Nachtwind strich über sein Gesicht.

<Moment mal, hier stimmt doch was nicht.>

Schlafwandelte er etwa? Er stand irgendwo mitten in der Stadt in einer schmalen Seitengasse und blickte verwirrt um sich.

<Was zum Teufel tu ich hier? Und wie bin ich hier her gekommen?>

Er kratzte sich am Kopf und erstarrte. Dann nahm er sich den schwarzen Zylinder ab.

<Was zum...>

Als er weiter an sich heruntersah, erschrak er nur noch mehr. Er trug plötzlich einen teuer aussehenden schwarzen Anzug, einen weiten schwarzen Umhang, der in der Innenseite aus roter Seide gemacht war, dazu weiße Handschuhe, einen Gehstock und eine weiße Maske über den Augen, die er erst ziemlich spät bemerkte. Er nahm sie ab, schüttelte überrascht den Kopf und versuchte sich zu orientieren. Er sah sich um und lauschte in die Nacht hinein. Dumpf erklang eine Melodie. Er hatte sie in seiner Verwirrung und seiner Orientierungslosigkeit die ganze Zeit überhört, doch nun suchte er hektisch nach dem Ursprung des Liedes. Er kramte in den Taschen seines Smokings und zog bald überrascht die kleine Spieluhr hervor.

<War es mehr als ein Traum? Ist das hier etwa das Ding, das vorhin aus dem Mond gefallen ist?>

Ungläubig kniff sich Mamoru in den Arm. Schmerzhaft stellte er fest, dass das hier tatsächlich die Realität war. Des weiteren bemerkte er, dass nicht sofort ein Erdbeben antwortete. Anscheinend half ihm die Spieluhr tatsächlich dabei, die Kräfte zu kontrollieren, die zwischen ihm und dem Planeten herrschten.

Er klappte den Deckel der Spieluhr zu und steckte sie wieder ein. Er konnte sich nicht wirklich vorstellen, wie ihm die Spieluhr die Suche nach dem Silberkristall erleichtern sollte, aber er war jetzt so oder so viel zu müde zum Nachdenken, er wollte nur noch nach Hause und ins Bett. So sah er sich nach Straßenschildern um. Er huschte durch die Stadt wie ein schwarzer Schatten, wie ein Gentlemaneinbrecher.

Er fand bald den Weg zurück in die Wohnung seines Onkels und seiner Tante. Mamoru beschloss, sich morgen Gedanken über die eigenartigen Vorkommnisse zu machen. Jetzt war er nur noch todmüde.

Als er sich - zum zweiten Mal in dieser Nacht - seinen Schlafanzug überstreifte, spürte er wieder das qualvolle Stechen in der Nähe seines Magens.

Spieluhr hin oder her, die Schmerzen, die sich über seinen gesamten Bauch hinweg spannten, waren noch immer nicht verflogen. Mamoru schüttelte verwirrt den Kopf, als er darüber nachdachte. Entweder, seine neuen <Hilfsmittel> konnten das Leid dieses Planeten doch nicht ganz von ihm abwenden, oder aber, er war ernsthaft krank. Er wusste beim besten Willen nicht, vor welcher Möglichkeit er mehr Angst haben sollte...
 

Als er nur wenige Stunden später wieder erwachte, waren die schwarzen, teuer aussehenden Klamotten, die er definitiv gestern auf seinem Sessel abgelegt hatte, spurlos verschwunden. Nur die Spieluhr lag noch da.



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  RallyVincento
2005-07-29T10:41:19+00:00 29.07.2005 12:41
supi geschrieben wie immer, endlich ergibt alles ein Sinn.

Ich weiß gar net was ich noch schreiben soll, steffinator hat eigentlich schon alles gesagt.
Also schnell weiter schreiben

*knuddel* HDGDL
Von: abgemeldet
2005-07-28T12:26:18+00:00 28.07.2005 14:26
Nudelholz? *lach* Ich habe mir das bildlich vorstellen können!^^

Dieses Kapi war unglaublich, irre, genial, einfach nicht zu übertreffen. Es war eine unglaubliche Idee, die Spieluhr mit hineinzubringen. Ich habe mich schon immer gefragt wie Mamou überhaupt in den Besitz gekommen ist, schließlich ist eine Menge Zeit vergangen, seid Serenity Endymuion diese Uhr geschenkt hat. Dieses Problem hast du wirklich geschickt gelöst!

Ich fand die Balkonszene auch sehr bewegend!^^

Besonders gut fand ich die kleine Traumsequenz. Mamoru hat ja nun schon etwas mehr erfahren. Jetzt da Tuxedo kamen erwacht ist (auch logisch gelöst) kann es ja nicht mehr lange dauern bis er seine Vergangenheit wieder findet.

Du machst es aber auch spannend, theoretisch müsste Mamoru ja bald seine Tante überreden ne eigene Wohnung zu bekommen!^^

Ich bin mal gespannt was mit Mamorus Magen los ist, schreib schnell weiter. Ich will unbedingt wissen, wie es weiter geht und ob sich Mamorus Leben bald komplett wandeln wird.

*Daumen hoch*
Lg *g*^^


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