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Tendency

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Erstmal vorweg:
Hier handelt es sich hauptsächlich um ein Info-Kapitel.
Handlung is nich :P
(Also doch, aber nicht viel davon^^) Komplett anzeigen

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009

Zeit für Aufklärung.

"Tyler?", leise drang Junes Stimme durch seine vom Schlaf betäubten Gehörgänge, "Tyler, wach auf."

"Lass mich...", brummte er ihr schläfrig entgegen. Seine Lider zuckten und allmählich nahm er seine Umgebung wieder wahr. Klasse, er war wach. Langsam öffnete er seine Augen.

"Alter!", Tyler schreckte zusammen, "June, was soll das?!"

Er hatte sich augenblicklich aufgesetzt, als er Junes Gesicht so unmittelbar vor seinem erkannt hatte. Sie saß gemütlich auf dem Boden und hatte sich mit Händen und Kopf auf die Bettkante gelehnt.

"Ich wollte dich was fragen", erklärte sie ihren unerfreulichen Besuch.

"Was kann denn um Himmels Willen so wichtig sein, dass du mich deswegen gleich mit deiner schiefen Visage wecken musst?!", er fuhr sich mit beiden Händen übers Gesicht, während er versuchte diesen Schreck erstmal zu verdauen. Tyler war definitiv kein Morgenmensch. Oder Abendvampir wohl eher.

"Na danke für die Blumen...", June schnaubte leise und erhob sich von Tylers dunklem Holzfußboden, "Dachte, dass das deine Aufgabe wäre: Meine Fragen zu beantworten."

"Das ist es auch. Aber nicht um...", er nahm sein Handy vom Nachttisch und machte große Augen, "... 3 Uhr am Nachmittag! Bist du irgendwie behindert, oder so?"

Er sah sie fassungslos an. Wie um alles in der Welt war dieses Mädchen darauf gekommen, dass er ihr JETZT irgendwelche Fragen beantworten würde?

June zuckte nur mit den Schultern: "Ich konnte nicht mehr schlafen und in meinem Kopf kreisen so viele Dinge, auf die ich gerne eine Antwort hätte."

Tylers Augen verengten sich, sein ganzes Gesicht zeugte vom wütenden Brodeln, das sich unter der Oberfläche abspielen musste: "Vielleicht hast du in zwei Stunden mehr Glück."

"Was? Aber...", sie musste hilflos zusehen, wie ihr 'Meister' sich wieder hinlegte, ihr den Rücken zudrehte und die Decke hochzog, "Und was soll ich jetzt machen?"

"Hauptsache die Klappe halten", antwortete Tyler.

June knurrte leise und trat widerwillig den Rückzug an. Scheiß Penner! Sie ging zurück zum Sofa und packte ihren Laptop aus, den sie von zu Hause mitgebracht hatte.

"Kann ich mir ein Bett bestellen?", rief sie nach oben, als der Laptop hochgefahren war.

"Wenn du dann still bist! Aber nimm was Ordentliches!", kam die doch irgendwie recht unerwartete Antwort aus dem Schlafzimmer.

Na dann. Sie grinste zufrieden und ihre schlechte Laune verflog, während ihre Finger über die Tastatur rannten. Damit würde sie sich problemlos eine Weile beschäftigen können. Es ging ihr dabei allerdings nicht ausschließlich um Beschäftigung, ganz im Gegenteil. Ihr war inzwischen klar geworden, dass sie wohl oder übel noch einige Zeit hier verbringen musste und alleine diese ersten beiden Übernachtungen auf Tylers Couch sprachen eine deutliche Sprache. Ein anständiges Bett musste her. Und zwar schnell. Man würde schon ein passendes Plätzchen dafür finden, schließlich war dieses Haus hier nicht gerade klein. So klickte sie sich in aller Ruhe durch die vielen, vor Angeboten strotzenden Seiten und stellte sich letztendlich einen vierstelligen Warenkorb zusammen. Wow... Unter normalen Umständen hätte sie sich wohl nie im Leben diese teuren Teile ausgesucht, aber da so oder so Tyler dafür aufkommen musste und der ohnehin eher im hochpreisigen Segment einzukaufen schien, wusste sie nicht, was dagegen sprechen sollte. Wenn es gut lief, dann würde ihr Bett schon morgen früh geliefert werden.

