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DOLL

von

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Prolog

Schwach klingende, aber stetige Schritte erfüllten die in Dunkelheit getauchte Halle, die nur durch den kargen Schein des Kronleuchters den Weg durch das Labyrinth aus exotischen Pflanzen, Regalen voll mottenzerfressener Bücher und gläsernen Apparaturen enthüllte. Er kannte ihren Nutzen nur zu gut, aber in seiner Verzweiflung hätte er sie am liebsten in abertausend Scherben zerschlagen. Nichts konnten sie ändern an seiner unbändigen Wut auf sich selbst. Im flackernden Licht wirkte er noch gespenstischer, als er durch seine blasse Haut und die stechenden Augen ohnehin wirkte. Wie rote Glühwürmchen tänzelten sie in der Luft, wenn er durch die Dunkelheit schritt.

Es lag so wenig Menschlichkeit in seinen Augen, dass er es vermied, sich im Spiegel zu betrachten. Er hasste sein Gesicht.

Die Treppe, die sich am Ende des Saales empor schlängelte, knarrte unter seinen dumpfen Schritten. Wie alt diese Ruine wohl sein musste, die er seit seiner Geburt sein Heim nannte? An vielen Stellen waren Ziegel aus der Wand gebrochen, Schleier aus Staub bedeckten die oberen Stockwerke und jene Zimmer, die er selten besuchte. Vielleicht sollte er doch darüber nachdenken, eine Haushälterin einzustellen, die ihm eine Weile Gesellschaft leisten könnte. Aber da sie ohnehin nicht verstanden hätte, was in ihm vorging, bevorzugte er die Einsamkeit. Kein Mensch könnte sein Leiden jemals begreifen. Und doch sehnte er sich wie kein Anderer nach der menschlichen Nähe, die ihn letztendlich zerstören würde.

„Warum kann ich es nicht haben?“

Seine Stimme klang so verweint wie die eines Kindes, gleichsam zornig wie die eines alten Veteranen, als bemühte er sich um Leibeskräfte, all seinen Hass und seine Zweifel in diese Frage zu legen. Er erwartete keine Reaktion, denn wer außer der alten Standuhr mit ihrem monotonen Ticken würde ihm schon antworten? Allein in diesen Trümmern war er dazu verdammt, von der Last dieser Frage zerfressen zu werden. Kein Entkommen, nichts würde sich ändern – oder etwa… doch?

Sollte er einen erneuten Versuch wagen, diesem Wahnsinn zu entkommen?
 

Er wusste, was er zu tun hatte.
 

Die Hände getränkt von Öl und Schweiß, zerkratzt von den Werkzeugen, die sich wie in Trance von selbst in seinen Händen bewegten, das gespenstische Gesicht gezeichnet von den Nächten ohne Ruhe, doch zufrieden mit sich selbst begutachtete er sein Werk. Wie vollkommen sie ihn anblickte mit ihren ausdruckslosen, gläsernen Augen. Sie war kein Mensch, genauso wenig wie er. Mit seinen eigenen Händen hatte er sie erschaffen wie ein Gott. Sie war der Schlüssel. Nie war er sich so sicher gewesen.

„Bring es mir“, herrschte er sie an in seinem Wahn, „hol mir zurück, was ich mehr begehre, als alles andere! Es steht mir zu, nur mir. Es ist meins!“

Und während er zu ihr sprach, senkte sie den Kopf, beugte den Rücken, sodass die schimmernden, metallenen Flügel an ihren Schulterblättern zu ihm aufragten, und antwortete, als gäbe es nichts Selbstverständlicheres für eine Puppe: „Ja, mein Meister.“
 


 

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Ein kleiner Vorgeschmack, im 1. Kapitel geht's dann richtig los. Danke für's lesen. <3

