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Henkerslied

Die Wahrheit über H. Abernathy
von

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Eine Frage der Ehre

Seit einer guten Stunde sitze ich im Wohnzimmer auf dem Sessel und starre unentwegt auf die Zeiger der antiken Wanduhr.

Bald reißt mir der Geduldsfaden. Ich weiß nicht, wann bei diesem Mensch Abend sein soll. Würde ich mir selbst nicht trauen, dann säße ich jetzt mit Sicherheit nicht hier.

Ordnungsgemäß habe ich heute Morgen alle Jalousien heruntergelassen und alle Türen, die aus dem Wohnzimmer führen, sorgfältig verschlossen. Nur die Tür, die an den Flur angrenzt, ist jetzt noch geöffnet. Mir wurde gesagt, die Wächter würden nicht klingeln. Sie besäßen selbst einen Schlüssel. Gut zu wissen.

Gar nicht gut ist es dagegen, so lange untätig herum zu sitzen. Deshalb stehe ich auf und drehe ein paar Runden in meinem Wohnzimmer, das ich mir bislang nicht genauer angesehen habe. Da ist der Kamin und auch ein Fernseher. Daneben hängt das Bild, das einen Wald mit einer Lichtung zeigt. Die tickende Wanduhr, deren Zeiger auf viertel nach Sieben weisen. Noch ein paar Tischaccessoires und ein Teppich, der unter dem Sofa und den Sesseln liegt. Das Ganze beleuchtet von gedämpftem Licht. Ansonsten ist nichts Interessantes in diesem Raum vorzufinden.

Außer vielleicht, dass der Tisch zum ersten Mal mit Gläsern und Tellern gedeckt ist. Ich habe Kuchen gekauft. Erdbeerkuchen. Den hat meine Mutter früher immer gebacken.

Dann klopft es plötzlich dreimal an der einzigen Tür, die nicht verschlossen ist und ich drehe mich mit hinter dem Rücken gekreuzten Armen in diese Richtung. Wieder bietet sich mir das Bild von zwei Männern, die einen dritten umrahmen.

Ich atme einmal tief ein und wieder aus. Dann lasse ich mich in den Sessel gleiten und nicke auf den Platz mir gegenüber. Liam wird von den beiden Gestalten dorthin gezerrt, dann wendet sich der Dunkelhaarige an mich. »Vier Stunden. Nicht mehr. Keine Spielchen.«

Ich nicke den Wichtigtuern kurz zu, dann machen die beiden kehrt und verlassen den Raum. Natürlich warten sie vor der Tür. Und natürlich ist das Haus von weiteren Friedenswächtern umgeben. Aber das macht nichts.

»Hallo, Liam«, sage ich und greife nach der Kanne, die auf dem Tisch steht. »Tee?«, frage ich und halte die Öffnung bereits leicht über seine Tasse geneigt.

»Magst du überhaupt Tee?«, frage ich, dann stelle ich die Kanne resigniert beiseite. Für einige weitere Minuten unternehme ich keinen Versuch mehr, irgendeine Form von Konversation zu betreiben. Stattdessen richte ich meinen Blick starr auf meine Handflächen und verschränke die Finger miteinander.

Nachdem noch mehr Zeit verstrichen ist, sehe ich schließlich auf. Sie haben sich keine Mühe gemacht, ihn durch Schminke noch einmal schön herzurichten.

»Liam«, sage ich und warte auf eine Reaktion. Doch seine Augen kleben weiterhin an irgendeinem Punkt im Zimmer.

Seufzend schenke ich mir selbst etwas Tee ein und trinke einen Schluck. Wenn ich die Tasse in der Hand behalte, droht die Flüssigkeit überzuschwappen, deshalb stelle ich sie sorgfältig wieder auf den Tisch und mustere erneut meinen ehemaligen Freund und Gegenspieler.

An seinem Handgelenk befindet sich vermutlich noch immer das Armband. Ich kann es zwar nicht sehen, aber er verdeckt genau diese Stelle mit seiner anderen Hand.

Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Eigentlich könnten wir uns auch die gesamte Zeit anschweigen. Aber das bringt niemandem von uns etwas.

»Willst du, dass die Aufstände aufhören?«, frage ich gerade heraus und warte seine Reaktion ab. Keine Ahnung, was er verstanden hat, doch mit einem Mal fängt er an, wie wild an dem Faden des Armbands zu reißen.

Schnell springe ich auf und packe ihn an beiden Armen. Ich weiß doch, was ihm dieses Armband bedeutet. Aber es hilft nichts.