Oben bei Tyler schien sich mittlerweile auch endlich wieder etwas zu regen. June konnte seine Schritte hören, die sich der Treppe näherten. Sie sah nach oben.

Tyler schlappte müde die Stufen herunter und steuerte zuallererst seine Kaffeemaschine an, wenngleich ein simpler Kaffee heute wohl nicht ausreichen würde. Nachdem June ihn geweckt hatte, war er nicht mehr richtig eingeschlafen. Er hatte wohl noch ein wenig gedöst, doch das hatte nicht viel gebracht. Es war nicht zu ändern. June beobachtete ihn schweigend, während er sich den Kaffee durch die Maschine laufen ließ und sich schließlich zu ihr ins Wohnzimmer bequemte. Auch Tyler war nicht wirklich gesprächig, als er sich neben sie aufs Sofa setzte und vorsichtig an seinem Kaffee nippte.

"Also?", fing er schließlich an, "Was willst du wissen?"

Die junge Frau sah ihn verblüfft an. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass er gleich auf ihre Fragen eingehen würde. Aber so war es umso besser.

"Ich habe mich gefragt, ob man sich nicht auch Krankheiten einfangen kann... wenn man das Blut von irgendwelchen Leuten trinkt", ihre Augen waren gespannt auf Tyler gerichtet.

"Ja", antwortete er nur knapp und konzentrierte sich wieder auf die Tasse in seiner Hand.

"Was echt?", damit hatte sie eigentlich nicht gerechnet.

"Wenn's dumm läuft", Tyler musste wohl doch etwas weiter ausholen, "Wenn du nicht aufpasst, dann kannst du dir sogar ziemlich schnell was einfangen. Aber das ist im Grunde auch nicht weiter schlimm."

"Wieso nicht?"

"Weil dein Körper die Erreger so schnell vernichtet, dass das in den meisten Fällen Null Auswirkungen hat", er wirkte noch immer ein wenig abwesend, während er mit ihr sprach, "Außer es ist was Größeres. Kann sein, dass du dich ein paar Tage schlecht fühlst. Halt dich also von Risikogruppen fern."

"Risikogruppen?", June hing noch immer aufmerksam an seinen Lippen, "Die da wären?"

"Junkies, Prostituierte und Schwuchteln", klärte er sie auf, "Lernt man das nicht in der Schule?", er warf ihr einen kurzen, prüfenden Seitenblick zu, "Wieso willst du das überhaupt wissen? Hast du letzte Nacht einen Stricher vernascht?"

Die Neugierde in ihrem Blick war schlagartig schockierend weit aufgerissenen Augen gewichen: "Was?! NEIN!"

Tyler sah sie ruhig an: "Dann ist ja gut", und wandte sich wieder dem Kaffee zu, "Zuzutrauen wäre es dir ja, nach den Sachen, die ich gehört habe."

"Wie bitte?!", diese Behauptung war wohl absolut unangebracht und dazu noch völlig aus der Luft gegriffen.

"Naja, Cathlyn hat vom Barkeeper erfahren, dass du wohl vorgestern Nacht mehrere Kerle am Start hattest", begründete er ihr seine Annahme.

"Das ist ja wohl lächerlich!", beschwerte sie sich, "Ich kann nichts dafür, dass die alle wie Fliegen an mir geklebt waren!"

"Klar, sind ja auch immer die anderen", fügte er nur teilnahmslos hinzu.

"Ich meine das völlig ernst!", beteuerte sie noch einmal ihre Unschuld.

Tyler leerte seine Tasse und stellte sie auf den Tisch, dann sah er sie prüfend an: "Verstehe. Und du warst letzte Nacht also nur bei deinen Eltern?"