Rot und grün

„Hast du schon gehört?“

„Ja, ja, natürlich, jeder spricht davon! Sie soll wunderschön sein und ihr Gesang einem jeden, der ihm lauscht, den Atem rauben! Wie schade, dass niemand weiß, wo sie versteckt gehalten wird.“

Das Getuschel der Hausfrauen, die am Marktplatz kleine Grüppchen gebildet hatten, war nicht zu überhören, wenn man die Hauptstraße überquerte. Beladen mit Körben voller Kartoffeln, Blumen und Brot hielten sie an, um einen kurzen Plausch mit den Nachbarinnen zu halten und die neusten Gerüchte auszutauschen. Kaito wusste, dass er alles über die Geschehnisse außerhalb der Stadt erfahren würde, wenn er bloß den Frauen lauschte. Seitdem seine Schwester unerwartet erkrankt war, hatte er seine Arbeit als Söldner aufgegeben und sich in einer kleinen Hütte jenseits des Marktes niedergelassen, die seit jeher in Familienbesitz lag. Der Zustand seiner Schwester hatte sich in den letzten Wochen erheblich verschlechtert, was zur Folge hatte, dass er die Stadt kaum noch verlassen konnte. Stattdessen wachte er den Großteil des Tages an ihrem Bett und machte medizinische Besorgungen während sie schlief. Doch mit jedem Kraut, das keine Wirkung zeigte und jedem Arzt, der ihm kopfschüttelnd versicherte, er habe eine derartige Krankheit noch nie gesehen und könne nichts mehr für sie tun, verlor Kaito an Zuversicht.

„Wie gern würde ich diese Puppe mit ihrer göttlichen Stimme einmal singen hören“, schwärmte eine untersetzte Dame, die in ihrer Euphorie eine Tüte grüner Äpfel fielen ließ, die nun bis zu Kaitos Füßen hinüberkullerten. Hastig sammelte er sie auf. Einen besseren Vorwand, mehr über die Geschichte zu erfahren, würde er kaum finden.

„Entschuldigung“, wandte er sich an die Frau, indem er ihr die Äpfel übergab, „was für eine Puppe meint Ihr?“

„Ach, mein Junge, hast du es denn noch gar nicht gehört? Alle reden sie davon. Weit weg von hier soll es eine Puppe geben, deren Gesang magische Kräfte besitzt. Niemand weiß, ob sie wirklich existiert, aber viele sollen sich auf den Weg gemacht haben, sie zu suchen. Ihre Kräfte sollen so mächtig sein, dass selbst der König seine Männer ausschickt, um sie sich zu Eigen zu machen.“

„Eine magische Puppe?“ Irritiert senkte Kaito den Blick, während die Frau dankte und sich wieder unter das Getümmel des Marktbetriebes mischte, um ihre restlichen Einkäufe zu tätigen. Kaito blieb zurück und starrte auf den Boden, auf dem ein einzelner Apfel lag, den er beim Aufsammeln wohl übersehen hatte. Er hatte viele absurde Geschichten gehört, die sich am Ende oft als Hirngespinst geschwätziger Menschen herausgestellt hatten, alte Sagen und Legenden, die man sich zum Zeitvertreib erzählte, um dem öden Alltag für einen Moment zu entkommen. Als er noch ein Kind war, hatte er solche Erzählungen auch geliebt. Aber spätestens seit Kaikos Erkrankung hatte er jeglichen Glauben an eine Magie verloren, die größere Stärke versprach als die der Heiler, die er in seiner Not aufgesucht hatte.

Die Kirchturmuhr schlug schon zur Mittagsstunde, es wurde langsam Zeit, nach dem Rechten zu schauen. Geistesabwesend hob Kaito den Apfel auf und machte sich auf den Weg zurück. Der Heiltrank in seiner Tasche, den er einem reichen Händler abgekauft hatte, würde vielleicht helfen, das Fieber für einen Moment zu senken, doch kurieren würde er seine Schwester nicht. Aber er wollte nicht aufgeben. Es musste einen Weg geben, diese Krankheit aufzuhalten. Andernfalls würde sie nicht mehr lange durchhalten.
 

