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Campanula

Winterwichtelgeschichte für Ur
von

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One Shot

Sie warf einen weiteren Blick auf den kleinen Zettel in ihrer Hand.

Kreuzkugeln S-X53. Weihwasser A3, 300ml, 12er-Set. Weiße Kreide, flüssig. Rezeptur P–CA-EU-VBM 500, bestellt. – Alles Zubehör, welches sie im Spezialladen für Exorzismuszubehör bekommen konnte.

Und genau dorthin war sie auf dem Weg. Auf Bitten von Yukio, selbstverständlich, denn wäre es nach ihr gegangen, hätte sie ihren Nachmittag definitiv entspannter verbracht, wenn sie schon einmal die Gelegenheit auf etwas Freizeit hatte. Der einzige Trost lag darin, dass besagter Einkaufsladen nicht weit von der Heiligkreuz-Akademie entfernt lag. Mithilfe des richtigen Schlüssels war es eine Sache von zehn Minuten; fünfzehn, wenn sie langsam lief.

Seufzend schob sie den Zettel zurück in die Tasche ihrer graublauen Joggingjacke und ließ die Hände gleich mit in ihnen verschwinden. Wenn sie ehrlich war, hatte sie keine Lust, diesen Einkauf zu tätigen. Normal kümmerte sich Yukio selbst um solche Angelegenheiten oder, sofern er keine Zeit hatte, schickte einen der Jungs los, die sich über jegliche Form von Abwechslung zu freuen schienen. Leider waren die Herren zur Zeit mit einem Spezialtraining beschäftigt, zu welchem der junge Lehrer die Aufsicht hatte, und Izumo war wohl die Erste gewesen, die er gefunden hatte, um der aufgabenlosen Schülerin ihren freien Nachmittag zu ruinieren. Typisch, sie musste immer ein solches Glück haben.

Aus der Ferne konnte sie bereits den kleinen Laden erkennen. Schlicht, unauffällig und nicht sonderlich einladend. Vermutlich erachteten es die Besitzer nicht als Notwendigkeit, ihn äußerlich ein wenig aufzuhübschen, da Leute, die nicht eingeweiht waren und keinem Exorzistenhandwerk nachgingen, für gewöhnlich nicht hierher gelangten. Zudem war es das einzige spezialisierte Geschäft in nächster Nähe der Akademie und somit ohne Konkurrenz. Dennoch, befand Izumo, hätte es wirklich nicht geschadet, sich ein kleines bisschen mehr zu bemühen.

Das helle Läuten einer Glocke über der Tür kündigte ihr Eintreten an und wiederholte sich, als sie die Tür hinter sich schloss. Der Laden war noch kleiner, als sie von außen erwartet hätte, eng und bis auf einen schmalen Durchgang genügsam zugestellt. Obgleich draußen noch helllichter Tag war, war es im Inneren des Geschäfts eher dämmerig und düster. Vielleicht lag es daran, dass alles Mögliche den direkten Blick zum Fenster nahezu unmöglich machte oder an den dunkelroten Vorhängen, die den Einblick von außen verhinderten. Entzündete Kerzen und einige altmoderne Deckenlampen spendeten spärlich Licht. Der dominante Geruch von Weihrauch lag schwer in der Luft vermischt mit weiteren spirituellen Düften, aus denen sie Myrrhe und Lavendel herauskristallisieren konnte. Von der Decke hingen zusammengebundene Strauße von verschiedenen Kräutern, Wurzeln und sonstigen Heilpflanzen, die einen Hauch von erdigen Duftnoten verströmten.

„Hallo“, verkündete sie ihre Anwesenheit in den Raum hinein und folgte dem Durchgang zu dem improvisierten Empfangstresen, der aus nicht mehr bestand als einem niedrigen Holztisch auf einer Bodenerhöhung und einem alten Wahlscheibentelefon. Direkt dahinter befand sich eine traditionelle Schiebetür, die sich just in dem Moment aufschob und eine genährte Frau mittleren Alters aus dem ominösen Hinterzimmer heraustrat. Sie tat noch einen Zug von ihrer langen Tabakpfeife, ehe sie zwischen den rundlichen Wangen zu dem Mädchen herüberlächelte.