June sah ihn fest an, sie schwieg und hielt Tylers bohrenden Blicken eisern stand, doch auch er schien nicht nachgeben zu wollen.

"Ja okay. Nein, ich war nicht nur zu Hause", platzte sie schließlich heraus, "Aber der Typ war weder Junkie noch Stricher! Und es ist sowieso überhaupt nichts passiert, weil ich...", sie ermahnte sich innerlich zur Ruhe, "... ich... es ging nicht."

Tyler sah sie noch immer kritisch an, dann fuhr er fort: "Weil du gemerkt hast, dass du dich nicht unter Kontrolle hast, wenn du spitz bist?"

Ihr ertappter Blick verriet alles, sie musste sich nicht einmal dazu äußern.

"Hätte ich dir gleich sagen können", erklärte er ganz ruhig.

June war nicht sicher, ob sie ein leichtes Grinsen in seinen Mundwinkeln entdeckt hatte. Für einen kurzen Augenblick hatte sie es vermutet.

"Und wieso hast du das nicht?", fragte sie ein wenig geknickt.

Sie hatte ihm davon überhaupt nicht erzählen wollen, doch irgendetwas schien sie verraten zu haben.

"Weil ich nicht davon ausgegangen bin, dass du dich gleich in der zweiten Nacht nach deiner Wandlung mit irgendeinem Kerl durch die Laken wühlen wollen würdest", Tyler seufzte leicht, "Aber so kann man sich irren. Flittchen."

Jetzt konnte sie sein Grinsen deutlich sehen.

"Du bist so ein unsensibler Arsch", knurrte sie, doch Tyler ließ das wohl völlig kalt.

"Entspann dich", sagte er mit seinem amüsierten Schmunzeln im Gesicht, das June ihm am liebsten herausgerissen hätte, "Ich sage ja nicht, dass das schlimm ist. Die meisten Vampire haben einen relativ ausgeprägten Sexualtrieb. Frag Cathlyn."

"Aha", irgendwie hatte sie das ein wenig beruhigt, "Und das liegt daran, dass ihr alle so supertoll ausseht und jeden bekommen könnt, den ihr wollt?"

"Unter anderem", bestätigte er ihre wohl leicht abfällig wirkende Bemerkung.

"Dass ich nicht lache", sie musterte ihn kritisch, "Bei dir wurde ja wohl eher auf Sparflamme gekocht. Der einzige Grund, warum du überhaupt Frauen abbekommst, ist weil du Geld hast!"

"Meinst du?", er lächelte leicht, "Ich glaube nicht, aber wenn du das sagst..."

Ihre angriffslustige Art berührte ihn kaum. Wahrscheinlich lag es daran, dass sein Unterbewusstsein seit letzter Nacht nicht mehr damit beschäftigt war, ständig gegen diesen nervigen Blutdurst anzukämpfen, der gelegentlich über ihn herzufallen versuchte, wenn er längere Zeit nichts zu sich genommen hatte.

"Ich finde jedenfalls, dass es ein ziemlich dummes Hollywood-Klischee ist. Als ob alle Vampire aussehen würden, als wären sie Topmodels", fuhr June schließlich fort.

"Nur dass es kein Klischee ist", entgegnete Tyler ruhig, "Es gibt keine hässlichen Vampire. Allerhöchstens welche mit durchschnittlichem Aussehen, so wie du."

Sie warf ihm einen finsteren Blick zu: "Und wer hat diese Regel bitte aufgestellt? Der oberste Vampir-Gerichtshof, oder was?"

Er musste unweigerlich lachen: "Nein, der hat damit nichts zu tun."

June sah ihn erschrocken an: "Sowas gibt es?!" Es war eigentlich nur scherzhaft gemeint.

"Nein, gibt es nicht", löste er die Situation auf, "Aber was ähnliches", er winkte ab, "Das würde jetzt zu weit führen. Ist auch nicht sonderlich bedeutsam. Den Rat brauchst du nur, wenn es wirklich keine andere Möglichkeit gibt, einen Konflikt zu lösen."