„Ich bin wieder zu Hause.“

„Wird auch Zeit, du Idiot! Die Kleine hat im Schlaf furchtbar geschrieen, muss wohl ein Alptraum gewesen sein, da bin ich rüber gekommen.“ Meiko hatte sich neben Kaikos Bett gesetzt, die Beine locker über den Tisch geschlagen und blickte Kaito missbilligend an. In der einen Hand hielt sie ein feuchtes Tuch, mit dem sie versuchte, Kaikos Stirn abzukühlen, in der anderen einen Revolver, den sie ihrem Kindheitsfreund grinsend entgegenstreckte, als wollte sie ihn für sein Verhalten bestrafen.

„Tut mir Leid, ich war noch auf dem Markt. Danke für deine Hilfe.“

Lachend schwang Meiko ihre Waffe und steckte sie zurück in den Halfter. Ihr Lachen klang nicht anders als vor Jahren, so wie Kaito es kannte, ein wenig hämisch, aber trotzdem freundlich. Seit jeher waren die Beiden Freunde gewesen, obwohl Meiko nicht gerade ein einfacher Mensch war. An der Art jedoch, wie sie sich um seine Schwester kümmerte, konnte er ihre weiche Seite erkennen. Sie war kein schlechter Mensch, das wusste er und dafür schätzte er sie.

Meiko hatte einige Teller auf dem Tisch verteilt und ein großer Topf lag zu ihren Füßen. Der Geruch, der davon aufstieg, war würzig und beißend. Den Kopf an die Wand gelehnt zeigte sie darauf und sagte: „Hab euch ’nen Eintopf gemacht, schmeckt wahrscheinlich nicht so berauschend wie Kaikos Drei-Sterne-Küche, aber besser als nichts. Hau rein, bevor’s kalt wird, nicht dass du mir als Nächster hier im Bett liegst.“

„Danke, Mama“, antworte Kaito ironisch und die Beiden brachen in Gelächter aus, verstummten jedoch schnell wieder in der Gesellschaft der kranken Kaiko. Er wusste genau, dass Meiko mit der Küche auf Kriegsfuß stand, nahm sich aber trotzdem einen Teller. Dann sah er besorgt zu seiner Schwester. Ihre Wangen waren rot angelaufen und Schweißperlen lagen ihr auf der Stirn. Meiko reichte ihrem Freund das Tuch.

„Das Fieber will einfach nicht runter. Haste nicht was mitgebracht?“

„Ich glaube nicht, dass die Medizin daran viel verändert.“ Kaitos Stimme klang trübsinnig, als er den Heiltrank neben seinen Teller stellte. Mit düsterem Blick starrte er zwischen seinem Löffel und der rötlichen Flüssigkeit hin und her. „Wahrscheinlich ist das wieder nur eine billige Pansche, die für viel Geld angeboten wird, obwohl sie keinerlei Wirkung zeigt. Es ist doch immer das Gleiche. Vielleicht sollte ich ihr den Trank gar nicht -“

„Jetzt hör aber mal auf, Kaito!“, fauchte Meiko ihn an und schlug ihm den Löffel aus der Hand. „Wenn du dich hören könntest! Als hättest du längst aufgegeben! Was soll deine Schwester von dir denken?!“

Kaito wusste nicht, worüber er erschrockener war, seine eigene Mutlosigkeit oder Meikos Reaktion darauf. Er wischte sich die Suppe aus dem Gesicht, die durch den heruntergefallenen Löffel in alle Richtungen gespritzt war, während er nach einer Erklärung suchte. Aber er kam nur zu dem Schluss, dass sie Recht hatte. Seufzend rutschte er den Stuhl hinunter und ließ den Kopf hängen. Es musste einen Weg geben. Es musste einfach einen Weg geben, Kaiko zu helfen.

