Begegnung
Nur wenige Stunden später war Nolan bereits aufgebrochen, um nach Cherrygrove zu kommen, die Untersuchung hinter sich zu bringen und dann alles für Nadias Ankunft herzurichten. Er war zuletzt vor Jahren – er wusste nicht einmal mehr, wie viele es waren – in seinem Elternhaus gewesen und musste daher erst einmal ausgiebig putzen, ehe Nadia am nächsten Tag kommen würde.
Er trug kein Gepäck mit sich, in seinem Elternhaus gab es noch genug Kleidung, die ihm passen sollte und in Landis' Elternhaus lagen auch noch Kleider seines besten Freundes, die auch die für ihn passende Größe haben dürften. Allerdings trug er das Schwert mit sich, das ihm von Richard auf Landis' Beerdigung in die Hand gedrückt worden war. Er wusste nicht genau, weswegen, aber beim Betrachten der Klinge, die so einsam auf einem Regal in seinem Wohnzimmer gelegen hatte, war er von dem Verlangen übermannt worden, das Schwert mitzunehmen, auch wenn er nicht mit einem Kampf rechnete. Genau wie er erwartet hatte, gab es keinerlei wilde Tiere oder angriffslustige Banditen, die auf der Ebene herumstreunten, so dass er problemlos vorankam.
Doch seine Ankunft verzögerte sich ungeplant. Kaum kamen die ersten Häuser von Cherrygrove in Sichtweite, spürte er eine starke Welle von Abneigung in seinem Inneren. Er wollte dort nicht hin, zumindest nicht jetzt sofort. Da kam es wie gerufen, dass er nicht weit entfernt ein Waldstück entdeckte, das ihn geradezu zu rufen schien. Er konnte sich das nicht erklären, schob es aber einfach darauf, dass er nach jedem Strohhalm griff, der ihn davon abhielt, Cherrygrove zu erreichen.
Er erinnerte sich gut an dieses Waldstück – allerdings nur deswegen, weil es einst verboten gewesen war, diesen Hain zu betreten. Die Bewohner von Cherrygrove hatten stets mit gesenkten Stimmen von einem Geist gesprochen, der dort sein Unwesen treiben würde. Allerdings wusste Nolan ganz genau, dass sein Vater mehr als einmal ebenfalls dort gewesen war – und jedes Mal äußerst müde zurückgekehrt war. Was er dort gemacht hatte, wusste Nolan selbstredend nicht und im Moment kümmerte es ihn auch nicht weiter, stattdessen nutzte er die Gelegenheit sich im Wald umzusehen.
Egal, wohin man sah, überall sprossen Blumen aus dem Boden, das saftige Grün des Laubs und die Sonnenstrahlen, die sich durch das Blätterdach der Bäume kämpften, gaben diesem Ort zusätzlich eine gewisse Schönheit und verliehen ihm auch etwas Geheimnisvolles. Obwohl er den Gesang vieler unterschiedlicher Vögel hören konnte und er auch spüren konnte, dass Eichhörnchen und Kaninchen sich hinter seinem Rücken umherbewegten, konnte er kein einziges Tier sehen. Wann immer er sich umsah, entdeckte er nur weitere Bäume und Blumen.
Erst als er das Zentrum des Waldes erreichte, fand er etwas anderes. „Hm? Was ist das?“
Nolan stand vor einem seltsam geformten, großen Stein mit vielen breiten Rissen, aus denen eine Vielzahl von Blumen hervorsprossen. Etwas in seinem Inneren reagierte darauf, sein Herz begann augenblicklich zu schmerzen, er hatte das Gefühl, einmal mit Landis hier gewesen zu sein. In ihrer Kindheit waren sie wahrhaftige Rabauken gewesen, die nie vor Gefahr zurückgeschreckt waren, um einmal Helden zu werden – aber dieser Ort war nicht dabei gewesen.
Seufzend kniete er sich vor dem Stein nieder. „Na bitte, schon denke ich an die Vergangenheit. Deswegen wollte ich nicht hierher zurück.“
Der Gedanke an Landis war nicht leicht zu ertragen, noch immer nicht und er ahnte, dass es noch lange dauern würde, trotz des Versprechens, dass sie sich bald wiedersehen würden, da sie immerhin nach wie vor die besten Freunde waren.
