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gesunder Menschenverstand vs. Rechtsordnung Agent Provocateur, Grundrechte, Recht , deutsches, Recht , eidgenössisches

Autor:  Eru-Jiyuka
Eigentlich hatte das L. ja gedacht, den Themenkomplex „Agent Provocateur“ mittlerweile zu Genüge behandelt zu haben. Der Rummel um Tatort Internet [1] ist etwas zuneige gegangen, FIALAs Gefasel hatte glücklicherweise den selben Effekt wie eine Dienstaufsichtsbeschwerde üblicherweise, und nur die drei grossen Fs (Fristlos, Formlos, Fruchtlos) bewirkt. Tja, falsch gedacht, nicht nur aller guten Dinge sind drei...

[IRONIE-Modus aus, JURA-Modus ein]

Wie bereits erwähnt, tritt ab dem 01.01.2011 eine neue, von Volk und Ständen angenommene, gesamt-schweizerische Strafprozessordnung in Kraft. Diese änderte neben anderem auch die Bestimmungen zur verdeckten Ermittlung, die sich (jedenfalls im Kanton Zürich [2]) bisher nach dem Bundesgesetz über die verdeckte Ermittlung (BVE) richteten. Auch dieses verbot „Agent Provocateur“ eigentlich, liess aber in Fällen, in welchen davon ausgegangen werden musste, dass eine der (im Normenkatalog genannten [3]) Straftaten verübt werden sollte, die verdeckte Ermittlung ausdrücklich zu. [4] Die zuständige Norm der schweizerischen Strafprozessordnung verlangt hingegen, dass ein Verdacht bestehen muss, der auf eine begangene Straftat, welche im Normenkatalog der neuen Strafprozessordnung genannt wird [5], hinweist. Damit soll korrekterweise mit den (verdeckten) Ermittlungen erst dann begonnen werden, wenn zumindest Anhaltspunkte für den Versuch einer Straftat bestehen und nicht bereits dann, wenn der Verdacht nur (straflose) Vorbereitungshandlungen zu umfassen vermag. Dies bewirkt, dass unnötige Verfahren und Prozesse vermieden werden, und die Ermittlungsarbeit insgesamt effektiver und weniger kostenintensiv wird.

Die Schwyzer Behörden sahen das offensichtlich anders, denn sie haben aufgrund dieser, als Gesetzeslücke empfundenen Situation ihre Polizeiverordnung um einen Passus erweitert, der schlechter kaum geschrieben sein könnte. Gemäss diesem dürfen künftig nämlich bereits dann verdeckte Ermittlungen erfolgen, wenn hinreichend vermutet werden kann, dass strafbare Handlungen verübt werden können. [6]

Besser ausgedrückt: Wann immer eine Person eine Straftat [7] begehen könnte, darf gegen sie verdeckt ermittelt werden. Dies lässt nicht nur sämtlichen Respekt vor der verfassungsrechtlich garantierten Verhältnismässigkeit [8] vermissen, sondern kann auch weitreichendere Folgen haben, da ein solcher Verdacht dazu ausreicht, Observationen [9], Überwachungen [10] oder erkennungsdienstliche Massnahmen [11] durchzuführen. Da die Schwyzer Polizeiverordnung nicht formelles Gesetz sondern blosser Rechtserlass (auf Verordnungsstufe) ist, und dem hier beleuchteten Paragraphen weder ein sinniges öffentliches Interesse zugrunde liegt, noch er ausschliesslich in Fällen ernster, unmittelbarer und nicht abwendbarer Gefahr angewandt werden kann, ist er nicht ausreichend gerechtfertigt, Grundrechte (schwer) einzuschränken. [12] Die Norm ist daher verfassungswidrig, weil sie gegen die Grundrechte auf Schutz der Privatsphäre [13], auf Schutz vor Willkür [14] und (subsidiär) auf persönliche Freiheit [15] verstösst. [16]