Perle um Perle segelt schließlich zu Boden und ich vernehme wieder dieses kehlige Schreien, das mir selbst durch Mark und Bein geht. Ich versuche ihn zu beruhigen, doch er schreit immer und immer weiter.

In meinen Ohren fängt es an zu klingeln.

Dann verpasse ich ihm von jetzt auf gleich einen Schlag auf die Wange. Nicht mit voller Wucht, aber hart genug, um seine Haut rot anlaufen zu lassen. Augenblicklich kehrt Ruhe ein.

Mit einer Hand umfasse ich einen seiner Arme, mit der anderen packe ich sein Kinn und drehe sein Gesicht in meine Richtung. Sein Atem geht unregelmäßig. Unsere Blicke treffen aufeinander. Bruchteile später durchzieht ein beißender Schmerz meinen rechten Oberarm, lässt mich aufschreien und zurückweichen.

Eine Hitze breitet sich an der betroffenen Stelle aus. Er hat mir doch tatsächlich die Gabel in den Oberarm gerammt. Dieser Idiot. Dieser verfluchte Idiot. Mit zusammengebissenen Zähnen umfasse ich den Griff und ziehe das Metall mit nur einem Ruck aus der Wunde heraus. Mit einem dumpfen Klang schlägt die Gabel auf dem Boden auf.

Niemand greift ein. Trotz unserer Schreie. Es ist denen scheißegal, ob wir uns hier drinnen gegenseitig die Köpfe einschlagen oder nicht. Unser Tod würde dem Kapitol viel mehr so einige Probleme ersparen.

»Was ist denn nur los mit dir?«, schreie ich durch das Zimmer und trete wieder an ihn heran. Ich beginne an ihm zu rütteln, doch er hält sein Gesicht in den Händen begraben. »Reiß dich endlich mal zusammen, Liam! Ich bin's. Haymitch. Verflucht, du musst mich doch noch erkennen oder etwa nicht?«

Zur Antwort wird er langsam ruhiger. Dann nimmt er sogar die Hände von seinem Gesicht und sieht mich an. Er sieht mich intensiv an. Mit Augen, die längst nicht mehr wachsam geöffnet sind. Sie sind fast geschlossen. Als würde er jeden Moment einschlafen. Oder einfach nur nichts mehr sehen wollen.

Vor ihm gehe ich langsam in die Hocke und greife seinen Oberarm, der zwar von Kleidung bedeckt ist, aber seltsam uneben wirkt. Insgesamt ist der Liam vor mir nicht mehr mit dem zu vergleichen, den ich in den Spielen kennenlernte. Früher galt er als schöner Mann. Außergewöhnlich schön sogar, fanden einige Frauen. Heute sieht er aus wie jemand, der einfach nur noch wartet.

Er wartet vermutlich, seit er in diese Hölle geschickt wurde. Mit einer gewissen Hoffnung in seinem Blick sieht er mich jetzt auch an. Ich weiß nicht, wie viel von dem, was hier passiert, bei ihm noch ankommt. Ich weiß ja nicht einmal mehr selbst, ob er hier ist oder nicht. Aber ich glaube schon. Und ich hoffe es.

Zum ersten Mal formt er mit seinen Lippen ein paar stumme Worte, die ich so schnell nicht greifen kann. Meine Augen wissen nicht mehr, wohin sie gucken sollen. Auf seine Augen, die mich durchdringend ansehen. Seinen Mund, der noch einmal mit mir sprechen soll oder auf seine Gliedmaßen, die immer stärker zu zittern beginnen.

Zumindest weiß ich jetzt, was er mir mit all dem sagen möchte. Ich weiß, worum er mich bittet.

»Ich kann das nicht«, sage ich leise, doch er wendet den Blick nicht ab.

»Tut mir leid. Ich kann das wirklich nicht. Ich kann das nicht mehr«, erkläre ich weiterhin und stehe dann auf, um ihn einmal in die Arme zu schließen. Ich drücke nicht fest zu, weil ich nicht weiß, wo er Knochenbrüche oder Verletzungen hat.

Eigentlich wollte ich ihn bitten, mir die Entscheidung abzunehmen. Er sollte mir aufschreiben, was er von allem hält. Dafür liegen Papier und Stift bereit. Ich wusste nicht, dass es so schlimm um ihn steht. Das, was man im Fernsehen sieht, wirkt einfach immer so weit entfernt und unrealistisch.

Aber jetzt weiß ich zumindest, was ich tun muss. Das ist für mich ganz offensichtlich. Meine Entscheidung ist gefallen.



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