Bei näherer Betrachtung des Steins entdeckte er einen eingeritzten Text, den man wegen der vielen Risse nicht mehr richtig lesen konnte. Mit einem Schmunzeln stellte er sich vor, dass irgendjemand an diesem Ort eine Liebeserklärung verfasst hatte und bedauerte, dass er die Worte nicht lesen konnte
„Entschuldigung?“, sprach ihn plötzlich jemand von hinten an und er erschrak innerlich, da er nicht damit gerechnet hatte hier auf jemanden zu treffen.
Er erhob sich wieder und nahm die unerwartete Gesellschaft in Augenschein. Es handelte sich um eine Frau. Sie war fast genauso groß wie er selbst, dafür aber zierlich gebaut. Feuerrotes, langes Haar hing zu einem Zopf zusammengeflochten über ihre rechte Schulter und ein rehbraunes Augenpaar blickte ihn hilfesuchend an. Ihr schneeweißes, mit Rüschen bestücktes Kleid war an einigen Stellen verdreckt, so als hätte sie sich damit irgendwo auf die Erde gesetzt. Seiner Schätzung nach war sie etwas jünger als er. Alles in allem entsprach sie genau der Art von Frau, der er in jeder Notlage helfen würde, für einen Moment vergaß er sogar all seine Bedenken und Nadia.
„Was kann ich für Sie tun, Fräulein?“, antwortete er routiniert freundlich mit einer Gegenfrage.
Erst zog sie beide Augenbrauen zusammen, als würde ihr etwas an seiner Ausdrucksweise nicht passen, aber offenbar empfand sie es nicht als wichtig, das anzusprechen. „Kommen Sie zufällig von hier?“
„Ich habe hier meine Kindheit verbracht, also ja.“
„Oh.“ Die junge Frau fing an amüsiert zu kichern. „Sie sind wohl Kavallerist oder so, was?“
„Kommandant“, fügte Nolan hinzu und musste bei dem Gedanken an die undisziplinierten Kavalleristen, die nun wohl über seine Abwesenheit feierten, erneut seufzen. „Woran haben Sie das gemerkt?“
Schließlich war er in Urlaub und demnach in Zivil unterwegs. Andererseits war er Kommandant, also war es wiederum nichts allzu ungewöhnliches, wenn er irgendwo erkannt wurde. Doch da sie ihn nicht als diesen, sondern als Kavallerist eingestuft hatte konnte er nur annehmen, dass ihre Vermutung auf etwas anderes zurückzuführen war.
„Sie klangen so danach, so einstudiert freundlich.“ Sie runzelte ihre Stirn, um damit auszudrücken, dass ihr das gar nicht gefiel, er dagegen neigte verwirrt den Kopf.
Einstudiert freundlich? So hatte man es auch noch nicht ausgedrückt. Aber er musste zugeben, dass etwas daran war, immerhin hatte er bei Antritt seines neuen Postens, erst einmal einige Unterrichtsstunden im Thema Führungsverhalten von Kenton bekommen – und einstudierte Freundlichkeit und Höflichkeit waren dem Berater im Umgang mit der Öffentlichkeit äußerst wichtig gewesen.
Ehe er etwas dazu sagen konnte, fuhr sie fort. „Ich habe einen ziemlich schlechten Orientierungssinn und habe mich verlaufen. Ich wollte nach Cherrygrove, um mir dort die Kirschblüten anzuschauen, von denen man sich so viel erzählt.“
Er fand das regelrecht... süß, wie er zugeben musste. Besonders ihr leicht verwirrter Gesichtsausdruck, der in ihm den Wunsch weckte, sie an der Hand zu nehmen und mit sich zu führen, damit sie ihm nicht verlorenging.
„Kein Problem, ich wollte auch dorthin und kann Sie also begleiten.“ Er nickte der Frau zu und schenkte seine Aufmerksamkeit noch einmal dem Stein.
Neben ihn tretend betrachtete sie diesen ebenfalls, da er anscheinend sehr abwesend dabei aussah und somit ihr Interesse geweckt hatte. Neugierig fragte sie nach, ob dieser Stein eine besondere Bedeutung für ihn habe, doch er zuckte nur unsicher mit den Schultern.
