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Dandelion

von

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Devotion

Die Eingangstür des Pet Shops öffnete sich mit einer so unglaublichen Langsamkeit, dass der draußen ungeduldig von einem auf den anderen Fuß tretende Mann, der seit mehr als zehn Minuten auf eine Regung gewartet und dabei zwei Zigaretten hintereinander geraucht hatte, einen Moment abwartend inne hielt und dem Knarren der ungeölten Angeln lauschte, das sogar den Straßenlärm übertönte, der um ihn herum herrschte.

Ein helles Oval tauchte in dem sich vergrößernden Spalt auf. In der Dunkelheit, die hinter D den sichtbaren Raum ausfüllte, wirkte sein Gesicht seltsam blass.

"Na, endlich! Ich dachte schon, du machst mir nicht mehr auf." Leon warf seine brennende Zigarette weg, die zischend in einer Pfütze verglühte, und versuchte, sich durch den schmalen Spalt der geöffneten Tür ins Innere des Pet Shops zu drängen. Endlich weg von der verregneten Straße, die mit Menschen mit Regenwettermienen überfüllt war, und hinein ins Warme! Nicht einmal D's furchtbar süße Kuchen oder die Luft verpestenden Räucherschalen konnten ihn abschrecken. Doch kaum, dass Leon einen Schritt in Richtung der Tür gemacht hatte, schob D diese wieder ein Stück zu.

Irritiert machte Leon eine unbeholfene Handbewegung Richtung Pet Shop. "Was ist, darf ich nicht mehr rein?"

"Sie kommen gerade ungelegen, Officer Orcot", erwiderte D förmlich und schob die Tür noch um ein Stück zu, so dass nur noch eine Hälfte seines Gesichts sichtbar war.

"Ich komme immer ungelegen, das ist schließlich die Basis unseres-"

"Was wollen Sie überhaupt hier, Officer?", unterbrach D den Redestrom seines unerwünschten Besuchers. "Etwa wieder Weihnachten feiern?" D's Stimme war ruhig, beinahe schon desinteressiert, aber seine Blicke, die Leon von oben bis unten abmaßen, waren flink und gründlich, als suchten sie etwas an ihm, das nicht zu seinem sonstigen Auftreten passen wollte. Oder – was Leon aus dem bisherigen ungewöhnlichen Verhalten des ohnehin schon spleenigen Ladenbesitzers schloss – D schien ihn abwimmeln zu wollen.

"Nein, keine Sorge, letztes Weihnachten war mir eine Lehre." Leon schob seine kalten Hände in die Taschen seiner vom Schneeregen durchnässten Jacke, was es nicht unbedingt besser machte. Ihn fröstelte langsam aber sicher und wenn D ihn nicht endlich zu sich hinein ließ, dann endete es wieder so wie im vergangenen Jahr, dass er am Weihnachtsabend mit einer Grippe im Bett lag – ausgerechnet in D's Bett! – und der Count ihm irgendetwas einflößte, von dem er behauptete, dass es ein traditionelles chinesisches Medikament sei. "Diese Medizin, die du mir gegeben hast, wirkt immer noch nach, habe ich das Gefühl."

"Dann ist ja gut", entgegnete D knapp.

"Was soll das heißen?" Leons Augen verengten sich zu zwei schmalen Schlitzen, die sein Gegenüber misstrauisch betrachteten. "Was war das überhaupt für ein Zeug?"

"Es hat geholfen, das ist doch die Hauptsache." D's Mundwinkel bogen sich zu einem leichten Lächeln, wovon Leon allerdings nur den rechten Teil sehen konnte. Es erinnerte ihn an etwas, an irgendetwas, was nichts mit dem Pet Shop zu tun hatte. An eine Theatermaske. Und hinter Masken konnte man bekanntermaßen gucken.

"Chris hatte viel Spaß." Leon gab sich Mühe, so normal wie möglich zu klingen, konnte es aber nicht ganz vermeiden, sein Gesagtes wie eine Aufforderung an D, endlich mit der Sprache rauszurücken, klingen zu lassen.