„Hallo. Oh, bist du von der Akademie?“

„Ja.“ Izumo blieb vor der Frau stehen, legte die Hände nach vorn und verneigte sich höflich. „Guten Tag, ich bin Kamiki Izumo. Okumura-sensei schickt mich, um seine Bestellungen abzuholen.“

„Ah, sieh an. Du bist also in Yukios Klasse. Ich habe ihn lange nicht mehr gesehen.“ Ein warmherziges Lächeln breitete sich auf dem Gesicht der Frau aus. Mütterlich, bemerkte Izumo, und war ein wenig verwundert darüber. „Na, dann lass mal sehen. Was braucht der Gute denn diesmal?“

Mit einem Nicken kramte Izumo den Einkaufszettel aus ihrer Jackentasche hervor und überreichte ihn der Frau, bei der es sich offensichtlich um die Ladenbesitzerin handelte.

Sie nahm das knittrige Papier entgegen, las kurz über die Zeilen, ehe sie das Blatt senkte und abermals lächelte. „Ich sehe. In Ordnung, Izumo-chan, ich suche eben alles zusammen. Wartest du bitte solange hier, bis ich zurück bin?“

„Natürlich“, versicherte sie der Frau mit einem Kopfnicken, welche daraufhin wieder hinter dem dunklen Vorhang verschwand.

Und dann war es still. Von irgendwoher war das Ticken einer alten Wanduhr zu vernehmen, doch Izumo konnte nichts dergleichen ausmachen. Aus dem Hinterzimmer drang kein Ton nach vorn und sie fragte sich, wohin die Frau verschwunden sein mochte, dass sie nicht das Geringste hören konnte, was nach Kram- oder Suchgeräuschen klingen musste.

„Hoffentlich beeilt sie sich“, sprach sie leise zu sich selbst und stieß einen Seufzer aus. Obgleich sie nicht behaupten konnte, dass ihr kalt war, rieb sie sich unwohl die Arme, während sie sich umblickte. Sie hatte keine Angst, doch ganz allein umgeben von allem möglichen und unmöglichen Zeug zu stehen, von dem sie nicht einmal wusste, wozu das alles gut sein sollte, erschien ihr entfernt unheimlich.

Dann plötzlich, ohne jegliche Vorwarnung, sprang eine Seitentür auf, die sie bis dahin nicht bemerkt hatte, und ließ sie in einem kurzen Aufschrei zusammenfahren. Eine eher kleine Gestalt stolperte in den Raum hinein, die in dem grellen Licht-Schatten-Kontrast für den ersten Moment kaum zu erkennen war.

„Mutter!? Mutter, er ist weg! Er –“

Ein lautes Poltern schnitt dazwischen, ließ das Mädchen erschrocken aufschreien und im letzten Augenblick erkannte Izumo noch einen bunten Stofffetzen, der hinter dem alten Holztresen zu Boden ging.

Sie war sich noch nicht ganz sicher, was dort soeben geschehen war. Ihr Herz raste unter ihrer Brust, der Schrecken saß ihr noch in den Gliedern und Izumo bemerkte, dass sie ab irgendeinem Zeitpunkt die Luft angehalten hatte. Jetzt, da sie langsam das Geschehene zu verarbeiten begann, glaubte sie, die Stimme zu erkennen, die eben so hektisch in die gespenstische Stille eingefallen war.

„H-hey, bist du in Ordnung?“, fragte sie das Erste, was ihr in den Sinn kam, und eilte in wenigen Schritten zu der Unfallstelle. Dort, auf dem alten Dielenboden zwischen verschieden Notizzetteln, Papieren und kleineren Tonschälchen lag längst ausgestreckt das blauviolette Stoffbündel mit weißem Blumenmuster, am oberen Ende ein blonder Haarschopf, der das Gesicht des gestürzten Mädchens bedeckte. Unter den zuckenden Schultern wimmerte und schluchzte es unrhythmisch.

„H-hey“, versuchte es Izumo erneut, hockte sich zu dem Häufchen Elend herunter und zögerte, ob sie es sacht rütteln sollte oder nicht. Was sich zum Glück ganz von selbst erübrigte, als der Haarschopf sich hob und ihr ein Paar großer grüne Augen verheult entgegenblickte.