"Der Rat?", wieder sah sie ihn ungläubig an, "Was ist das?"

Tyler rollte mit den Augen, er hatte keine Lust ihr das alles zu erklären: "Okay, Kurzfassung: Es gibt nicht nur einen Rat, sondern mehrere. Jeder hat sein eigenes 'Regierungsgebiet' und alle sind völlig unabhängig voneinander. Wenn du ein Problem hast, dass du nicht durch eine schnelle Enthauptung lösen kannst, dann gehst du zum Rat, und wenn deren Entscheidung dir nicht passt, dann änderst du deinen Wohnsitz und fertig."

"Ah... okay. Also könnte ich auch mit meinem Problem da hingehen?"

"Sprichst du von mir?", er warf ihr einen warnenden Blick zu, "Solltest du lassen. Die würden dich exekutieren."

"Warum das?!", ihr war das Entsetzen deutlich anzusehen.

"Weil du keinen Meister hast und deswegen eine Gefahr darstellst", fuhr er mit seinen Erläuterungen fort, "Das habe ich dir doch schon erklärt."

Nun hatte es ihr doch die Sprache verschlagen.

"Aber wie gesagt, viele Probleme lösen sich von ganz alleine, weil in den meisten Fällen jemand anderes eingreift und es einfach gewaltsam löst", beendete er seine Erklärungen zum Thema Justiz in der Vampirgesellschaft.

June war nun deutlich nachdenklicher geworden. Diese ganzen Informationen mussten erst einmal verarbeitet werden. Es gab allerdings noch eine weitere Frage, die ihr unter den Nägeln brannte: "Was passiert eigentlich, wenn wir meinen echten Meister irgendwann finden? Muss er mich dann aufnehmen?"

"Das muss er. Eigentlich", Tyler verzog die Lippen, er dachte nach, "Er hätte dich allerdings auch gar nicht erst irgendwo liegenlassen dürfen."

June senkte etwas bedrückt den Blick, "Vielleicht habe ich mich ja bis dahin schon soweit unter Kontrolle, dass ich gar nicht mehr auf ihn angewiesen bin."

"Unwahrscheinlich. Für gewöhnlich bist du Minimum hundert Jahre an deinen Meister gebunden, danach steht es ihm frei, ob er dich noch länger im Auge behalten will, oder nicht", auch Tyler seufzte leise bei dieser Vorstellung.

"Und wenn er ein perverser Drecksack ist?", sie fand das absolut nicht abwegig, nach allem was in dieser einen Nacht passiert war.

Tyler lächelte bei dieser Frage: "Du meinst also, du könntest ihn weniger mögen als mich? Wow. Wusste nicht, dass das möglich ist"

"Du willst mir wenigstens nicht an die Wäsche"

"Schuldig", dazu hob er symbolisch die Hand, "Wird dein echter Meister aber auch nicht wollen."

Wieder warf sie ihm einen finsteren Blick zu. Aus irgendeinem Grund klang alles was er sagte wie eine Beleidigung, auch wenn er es diesmal überhaupt nicht so gemeint hatte: "Jetzt schau mich doch nicht wieder so an. Ich meine ja nur, dass derartige Beziehungen, ob freiwillig, oder unfreiwillig, nicht zur Diskussion stehen, weil das im Endeffekt doch irgendwo an Inzest grenzt... Und wer will schon eine Affäre mit seiner Tochter oder seinem Sohn?", er sah sie fragend an und hob dann abwehrend die Hände, "Aber ich will auch nicht sagen, dass sowas nie vorkommen würde. Schwarze Schafe gibt es immer."

"Ja super...", sie seufzte schwer. Das waren keine unbedingt beruhigenden Aussichten, vor allem wenn man bedachte, dass ihr Meister sich wohl sowieso nicht um Regeln scherte. Wie dem auch sei, jetzt würde sie sich notgedrungen erst einmal mit Tyler abgeben müssen und vielleicht war ihr Meister auch gar kein so schlechter Kerl. Vielleicht gab es einen anderen Grund, warum er sie zurückgelassen hatte.