„Sag mal Meiko“, begann er nach einer Weile des Schweigens, „hast du je von einer Puppe gehört, deren Gesang magische Kräfte besitzen soll?“

„Was soll das denn jetzt? Aber ja, habe ich, die Kerle im Wirtshaus sprechen alle davon, wie toll die sein soll. Blabla engelsgleiche Stimme hier, blabla wunderschönes Gesicht da, du kennst das ja, über die Bardame sagen sie nichts anderes. Nur dass sie wohl übermenschlich starke Magie besitzen soll, keine Ahnung, was man damit alles treiben könnte, aber sieht so aus, als wären sie alle dahinter her. Einige aus der Stadt sind wohl schon los, um sie zu suchen. Was für Idioten. Werfen ihr Leben für die Suche nach einem Spielzeug weg. DOLL nennen die sie, wenn dich das interessiert.“

„Glaubst du, dass sie wirklich existiert?“

„Ach, komm, wer außer den Säufern glaubt denn bitte noch an so was? Ist schon schwer genug, heutzutage ’nen anständigen normalen Magier zu finden zwischen all den Flaschen, wenn du mich fragst.“ Spöttisch beäugte sie ihren Gegenüber, wie er in seiner Suppe herumstocherte. Sie versuchte, aus seinem Blick zu lesen, worauf er hinaus wollte, doch der gab außer Hoffnungslosigkeit nicht viel preis. Als sie jedoch die Flasche mit der Medizin, die tatsächlich nicht besonders genießbar auf sie wirkte, betrachtete, schien sie zu verstehen und fragte entgeistert: „Du willst doch nicht etwa die Magie dieser Puppe benutzen, um Kaiko zu heilen?“

„Wäre das so abwegig?“

„Kaito, das ist nur ein Gerücht, kein Schwein weiß, ob es dieses Ding wirklich gibt! Willst du etwa nach dieser Wunderpuppe, die es vielleicht gar nicht gibt, suchen, nur weil die klitzekleine Möglichkeit besteht, dass sie deiner Schwester helfen kann?“

„Hast du nicht eben selbst gesagt, dass ich nicht aufgeben soll?“

Er hatte Recht. Das brachte Meiko zwar ins Grübeln, trotzdem legte sie den Kopf in die Hände und verfluchte sich insgeheim dafür, ihn in dieser Sache bekräftigt und von ihrem Wissen erzählt zu haben. Wenn er sich erst einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte, war er nur schwer wieder davon abzubringen. Und obwohl sie ihn wegen seines Missmutes angefahren hatte, wusste sie, dass Kaito alles in seiner Macht stehende tun würde, um Kaiko zu helfen.

„Nehmen wir mal an, die Gerüchte stimmen und diese DOLL existiert tatsächlich. Wie willst du sie dann überhaupt finden? Es scheint ja niemand ’ne wirkliche Ahnung zu haben, wo man nach ihr suchen sollte.“

„Eine Frau am Markt meinte zu mir, dass auch König Al seine Männer ausgesandt hat, um die Puppe zu finden. Wenn dem so ist und die Gerüchte auch in der Hauptstadt kursieren, ist es wahrscheinlich, dass ich dort einen Hinweis erhalten kann.“

Meiko konnte sich ein Lachen nicht verkneifen.

