Zweifel
Es vergingen zwei Wochen. Zwei Wochen in denen ich schlecht schlief, in denen ich so lange wie noch nie über einen anderen Mann nachdachte, in denen ich mich einfach selbst nicht mehr verstand. Und mit jedem Tag, der verging, sehnte ich mich mehr nach ihm.
Hatte ich mich etwa, ohne es selbst zu merken, in ihn, einen Mann verliebt?
Ich traute mich kaum darüber nachzudenken, geschweige denn es irgendwie auszusprechen.
Aber vielleicht sollte ich wenigstens beginnen, mir gegenüber ehrlich sein, vielleicht sollte ich mich endlich vollends von Anne trennen, vielleicht sollte ich zu ihm gehen und mit ihm reden... aber zu nichts hatte ich wirklich den Mut.
Anne versuchte ich so gut es ging aus dem Weg zu gehen, was aber meist nicht wirklich gelang. Zwar erfand ich nun immer mehr Vorwände, um mich nicht mit ihr treffen zu müssen, doch ab und zu klappte es einfach nicht und so trafen wir uns halt doch.
Ich weiß nicht, ob sie merkt hat, dass etwas mit mir los ist, ob sie merkt, dass ich seit zwei Wochen versuche, ihr etwas zu sagen, jedoch immer wieder einen Rückzieher mache, ob sie merkt, dass ich sie ständig nach Julian frage...
Eigentlich habe ich das Bedürfnis, darüber zu reden, mich jemandem mitzuteilen... doch wem? Ich habe nur wenige Menschen, denen ich wirklich vertraue, und selbst bei ihnen fällt es schwer, über dieses Thema zu sprechen, selbst ihnen habe ich noch nie alles von mir offenbart.
Der wohl wichtigste von ihnen ist Tom.
Vor ein paar Tagen, an einem Abend, den ich mit ihm verbrachte und etwas zu viel getrunken hatte, hätte ich es ihm tatsächlich fast gesagt. Es war, weil er nach Anne fragte... Ich antwortete, dass ich im Moment ernsthaft überlegte, die Sache zu beenden und natürlich wollte er wissen, wieso so plötzlich... und für einen Moment war ich wirklich gewillt, es ihm zu sagen, ihm zu sagen, dass diese Überlegung mit meinen merkwürdigen Gefühlen einem Mann gegenüber zusammen hingen...
Doch als ich in seine neugierigen Augen sah, bekam ich wieder Angst.
Wie würde er reagieren, er, der mir meinen ersten Kuss geraubt hatte, und nun glücklich und nach gesellschaftlicher Richtigkeit mit einer Frau zusammenlebt? Was würde er, mein besten Freund sagen, tun, denken?
Würde er sich abwenden?
Und so erfand ein neues Lügengespinst, sagte, dass ich es einfach nicht mehr aushielt, dass ich mir sicher war, mit ihr nie glücklich werden zu können.
Ich denke schon, dass er mir glaubte und nicht merkte, dass ich den wahren Grund nicht sagen wollte... Er ging einfach nicht länger darauf ein und einerseits war ich wirklich froh darüber, anderseits von mir selbst enttäuscht.
So kann es nicht weiter gehen!
Ja... das schon, aber was genau empfinde ich für Julian?
Oder noch besser... was empfindet er für mich?
Bringt es überhaupt etwas, über die ganze Sache nachzudenken, oder kann sie eh nie ein gutes Ende nehmen?
Er hat mich geküsst, hat sich an mich gedrückt, ein Kribbeln in mir ausgelöst, und sich anschließend wieder von mir entfernt.
Was empfindet er? Empfindet er überhaupt irgendwas, oder mache ich mich damit zum Affen, darüber nachzudenken, dass er sich freuen könnte, wenn ich wieder zu ihm komme?
Ein Teil von mir glaubt wirklich daran, der andere meldet sich immer öfter in letzter Zeit, sagt mir, dass Julian mich nur aus Spaß geküsst hat, dass ich mir keine Hoffnungen machen soll.
Ich weiß einfach nicht mehr, was ich denken soll.
Der Kuss war so wunderschön gewesen, dieses innige Gefühl der plötzlichen Verbundenheit.
Die ersten Tage habe ich kaum gewagt, darüber nachzudenken, aus Angst jemand könnte mir diese Gefühle ansehen, aber irgendwann ging es nicht mehr, die Gedanken ließen sich nicht mehr verdrängen.
Und nun... Ständig sehe ich ihn vor mir, mit diesen wunderschönen Augen, diesem warmen Lächeln. Ständig wünsche ich ihn mir herbei, ständig kämpfe ich mit dem Gedanken, einfach zu ihm zu gehen.