Die Bundesrätin und Vorsteherin des eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartamentes SOMMARUGA, möchte diese „Gesetzeslücke“ nun gesamt-schweizerisch wie folgt „schliessen“: die zuständige Instanz, die bisher nationale Koordinationsstelle zur Bekämpfung der Internetkriminalität (KOBIK), die strenggenommen kein Ermittlungsorgan sondern Dienstleistungsbetrieb für Recherchen und nationale Analysen zum Thema ist [17] , spätestens bei Zusammenarbeit mit den Ermittlungsbehörden jedoch denselben Bestimmungen unterliegt, soll künftig dem Kanton Schwyz unterstellt werden. Dadurch, so erhofft sich SOMMARUGA, würde die Schwyzer Polizeiverordnung gesamt-schweizerisch wirksam und das Ungemach der schweizerischen Strafprozessordnung liesse sich umgehen. Diese Ansicht geht gleich mehrfach fehl, da die Zuständigkeit für die Strafprozessordnung(en) beim Bund liegt, sodass abweichende Normen in kantonalen Gesetzen nichtig sind [18], weil sie gegen das aus dem Subsidiaritätsprinzip abzuleitende Zuständigkeitsprinzip verstossen. [19] Desweiteren würde die KOBIK mit der Unterstellung von nationalem zu kantonalem Betrieb degradiert, womit gemäss dem Souveränitätsprinzip [20] die Kompetenzen zur (bedingungslosen) Zusammenarbeit mit den Behörden des KOBIK an der Kantonsgrenze enden müssen, und sie über diese hinaus nur in Fällen formeller Amts- und Rechtshilfe agieren könnten. Im Extremfall könnte diese „Lösung“ wohl sogar die Aufklärung von Straftaten verhindern, da die durch die KOBIK mittelbar mitgetragene verfassungswidrige Norm zu Beweisverwertungsverboten führen könnte.

Die einzig korrekte „Lösung“ wäre es, die schweizerische Strafprozessordnung im Sinne der Formulierung des alten Bundesgesetz über die verdeckte Ermittlung zu ändern, wie es auch BRUNNER (leitender Zürcher Oberstaatsanwalt) und JOSITSCH (Strafrechtsprofessor der Uni Zürich) sagen beziehungsweise fordern. [21]

[IRONIE-Modus ein, JURA-Modus aus]

Hierbei merkt man leider schön schaurig, dass SOMMARUGA keine Juristin ist. [22] Sie versucht einem komplexen, formaljuristischem Problem mit gesundem Menschenverstand und scheinbar praktikablen Ideen zu begegnen – das geht regelmässig schief... Zu ihrer Ehrenrettung sei gesagt, dass sie das Departement zugeschoben bekam, weil's sonst niemand haben wollte, und sie sich nicht freiwillig in unbekanntes Terrain begeben hat. Dennoch muss sich das L. dringend überlegen, ob es noch länger SP wählen soll, denn in letzter Zeit häufen sich Vorfälle, die ihm gar nicht behagen...

So, genug der Lästereien, nächstes Mal kommt vielleicht endlich mal wieder was chemisches dran^^

Edit: Das L. hätte das nie gedacht, aber es gibt tatsächlich erfreuliches zu SOMMARUGA und ihrer Politik zu berichten. Sie hat nämlich einen Gesetzesvorschlag in die Vernehmlassung geschickt, welcher in der Lage ist, eine grosse – und wie das L. findet auch gefährliche – Gesetzeslücke zumindest zum Teil zu schliessen.

Sie möchte nämlich, dass Volksinitiativen (Anträge auf (teilweiser) Revision der Verfassung) vor ihrer Abstimmung vor dem Volk künftig auf Grundrechtsverletzungen und Verträglichkeit mit internationalem Völkerrecht (sprich EMRK) prüfen. Damit würde endlich einmal die Verfassungsgerichtsbarkeit auf Bundesebene eingeführt, die, wie man in der Vergangenheit an durchgewunkenen m.E verfassungswidrigen Initiativen schön-schaurig gesehen hat (Minarettinitiative [Glaubensfreiheit], Ausschaffungsinitiative [Gleichheitsgebot, Übermassverbot]), dringend notwendig ist.