„Die Hauptstadt! Du bist wirklich naiv. Aber gut, ich bin dabei, irgendwer muss ja auf dich aufpassen, wenn du auf Weltreise gehst.“

„Wie?“

„Idiot.“ Ein Grinsen zierte Meikos Gesicht, als sie an Kaikos Bett heranrückte und ihr wieder ein kühles Tuch auflegte. Während sie ruhig schlief, wirkte der Zustand der kranken Schwester gar nicht so bedenklich, was Kaito umso mehr schmerzte. „Versteh mich nicht falsch. Sie wird es nicht gerade begrüßen, glaub mir“, murmelte Meiko an Kaikos Seite leise. „Aber ich kann dich verstehen. Ich weiß, wie du dich fühlst. Ist ein ziemlich beschissenes Gefühl, nichts ausrichten zu können, wenn ein geliebter Mensch im Sterben liegt, ging mir damals ja nicht anders. Doch wenn es jemanden auf dieser Welt gibt, der einen Weg finden kann, Kaiko zu retten, dann bist du es, nicht?“

„Wer weiß.“

Kaito nahm seinen Suppenteller an den Mund und schlürfte zufrieden einen Schluck. Meiko lächelte Kaiko an, als wollte sie ihr sagen, alles würde endlich gut werden. Die beiden Freunde würden nach der DOLL suchen, in der Hoffnung, die Rettung käme nicht zu spät, ganz gleich, ob sie nur der Fantasie eines besonders angetrunkenen Barbesuchers entstammte oder nicht. Denn so unglaublich diese Geschichte auch klang: Sie versprach ihnen mehr Erfolg als jeder Heiltrank dieser Welt.

„Nun gut“, sprach Kaito entschlossen, stellte den roten Schandtrunk in die hinterste Ecke des Regals und tauschte ihn gegen den Apfel aus, den er für Kaiko mitgenommen hatte. „Dann ist es also beschlossen. Wir haben keine Zeit zu verlieren. Morgen bei Sonnenaufgang brechen wir auf.“
 


 

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Vielen Dank für's lesen. Ich hoffe, ihr schaut auch im nächsten Kapitel wieder rein. :D

Vor und hinter dem Glas

Als Kaiko die Augen öffnete, neigte sich der Tag schon seinem Ende zu. Die Wohnküche, die ihr Bruder provisorisch zu einem Krankenzimmer umfunktioniert hatte, lag im warmen Licht der untergehenden Sonne. Vorsichtig fuhr sie sich mit der flachen Hand über die Stirn, um ihre Temperatur zu überprüfen. Sie spürte kaum einen Unterschied zu den schweißnassen Fingern, aber das Fieber schien leicht gesunken zu sein. In den letzten Tagen hatte sie sich gewiss schon schlechter gefühlt.

„Brüderchen?“ Kaiko richtete sich auf, während sie auf eine Reaktion wartete. Wie angenehm sich die Abendluft auf ihrer Haut anfühlte! Sie wäre zu gerne draußen gewesen, hätte sich ins Gras gelegt und den Grillen gelauscht, wie sie es früher so oft getan hatte. Sie wollte Glühwürmchen jagen und die Füße ins Wasser halten, während die Fische um ihre Beine tanzten. Aber so liefen die Dinge eben nicht, dachte sie. Sich mit ihrem Schicksal abzufinden wurde für sie schnell zur Notwendigkeit, um die Tage hinter dem Fenster zu ertragen, während ihre alten Freundinnen in der Sonne tobten. Immerhin hatte sie ihren Bruder.

“Brüderchen, bist du da?“

Aus Kaitos Zimmer drangen leise Geräusche, dann riss jemand plötzlich die Tür auf. Kaiko wusste sofort, dass es nicht ihr Bruder war.

„Er ist nebenan“, sagte der junge Mann, der seiner Schwester wie aus dem Gesicht geschnitten war, nur kräftiger und mit wilderem Haar. Meito zog den Vorhang auf, um die letzten Sonnenstrahlen hereinzubeten. Er wusste, dass Kaiko das Abendrot liebte.