Und D durchschaute diese Taktik augenblicklich. Schämen Sie sich, Officer, dachte er amüsiert. Laut sagte er: "Hatten wir nicht alle Spaß?"

Leons Mund verzog sich, als hätte er in eine Zitrone gebissen. "Ich für meinen Teil weiß nicht mehr allzu viel davon..."

"Wie schade", flötete D fröhlich, während er die Tür zu schließen versuchte.

"Moment!" Leon hob die Hand und drückte oberhalb der Klinke gegen das Türblatt. Erstaunt musste er feststellen, dass D stärker war, als er vermutet hatte. Die Tür bewegte sich keinen Zentimeter. Doch den Pet Shop zu betreten war ohnehin nicht mehr sein einziges Ziel. "Sag das noch mal."

"Was denn?" D's Augenbrauen hoben sich nun erstaunt. "Was soll ich sagen?"

"Nichts, schon gut, das reicht", sagte Leon. Er hob die Hand und deutete mit seinem Zeigefinger auf D's Gesicht. "Jetzt weiß ich, was hier los ist", verkündete er stolz.

"Das bezweifele ich, Officer", erwiderte D süffisant.

"Schon wieder!" Leon lachte triumphierend auf und handelte sich einen weiteren missbilligenden Blick von D ein.

Die Tür wurde wieder um ein kleines Stück aufgezogen.

"Sind Sie hier, um sich über mich lustig zu machen?" Alles, was D als Antwort auf seine Frage bekam, war ein weiteres Lachen Leons.

"Du verrätst dich mit jedem Mal, dass du den Mund aufmachst und etwas sagst", freute sich Leon. Fasziniert starrte er auf D's Lippen, die sich in zwei dünne verärgerte Linien gewandelt hatten.

"Kommen Sie bitte später wieder, Officer." D klang nun so kalt, wie die Luft, die hinter ihm aus dem Pet Shop nach draußen drang und die den Atem des Count in weiße Wölkchen verwandelte, die vor seinen Lippen aufstiegen und ihn wie einen Schwefelspuckenden Drachen aussehen ließen.

"Ist deine Heizung ausgefallen?" Leon wähnte sich auf der richtigen Spur.

"Bitte?" Je ärgerlicher D wurde, um so mehr Atemwölkchen stiegen aus seinem Mund auf, so dass es nun auch D nicht mehr verborgen blieb, was Leon so freute.

"Das muss dir doch nicht peinlich sein", gab Leon verständnisvoll zurück. Wäre die Tür weiter offen gewesen, hätte er dem Count bei diesem Satz jovial auf die Schulter geklopft. "Diese ganzen Viecher kosten eben viel Geld, was die alleine so fressen. Ist ja kein Wunder, wenn du dann nichts mehr übrig hast, wovon du dein Brennholz bezahlen kannst."

"Viecher?" D schnappte empört nach Luft. "Und ich heize nicht mit Holz."

"Ist ja auch egal, das kriegen wir schon wieder hin." Leon betrat die oberste Stufe. "So lange es keine Gasheizung ist, kann ich ja mal nachseh-"

Mit voller Wucht fiel die Tür vor Leons Nase ins Schloss und zwar so knapp, dass der Luftstrom ihn blinzeln ließ. Ein Zentimeter mehr und er hätte nun eine gebrochene Nase.

Jetzt war sich Leon absolut sicher, dass D ihn tatsächlich abwimmeln wollte!
 

D atmete einige Male tief ein und aus. Auf seiner Stirn hatte sich trotz der Kälte ein dünner Schweißfilm gebildet und sein Brustkorb schmerzte, so sehr hatte es ihn angestrengt, Leon davon abzuhalten, den Pet Shop zu betreten. Dabei war die Anstrengung weniger physisch gewesen, denn er hatte Hilfe gehabt, den neugierigen Officer am Eintreten zu hindern.

"Das war knapp." D wandte sich der Person zu, die neben ihm im Schatten hinter der Tür stand und ein gezücktes Schwert hielt.

Ein beunruhigter Blick aus mandelförmigen schwarzen Augen traf D, der nun langsam die Hand von der Türklinke gleiten ließ und dem Mann dabei freundlich zulächelte.