Zudem würde eine solche Rechtsnorm auch zukünftig vor (offensichtlich) verfassungswidrigen Intiativen schützen. Es muss ausdrücklich betont werden, dass die Initiative zur Einführung der Todesstrafe (zur Auffrischung dazu bitte hier klicken) nur deshalb nicht zur Abstimmung gelangte, weil die Initianten selbst die Initiative zurückzogen! Und dass obwohl der Wortlaut der Initiative klar gegen Art. 10 Abs. 1 Satz 2 BV verstiess, welcher lapidar feststellt: „Die Todesstrafe ist verboten“.

Des weiteren, wäre die vorgeschlagene Rechtsnorm auch durchaus in der Lage, Kosten einzusparen, da die vorgängige Prüfung von Initiativen und deren daraus eventuell folgenden Verwerfung bedeutend weniger Zeit und Geld verbraucht, als ein hinterher folgender Prozessfall, welcher aufgrund des Demokratieprinzips in jedem Fall formell durch den kompletten eidgenössischen Instanzenzug führen müsste, bevor er erst in Strassburg wirklich materiell geprüft werden kann.

Wird nämlich ein solcher Fall vor dem EMRG gewonnen, muss das beklagte Land dem Kläger das sogenannte „negative Klageinteresse“ sprich seine Auslagen sowie eine Entschädigung für das erlittene Unrecht entrichten. Je nach Bedeutung des Falls kommen so leicht 6-8 stellige Beträge mit noch weit höheren Streitwerten zusammen... Dem gegenüber stehen die weit geringeren Kosten für die Gutachter (frei geschätzt je nach Fall wenige 1000 bis 100'000 Fr.) welche ohnehin schon heute für die formale Prüfung von Initiativen beigezogen werden, sodass die materielle Prüfung gleich im Anschluss durchgeführt werden könnte.
(die ja nicht so schwer sein kann, wenn's das L. auch hinkriegt...)

Dieser Gesetzesvorschlag wäre daher eine deutliche Sicherung der Grundrechte und ist m.E nur zu begrüssen, auch wenn er dem L. noch nicht weit genug geht. Noch besser gefallen würde ihm nämlich ein eigentliches Verfassungsgericht, welches die Bürger kostenlos anrufen können, um Gesetze und Verwaltungsakte auf Bundesebene auf Verfassungskonformität prüfen zu lassen. Solche Gerichte gibt es in verschiedenen Ländern (sogar im stark grundrechtsfeindlichen Deutschland), seltsamerweise aber nicht in der Schweiz... Nachdem in Zürich das Geschworenengericht nun auch endlich abgeschafft wurde, wüsste das L. auch schon genau, wo es dieses hypothetische Verfassungsgericht hinstellen würde^^

Unsere schwangere Vogelpest (SVP) hat natürlich auch schon mit dem weniger weitgehend Vorschlag von SOMMARUGA echte Probleme und faselt schon wieder von „Entmündigung des Volkes durch fremde Richter“ ... Dabei müssen sie offenbar in ihrer Hysterie übersehen haben, dass die materielle Grundrechtsprüfung hierzulande durchgeführt würde, mithin die Gutachter bzw. Richter also durchaus einheimisch wären... Bei der Initiativvergangenheit dieser „Volkspartei“ wird deren Verärgerung über die zu erwartende neue Regelung allerdings durchaus verständlich *fies grinst*^^

Wie auch immer, jedenfalls freut das L. diese fachliche Veränderung SOMMARUGAs sehr^^ Offenbar hat ihr der neue Berater, der vor einiger Zeit eingestellt wurde, sichtlich gut getan^^