„Keine Ahnung. Wenn ich hier stehe habe ich nur so das Gefühl, einem alten Freund zu begegnen, dabei war ich hier noch nie.“
Zumindest nicht, dass er sich daran erinnern würde. Er und Landis hatten nicht oft auf die Erwachsenen gehört, aber er erinnerte sich gut daran, dass Landis' Mutter Asterea ihnen oft ein Märchen über ein Mädchen erzählt hatte, das wegen seines Ungehorsams auf immer und ewig in einem Wald herumirren musste – und zumindest Nolan war viel daran gelegen, ein solches Schicksal zu umgehen, immerhin hätte das seinem Plan, ein Held zu werden, ernsthaft behindert.
Aufgeregt klopfte die Frau ihm auf die Schulter. „Ich auch! Mich hat auch so ein Gefühl hierher gezogen und ich glaube, diesen Wald zu kennen, obwohl ich zum ersten Mal hier bin.“
Darauf zog Nolan eine Augenbraue hoch und grinste leicht. „Ich dachte, Sie hätten sich verlaufen?“
„Nicht ganz.“ Sie winkte mit einem Lächeln ab.
Eine Weile blieben sie einfach stehen, sagten kein Wort und betrachteten jeder in Gedanken verloren den Stein vor sich, aber egal wie lange er sich darüber den Kopf zermarterte, es fiel ihm einfach nicht ein, als ob die entsprechende Erinnerung sich irgendwo in den tiefsten Abgründen seines Gedächtnisses befinden würden, wo er sie nicht erreichen könnte. Also gab er auf, deutete in eine bestimmte Richtung und setzte sich gemeinsam mit der Fremden in Bewegung.
Wie er es anstellte, war auch für ihn immer ein Mysterium gewesen, aber es war ihm von klein auf möglich gewesen, sich anhand der geringsten Anzeichen überall zu orientieren, um genau dorthin zu kommen, wohin er wollte. Die wenigen Male, bei denen das nicht der Fall gewesen war, vergaß er lieber, auch wenn ihn das manchmal zu interessanten Begegnungen geführt hatte.
Auf dem Weg nach Cherrygrove unterhielten er und die Fremde sich ausgiebig miteinander und kamen auf allerlei Themen zu sprechen, wobei sie beide das Gefühl hatten sich mit einem Freund zu unterhalten, den sie ewig nicht gesehen hatten – und dessen Namen sie nicht wussten.
„Sie sind also wegen den Kirschblütenbäumen hier“, wiederholte er interessiert. „Also eine Reisende?“
Das war nichts Seltenes wie er wusste. Schon während seiner Kindheit waren die Kirschbäume in Cherrygrove in ganz Király berühmt gewesen. Reisende waren gekommen, um sie in ihrer Blüte zu bewundern, Paare waren von überall her in das kleine Dorf gereist, um sich unter den Bäumen die Treue zu schwören, denn eines der bekanntesten und auch schönsten Gerüchte, die sich um das Dorf rankten, war immer jenes gewesen, dass ein unter den den blühenden Bäumen geschlossenes Versprechen, auf ewig halten würde. Nolan erinnerte sich gut daran, dass Kieran und auch Richard ihm oft erzählt hatten, dass das gesamte Dorf unter dem Segen eines bestimmten Naturgeistes stand – nur dummerweise war ihm der Name entfallen.
„Kann man so sagen“, sagte die Frau. „Ich bin derzeitig auf Erkundungstour…“
Er beneidete sie regelrecht darum. In diesem Moment erinnerte er sich wieder einmal daran, dass er als Kind auch immer davon geträumt hatte, das gesamte Land zu erkunden – genau wie Kieran es aufgrund seines Berufs getan hatte. Wann war ihm dieser Wunsch nur abhanden gekommen?
„Sie brauchen übrigens nicht so förmlich zu sein“, fuhr sie plötzlich fort, „das mag ich nicht so.“
Schmunzelnd kratzte er sich am Kopf. „Aber Sie sind doch selber auch so förmlich.“
Und wenn er eines von Kenton gelernt hatte, dann war es, niemals von selbst irgendjemanden vertraut anzusprechen. Er war nun nicht mehr nur Nolan, der beste Freund aller Fremden, er war Nolan Lane, der Kommandant der stolzen und ehrwürdigen Kavallerie von Király und sollte der von ihm erwarteten Höflichkeit daher nicht im Mindesten nachstehen, wenn er kein schlechtes Licht auf die gesamte Kavallerie werfen wollte – und das lag nun wirklich nicht in seinem Interesse, selbst wenn er sich dafür ein wenig verbiegen musste.