Izumo zuckte augenblicklich zurück. „M-Moriyama Shiemi?!“

„Kamiki-san?“, kam es gepresst von dem blonden Mädchen zurück, die sie mindestens genauso überrascht anschaute wie sie selbst. Dann bemühte sie ihre Kräfte, kniete sich auf, nur um sich der Klassenkameradin schluchzend an den Hals zu werfen. „Kamiki-san! Bitte hilf mir! Nii-chan … Nii-chan ist …!“

„Hey, lass mich los!“, versuchte sie das Mädchen abzuwehren und legte ihr die Hände an die Schultern, ohne die Kraft aufzubringen, sie tatsächlich zurückzudrängen. Unter dem Stoff ihres Alltagskimonos bebte es und Izumo musste hart schlucken, sich nicht davon weichkriegen zu lassen. Ihre Stimme klang dumpf, als sie fragte: „Was ist mit deinem Grünling?“

„Er ist fort“, presste Shiemi erstickt an ihrer Brust hervor, woraufhin sie den Kopf hob und schließlich ein Stück zurückwich, um die Freundin anzusehen. „Nii-chan ist fort. Ich habe schon überall nach ihm gesucht … aber ich kann ihn einfach nicht finden. Er ist einfach verschwunden.“

„Was meinst du mit »er ist fort«?“
 

Kurz darauf standen die beiden Mädchen in dem großen, artenreichen Garten, welcher direkt an den kleinen Laden angrenzte. Dicht bewachsen von den verschiedensten Kräutern, Blumen bis hin zu Bäumen, die Izumo noch nie in ihrem Leben gesehen hatte, wirkte der bunte Garten dennoch ordentlich und gepflegt. Ganz im Gegensatz zu dem eher stickig wirkenden Geschäft war die Luft zwischen all den Pflanzen erquickend klar und frisch.

„Vorhin kam eine Bekannte meiner Mutter vorbei und hat uns besucht“, erklärte Shiemi indes, während sie die Freundin durch den Garten führte. „Sie hatte ihren Hund dabei und ich bin zum Tor, um sie zu begrüßen. Normal sehen Menschen Dämonen nicht, also hatte ich Nii-chan noch auf meiner Schulter, da wir zuvor zusammen Unkraut gejätet haben. Aber Tiere können sie spüren, also hat ihr Hund laut zu bellen angefangen, als ich mich zu ihm herunterbeugen wollte, und ist aufgesprungen. Das hat Nii-chan erschreckt und er ist fortgelaufen.“ Eine kurze Pause trat ein, in der das Mädchen traurig seufzte und gegen die erneuten Tränen ankämpfte. Schniefend rieb sie sich mit dem Arm über das Gesicht, ehe sie fortfuhr: „Ich war selbst total erschrocken und habe daher nicht ganz gesehen, wohin er verschwunden ist. Die Bekannte meiner Mutter war auch ganz entsetzt, denn normal ist Bonnie ein ganz lieber Hund, der nie anderen gegenüber aggressiv wird. Als meine Mutter dazukam und sie von dem Tor wegholte, habe ich sofort begonnen, nach Nii-chan zu suchen … aber ich kann ihn nirgends finden. Ich habe den gesamten Garten durchgesucht, habe unter jedem Blatt nachgesehen und sogar im Schuppen und drum herum. … Aber er ist nirgends aufzufinden.“

„Hm.“

Skeptisch musterte Izumo das Mädchen an ihrer Seite. Ihr war schon im Laden aufgefallen, dass der helle Kimono mit Erde übersät und besonders ab Kniehöhe abwärts aufs Schlimmste verdreckt war. Auch dass die schmalen Hände schmutzig waren und unter den Fingernägeln sowie an den Fingernagelbetten Dreck haftete, war ihr nicht entgangen. Vermutlich musste Shiemi auf ihren Knien durch den Garten gekrochen sein und mit den bloßen Händen in der Erde gegraben haben, um den kleinen Dämon zu finden. Eine grausige Vorstellung, die Izumo außerdem für total bescheuert hielt, doch irgendwie passte dieses Bild zu dem zerstreuten Mädchen. Es sah ihr durchaus ähnlich, vor lauter Sorge im Boden herumzustrauchen, während ihr unaufhörlich die Tränen über die Wangen liefen und nur dafür sorgten, dass der aufgewirbelte Schmutz auch an ihnen haften blieb. Das Gesicht des Mädchens war dreckig und verschmiert, wie oft mochte sie sich achtlos mit den schmutzigen Langärmeln darübergestrichen haben, um ihre Sicht zu klaren?