Edit: Fehlende Verlinkung zum Artikel zur Todesstrafeninitiative nachgetragen

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[1] Stellvertretend für alle Berichte sei an dieser Stelle GOLENIAs wunderbare Zusammenfassung verlinkt

[2] § 106 c (ZH)StPO verweist ausdrücklich auf das BVE

[3] vgl. Aufzählung von (Neben- und Spezial-)Strafnormen in Art. 4 Abs. 2 BVE

[4] Art. 10 Abs. 1 i.V mit Art. 4 Abs. 1 lit. a BVE

[5] vgl. Aufzählung von (Neben- und Spezial-)Strafnormen in Art. 286 Abs. 2 (CH)StPO
Man ersieht, dass der Normenkatalog zwar erweitert wurde, die Sammlung jedoch hauptsächlich vom BVE übernommen und aktualisiert wurde...

[6] § 9d Abs. 1 lit. a) Schwyzer Polizeiverordnung

[7] Wichtig festzuhalten ist hier, dass § 9d Abs. 1 lit. a) Schwyzer Polizeiverordnung nicht auf den Normenkatalog der schweizerischen Strafprozessordnung abstellt, mithin also sämtliche Straftaten, auch blosse Übertretungen wie etwa das Verletzen der Verkehrsregeln durch falschparkieren oder Straftaten aus dem Nebenstrafrecht wie etwa Urheberrechtsverletzungen, der Norm genügen. Dem steht auch nicht entgegen, dass das Genehmigungsverfahren der verdeckten Ermittler sich sinngemäss nach den Bestimmungen der schweizerischen Strafprozessordnung dazu richtet. (§ 9d Abs 3 Schwyzer Polizeiverordnung)

[8] Art. 5 Abs. 2 BV

[9] § 9a Abs. 1 Schwyzer Polizeiverordnung

[10] § 9a Abs. 2 lit. a) Schwyzer Polizeiverordnung

[11] § 14 Abs. 2 lit. c) , darunter fallen nach § 14 Abs. 1 lit a)-e) die Registrierung von Finger- und Handflächenabdrücken, Haar-, Speichel- und Handschriftenproben, Foto- und Videoaufnahme, sowie eine Art äussere „Leibesvisitation“.

[12] Art. 36 BV
Vgl. Allgemeine Bedingungen zur Grundrechtseinschränkung, etwa MARANTELLI-SONANINI, <<Einführung in das öffentliche Recht, Band 1>> S.74-91. Der Einwand der polizeilichen Generalklausel, wie sie BGE I 327 E. 4.2 aufstellt, ist hier m.E nicht statthaft, da diese nur Massnahmen, nicht aber Rechtserlasse rechtfertigt.

[13] Art. 13 BV

[14] Art. 9 BV

[15] Art. 10 Abs. 2 BV

[16] Auf eine ausführlichere Grundrechtsprüfung, welche durchaus sinnig sein könnte, wird an dieser Stelle aus Zeitgründen verzichtet.

[17] Vgl. KOLLER, <<Cybersex>>, S.48

[18] Zwar kennt das eidgenössische Recht – ausser bei Unstimmigkeiten zwischen Kantonsverfassungen und der Bundesverfassung – eigentlich keine derart strikte Richtlinie, wie etwa das deutsche Recht , welches in Art. 31 GG lapidar feststellt: Bundesrecht bricht Landesrecht , dennoch kann dies hier ausnahmsweise analog angewendet werden, da durch die Vereinheitlichung der schweizerischen Strafprozessordnung den Kantonen gerade diese Zuständigkeit entzogen werden sollte, womit Art. 46 Abs. 1 BV in Kraft tritt und das Bundesrecht umgesetzt werden muss.

[19] Art. 5a mit Verweis auf Art. 3 Satz 2 und Art. 42ff. BV

[20] Art. 3 Satz 1 BV

[21] Zitiert nach NZZonline vom 09.12.2010

[22] Wiki-Nachweis


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