Doch was würde das bringen?
Gewissheit?
Worüber?
Über seine Gefühle oder über meine?
Ist es nicht erst mal viel wichtiger, mir darüber klar zu werden, was ich selbst fühle? Bevor ich irgendetwas ändere, muss ich nicht erst mal mir selbst sicher sein? Muss ich nicht erst mal wissen, was ich eigentlich wirklich für Julian empfinde...
Liebe ich Männer?
Liebe ich ihn?
Kann ich so ein Leben leben?
Schwulsein. In der heutigen Gesellschaft nicht mehr so schlimm wie früher, aber doch anders. Immer noch Leute, die einen schräg ansehen, einem gar aus dem Weg gehen, immer noch das Gefühl der Minderwertigkeit, wenn man mit seinem Freund durch die Stadt gehen würde, und sich dabei irgendwie eindeutig verhält, eventuell sogar küsst.
Ist es nicht genau so?
Würde ich überhaupt je den Mut haben, in der Öffentlichkeit seine Hand zu halten, mich dabei gut fühlen?
Würde ich dazu stehen können?
Oder werde ich den Rest meines Lebens dies Versteckspiel spielen? Mich für die restliche Zeit vor allen und mir selbst verstecken, eine Beziehung mit einer Frau eingehen und Kinder kriegen, nur um zu zeigen, dass ich ja ach so normal bin?
Welches Leben wäre leichter zu leben? Welcher Weg besser zu gehen?
Und kann ich so eine Entscheidung überhaupt treffen?
~ * ~
Als ich an diesem Novemberabend Anne abhole, um mit ihr Essen zu gehen, habe ich noch immer keine Entscheidung getroffen.
Was soll ich tun? Soll ich es ihr heute sagen? Heute ehrlich mit ihr und mir selbst sein?
Diese Gefühle, diese Sehnsucht, die ich nach ihrem Bruder verspüre, es will einfach nicht aufhören, mich nicht loslassen. Eigentlich will ich mit ihm unterwegs sein, eigentlich will ich ihn küssen, eigentlich will ich, dass er meine Hand hält.
Eigentlich will ich es ihr endlich sagen, allein schon, um auch ihr nicht noch mehr weh zu tun.
Nun sitzt sie mir im Restaurant gegenüber, sieht mich, während sie isst, immer wieder mit ihren liebevollen Augen an, die mich geraumer Zeit nur noch an ihn erinnern.
„Anne...“ Ich schlucke, sehe auf meinen Teller hinab. „Ich muss mit dir reden...“
Der erste Schritt ist getan, doch zu heißen hat das nichts. Wie oft habe ich es in den vergangen Tagen versucht, und jedes Mal habe ich einen Rückzieher gemacht. Auch dies Mal wieder sieht sie mich interessiert an, wartet darauf, dass ich ihr etwas sage. Ich will mir gar nicht ihren Blick vorstellen, wenn sie es wirklich erfährt...
Gerade, als ich etwas sagen will, klingelt ihr Handy. Sofort wird sie knallrot, zerrt das kleine Ding aus ihrer Handtasche und meldet sich.
„Ja?... nein, ich sitz grad mit Alex beim Italiener... nein.... ja... okay, mache ich.... bis dann... tschüss.“ Sie lächelt, packt das Handy wieder weg und wirft einen peinlich berührten Blick im Restaurant herum. Dann sieht sie mich an. „Das war Julian, ich soll dich grüßen...“
Ich spüre, wie mein Lächeln verschwindet, meinem Gesicht wahrscheinlich alle gesunde Farbe entweicht. Meine Hände beginnen zu zittern.
Noch immer sehe ich in ihre Augen, wie fröhlich sie gerade gewirkt haben, als sie mit ihrem Bruder telefoniert hat.
Wird es auch noch so sein, wenn sie die Wahrheit über mich weiß? Wenn ich gar, wie in meinen wildesten Träumen, mit ihm zusammen käme? Wird das nicht alles zerstören, was die beiden füreinander sind, was er für sie ist? Was wird sie tun, wenn ihr Ex mit ihrem Bruder glücklich ist?
Kann ich das wirklich tun... sie so verletzen?
„Was hast du, Alex? Ist dir nicht gut?“
Ich starre hinab auf meinen Teller, auf dem noch fast alle Tortellini zu finden sind. Der Koch wird sie wegkippen müssen, dabei sind sie wirklich lecker gewesen...
„Anne... ich muss dir etwas sagen....“
ENDE Kapitel 4