“Nicht fair! Er sagte, er würde bei mir sein, wenn ich aufwache!“

“Nun“, meinte Meito und deutete auf den Stuhl, auf dem Kaito seinen Schal abgelegt hatte, „er saß bis vor einer Stunde noch hier und hat darauf gewartet. Aber es wirkte nicht, als würdest du bald aufwachen und aufwecken wollte er dich schon gar nicht. Immerhin scheint der Schlaf dir dieses Mal gut getan zu haben.“

Kaiko verzog den Mund zu einer Grimasse und gluckste. Wenn die Abendsonne ihn anstrahlte, wirkten seine Haare so rot wie der Umhang, den er trug, wenn er auf Beutejagd war. Sie mochte rot.

Was machte ihr schon ein tristes Leben hinter Glas? Sie hatte ihren Bruder – und Meito.

„Ich verzeihe ihm. Aber nur ausnahmsweise.“

Für einen Augenblick sahen die Beiden einander an. Es war eine ganz besondere Spannung, die zwischen ihnen in der Luft lag. Sie bedurfte nicht vieler Worte.

„Ich mach dir Tee. Jasmin?“ Er wartete nicht darauf, dass sie nickte, sondern trabte langsam zur Holztheke, auf der der alte Kupferkessel ruhte und machte sich an die Arbeit. Ein Lächeln zierte ihr Gesicht und sie folgte den roten Sonnenstrahlen in seinem Haar. Ja, eine ganz besondere Spannung und trotzdem, irgendetwas an Meito schien heute anders. Er ließ es sich nicht anmerken und Kaiko konnte es selbst nicht benennen, aber sie ahnte, dass etwas nicht in Ordnung war. Wenn sie ihn danach fragte, würde er sie bestimmt mit einer Lüge abspeisen, um sie nicht zu beunruhigen. Dabei war er so ein miserabler Lügner. Vielleicht würde es sich als klug erweisen, den richtigen Moment abzuwarten.

„Können wir nach draußen?“, fragte sie vorsichtig.

Der angenehme Duft des Tees füllte den Raum aus. Kaito mochte es nicht, wenn seine Schwester dass Bett in ihrem Zustand verließ, schon gar nicht ohne sein Wissen. Er beharrte stur darauf, dass sie sich schonen musste und obwohl er wahrscheinlich recht damit hatte, sehnte Kaiko sich oft danach, wenigstens für einen kurzen Moment die Welt von außerhalb des Fensters zu betrachten. Die frische Brise, die vom Meer in der Ferne herüber getragen wurde, reichte ihr oft schon. In diesem stickigen Zimmer kam ihr der salzige Geruch falsch vor. Für gewöhnlich genügte ihr schon ein kurzer Moment, in dem sie mit Meito zusammen an der Hauswand lehnte um sich ins Bewusstsein zu führen, dass es sinnlos war. Sie würde sterben, ohne noch einmal barfuß über die Wiesen zu laufen oder auf den alten Kirschbaum auf der Rückseite des Hauses zu klettern. Vielleicht wollte ihr Bruder sie einfach vor dieser Erkenntnis schützen. Meito hingegen spürte ihren Drang nach Freiheit und obwohl er zunächst Kaitos Ansichten teilte, merkte er schnell, wie unglücklich er sie damit machte. Es war ihm unmöglich, Kaiko gefangen zu halten.

Sie wusste, dass sie sterben würde und hatte sich damit abgefunden. Er nicht.

„Ich habe ihm doch gesagt, er muss sich nicht die Mühe machen, diesen schleimigen Typen um Hilfe zu bitten. Seine Medizin ist nicht nur vollkommen überteuert sondern auch noch unwirksam“, beschwerte sie sich, als die Beiden unter dem alten Holzdach Platz genommen hatten, zu dem immer wieder vertrocknete Kirschblütenblätter geweht wurden. Innerhalb weniger Sekunden war eine einzelne Blüte in Kaikos Tasse geflogen. Entnervt fischte sie das schrumpelig-braune Knäuel aus dem noch heißen Tee, an dem sie sich sofort die Fingerspitzen verbrühte. Meito warf ihr einen scheltenden Blick zu. Er bewunderte sie für ihre Unbekümmertheit an Tagen wie diesen, wenn es ihr besser zu gehen schien, doch gleichzeitig machte es ihm Angst. In solchen Momenten glaubte er sie als ein ganz normales, gesundes Mädchen zu wissen - bis ihn die Realität wieder einholte, wenn sie sich in Fieberträumen auf dem Bett wand.