Izumo wandte den Blick von ihr ab. „So, ein Hund also?“ Sie schnaubte abfällig. „Ist das alles? Nur wegen eines bellenden Hundes? Der Winzling kämpft gegen gruselige Monster und Dämonen, die ihn zwischen ihren Klauen ohne Mühe zermalmen könnten. Aber bei einem normalen Hund bekommt er schnelle Füße. Dass ich nicht lache!“

„Er hat sich eben erschrocken“, versuchte Shiemi ihren kleinen Dämonenfreund vor den Vorwürfen der Freundin zu verteidigen. „Normal rufe ich ihn ja erst, wenn es bereits zum Kampf gekommen ist. In diesem Fall war aber alles friedlich, bis es auf einmal laut wurde und ein ihm fremdes Wesen feindlich wurde.“

„Dennoch ist das für einen Dämon erbärmlich.“ Sie warf dem Mädchen einen zerschmetternden Blick zu, welche daraufhin betreten zur Seite auswich. Etwas anderes hatte sie auch nicht von Shiemi erwartet.

„Zerreiß doch einfach das Papier und beschwöre ihn erneut?“, schlug Izumo vor.

Shiemi schüttelte den Kopf. „Das kann ich nicht. Ich weiß nicht, in welcher Situation er gerade ist und was er macht. Ich möchte ihm nicht schaden.“

Das war unfassbar. Izumo stieß ein schweres Seufzen aus. „Vielleicht ist er nur in die Dämonenwelt zurückgekehrt. Hast du schon versucht, ihn neu zu beschwören?“

„Ja, das habe ich“, bestätigte Shiemi und holte unter dem Stoff ihres Kimonos das Papierstück hervor, welches sie für die Beschwörung des Pflanzendämons verwendete. Bis auf einen feinen Blutstrich, der von dem letzten fehlgeschlagenen Herbeirufungsversuch zeugte, war das Papier unversehrt.

Shiemi blickte traurig auf das kleine unscheinbare Wunder zwischen ihren verschmutzten Fingern. „Ich dachte ja auch, dass er vielleicht in der Dämonenwelt Schutz gesucht haben könnte, und habe versucht, ihn erneut zu rufen. Aber er hat mir nicht geantwortet. … Ich habe es noch ein zweites Mal versucht, aber … es tut sich nichts.“

„Das heißt, dass er noch in unserer Welt ist“, schlussfolgerte Izumo.

Shiemi neben ihr nickte.

„Und du bist sicher, dass du überall geschaut hast?“

„Ja.“ Erneut nickte sie.

„Ganz sicher? Dein Grünling ist so winzig und der Garten ist so groß. Und … grün.“ Izumo schauderte es. Der Gedanke, im Dreck herumkriechen zu müssen, um ein kleines Pflanzenmännchen zwischen all dem dichten Gewächs suchen zu müssen, behagte ihr überhaupt nicht. Shiemis Sorge um ihren Partner hin oder her, auf gar keinen Fall würde sie ihre Lieblingsfreizeithose beschmutzen. Niemals!

Und wenn sie ihre eigenen Gefährten beschwören und um Hilfe bitten würde? … Nein, den Gedanken verwarf sie besser gleich wieder. Miki und Uke, die beiden Fuchsdämonen, waren schon so kaum gut auf sie zu sprechen und stellten ihre Kompetenz ständig in Frage. Sie würden sie nicht mehr respektieren, wenn sie um solch einen Gefallen bitten würde, und das würde sie spätestens im nächsten Kampf mit Sicherheit zu spüren bekommen. Das Risiko war zu hoch für etwas, das nicht genug Priorität besaß, als wenn tatsächlich ein Leben auf dem Spiel stünde.

„Ja“, bestätigte Shiemi erneut. Ein leises Schniefen folgte. „Ich habe überall gesucht. Ich frage mich, ob er überhaupt noch im Garten ist. Ich mache mir solche Sorgen um ihn … Er könnte sich verirrt haben oder ihm könnte etwas zugestoßen sein. Er ist doch noch so klein.“

Ohne es zu bemerken, hatte Izumo die Hände in ihren Taschen vergraben und spürte das dünne Papier zwischen ihren Fingern. Entschlossen ließ sie davon ab, um nicht versucht zu sein, aller Vernunft und Gewissheit zum Trotz nach den beiden Füchsen auszurufen.

