Kristall
Als sie endlich aus der Dunkelheit und diesem seltsamen Gang wieder ins Freie traten, musste Seline erst einmal die Augen zusammenkneifen. Die Sonne blendete sie derart, dass sie im ersten Moment glaubte, dass sie in dieser Welt wesentlich heller wäre, auch wenn sie diese Meinung später wieder revidieren musste.
Kaum war ihre Fähigkeit zu sehen wieder da, kam ihr die Fähigkeit zu atmen abhanden. Soweit das Auge reichte, erstreckten sich saftige, grüne Wiesen, lediglich von vereinzelten Ortschaften unterbrochen. Selbst von dem Felsvorsprung des Gebirges, auf dem sie standen, war zu erkennen, dass ein geradezu sanfter Friede über allem schwebte, wie jener nach einem reinigendem Gewitter. Vereinzelte, schwer zu erkennende, Rauchfäden, die sich in den Himmel kräuselten, verrieten, dass es noch immer Leben gab.
„Hier gefällt es mir“, sagte Ambrose beeindruckt. „Ich will hier einziehen.“
„Ich glaube kaum, dass das funktioniert“, brummte Asric.
Fileon lachte leise. „Ja, immerhin sind wir hier auf einem Berg. Wenn überhaupt, solltest du in einem Dorf da unten einziehen.“
„Das meine ich ja“, erwiderte Ambrose.
Russel ignorierte diesen Dialog und ging bereits voraus, Seline folgte ihm sofort und stellte dabei reichlich überrascht fest, dass er ihre Hand inzwischen losgelassen hatte. Selbst für die enorm kurze Zeit, in der sie sich nun kannten, war es für sie ein Leichtes, festzustellen, dass er besorgt und auch bedrückt war. Etwas nagte an ihm und sie wollte wissen, was es war, um ihm zu helfen.
Er wandte ihr den Kopf zu, als sie ihn ansprach und lächelte ein wenig, um sie zu beruhigen. „Mach dir keine Gedanken, ich habe nur darüber nachgedacht, ob wir wieder nach Hause kommen.“
Sie konnte ihm das nicht glauben, aber an diesem Punkt wollte sie auch nicht weiter nachhaken. Alles in allem kannten sie sich immerhin erst seit wenigen Stunden und waren eher aus Gründen der Zweckmäßigkeit zusammen unterwegs – nach dem Motto „Der Feind meines Feindes ist mein Freund“ – weswegen sie das Gefühl hatte, dass es besser war, wenn sie nicht zu viel in seinen Gedanken herumstocherte.
Während sie dem Pfad folgten, um zum Fuß des Berges zu kommen, lauschte Seline den Erklärungen Fileons, der erläuterte, dass die Tore zum Reich der Naturgeister und Wächter stets an Orten versteckt waren, an denen sich nicht ohne Weiteres Menschen aufhielten.
„Und wer würde schon diesen Berg besteigen wollen?“, schloss er seine Erklärung. „Er hat einen Pfad, um das Bergsteigen an sich reizlos zu machen und auf dem Gipfel gibt es nichts, nicht einmal Pflanzen, die einen Aufstieg rechtfertigen würden.“
„Das ist nicht mal blöd“, bemerkte Asric als hätte er eigentlich erwartet, dass die Erklärung jeglicher Logik entbehren würde.
„Natürlich ist es das nicht“, wies Asterea ihn zurecht. „Immerhin hat Cronus sich das alles ausgedacht.“
Obwohl ihre Worte nach Bewunderung klangen, konnte Seline sehen, dass sie mit den Augen rollte. Sie hielt wohl nicht sonderlich viel von Cronus, was die Prinzessin durchaus nachvollziehen konnte. Nicht, dass sie nichts von dem Wächter halten würde, aber Freundschaft könnte sie nie mit ihm schließen.
Als sie endlich am Fuß des Berges angekommen waren, übernahm Fileon die Führung und leitete sie sicher über das weite Feld, in dem Seline nur eine Sache vermisste: „Gibt es eigentlich keine Wälder oder Bäume oder sonst etwas hier?“
Fileon und Aurea warfen sich einen Blick zu, aber keiner der beiden antwortete, weswegen Asterea es übernahm: „Vor kurzem gab es hier nicht einmal mehr Wiesen. Der Kampf zwischen uns und Meister Kreios zehrte nicht nur an unserer Macht, sondern auch an der dieser Welt. Dank unseren vereinten Kräften konnten wir sie ansatzweise wieder in Form bringen, aber es ist noch ein weiter Weg.“
Die Worte „Ich kann es euch nachempfinden“ lagen Seline bereits auf der Zunge, aber sie ließ diese nicht an ihren Zähnen vorbei. Ihre Welt war lange vor ihrer Zeit vor dem Abgrund gestanden, bei Selines Geburt war sie allerdings bereits wieder in geregelten Bahnen gelaufen. Sie hatte nie etwas von dem Überlebenskampf mitbekommen, nur von den Streitigkeiten zwischen den verschiedenen Rassen, aber selbst davon war sie meist abgeschottet worden. Selbst auf ihrer Reise schien jeder nur darauf erpicht gewesen zu sein, sie davon fernzuhalten. Zum ersten Mal in ihrem Leben fühlte sie sich wirklich naiv.