Der Fremde schien das als Signal zu verstehen, denn nun ließ auch er seine Hand, die den Schwertgriff umklammert hielt, sinken. Die glänzenden Platten auf seiner Rüstung schimmerten wie dunkles Wasser, das man in Bewegung versetzt hatte, als er sich aus seiner zum Angriff geneigten Hab-Acht-Stellung aufrichtete. Von einem metallischen Zischen begleitet, schob sich die scharfe Klinge des Schwertes zurück in seine Hülle.

Ein Schauer durchlief D's Körper und er verschränkte schnell die Arme vor seiner Brust. Es war in der Tat sehr kühl im Pet Shop. Kühl und ungewohnt still.

"Tee?", fragte D den Mann, der jede seiner Bewegungen genauestens beobachtete.
 

Das Klirren der Rüstung des hinter D hergehenden Mannes hallte mit jedem Schritt in dem langen Flur wider, doch niemand streckte seinen Kopf aus den Türen, die sie passierten, um nachzusehen, was draußen vor sich ging. Kein einziger seiner Mitbewohner ließ sich blicken, nicht einmal die kleine wuselige Pon-chan oder der misstrauische Tetsu. Auch Q war nirgendwo.

D konnte sich ein Seufzen nicht verkneifen. Je länger er darüber nachdachte, desto bewusster wurde ihm, dass es ihm tatsächlich lieber gewesen wäre, den Officer hier zu haben. Nicht, weil er ihm etwa eine Hilfe hätte sein können, sondern mehr, um – ja, was eigentlich? Um nicht alleine zu sein? Selbst Weihnachten zu feiern klang auf einmal wesentlich besser, als das, was noch vor ihm lag.
 

"Das ist nicht Ihr Ernst, oder doch?" Mit offenem Mund sah D von einem seiner Besucher zu dem anderen. Zuerst zu dem kleinen Blondschopf, der im gleichen Augenblick, in dem sich die Tür des Pet Shop zum zweiten Man an diesem Tag geöffnet hatte, an dem Count vorüber flitzte, bis hin zu dem Großen, an den auch seine harsche Frage gerichtet war.

Leon nutzte die Gunst der Stunde und drängelte sich mit Chris einfach an dem überrumpelten D vorbei, der ob dieser Unverfrorenheit die Luft scharf einsog und gut hörbar wieder ausstieß, ehe er die Eingangstür schloss. Das Türschloss schnappte leise ein.

"Eben ging das aber noch schneller", bemerkte Leon mit in die Seiten gestemmten Armen. Er sah D nach, der missmutig an ihm vorüber stapfte. D stapfte nie. Er ging oder schlenderte oder wandelte oder wie immer man das auch nannte, aber er stapfte nie.

Leon bemühte sich mit dem Vorauseilenden Schritt zu halten, der etwas steif und mit sichtlich uneleganten Bewegungen seines Weges ging.

"Sag mal", begann Leon, nachdem er D eine Weile zugesehen hatte, "wie viele deiner komischen Kleider hast du überhaupt an?"

D tat, als hätte er Leons Frage nicht gehört.

Leon sah das als Bestätigung, richtig zu liegen und als direkte Aufforderung, weiter zu bohren. "Das mit der Heizung stimmt also."

"Ich weiß nicht, wovon Sie da reden", gab D unbeeindruckt zurück.

"Na hör mal, Count, hier ist es Ar-"

"Officer, bitte!" D war so abrupt stehen geblieben, dass Leon beinahe gegen ihn gestoßen wäre. "Achten Sie auf Ihre Wortwahl, hier sind Kinder!"

"Kinder?" Irritiert sah sich Leon um. Sie standen alleine auf dem langen Flur. Die einzigen anderen Laute, die zu hören waren, war das Zuschlagen von Türen, das von einem Zimmer zum nächsten klang, begleitet von Chris' hektischen Schritten. Ansonsten war es still. In einem sonst vor Tieren wimmelnden Haus war es nie still und D stapfte auch nie.

"Wo sind deine ganzen Viecher?"

Ehe D wieder empört zu schnauben beginnen konnte, winkte Leon ab.

