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Abschnitt 14

Autor:  lufie
Weiches Licht empfing ihn. Weiches Licht in Blau und Violett. Vorsichtig drückte er die Tür weiter auf. Sie quietschte nicht. Ein blau-violettes Rollo vor dem Fenster, es deckte nicht das gesamte Fenster ab, ringsherum um die Ränder schimmerte weißes Tageslicht. Es dauerte eine Weile, bis seine Augen Umrisse ausmachen konnten. Ein Bett, ein großer Haufen Kissen, eine zerknautschte und aufgetürmte Decke. Mitten darin, verkrochen, ein dunkler Umriss. Schwer zu sagen, ob es ein Kopf mit dunklen Haaren war oder ein Kuscheltier. Mads schloss die Tür hinter sich. Ein leises Klacken, als das Schloss einrastete. Er wartete. Nichts rührte sich. Vielleicht atmete da etwas unter der Decke. Aber es konnte auch nur Einbildung sein oder ein sachter Luftzug. Das Fenster war angekippt. An der Wand gegenüber hing das Plakat irgendeiner Band. Er kannte sie nicht. Er kannte die meisten Bands nicht. Vielleicht hatte der Name auf der Rückseite des Pullovers gestanden, den sie getragen hatte, als sie sich das erste Mal getroffen hatten. Damals, in dem Hutladen. Damals, das Wort klang so abgedroschen, aber er fand kein anderes Wort, das besser zutraf. Er hatte das Gefühl, als wäre dieser Tag im Hutladen schon lange her, Ewigkeiten entfernt. Vorsichtig trat er näher. Ganz vorsichtig. Auf einer Kommode stand schon ein Strauß Blumen, gelbe Rosen und Gerbera, mit dunkelgrünen Blättern zu einem kunstvollen Gebilde drapiert. Ein Meisterwerk eines Floristen. Daneben stapelten sich Tablettenschachteln. Schachteln über Schachteln. Er streckte die Hand aus, schob einige bei Seite, ganz langsam, mit den Fingerspitzen, wie in Zeitlupe, peinlich darauf bedacht, kein Geräusch zu verursachen. Immer abwechselnd schaute er auf seine Hand, die an den Schachteln rückte und auf die Decke, aber alles blieb still. Er schob seine Blumen neben die anderen. Es scharrte, ein wenig, so leise, dass er schon glaubte, nur er habe es gehört. Aber unter der Decke begann sich etwas zu rühren, es raschelte. Erst sacht, dann lauter.
Dann starrten ihn grüne Augen an. Runde grüne ernsthafte Augen. Er hielt inne wie angewurzelt, die Hände noch an der Vase und hätte viel darum gegeben, jetzt an einem anderen Ort zu sein. An irgendeinem, völlig egal.
„Ähm“, begann er, in einem jämmerlichen Versuch, sich zu erklären.
„Mads“, drang es gedämpft unter der Bettdecke hervor. Es war keine Frage, auch kein Ausruf, es war eine dieser trockenen Feststellungen, die er schon kannte. Er war nicht einmal sicher, ob er Verwunderung in ihrer Stimme hörte. Oder Freude. Die Bettdecke raschelte wieder, als Lois sich aufsetzte. Das Gegenlicht tauchte ihr Gesicht in bläuliche Schatten. Wirre Haarsträhnen hangelten sich durch ihr Gesicht. Sie wichte sie mit den Händen nach hinten. Auf einer ihrer Hände klebte ein großes weißes Pflaster. „Mads“, sagte sie wieder. Ja, doch. Verwunderung. Und Freude.
„Hallo“, sagte er, nahm verlegen die Hände von der Vase, verschränkte sie hinter dem Rücken. Die Ringe unter ihren Augen waren dunkler geworden. Die Sommersprossen auf ihrer Nase wirkten wie dunkle Krümel auf der durchscheinenden Haut. Sie lächelte. Es war ein Bleistiftlächeln, aber ein kräftiges. „Ich hoffe, ich hab' dich nicht geweckt.“, sagte er höflich. Sie schüttelte den Kopf. Einzelne ausgefallene Haare kringelten sich auf ihren Schultern, sammelten sich in den Falten des T-Shirts. Viele ausgefallene Haare. „Sind die Blumen von dir?“, fragte sie und betrachtete sie neugierig. Mads nickte, zupfte noch ein wenig an den hängenden Blüten herum, als würden sie dadurch weniger jämmerlich. „Danke“, sagte sie. Sie sagte es so, als würde sie sich wirklich freuen. Zumindest ein bisschen vielleicht. „Setz' dich doch!“ Sie klopfte auf die Matratze neben sich, knautschte die Decke in eine andere Ecke, zog die Beine in einen Schneidersitz. Mads setzte sich. Auf die äußerste Kante. Die Beine im rechten Winkel, die Füße nebeneinander auf dem kühlen Fußboden, die schwitzenden Hände nebeneinander auf den Knien. Er traute sich kaum, sie anzusehen. Vor ihrem Bett stapelten sich Bücher, Zeitschriften, ein alter Gameboy. Ein großer Plastikeimer, rot, leer. Noch oder schon wieder?