"Du wirst dich schon zu wehren wissen", sagte er recht zuversichtlich, stand auf und brachte seine Tasse in die Küche.

"Dafür müsstest du mir wohl erstmal noch so einiges zeigen!", entgegnete sie mit deutlichem Nachdruck.

"Muss ich nicht. Das fällt nicht in meinen Zuständigkeitsbereich", erklärte er ganz sachlich, "Ich könnte natürlich, wenn ich wollte."

"Es wäre mit Sicherheit nicht falsch. Ich denke, ich sollte mich wohl verteidigen können, wenn zum Beispiel dieser Rivers irgendwann aufkreuzen sollte, findest du nicht?", ihre Augen waren streng auf ihren Gastgeber gerichtet, der noch immer in der Küche stand und sich an die Tischkante gelehnt hatte.

Er verzog kurz das Gesicht. June hatte nicht ganz Unrecht mit ihrer Begründung. "Ja ja, schon klar", gab er sich letztlich doch geschlagen, "Aber alles zu seiner Zeit. Ich gehe jetzt erstmal duschen und danach geht's ins CAIN's. Ich will mir die Überwachungsvideos ansehen und vielleicht hilft das auch deinem Gedächtnis auf die Sprünge."

June nickte nur knapp. Wenigstens würde sie also später etwas zu tun haben.

"Mein Bett kommt übrigens morgen", verkündete sie noch beiläufig, als Tyler schon wieder auf dem Weg nach oben war.

Er hielt kurz an und drehte sich zu ihr um: "Welches Bett?"

"Das, was ich vorhin bestellt habe", antwortete sie.

Tyler schien ganz offensichtlich angestrengt darüber nachzudenken: "Ja richtig", er ging weiter, "Wird aber nicht aufgebaut, bevor ich wach bin!"

Dann verschwand er im Badezimmer und June konnte hören, wie er das Wasser anstellte.

Sie hatte sich nach hinten gelehnt und war ein gutes Stück nach unten gerutscht, während sie über alles nachdachte, was Tyler ihr erklärt hatte. Alles in Allem waren das keine guten Aussichten. Generell schien jeder Blick in die Zukunft einen faden Beigeschmack für die junge Frau bereitzuhalten, egal in welche Richtung June dachte. Hundert Jahre an Tylers Seite, oder unter dem Regiment eines anderen Meisters? Von ihrer Familie würde dann niemand mehr am Leben sein, außer Dave – ihr Bruder – würde irgendwann Kinder bekommen. Selbst die würden dann schon nur noch am Krückstock gehen können, wenn überhaupt. Ihre Blicke waren starr auf den schwarzen Fernseher gerichtet, dessen enorme Größe sie nun irgendwie zu erschlagen drohte. Sie hatte sich eines der weichen Sofakissen genommen und krallte unbewusst ihre Fingernägel hinein, während sie ihren Gedanken nachhing. 
 

"Bist du taub?", Tylers Worte rissen sie aus ihrem Tagtraum, "Erde an June: Hochkommen!"

Er stand oben und hatte sie bereits zweimal gerufen, ohne dass sie darauf reagiert hatte. Als June endlich in seine Richtung blickte, konnte sie nur noch sehen, wie er kurz den Kopf schüttelte und sich dann wieder abwandte.

Tyler hatte sich inzwischen eine frische Hose angezogen und erwartete June in seinem Ankleidezimmer. Ohne hinzusehen schloss er die Knöpfe seines schwarzen Hemds und krempelte die langen Ärmel ein Stück nach oben, während er den kleinen Raum ziemlich kritisch beäugte.

"Hier muss umgeräumt werden", verkündete er, als June ins Zimmer trat.

"Und was hat das mit mir zu tun?", sie warf ihm einen entgeisterten Blick zu, "Das ist alles dein Kram."