„Vergiss nicht, was er ist“, wandte sie sich zurück an Shiemi, um sich lieber auf deren Besinnung zu konzentrieren. „Dummkopf. Wenn es ihm wirklich zu gefährlich werden würde, könnte er jederzeit nach Gehenna zurückkehren. Dasselbe, wenn er sich verirrt hätte. Er ist kein Baby oder kleiner Welpe, der zwangsweise auf Schutz und Hilfe von einem Menschen angewiesen ist.“

„Aber …“

„Hör einfach auf damit. Du bist albern. Deine ganze übertriebene Sorge um diesen Dämon ist albern, absolut unnötig. Er wird schon wiederkommen und wenn nicht, versuchst du einfach später nochmal, ihn zu beschwören. Dämonen sind nicht dumm, nicht zwangsweise, er wird von ganz allein –“

„Warte!“, unterbrach Shiemi sie abrupt und Izumo verstummte. Das blonde Mädchen wirkte mit einem Mal hellwach, erhob den Kopf und starrte ins Nichts. „Kamiki-san, hörst du das?“

„Hören? Was?“

„Hör doch!“, beteuerte Shiemi, sichtlich aufgeregt.

Ihr blieb keine andere Wahl. Obgleich sie nicht viel Wert auf die Bemühungen des Mädchens gab, schloss sie die Augen und lauschte konzentriert. – Nichts.

„Hörst du das?“

„Nein“, patzte Izumo genervt und gab den Versuch auf. „Was denn, bitte? Da ist nichts.“

„Doch, doch!“, bestritt Shiemi voller Überzeugung. „Ich kann ihn hören. Nii-chan, ich kann ihn hören! Es kommt von … dort!“

Augenblicklich lief sie los, ohne die Richtung zuvor vorzugeben. Nur widerwillig folgte Izumo ihr, wobei sie sich kaum beeilen musste, da das kurze Tippeln des Mädchens mühelos im Schritttempo aufzuholen war.

Vor einem zweimeterhohen Baum blieben sie stehen. Die Gattung war Izumo unbekannt, noch nie hatte sie solch seltsame herzförmige Blätter gesehen. Wenn sie bedachte, dass es in diesem Garten noch ganz andere merkwürdige Pflanzen gab, die ihr nie zuvor untergekommen waren, überraschte sie nichts mehr.

„Nii-chan? Nii-chan, ich bin hier!“, rief Shiemi aus und suchte konzentriert die nähere Umgebung zu ihren Füßen ab. Erst das leise „Ni-ni“, welches leise wimmernd aus der Baumkrone zu vernehmen war, ließ sie aufblicken. „Nii-chan? Nii-chan! Was machst du denn dort oben?“

„Hey“, machte sich Izumo von der Seite bemerkbar. „Ich dachte, du hättest alles nach ihm abgesucht?“

„Ähm“, wandte sie sich nach der Freundin um, wodurch zu erkennen wurde, dass sich eine verlegene Röte auf ihre Wangen spielte, „also … nicht die Bäume, wenn ich ehrlich bin. Normalerweise hält er sich nicht gern in solchen Höhen auf. Es ist das erste Mal, dass er auf einen Baum geklettert ist.“

„Ich glaub’s nicht …“

Shiemi wandte sich von ihr ab, formte ihre Hände um ihren Mund und rief zu dem kleinen Pflanzendämon hinauf. „Nii-chan, es ist gefährlich dort oben. Komm bitte herunter!“

Bibbernd klammerte sich das winzige Wesen an der rauen Rinde fest, immer wieder leise „Ni-ni“-Laute ausstoßend. Zögerlich öffnete es die kleinen Äuglein und schaute zu seiner Herrin herunter, wodurch es sich der Höhe, in der es sich befand, gewahr wurde und sich nur noch unbeholfener an den Stamm presste, seine Rufe umso kläglicher und lauter.

„Er hat Angst“, bemerkte Shiemi schnell und wusste für sich keinen Rat, was sie tun sollte, um dem kleinen Freund zu helfen. Einen flüchtigen Moment lang betrachtete sie sich den Baumstamm, der sich vor ihr erstreckte, und schien abzuwägen, ob sie den Versuch wagen sollte oder nicht.