„Nur weil Sie angefangen haben.“ Unschuldig pfeifend faltete sie die Hände ineinander, was ihn leise lachen ließ.
Diese Frau erschien ihm doch recht sympathisch, noch dazu tat es ihm gut, sich mit jemandem zu unterhalten, den er noch nicht kannte, der keine Erwartungen an ihn hatte, die er erfüllen musste und auch keine Erinnerungen an ihn, denen er nicht einmal mehr im Mindesten gerecht wurde.
Allerdings hatte er auch nie Schwierigkeiten gehabt, neue Leute kennenzulernen, er war immer sehr kontaktfreudig gewesen und daher störte es ihn auch nicht, wenn sie Förmlichkeiten nicht so leiden konnte und lieber gleich per Du sein wollte – schon allein weil er normalerweise auch lieber jeden vertraut ansprach und jede Person, die er traf, mit Spitznamen bedachte.
„Wie du willst“, betonte er. „Mein Name ist Nolan, und deiner?“
Ihn sichtlich zufrieden anlächelnd, neigte sie den Kopf leicht zur Seite. „Ich heiße Nel.“
Kaum hatte sie das gesagt, spürte er erneut diesen Stich in seiner Brust, er war nicht schmerzhaft, so wie er es oft gespürt hatte, wenn er von Liebeskummer überfallen worden war, es schien ihm eher als würde eine warme Hand an sein Herz klopfen, in der sicheren Überzeugung, dass die Erinnerung, die er suchte, dort verborgen war. Egal wie kitschig das für ihn klang – er war regelrecht froh darüber, dass niemand seine Gedanken mitbekam.
Ein wenig verlegen senkte sie den Blick. „Irgendwie habe ich den Eindruck, deinen Namen schon einmal gehört zu haben, No.“
Sie war direkt zu der Koseform seines Namens übergegangen, was ihn nicht im Mindesten störte, nicht zuletzt weil er ohnehin das Gefühl hatte, sie schon lange zu kennen.
„Das habe ich bei deinem Namen auch“, gab er zu. „Fast so als wären wir uns irgendwann schon einmal begegnet.“
Sie lachte leise. „Vielleicht in einem anderen Leben.“
Er lächelte über diese Annahme, nicht weil er sie für vollkommen haltlos befand, immerhin glaubte er an wirklich viele Dinge, Reinkarnationen, Naturgeister, Dämonen.. alles Dinge, an die er schon als Kind geglaubt hatte und die ihm durch Landis' Geschichte endlich bestätigt worden waren.
Als ihm sein Freund wieder einfiel, verdüsterte sein Gesicht sich erneut, was ihr sofort auffiel, aber wieder sprach sie es nicht an. Sie wandte ihm den Blick zu. „Wenn du Kommandant der Kavallerie bist, warum bist du dann zu Fuß auf dem Weg nach Cherrygrove?“
„Wenn ich mit einem Pferd unterwegs wäre, würde ich ja noch früher ankommen“, brummte er, worauf sie fragend die Stirn runzelte und er sich hastig räusperte. „Eigentlich wollte ich gar nicht nach Cherrygrove, aber der Berater der Königin hat mich in den Zwangsurlaub geschickt, damit ich mich bei meiner alten Ärztin untersuchen lassen kann.“
Er zuckte mit den Schultern. „Ich habe meine Kavalleristen in letzter Zeit wohl nicht so gut behandelt.“
Sie ging gar nicht weiter auf dieses Thema ein, was ihn durchaus erleichterte, dafür lächelte sie direkt wieder. „Oh, dann hast du ja genug Zeit, mir einige Dinge in Cherrygrove zu zeigen.“
Er erwiderte ihr Lächeln. „Sicher, kein Problem.“
Im Moment dachte er nicht einmal mehr im Mindesten daran, dass Nadia am nächsten Tag nachkommen wollte und er deswegen eigentlich sein Elternhaus säubern wollte. Stattdessen spürte er zum ersten Mal seit Langem wieder eine gewisse Form der Vorfreude auf sein altes Zuhause und vergaß deswegen für den Moment all seine negativen Gedanken.