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Abschnitt 9

Autor:  lufie
Der Mittwoch kam, selbst die verstellte Uhr konnte das nicht verhindern. Er kam viel zu früh. Mads wusste nicht, wie viel er geschlafen hatte, ob er überhaupt geschlafen hatte. Das scharfe Piepen, das sich in seine Ohrmuscheln bohrte, sagte ihm, dass er es zumindest geschafft hatte, den Wecker zu stellen. Er wünschte, er hätte es vergessen. Er war noch nie zu spät gekommen, selbst, wenn er es versucht hatte. Und er hatte es schon oft versucht. Einmal war er einfach erst zur dritten Stunde erschienen. In der Pause hatte er sich auf seinen Platz geschlichen, ganz unauffällig, es hatte kaum jemand bemerkt. Dabei würde er so gern mal mitten in den Unterricht geplatzt kommen. Am besten noch außer Atem und mit einem dicken Pflaster auf der Stirn. Oder einem blauen Auge. So richtig dramatisch. Aber selbst dazu fehlte ihm der Mut.
Er drückte den Wecker aus und setzte sich auf. Blasse Streifen Tageslicht fielen durch die Jalousie, wie in Scheiben geschnitten, auf den Teppich, auf seine Hände auf seinen Knien. Mittwoch. Einen Moment überlegte er, ob er nicht doch verschlafen sollte. Oder er rief im Sekretariat an und meldete sich krank. Er horchte in sich hinein, suchte nach irgendeinem Wehwehchen, das er vorschieben könnte. Halsschmerzen vielleicht. Er schluckte. Oder Husten. Er räusperte sich. Schnupfen? Er zog die Nase hoch. Nichts. Nicht einmal auf Krankheitserreger war noch Verlass. In irgendeinem Film war die Hauptfigur barfuß im Schlafanzug Runden durch den Garten gelaufen und hatte löffelweise Zahnpasta geschluckt, aber auch sie war nicht krank geworden. Also brauchte er es damit gar nicht erst zu versuchen, es würde nicht funktionieren.
Dabei wäre es besser, wenn er zu Hause wäre, wenn sein Vater kam. Er wusste nicht, wann sein Vater kam. Wahrscheinlich wusste sein Vater es selbst nicht. Und wahrscheinlich würde er auch nicht anrufen. Das machte er nur selten.
Aber er wollte auch nicht erleben, dass er aus der Schule kam und sein Vater war schon da und verkündete ihm, dass er dieses Kaninchen aus der Küche soeben ins Tierheim gebracht hatte. Dieses Kaninchen da aus der Küche. Und während er das sagte, würde er wieder irgendetwas anderes machen, telefonieren oder irgendwelche Papiere durchlesen oder sich einen Kaffee kochen oder was auch immer. Und er würde nicht zuhören.
So zumindest sähe der schlechteste Fall aus. Ein Informatiker würde von einem worst case sprechen. Und der best case? Gab es den überhaupt?
Er war zu Hause, wenn sein Vater kam. Oder sein Vater hatte so viel zu tun, dass er Mr. Knibbles zwar registrierte, aber erst einmal nicht weiter darauf einging.
Aber eine riesige Diskussion würde es geben, so oder so. Egal wie er es drehte und wendete.
Er wollte nicht. Vielmehr. Er hatte Angst davor. Und das hing nicht nur mit Mr. Knibbles zusammen.

Irgendwann hatte er lange genug auf den Wecker gestarrt. Auf den Wecker, der zwar richtig ging, aber trotzdem die falsche Zeit anzeigte. Er würde immer noch pünktlich in der Schule sein. So wie fast immer. Er seufzte und begann, sich anzuziehen. Er versuchte, es so langsam wie möglich zu tun, wie er so viele Dinge versuchte, so langsam wie möglich zu erledigen. Wohl eine Angewohnheit, wenn man zu oft und zu lange allein war.
Als er den dunkelblauen Pullover über den Kopf zog, kam ihm für einen Moment der Gedanke, dass er Unglück bringen könnte. Schließlich war er nicht grün. Er erwog, sich noch einmal umzuziehen, hielt einen anderen, grünen Pullover schon in der Hand, aber dann legte er ihn wieder zurück in den Schrank. Ein absurder Gedanke. Beinahe lächerlich.
Mr. Knibbles steckte verschlafen den Kopf aus dem Fenster seines Pappkartons, als er in die Küche kam. „Guten Morgen“, sagte Mads. Nur kurz musterte er prüfend den Käfig, dann griff er mit den Händen an die Seiten der Plastikschale und hob ihn vorsichtig an. „Es wird Zeit umzuziehen“.
Es war nicht einfach, einen Käfig durch die halbe Wohnung zu bugsieren, in dem ein hibbeliges Kaninchen ständig von links nach rechts hoppelte. Und wieder zurück. Er verlor einige Krümel Streu und stieß einige Scharten in Wände und Türrahmen, aber schließlich war der Umzug vollendet und Mr. Knibbles stand mitsamt Zuhause auf dem Teppich. Verwirrt blickte er in das streifige Licht der Jalousie. Sonderlich glücklich wirkte er nicht über die aufgezwungene Veränderung, aber das war jetzt nicht wichtig. Mads schloss seine Zimmertür, drehte den Schlüssel einmal herum und steckte ihn in die Hosentasche.
Normalerweise schloss er seine Tür nicht ab. Er hatte schließlich keinen Grund dazu. Aber seinem Vater würde es vermutlich nicht auffallen. Zumindest für die nächste Zeit. Wie lange auch immer das sein würde.


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