Kurz darauf nickte sie entschlossen. „Na schön, dann komme ich eben zu dir herauf!“

Am liebsten hätte sich Izumo umgedreht und wäre gegangen oder hätte zumindest die Augen verschlossen, statt dem kläglichen Vorhaben zuzusehen, das von vornherein zum Scheitern verurteilt war. Auf der einen Seite schätzte sie natürlich den Eifer des Mädchens, das sie nicht zum ersten Mal erstaunte, auf der anderen Seite war es einfach zu peinlich. Sollte sie lachen oder weinen, als sie mit ansehen musste, dass es Shiemi zwar bis zu dem ersten Ast schaffte, dort jedoch nur klammerte und wild zappelte wie ein Fisch, der auf trockenem Land lag.

„Ist das dein Ernst?“, kritisierte sie zu der unbeholfenen Freundin hinauf, die offensichtlich nicht wusste, was sie dort überhaupt tat. Peinlich berührt schlug sie sich die Hand vors Gesicht. „Gott, stemm dich am Stamm ab und zieh dich rauf, Idiot! Was machst du denn da?!“

„Nii-chan, ich komme zu dir! Hab keine Angst, ich hole dich dort runter!“

„Von wegen, du machst es nur noch schlimmer!“, meckerte sie zu ihr hinauf, was stimmte, denn das Wimmern des kleinen Dämons wurde stetig lauter und ergab zusammen mit dem fruchtlosen Rufen des Mädchens eine untragbare Terzkulisse.

Shiemi gab sich alle Mühe, den Anweisungen der Freundin Folge zu leisten, und versuchte mit ihren Füßen Halt am Baumstamm zu finden. Als sie ihn gefunden hatte, umklammerte sie ihren Ast ängstlich mit dem Arm, während sie die freie Hand nach oben streckte, um nach irgendetwas zu greifen, an dem sie sich hinaufziehen könnte. Sie fand nichts, zugleich rutschten ihre Holzsandalen an der Rinde ab und versetzten das Mädchen in Panik. Sie verlor die Orientierung und stürzte schließlich ungeschickt und mit einem lauten Poltern zu Boden.

„Was sollte das denn werden?“, setzte Izumo ihre Vorhaltung an das Mädchen fort und trat an sie heran, die Hände verwerflich in die Hüften gestemmt. „Das war nicht nur schlecht, das war peinlich! Wieso versuchst du, einen Baum hochzuklettern, wenn du gar nicht weißt, wie man das macht?“

„Tut mir leid“, presste die Verunglückte gedemütigt hervor. In ihrem leisen Flüstern schwang die Enttäuschung mit und sie rieb sich flüchtig mit dem Arm über ihr Gesicht, um sich die brennenden Tränen aus den Augen zu wischen. Mühsam aber wacker kämpfte sie sich zurück auf ihre zittrigen Beine. „Ich … hole dann wohl besser eine Leiter.“

„Du machst mich echt wahnsinnig!“ Kurzerhand zog sie den Reißverschluss ihrer Sportjacke hinunter und schälte sich aus dem weichen Baumwollstoff. Nur grob faltete sie das Kleidungsstück zusammen, ehe sie es sorgsam auf den Boden legte und sich ohne Umschweife dem Baumstamm zuwandte. „Tu mir einen Gefallen und tu ausnahmsweise mal gar nichts. Ich mache das selbst!“

Überrascht sah Shiemi dabei zu, wie sich die Freundin – ganz im Gegensatz zu ihr – scheinbar mühelos auf den ersten Ast hinaufschwang, welcher ihr bereits große Probleme bereitet hatte. Bei ihr wirkte es so einfach, wie sie ohne Mühe gleich die nächsten Aufstiegsmöglichkeiten fand und sich an der groben Rinde und den breiteren Ästen Stück für Stück hinaufarbeitete. Als täte sie nie etwas anderes, hatte sie bald die Höhe erreicht, auf welcher der kleine Pflanzendämon feststeckte, fand sicheren Halt zwischen den Ästen und hob ihn behutsam auf ihre Hände. Sie sprach dem winzigen Grünling Mut zu, setzte ihn sich in den Nacken und forderte ihn auf, sich gut festzuhalten, während sie sich einen Weg zurückbahnte. Es dauerte insgesamt keine fünf Minuten, bis Izumo ihre Rettungsaktion beendet und samt Dämon im Gepäck wieder festen Boden unter den Füßen hatte.