Es war nicht nur eiskalt hier, es war auch so ruhig, dass sich Leon langsam wirklich unwohl zu fühlen begann. Instinktiv schaltete sich sein von Berufswegen antrainierter Spürsinn hinzu und überlagerte bald schon die Hinhaltetaktik des Count, der ihn mit listigen Blicken musterte. Plötzlich wurde Leon klar, was hier vor sich ging, warum D ihn nicht hier haben wollte. Er wollte es D gerade direkt auf die blasse Nase binden, als dieser ihn einfach wortlos stehen ließ und mit langen Schritten zu einer Tür eilte.

"Chris?"

Der Name seines Bruders ließ Leon augenblicklich seine Beweisführung vergessen. Er rannte D nach, der gerade im Begriff war, hinter einer dieser verdammten unzähligen Türen zu verschwinden.

"Chris?" Leons alarmierte Stimme hallte von den hohen Wänden des Zimmers wider und wurde als Echo zu ihnen zurück geworfen, bis sie schließlich verstummte und er das Pochen seines eigenen ängstlichen Blutes in seinen Schläfen fühlte.

Leon spürte wie D neben ihm das Zimmer betrat und hörte das leise melodische Lachen des Count.
 

Chris saß mit baumelnden Beinen auf einem verschnörkelten Biedermeier-Sofa und schob sich gerade einen Keks mit rosa Zuckerguss in den Mund.

Ihm gegenüber am reich gedeckten Tisch saß ein in einen eleganten schwarzen Anzug gekleideter fremder Mann auf einem zierlich wirkenden Stuhl. In einer Hand balancierte er eine dampfende Teetasse und in der anderen hielt er ein hauchdünnes Tellerchen, auf dem ein kleines Kuchenstück thronte.

Die hübsch gedrechselten Beine des antiken Stuhles quietschten leise, als sich der Mann, der viel zu groß für das fragile Möbelstück wirkte, vorbeugte und die Tasse auf der Tischplatte abstellte. Mit spitzen Fingern ergriff er eine goldschimmernde Kuchengabel, die förmlich in seiner großen Hand zu verschwinden drohte, und teilte ein winziges Stück des cremegefüllten Kuchens ab, um es sich gleich darauf in den Mund zu schieben.

Leon schüttelte kurz den Kopf, doch die befremdliche Szenerie blieb.

"Möchten Sie einen Tee, Officer? Oder lieber einen Kaffee?"

Leon räusperte sich, ehe er D mit heiserer Stimme antwortete. Was er gesagt hatte, wusste er nicht, denn der Anblick des Teekränzchens lenkte ihn weiterhin ab. Es musste etwas Zustimmendes gewesen sein, denn gleich darauf fand sich Leon inmitten der Teetrinkenden Gesellschaft wieder.

So etwas schien ihm ständig zu passieren, sobald er kurz davor war, den Count zu entlarven.

Vorsichtig nippte Leon an dem heißen Tee, der so süß war, dass es ihm normalerweise den Mund zusammengezogen hätte, aber auf einmal hatte 'normal' wieder einmal eine andere Bedeutung bekommen und somit genoss er einfach den Tee ohne weiter darüber nachzudenken.

D's schmale Hand legte sich auf Chris', der im Begriff gewesen war, seinen Bruder anzustupsen, der neben ihm auf dem Sofa saß und wie in Trance seinen Tee in kleinen Schlucken trank.

"Könntest du mir einen Gefallen tun?"

Ja! Was denn? Gebannt sah Chris zu D auf, der ihn freundlich anlächelte und so leise sprach, als teilten sie ein Geheimnis miteinander.

"Geh und wecke Pon-chan und Tetsu und dann sucht ihr Q. Ich habe noch etwas zu tun, aber wenn ich fertig bin, kaufen wir wieder Geschenke und feiern von mir aus auch wieder Weihnachten."

Ohne zu antworten sprang Chris auf und verließ das Zimmer.

Als sich D erhob, stand auch der Fremde auf. Nur Leon blieb sitzen und schlürfte leise seinen Tee, als ginge ihn das alles überhaupt nichts an.
 