„Was ist denn das?“, fragte Ambrose und stürmte bereits voraus, um das Objekt seiner Neugierde näher in Augenschein nehmen zu können.
Zu Selines Überraschung hielt er wieder an etwas inne, das ihr bislang noch nicht aufgefallen war – obwohl es einem eigentlich aufgrund der Ungewöhnlichkeit direkt ins Auge stechen musste.
Es war ein Gebilde, das entfernt an einen Baum erinnerte, aber es bestand vollständig aus einem purpurfarbenen Kristall, dessen scharfe Kanten gefährlich aussahen – und wie man an Ambrose sah, der eine blutige Wunde an seinem Finger mit den Lippen bedeckte.
„Tut es sehr weh?“, fragte Aurea besorgt.
Er schüttelte mit dem Kopf, aber da er nicht antworten konnte, übernahm es dieses Mal Asric: „Er ist wesentlich Schlimmeres gewohnt, mach dir keine Gedanken.“
Seline nahm an, dass Ambrose diese Mitteilung nicht sonderlich gut aufnehmen würde, aber stattdessen nickte er zustimmend und lächelte dabei sogar ein wenig.
„Das hier“ – Asterea kam wieder auf Ambroses ursprüngliche Frage zurück – „ist eines der noch deutlichsten Zeichen für den zurückliegenden Kampf. Es war einmal ein Baum, auch wenn es jetzt nur noch entfernt daran erinnert. Als wir gegen Kreios kämpften, mobilisierten er und wir alle Kräfte auf die wir zugreifen konnten, auch jene von Lebewesen.“
Seline glaubte, vor sich zu sehen, wie ein ganzer Wald langsam zu Kristall wurde, angefangen von der Spitze der höchsten Bäume bis zu deren tiefsten Wurzeln unter der Erde. Aber was war mit den nicht-pflanzlichen Lebewesen, die dort existiert hatten?
Asterea schien diese innere Befürchtung zu spüren. „Keine Sorge, Menschen und Tiere wurden nicht in Kristalle verwandelt.“
„Aber einige Stammbäume wurden damit vorzeitig ausgerottet“, fügte Fileon mit gequältem Gesichtsausdruck hinzu. „Immerhin nahmen wir ihnen den Lebensraum.“
Und die Ressourcen zum Leben, ergänzte Seline in Gedanken.
„Ich bin nur froh, dass genug Menschen überleben konnten, damit die Bevölkerung nicht vollkommen ausgerottet wird.“
„Ja, die Menschheit ist gut darin, sich aus wenigen schnell wieder zu reproduzieren, sobald sie sich auf eine Situation eingestellt hat.“ Russel klang überraschend nüchtern und kühler als sonst, was wohl der Grund war, weswegen sich alle ihm zuwandten und den kristallinen Baum vergaßen.
Nur sein Blick blieb nach wie vor darauf gerichtet, den Kopf leicht in den Nacken gelegt als würde er über irgendetwas Wichtiges nachdenken – und diesmal glaubte Seline nicht, dass er noch immer über Ladon oder ihre Heimkehr nachdachte. Sie glaubte eher, dass er sich an etwas erinnerte oder das zumindest versuchte, es aber nicht schaffen konnte. Zumindest kannte sie diesen Gesichtsausdruck nur allzugut von ihrem Vater, der oft stundenlang am Fenster gestanden hatte, um hinauszusehen.
Sie erinnerte sich auch noch daran, was sie unternommen hatte, um ihren Vater abzulenken, aber das wollte sie nicht bei Russel machen – jedenfalls nicht, wenn alle dabei waren.
Da er nichts mehr sagte, wurde es Ambrose offenbar zu langweilig und so wandte er seine Aufmerksamkeit wieder dem Baum zu. „Wird er jetzt für immer hier stehenbleiben?“
Es hätte Seline nicht gewundert, da er immerhin aus Kristall war, aber Aurea schüttelte bereits mit dem Kopf. „Früher oder später zerfallen sie... ungefähr so.“
Mit diesen Worten trat sie vor und berührte das Gebilde. Doch diese sanfte Berührung genügte, um den Kristall plötzlich in zahllose winzige Splitter und Staub zerfallen zu lassen.
„Je länger sie stehen, desto schwächer werden sie und irgendwann genügt auch ein Windhauch, um sie verschwinden zu lassen“, erklärte sie dabei.
Während Seline die Splitter und den Staub betrachteten, die allesamt im Sonnenlicht glitzerten, als sie vom Wind fortgetragen wurden, dachte sie nur darüber nach, wie hübsch es aussah und dass sie das auch gerne in ihrer Welt hätte, zumindest in Maßen.