„Er hat noch nicht aufgegeben, Kaiko“, sagte er, während er mit seinen Händen Wasser aus dem Teich schöpfte. Er ließ das kühlende Wasser über Kaikos Finger laufen. Sie waren immer noch schweißnass und er glaubte, ein leichtes Zittern zu spüren.

„Du weißt, was die Ärzte gesagt haben. Er täte besser daran, es einfach zu akzeptieren.“ Angetrieben vom Abendwind bildeten die Kirschblüten bizarre Muster auf der Wasseroberfläche. Kaiko verfolgte, wie sie sich drehten und umeinander herumtänzelten.

„Weder er noch ich werden einfach so hinnehmen, dass du vor unseren Augen stirbst.“

„Irgendwen trifft es immer, Meito. Dieses Mal bin es eben ich.“

„Jetzt hör endlich auf, so stark zu tun!“ Seine Stimme klang gereizt. Er vermied es stets, Kaiko anzuschreien und musste so einen Schluck Tee nehmen, um sich zu beruhigen. Als er weitersprach, tat er dies nur unter Anspannung: „Ich weiß besser als jeder Andere, dass du furchtbare Angst hast, den nächsten Tag nicht mehr zu erleben. Wen würde das auch verwundern? Der Tod ist endgültig und ins Gesicht gesagt zu bekommen, dass man ihm nicht entgehen kann, ist furchtbar! Also bitte spar dir diese Worte, denn sie tun nicht nur mir weh, sondern auch dir!“

Wie Recht er hatte. Mit Tränen in den Augen ließ Kaiko sich einfach in seine Arme fallen. Ihr Schluchzen hallte in Meitos Ohren wider. Ohne schlechtes Gewissen umarmte er sie und drückte ihre Hand an seine Wange. Sie zitterte nun deutlich spürbar. Kaiko hatte furchtbare Angst vor dem Tod, eine solche Angst, dass sie sich selbst Mut machen musste in den Stunden hinter dem Glas, in denen sie die Vögel beobachtete, die in den Hecken ihre Nester pflegten und dann davonflogen, als könnte sie nichts halten. Wie sehr Meito es hasste, sie zum weinen zu bringen, doch er wusste sich oft nicht anders zu helfen. Im Grunde war er genauso hilflos wie Kaito. Nur blieben ihm nicht mehr als stille Gesten, um Kaiko zu helfen, denn er vermied es, allzu direkt über ihre Situation zu reden. Dieses Mal war es anders.

„Niemand erwartet von dir, dass du all deine Energien darin investierst, für deine eigene Rettung zu kämpfen. Doch es ist falsch, einen Menschen seinem Schicksal zu überlassen, den man in sein Herz geschlossen hat. Deswegen werden wir jede Möglichkeit in Betracht ziehen, die dir in irgendeiner Weise Besserung verspricht, ganz gleich, wie unwahrscheinlich ihre Hilfe sein mag. Das solltest du verstehen. Wir können nicht einfach zusehen.“

„Ich weiß…“

„Du solltest mit Kaito sprechen. Ich konnte seiner Geschichte zwar keinen Glauben schenken, aber er scheint der festen Überzeugung zu sein, eine Magie gefunden zu haben, die dich heilen kann.“

Kaiko sah zu ihm auf, als würde sie nicht richtig verstehen. In seinen klaren Augen spiegelte sich ihr bleiches Gesicht mit den geröteten Wangen. Wie ein kleines Kind wirkte sie im Schoße des viel größer geratenen jungen Mannes, der besorgt auf sie herabblickte und ihr die Schulter tätschelte, während er sagte: „Er hat sich bereits entschieden. Morgen wird er seine Reise antreten, um dem Gerücht um diese Magie auf den Grund zu gehen.“