"Sie machen Winterschlaf!" Leon sah von seiner Teetasse auf, die schon längst bis auf den letzten Schluck ausgetrunken war. Seine Wangen fühlten sich seltsam taub an und seine Lippen waren trocken und spröde, ganz so als hätte er stundenlang versucht einen Großbrand auszupusten.

"Hey, D, habe ich recht? Deine Viecher haben sich wegen dieser verflixten Kälte verkrochen und-"

Endlich fiel es Leon auf, dass er sich alleine an der Teetafel befand. D, Chris und der komische Typ waren verschwunden.

"Behandelt man so etwa seine Gäste?" Die Teetasse klirrte leise, als Leon sie auf dem Tisch abstellte. Was für eine bodenlose Frechheit, ihn hier so mir nichts dir nichts zurückzulassen!

Wütend stapfte Leon zur Tür hinaus.
 

Wohin der Count und sein Gefolge verschwunden waren, war nicht schwer zu erraten. Er musste einfach nur der Eiseskälte folgen, die unaufhörlich durch den Pet Shop strömte, und irgendwann fand sich Leon auch vor einer zweiflügeligen Tür wieder, die höher und breiter als die übrigen war.

Leon legte den Kopf in den Nacken, sah hinauf und vergaß sogar zu fluchen, so beeindruckt war er.

Wie schaffte es D nur, dass der Pet Shop um so vieles größer war, als es von draußen den Anschein hatte? Welcher Architekt brachte so etwas zustande?

Ein kalter Schauer weckte Leon aus seinen Überlegungen. Aus dem hauchdünnen Spalt in der Mitte der beiden Türen pfiff ein harscher Wind und ließ Leon erneut frösteln. Die Kälte schien direkt aus dem Raum dahinter zu kommen.

Was hatte dieser verrückte Chinese jetzt schon wieder angestellt?

Leons Hand legte sich auf eine der blanken Messingklinken und drückte diese vorsichtig hinunter. Fast erwartete er, dass das Schloss eingefroren war und er nie erfahren würde, was diese eisigen Temperaturen verursachte, da gab die Tür auch schon nach und ließ sich widerstandslos aufschieben.

Statt in einem einzigen großen Raum fand sich Leon gleich darauf in einer Art Vorzimmer wieder. An der gegenüberliegenden Wand befand sich eine weitere Tür, die kleiner war, als die, durch die Leon gerade trat, dafür aber schöne Verzierungen aufwies.

"D?" Vor Leons Mund stiegen weiße Atemwolken auf. Gebannt lauschte er einen Moment in die Stille, ehe er seinen Weg über einen gefroren knirschenden Teppich fortsetzte.

Je näher er der zweiten Tür kam, desto kälter wurde es. Und dann stand er so nahe vor der Tür, dass er sehen konnte, dass die vermeintlichen Verzierungen gar keine waren. Es war Raureif, der die Tür überzog und auch schon auf die Wand daneben übergegriffen hatte.

Leon blinzelte irritiert, als er sah, was von der wie mit einem weißen Pelz bedeckten Türklinke herab hing: Eiszapfen! Dünne durchsichtige Eiszapfen, die leise klirrend auf dem Boden zersprangen, als Leon sie wegwischte, um die Tür zu öffnen.
 

Der Wind, der Leon aus der geöffneten Tür entgegen wehte, trug winzig kleine Schneeflocken mit sich mit, die der Officer mit offenem Mund bestaunte.

Es wurde immer merkwürdiger und hatte offensichtlich nicht vor, besser zu werden.

Leons erster forscher Schritt in das Durchgangszimmer währte ungefähr eine halbe Sekunde, da rutschte sein Fuß, kaum dass er den Boden berührt hatte, auch schon wieder weg und der junge Mann hätte sich beinahe der Länge nach hingelegt, hätte er sich nicht gerade noch am Türgriff festgehalten.

Nach dem ersten Schrecken erhob sich Leon mit weichen Knien und suchte nach festem Stand. Seine vorsichtigen Blicke gingen zu Boden, der spiegelblank unter seinen Füßen schimmerte und eine weiß-blaue Farbe hatte.