„Wow, Kamiki-san!“, machte Shiemi ihrer Bewunderung Luft und trat auf die Freundin zu, die Hände gegen die Brust gedrückt. „Ich wusste gar nicht, dass du so gut klettern kannst! Bei dir sah es so einfach aus und ich habe mich so ungeschickt angestellt. Ganz ohne Hilfe!“

„Ach was“, brummte sie zurückweisend, angelte den kleinen Dämon aus ihrem Hemdkragen hervor und überreichte ihn seiner rechtmäßigen Partnerin. Sie versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, dass die Lobpreisung nicht spurlos an ihr vorbeigegangen war und sie durchaus verlegen stimmte.

„Nii-chan!“ Übereifrig nahm Shiemi den kleinen Dämon entgegen und presste das winzige Geschöpf an ihre Wange. Tränen der Erleichterung stiegen ihr in die Augen, während sie den Freund schmuste. „Ich habe mir solche Sorgen um dich gemacht. Gott sei Dank geht es dir gut.

Du hast ihn gerettet, Kamiki-san. Vielen Dank!“

„Das war nichts“, wies sie den Dank des Mädchens zurück und winkte ab.

„Nein, ich meine es ernst! Du bist eine Heldin!“, beharrte Shiemi, wobei sie heftig mit dem Kopf schüttelte. Lächelnd wandte sie sich an den Grünling, den sie auf Augenhöhe vor sich hielt. „Nicht wahr, Nii-chan? Der Meinung bist du doch auch? Kamiki-san ist eine wahre Heldin.“

„Ni ni“, nickte das Wesen eifrig, ehe es sich zusammenkrümmte und den Anschein machte, sich anzustrengen. Als es sich wenig später streckte, die Ärmchen zu den Seiten ausgebreitet, wuchs aus seinem Körper eine Pflanze; eine Blume mit großem, blauviolettem Blütenkopf, der glockenartig an dem kräftigen, blätterlosen Stängel herabhing.

Izumo trat näher heran, um das Phänomen besser betrachten zu können. „Was ist das?“, wollte sie wissen und deutete auf die Blume, die stolz aus dem fröhlich lächelnden Dämon hinausragte.

„Nii-chan, ist das etwa … Nura-nura?“

„Nura-nura?“, wiederholte sie und blinzelte verständnislos zu Shiemi herüber.

„Nura-nura, Campanula.“ Sie lächelte so warm und herzlich, dass Izumo unwillkürlich die Hitze in die Wangen stieg. „Eine Glockenblume. Er will dir damit Danke sagen, Kamiki-san.“

„S-so?“

Es kam äußerst selten vor, dass Izumo tatsächlich verlegen wurde. Dies war so ein Moment, auf den sie keinerlei Einfluss hatte, und sie hasste es, dass es ausgerechnet vor Shiemi passieren musste. Sie war nicht wie Paku; Izumo wusste nicht einmal, was Shiemi für sie war, aber auf jeden Fall war sie nicht ihre beste Freundin. Ihr wäre es lieber gewesen, wenn sie über sie lachen würde, doch stattdessen sah das blonde Mädchen sie nur an und lächelte aus ihren großen, grünen Augen heraus.

„Campanula werden als »Blumen der Dankbarkeit und Wertschätzung« geschätzt“, erklärte sie samten und weich. „Menschen schenken sie sich, wenn sie einander Danke sagen oder Anerkennung zeigen wollen. Sie sagen: »Unsere Herzen schlagen im selben Takt.« … Oder so etwas in der Art, hihi.“

Vorsichtig löste sie die Blume vom Körper ihres kleinen Freundes, bewunderte sie für einen Moment, bevor sie ihre Hand nach Izumo ausstreckte, um ihr die Campanula-Blume zu überreichen. „Danke, dass du uns gerettet hast, Kamiki-san.“

Zögerlich streckte sie die Hand nach der Pflanze aus und war beinahe zimperlich, als fürchte sie, das zarte Gewächs könnte zwischen ihren Fingern zerbrechen, wenn sie zu grob zu ihr war. Ganz langsam führte sie die Blume an ihr Gesicht, unter die Nase, um zwischen den spitz zulaufenden Blütenblättern an dem hängenden Glockenkopf nach ihrem Duft zu haschen. Eine zarte Süße ging von ihr aus, frisch und angenehm.

Sie lächelte. „Danke.“

„Da fällt mir ein“, schwang Shiemi im Thema um und legte fragend den Kopf schief, „wieso bist du eigentlich hier?“



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