"Korrekt", antwortete er und drehte sich zu ihr um, "Aber du wirst sicherlich irgendwo dein Bett hinstellen wollen. Und das ist der einzige Raum mit einer Türe, abgesehen von der Toilette und da passt kein Bett rein."

"Ah ja... ja, verstehe", Junes Tonlage war leiser geworden, "Na gut, dann... wo fangen wir an?"

Er zeigte auf eine niedrige, anthrazit-lackierte Kommode mit Schiebetüren: "Die kommt raus ins Schlafzimmer", er lenkte ihren Blick auf die metallenen Regale, die oberhalb der Kommode hingen , "Die Schuhe kommen runter in den Schrank im Treppenhaus, dann kannst du deinen Kram da reinlegen."

Ein leises Seufzen kam über seine Lippen, nachdem er seine Anweisungen beendet hatte. Es schmerzte ein wenig, dass seine Schuhe nun in den großen, dunklen Schrank umziehen mussten, anstatt hier oben neben seinen Hemden, Jacketts und Sakkos stehen zu können.

June nickte und ging hinüber zur Kommode: "Kommst du?"

Tyler haderte ganz offensichtlich noch ein wenig mit der Situation, doch gesagt war gesagt, das konnte er jetzt nicht mehr zurücknehmen. Mit unterschwelligem Widerwillen packte er auf der anderen Seite der Kommode mit an und trug sie mit June hinaus ins Schlafzimmer. Vermutlich hätte sie das auch alleine geschafft, doch Tyler wollte nicht riskieren, dass sie an irgendeiner Ecke hängenblieb und er dann ewig eine Erinnerung an sie in seiner Wohnung haben würde. Auch was seine üppige Schuhsammlung betraf, wollte er sie besser nicht alleine damit hantieren lassen. Es mochte eine üble Unterstellung sein, doch hielt Tyler es für absolut denkbar, dass sein Gast es mit der Sorgfalt nicht all zu genau nehmen würde, wenn es um seine Sachen ging.

"Denkst du, wir finden etwas auf den Videos?", eröffnete June erneut das Gespräch, als sie die letzten paar Schuhe einräumten.

"Ich hoffe es", antwortete Tyler und schloss den Schrank, "Ansonsten muss ich wohl auf ein Wunder warten."

"Wir", korrigierte sie ihn, "Wir müssen auf ein Wunder warten. Tu nicht so, als würde das nur dich betreffen."

Er warf ihr einen gelangweilten Blick zu: "Es gibt kein 'Wir'. Das hier ist eine Zwangsgemeinschaft."

"Wenn du meinst...", sie verdrehte die Augen, "Kann diese Sklavenallianz dann jetzt los?"

Tyler schnaubte amüsiert, als sie das 'Wir' so elegant umschiffte.

"Ja, kann sie", bestätigte er kurz und machte eine knappe Handbewegung, dass June sich in Bewegung setzen sollte, "Wir laufen."

June warf ihm einen mahnenden Blick zu, als er das sagte. Tyler wusste wieso. Er lächelte.

"Findest du, dass es eine gute Idee ist, mich in einen überfüllten Club zu schleppen?", sie sah ihn fragend von der Seite an, als sie die Einfahrt hinunterliefen.

"Nein, aber außer dir weiß keiner wie der Typ aussieht, der dich gewandelt hat", antwortete er ganz pragmatisch, "Oder zumindest theoretisch."

June seufzte leise. Bisher war ihr noch nicht einmal die Erinnerung an überhaupt irgendeine Gestalt gekommen, die sie gewandelt haben könnte, geschweige denn waren in ihrem Gedächtnis irgendwo Gesichtszüge dieser Person aufzufinden.

"Was ist, wenn ich zwischen den vielen Menschen plötzlich am Rad drehe?", ihre Sorge war nicht ganz unberechtigt.

"Deswegen sind wir hier", erklärte Tyler, während sie weiter die Straße entlangliefen.