Wusste D denn nicht, wie gefährlich es war, einen Boden so glatt zu polieren, dass jeder Schritt einen die heilen Knochen kosten konnte?!

Behutsam ging Leon über den glatten Boden. Als ginge er auf Eierschalen setzte er einen Fuß sachte vor den anderen und gab sich Mühe, all das nicht allzu hektisch zu tun.

Der herrschende Wind wurde mit jedem Meter, den Leon in dem unbekannten Terrain zurücklegte, stärker, bis er sich schließlich zu einem Sturm gemausert hatte.

Wie lang mochte dieses Zimmer wohl sein?

Vergeblich kämpfte Leon mit den fast waagerecht dahin fliegenden Schneeflocken, deren scharfe Eiskristalle ihm in den Augen brannten.

Schützend hielt er sich eine Hand vor die Augen und tappte mehr blind als sehend durch das Schneetreiben.

"D?", schrie Leon gegen das Heulen und Sausen des Sturmes an, das an seinen Haaren und Kleidern zerrte. "Chris?"

Seine Stimme verklang kaum einen halben Meter vor ihm.

Mühsam quälte sich Leon weiter durch den Schnee, der sich mittlerweile kniehoch auf dem Boden aufgetürmt hatte.

Und dann war es mit einem Mal wieder so Windstill, dass Leon, der die ganze Zeit dagegen angekämpft hatte, nicht mit dem plötzlich verschwindenden Widerstand rechnete und vornüber in eine Schneewehe fiel.
 

Schwer atmend setzte sich Leon auf und sah sich in dem Zimmer um, bei dem er sich nicht mehr so sicher war, ob es überhaupt ein Zimmer war oder ob er nicht doch irgendwie nach irgendwo draußen gelangt war.

In seinen Ohren hallte das Heulen des Windes nach und sein Gesicht fühlte sich taub an.

Wenn er D in die Hände bekam! Sobald sie wieder aufgetaut waren, würde er sie benutzen und dann, ja dann Gnade ihm Gott...

Die Schneewehe vor Leon bewegte sich und staunend sah der junge Mann zu, wie daraus eine bekannte Gestalt aufstand, sich den schwarzen Anzug glatt strich – was irgendwie lächerlich wirkte, da er von Kopf bis Fuß mit Schnee bedeckt war – und sich dann Leon zuwandte.

"Einen verrückten Chinesen hätte ich gefunden, bleibt noch der andere", murmelte Leon und grinste den Mann frech an, der ihn bereits im Sitzen um mehr als einen Kopf überragt hatte. "Wo sind mein Bruder und D? Und was zur Hölle ist das hier?" Leon deutete vorwurfsvoll auf den Schnee, der sich vor ihm zu einem so riesigen Haufen auftürmte, dass Leon den Kopf in den Nacken legen musste, um daran hochzusehen.

Leon maß in Gedanken die Höhe des Gebildes vor sich ab, was ihm nicht so recht gelingen wollte, da ein Teil davon in den dichten Wolken darüber verschwand. Um das untere Drittel herum hatte sich Schnee angesammelt, aber darüber konnte man gut den schwarzen Felsen erkennen, der mit großen Schuppen bedeckt war.

"Seit wann ist hier ein Berg?"

Leons Frage war an den Typen vom Teekränzchen gerichtet, der eisern schwieg. Vielleicht hatte er sich auch nur wieder in seinem Schneehaufen verkrochen, mutmaßte Leon.

Und dann wurde ihm abwechselnd heiß und kalt, als er das Gesehene in seiner Gesamtheit betrachtete und darüber nachdachte, was er sah. Etwa: seit wann hatten Berge Schuppen?

Leon sprang auf die Füße. Seine halberfrorenen Gliedmaßen waren mit einem Mal vergessen und er taumelte einige Schritte rückwärts, ehe sein Verstand und sein Körper wieder eine Einheit bildeten.

"Heilige Sch... Schildkröte?"
 