Für einen Moment starrten sie sich wieder stumm an, dann begriff das kleine Mädchen von damals in ihr, das Meer und Himmel und weiche Erde unter den Füßen wusste, was seine Worte bedeuteten. Ihr Bruder würde sie verlassen. Ganz gleich, ob er es als letzte Maßnahme tat, um ihr zu helfen, er würde sie zurücklassen.

Ruckartig riss sie sich hoch, stolperte über die Terrasse, lief so schnell ihre starr gewordenen Füße sie trugen durch das Gras und hielt erst wieder vor der alten Holztür von Gegenüber an, gegen die sie nun ungeduldig hämmerte. Meito war so erschrocken, dass er kaum hinterherkam. Er war ihre impulsive Art und ihre vorschnellen Reaktionen zwar gewohnt, hatte jedoch nicht die Kraft erwartet, die ihre schwachen Beine noch hervorbringen konnten, wenn sie es darauf anlegte. Als er sie einholte, hatte Meiko bereits die Tür geöffnet. Kaiko lief schnurstracks an ihr vorbei in den großen Wohnraum, in dem sie manchmal alle zusammen saßen, wenn ihr Zustand es zuließ und Meiko Kaito ausreichend beschwatzen konnte. Ihr Bruder saß an der gleichen Stelle wie immer und ordnete seine Utensilien für die bevorstehende Reise. Als sie hereingestürmt kam, hielt er inne. Er wirkte sichtlich erschrocken.

„Kaiko…“

„Du bist gemein, Brüderchen! Du darfst nicht einfach so gehen!“, fuhr sie ihn an. Die anderen Geschwister waren hinterhergekommen und beäugten Kaito, der erst wild mit den Armen wedelte, in der Absicht, sich zu verteidigen, dann inne hielt und in sich hinein seufzend aufstand. Meiko überlegte, dazwischen zu gehen, doch ihr Bruder hielt sie zurück. Kaito hingegen suchte sichtlich nach den richtigen Worten; sie kamen einfach nicht. Doch das kleine Mädchen von damals schien überhaupt nicht gekommen zu sein, um ihm die Vorwürfe zu machen, die er erwartet hatte. Ein heimliches Lächeln huschte über Meitos Lippen. Sie hatte es begriffen.

„Versprich mir, dass du rechtzeitig zurückkehrst“, sagte die Kaiko hinter dem Glas, die in seinen Armen einen Hauch Hoffnung eingeatmet hatte, und umarmte ihren Bruder. „Und dieses Mal brich es nicht.“
 


 

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Danke für's lesen. <3

Beim nächsten Mal geht die Reise dann los. Bis dahin.



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Kommentare zu dieser Fanfic (5)

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Von: abgemeldet
2011-04-18T13:23:51+00:00 18.04.2011 15:23
i like Meito 8D
Von: abgemeldet
2011-02-17T09:48:46+00:00 17.02.2011 10:48
habe wieder gelesen <3
musste mich echt hart
beömmeln über big-al als King XD
Von:  Lexxy
2011-02-14T13:15:56+00:00 14.02.2011 14:15
Animexx und Stilmittel *kopfschüttel*
Nun ja, für mich wird es DOLL. bleiben!
Und es liest sich immer noch gut und ich freu mich auf mehr :3
Von: abgemeldet
2011-02-09T20:37:59+00:00 09.02.2011 21:37
ich habe es gelesen
denk dran ich lese NIE FF <3<3<3<3<3<3<3
Von:  Lexxy
2011-02-08T21:31:32+00:00 08.02.2011 22:31
Es fängt schonmal gut an und liest sich echt toll <3
Freu mich schon auf's erste Kapi *-*


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