June verstand nicht: "Wo?"

"Auf der Straße. Wir werden dir unterwegs einen Happen zu Essen organisieren", erläuterte er seine Worte.

"Was?!", ihre Augen waren weit aufgerissen. Die letzten Male, als sie Blut von einem Menschen getrunken hatte, war das ihren Opfern nicht all zu gut bekommen. Sie schüttelte vehement den Kopf: "Nein, das ist keine Option."

"Wie stellst du dir denn sonst vor, dich zu ernähren?", Tyler warf ihr einen kurzen Blick zu, "Du bist noch jung und brauchst täglich frisches Blut, sonst...", er zwirbelte mit dem Zeigefinger neben seiner Schläfe, "Verstehst du?"

"Aber..."

"Kein Aber!", unterband er ihren erneuten Versuch, ihn vom Gegenteil überzeugen zu wollen, "Regel Nummer 1: Du tust, was ich dir sage."

June senkte wütend den Blick. Er kann dich nicht zwingen!

"Ich würde sagen, wir ziehen das Tempo etwas an, sonst sind wir morgen noch nicht in Manhattan", verkündete Tyler, nachdem June sich nicht mehr zu seinem Essensplan geäußert hatte, "Versuche einfach, mir unauffällig zu folgen."

"Ja ja", gab June recht lustlos von sich.

Sie hatte allerdings nicht viel Zeit noch länger trotzig auf den Boden zu starren, sie musste Tyler hinterher, der mit jedem neuen Schritt gefühlt doppelt so schnell wurde, wie zuvor.

Es war ein langer Weg von Long Island nach Manhattan. Gute 30 Kilometer von Tylers Wohnsitz bis zum Central Park und dann nochmal ungefähr 7 Kilometer zum CAIN's CLUB. June war hochkonzentriert. Sie wollte nicht zu weit zurückfallen. Tyler würde sie sonst nur damit aufziehen und davon ganz abgesehen, kannte sie den Weg auch überhaupt nicht. Dass ihre Schritte so leichtfüßig und beinahe tonlos wie die einer Katze waren, fiel ihr in der Eile gar nicht auf. Der Wind pfiff ihr um die Nasenspitze, während sie angestrengt versuchte Schritt zu halten.

Endlich. Tyler wurde wieder langsamer und blieb schließlich an einer irgendwie beliebig wirkenden Stelle stehen. June war einige Meter hinter ihm und kam mit leichter Verzögerung ebenfalls an. Sie atmete tief durch und stützte sich mit den Händen auf ihre leicht gebeugten Knie.

"Na, erledigt?", fragte er schmunzelnd und sah zu ihr runter.

"Ja. Nein, ich meine... ich muss nur wieder Luft bekommen", sie keuchte recht ordentlich und hatte die Augen leicht zusammengekniffen, was wohl der nicht zu verachtenden, sportlichen Leistung zu schulden war.

Tyler ließ ihr die Zeit, um sich wieder zu regenerieren. Er zog sich seine schwach getönte Sonnenbrille von der Nase und betrachtete diese einen Moment, bevor er sie in seine Hosentasche steckte.

"Machst du jetzt einen auf Blade, oder was?", June war nicht entgangen, dass er sich schon ziemlich zu Beginn ihres Weges diese Brille aufgesetzt hatte.

"Nein, sicher nicht", antwortete er ganz nüchtern, "Aber hast du schon mal bei 80 km/h eine Fliege ins Auge bekommen?", er sah sie abwartend an, fuhr aber selbst fort und klopfte sich kurz auf die etwas ausgebeulte Hosentasche, "Kann ich nur empfehlen."

June blinzelte etwas ungläubig angesichts dieser durchaus logischen Erklärung. Sie beschloss nichts mehr darauf zu sagen und wandte ihren Blick stattdessen der Weite des Gehwegs zu, auf dem sie standen.

Nun war ihr klar, warum Tyler ausgerechnet hier angehalten hatte: Ein einsamer Mann mit kurzen, blonden Haaren saß an der Bordsteinkante und machte einen äußerst deprimierten Eindruck. Direkt armseelig.