"Ich glaube, ich spinne." Leon lachte laut auf. "Hey du", rief er der schwarzen Gestalt zu, die zwischen ihm und der unglaublich riesigen Schildkröte stand, oder besser gesagt: vor dem unglaublich riesigen Schildkrötenpanzer, denn es waren weder Kopf noch Beine zu sehen.

"Unfassbar!", freute sich Leon weiter. "Hat D dir das Vieh aufgeschwatzt? Mann, da brauchst du aber eine Menge Salat, um die satt zu kriegen..."

Leon machte sich auf den Weg, den schwarzen Schildkrötenpanzer zu umrunden. Der Fremde setzte sich ebenfalls in Bewegung, allerdings etwas schneller als Leon, der mit vor der Brust verschränkten Armen durch den Schnee schlenderte und weiter den Panzer bestaunte.

"Wie kriegst du die überhaupt nach Hause? Auf dem Arm heim tragen geht ja schlecht."

Das erste Mal sah Leon wieder den Fremden an, der sich ihm schnell, aber dabei unglaublich geschmeidig näherte.

Leon blinzelte ein paar Mal ungläubig, denn aus einem unerfindlichen Grund sah er nur die Umrisse des Typen scharf, der etwas in der Hand hielt und sich ihm innerhalb weniger Sekunden bis auf ein paar Meter genähert hatte. Der Rest des Mannes verschwamm mit jedem Schritt, den er tat. Es sah aus, als betrachtete man ein unscharfes Bild oder ein Hologramm, das aus jedem Winkel etwas anderes zeigte. Mal schien er den Anzug zu tragen, den er am Teetisch angehabt hatte, und im nächsten Moment trug er eine schwarz glänzende Rüstung, deren Panzerung der des Schildkrötenpanzers glich.

Endlich erkannte Leon, was der Mann in seiner Hand hielt: ein langes gebogenes Schwert, dessen Klinge unglaublich scharf wirkte und die sich nun über Leons Kopf in die Luft erhob.

"Lass mich raten, aber du bist kein normaler Kunde, oder?"

"Das kommt auf den Blickwinkel an." Eine schmale Hand legte sich auf Leons Schulter.

Leon fuhr herum und sah direkt in D's amüsiertes Gesicht.

Der Count trug einen gefütterten Mantel und eine warme Mütze.

"Wie haben Sie es nur bis hierhin geschafft, Officer?"

Leon wollte antworten, dass er einfach durch die Tür gegangen war, doch seine Zunge, die ihm dick und trocken am Gaumen klebte, war anderer Meinung.

"Das war ganz schön knapp." D, der sich bei Leon untergehakt hatte, nickte zu dem Mann in der Rüstung hinüber, der noch immer mit erhobenem Schwert unbewegt dastand. "Beinahe hätten Sie Ihre Neugier mit Ihrem Kopf bezahlt. Und wäre das nicht schade gewesen?!"

D's sanfte Worte und sein Körper, der sich vielleicht ein wenig dichter als nötig an Leon drängte, um diesen von dem riesigen Schildkrötenpanzer weg zu führen, hatten die gleiche Wirkung auf Leon, wie der Tee. Widerstandslos tappte Leon neben D her.

Der Typ in der Rüstung bewegte sich weiterhin keinen Zentimeter.

"Wenn Sie möchten, erzähle ich Ihnen ein klein wenig über meine beiden Gäste."

Leon nickte nur leicht ohne jedoch ein Wort zu sagen.

"Sie ist verletzt", erklärte D und Leon dachte sich, dass er mit 'sie' sicher die Schildkröte meinte.

"Und da hat er sie hergebracht", beendete Leon D's Erklärung.

"Sie sind ein schlaues Kerlchen, Leon." D lachte leise und verstärkte seinen Griff um den Arm des Officers noch ein wenig. "Jedenfalls dürfen Sie sie nicht weiter stören, denn wie Sie sicher wissen, wird er", dabei nickte D zu dem Mann mit dem Schwert hinüber, "sie weiter beschützen wie er es schon seit siebenhundert Jahren tut."

"Siebenhundert Jahre?", hakte Leon leise nach.