Doch Asric brachte sie mit seiner Frage auf einen ganz anderen Gedanken: „Ist das nicht gefährlich? Also, wenn dieses Zeug einfach so in der Luft herumschwebt und irgendwer das einatmet oder so.“
Statt zu antworten, blickten Asterea, Fileon und Aurea sich ratlos und bedrückt an, was den anderen sagte, dass keiner von ihnen jemals darüber nachgedacht hatte.
„Also...“ Fileon fühlte sich schließlich genötigt etwas zu sagen. „Cronus hat nie irgendwas gesagt und wenn er nichts sagt, dann gehen wir davon aus, dass schon alles seine Richtigkeit hat.“
Asric brummte unzufrieden. „Wie die Schafe...“
Seline rechnete mit empörten Reaktionen, Zurückweisungen – doch stattdessen warfen sich Fileon und Aurea einen bedrückten Blick zu, während Asterea wohlwollend und zustimmend nickte. „Genau das sage ich auch immer. Aber Cronus scheint es zu gefallen.“
„Er will nur nicht, dass einem von uns etwas passiert, wenn wir aus der Reihe fallen“, wandte Fileon zaghaft ein. „Das ist doch nett von ihm.“
„Er denkt nur an seinen eigenen Vorteil und-“
Urplötzlich verstummte Asterea als ob sie sich gerade erst bewusst geworden war, dass die anderen auch noch anwesend waren und diese nichts von dem, was hinter den Kulissen vor sich ging, erfahren sollten. Sie wandte sich den anderen zu und hustete, um die Verlegenheit zu überspielen. „Wie auch immer, ich denke, wir sollten-“
„Warte mal!“, unterbrach Asric sie. „Du kannst doch in die Zukunft sehen, oder? Kannst du nicht sehen, ob irgendeine Krankheit von diesem Kristallstaub ausgeht?“
Dieses Mal erwartete Seline, dass Asterea sich einfach umwenden und ihn ignorieren würde – doch wieder wurde sie überrascht, denn die Sternennymphe blickte ihn mit großen Augen an.
„Du willst... meine Meinung wissen?“, hauchte sie. „Wirklich?“
So wie sie klingt, fragt sonst nie jemand nach ihrer Meinung, fuhr es Seline durch die Gedanken.
„Äh, klar.“ Verwirrt über ihre Gegenfragen runzelte er die Stirn.
Sie lächelte glücklich, als sie zur Antwort ansetzte: „Also im Moment kann ich nicht sonderlich viel sehen, wie gesagt, da ist nur Zerstörung. Aber ansonsten ist dieser Staub nicht weiter bedenklich, sofern er nicht in großer Konzentration eingeatmet wird. Einen solchen Fall habe ich aber noch nirgends feststellen können.“
Asric bedankte sich bei ihr für die Antwort und schien nun wesentlich erleichterter, während Asterea weiterhin... verzückt wirkte. Außer Seline schien das aber niemandem aufzufallen, vor allem nicht Russel, der nun in den Himmel starrte, da der Kristallbaum nicht mehr da war. Aber sein Blick verriet, dass er immer noch keine Antwort gefunden hatte, auf welche Frage auch immer.
„Wir sollten weitergehen“, sagte Fileon. „Wer weiß, was Aurora noch einfällt, während wir hier herumstehen.“
Die anderen nickten zustimmend und ließen ihn erneut vorangehen, damit er sie weiterführen konnte.
Lediglich Russel und Seline blieben noch einen Moment stehen. Er blickte weiterhin gedankenverloren in den Himmel, bis sie ihn an den Ellenbogen griff. Endlich wandte er sich vom Himmel ab und ihr zu. „Was ist los? Gehen wir weiter?“
„Ist alles in Ordnung mit dir?“
„Aber natürlich, mit mir ist immer alles in Ordnung.“
Er lächelte wieder und es wirkte tatsächlich aufrichtig, aber Seline kam nicht umhin zu bemerken, dass hinter diesem Lächeln noch immer ein Hauch von Traurigkeit steckte, eine jener Art, die sie nicht einmal begreifen konnte.
„Wollen wir gehen?“ Sie hielt ihm lächelnd die Hand entgegen, die er ohne Umschweife ergriff, um dann gemeinsam mit ihr den Weg fortzusetzen.
Aber auch wenn er in diesem Moment wieder zu seiner alten Form zurückgefunden zu haben schien, so wurde Seline doch das Gefühl nicht los, dass er etwas mit sich herumtrug, das ihm das Leben unnötig erschwerte. Möglicherweise die Antwort auf eine Frage, die ihn schon lange belastete – nur dass diese noch um einiges schwerer wog.
Sie konnte ihm das nicht abnehmen, aber sie könnte zumindest versuchen, diese Schwere mit ihm zu teilen, um ihm ein wenig von der Last zu nehmen, auch wenn sie nicht so genau wusste, woher dieses Verlangen, ihm zu helfen, überhaupt kam. Aber es war da und sie würde es nicht so einfach ignorieren, so wahr sie die Prinzessin der Drachen war.