"Der?", June hatte ihren Blick wieder nach oben zu Tyler gerichtet.

Er nickte: "Ich denke, er könnte etwas Trost gut vertragen."


Nachwort zu diesem Kapitel:
Hoffe, dass das nicht zu viele Infos auf einmal waren^^'
Danke für's Lesen :)

Ach ja und: Sorry! an alle homosexuellen Männer, die sich eventuell von Tylers Ausdrucksweise angegriffen gefühlt haben sollten... Der Gute ist politisch nicht immer ganz korrekt...^^' Komplett anzeigen

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Kommentare zu diesem Kapitel (3)

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Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  noamuth
2014-08-11T14:41:45+00:00 11.08.2014 16:41
Gegen Infokapitel ist nichts einzuwenden^^ Das gibt den ganzen Umfeld mehr Farbe. Da es an der Form nichts zu rütteln gibt, lasse ich mich über was anderes aus:

Diese verdammten Vampire brauchen einen Gleichstellungsbeauftragten xD
Ist ja gemein, dass nur Menschen mit guten Aussehen Vampire werden können. Jetzt kann ich mir auch eine eventuelle Vampirjäger Organisation vorstellen. Deren Gründer wurde sicher aus diesen unfairen Gründen als Vampir abgelehnt und sann auf Rache :P
Außerdem finde ich es gut, das June aus der Puste sein kann, denn das heißt, sie atmet. Macht auch Sinn, weil Reden sonst schwer werden würde. Damit ergeben sich gerade unendlich viele Möglichkeiten einen Vampir umzubringen ohne mit einer Armee als Mensch auftauchen zu müssen xD
Auf einmal sind Vampire gar nicht mehr so mächtig, was sie wiederrum symphatischer macht, mal abgesehen davon, dass einige ihrer Art totale Pfosten sind *hust* *Tyler* *hust* <^_^>
Aber so ein Gerichtshof der Vampire hätte trotzdem was. Keine elendich langen Verhandlungen, wie bei den Menschen, wo am Ende eh nur das Geld siegt. Kopf ab und gut. Auch wenn Vampire ja unendlich viel Zeit haben: Die kann man besser verbringen als mit Justiz^^
Antwort von:  DieJESSYcA
11.08.2014 16:50
Ich bin hier gerade fast vom Schreibtischstuhl gefallen xD
Haha, meine Arbeitskollegen hätten sich gewundert^^

Es gibt tatsächlich viele Möglichkeiten einen Vampir umzubringen (ähnlich wie bei Menschen), die Frage ist nur: bleiben sie dann auch tot? -> No. Um einen Vampir endgültig zu erledigen bedarf es etwas mehr u.u
Aber das wird später nochmal etwas näher erläutert^^ (zumindest ist das geplant xD)

Hach ja, Tyler der Pfosten^^ Ich liebe das xD

Du hast das Prinzip der Vampir-Räte verstanden^^ Kopf ab und Feierabend :)
Apropos Feierabend: Ich hab gleich Schluss :D

Wiedermal vielen lieben Dank für deinen Kommentar und deine Gedanken^^
Von: abgemeldet
2014-07-27T17:27:47+00:00 27.07.2014 19:27
Tolles Kapitel!
Antwort von:  DieJESSYcA
27.07.2014 19:36
Dankeschön :)
Von:  WinchestersColt
2014-07-25T13:27:40+00:00 25.07.2014 15:27
Tolles Kapitel. :-) Ich lese es so gerne in dieser Form ;-) und das ein oder andere Grinsen war einfach nicht zu verbergen :-D
Ich freue mich schon auf die naechsten Kapitel. Kann es kaum erwarten <3
Antwort von:  DieJESSYcA
25.07.2014 15:29
Vielen vielen Dank für deinen Kommi :)
Freut mich, dass ich dich zum Grinsen bringen konnte xD
Das war der Plan :D


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