D nickte und lächelte wieder. "Bald wird sie aus ihrem Panzer hervor kommen und ihr erstes Wort sprechen, aber so lange können wir unmöglich hier warten."

"Warum denn nicht?" Leon wirkte, als bedauere er diese Tatsache wirklich.

"Weil wir dafür dreihundert Jahre warten müssten und ich fürchte, dass sich Chris bis dahin furchtbar langweilen würde, finden Sie nicht auch, Leon?"

Leon spürte D's warmen Atem an seiner Wange, als er seinen Namen sagte.

Sie standen wieder an der großen zweiflügeligen Tür und hier ließ D Leons Arm auch wieder los.

"Wir sollten mal nachsehen, wo Chris ist." D klang wieder wie früher und auch Leon fühlte sich, als wäre mit dem Verlassen des verschneiten Zimmers auch in seinem Kopf wieder einiges aufgetaut.

Etwas orientierungslos blickte sich Leon um. "Wo ist Chris?"

D winkte matt ab. "Der wartet darauf, dass wir endlich losgehen, um Geschenke für Weihnachten zu kaufen. Können Sie sich das vorstellen? Weihnachten! Ausgerechnet nach dem letzten Desaster..."

Leon schob seine Hände in die Hosentaschen und ging neben D her und versuchte dabei, dessen Geplapper auszublenden.

Irgendetwas stimmte hier doch schon wieder nicht!
 


 

* E N D E *
 


Nachwort zu diesem Kapitel:
A/N:
Wie alle Tiere aus Count D's Pet Shop basiert auch die Schildkröte hier auf einer mythischen Figur. Genbu, die schwarze Schildkröte, symbolisiert in der chinesischen Mythologie den Norden und damit auch den Winter. Sie soll in der Lage sein, nach tausend Jahren die Sprache der Menschen zu sprechen.
Der Krieger, der Genbu hier bewacht, ist sozusagen die Schwarze Schildkröte in Menschenform, bzw. die japanische Version davon. Sein Vorbild ist Tamonten, einer der Hüter der vier Himmelsrichtungen (genaugenommen: des Nordens).
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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von: abgemeldet
2012-12-19T17:21:03+00:00 19.12.2012 18:21
Ich bin irgendwie auch so verwirrt wie Leon. xD Aber D ist auch sehr komisch, das hast du perfekt dargestellt. ^^
Im Allgemeinen find ich es toll, dass du die Charaktere so perfekt getroffen hast. Man konnte sich alle so vorstellen wie im Manga. :> Und dass dann auch noch die Schildkröte einen wirklichen Hintergrund hat, ist auch toll. Auch wenn ich das ohne das Nachwort nicht gewusst hätte *hust* Aber gerade deswegen ist die Info toll und dann denk man sich "Aaaah. Oh, das ist ja TOLL!" =D

Schade nur, dass es doch etwas kurz und schmerzlos war. Ich hätte mir dann doch etwas mehr Spannung erwartet. Aber es passt dennoch zum Manga, da gab's ja auch "ruhigere" Geschichten. :>

Ich mochte die Geschichte jedenfalls gerne. Ich mag deinen Stil ja sowieso, da war es schön, mal wieder was von dir zu lesen und das dann noch zu einem so tollen Fandom. <3
Von:  Kunoichi
2012-12-18T21:12:08+00:00 18.12.2012 22:12
Hm, ich habe lange überlegt, ob ich überhaupt einen Kommentar schreiben kann, weil ich das Fandom und somit die Charas immer noch nicht kenne. xD Dementsprechend wenig hab ich auch verstanden. Das Ende war klar, aber meine Hauptfrage ist: Warum wollte D Leon denn zuerst nicht in seinen Laden lassen?
Schreibtechnisch ist der Oneshot aber mal wieder brilliant und deshalb wollte ich dann doch was dazu schreiben. :D Dein Stil ist super schön, die Absätze gut gegliedert, deine Wortwahl perfekt und alles lässt sich schön leicht runterlesen. Die Beschreibung vom Teekränzchen, als Leon geantwortet hat, ohne zu bemerken was, hat mir gefallen. xD
Vielleicht sollte ich doch mal ins Fandom reinsehen... ^^


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