„Geht es dir gut?“, fragte sie und lehnte sich zurück, an die weiß tapezierte Wand. Oder hellblau? Im Licht des Rollos konnte er es nicht genau sagen. Er nickte und meinte es auch so. Im Vergleich zur Mehrheit in diesem Land vielleicht nicht ganz so gut, aber im Vergleich zu... Er würgte den Gedanken ab. So schnell wie möglich. Er räusperte einen dicken Kloß aus dem Hals. „Mr. Knibbles auch.“, sagte er. „Mein Vater hat mir erlaubt, ihn zu behalten.“ In dem Moment, in dem er die Neuigkeit aussprach, kam sie ihm nichtig vor, klein und unbedeutend. Er schaute auf die Tablettenschachteln. Auf den Eimer. Ob es Lois überhaupt interessierte, was er da sagte?
„Schön“, sagte sie. Sie klang nicht desinteressiert. „Kann ich ihn mal besuchen kommen?“, fragte sie. „Wen? Mr. Knibbles?“ Sie nickte. „Ich meine, irgendwann mal.“ Sie sagte es leise, schaute auf das Pflaster auf ihrer Hand. Mads nickte. „Klar. Komm, wann du willst.“ Sie lächelte. Fast hätte er ihr doch noch die Geschichte mit den Leuchtsternen an seiner Zimmerdecke vorgeschlagen, aber dann fiel ihm wieder ein, dass er die eigentlich als albern abgetan hatte. Ihre Zimmerdecke war ebenso leer wie seine. Keine Sterne. Nichts. Nur eine schmucklose Lampe.
„Und wie läuft es mit deinem Vater?“, fragte sie weiter. Sie schien nicht zu bemerken, wie abgrundtief unwichtig es war, wie er mit seinem Vater zurechtkam. Oder fragte sie, um sich abzulenken? Er wusste es nicht. Er verspürte kaum Lust, zu antworten. Er zuckte mit den Schultern. „Es geht so“, sagte er. „Man kommt halt miteinander aus. Irgendwie.“ Er lächelte schief. „Fühlst du dich noch einsam?“, fragte sie weiter, aufmerksam. „Im Moment nicht.“ Er grinste. Sie schlug die Augen nieder. Das hatte sie nicht gemeint und das wusste er. Aber das machte nichts.
„Und du?“, fragte er geschickt in die entstandene Pause hinein. „Geht es schon wieder ein bisschen?“ Auch er lehnte sich ein Stück zurück, stützte sich mit den Händen auf der Matratze auf. Sie sanken ein in den weichen Schaumstoff.
Sie schaute wieder auf das Pflaster. Zuckte mit den Schultern. „Hm.“ Zupfte an den Rändern des weißen Zellstoffs. „Das wird schon wieder.“, sagte sie, blickte auf, lächelte matt. Wieder diese gespielte Heiterkeit. Aber vielleicht die einzige Möglichkeit, nicht in Trübsal zu versinken. Auch, wenn sie diesmal nicht übermäßig überzeugend wirkte. „Wie lange geht das noch so?“, fragte er.
Wieder ein Schulterzucken. „Weiß nicht genau. Hab's mir nicht gemerkt. Hab' ja auch gerade erst angefangen.“ Sie zupfte ein loses Haar aus einer Strähne. „Und wenn es vorbei ist?“ „Dann“ Sie zog das Dann ein wenig in die Länge. Griff nach einem Kissen, einem großen verknautschten, legte es sich auf den Bauch. Verschränkte die Arme darauf. „Dann geht’s in diese Klinik. Diese Spezialklinik, von der ich dir erzählt hatte, weißt du?“ Sie schaute auf den knitterigen Bezug. Dunkelgelb. Mit roten Streifen. „Und dann?“ „Dann weiß ich, ob es geholfen hat.“ „Die Chemo?“ Sie nickte, dabei blinzelte sie, häufiger als sonst. Kniff die Augen ein wenig zusammen. Sie hatte keine Lust, zu antworten. Aber er musste diese Fragen loswerden, ganz dringend, sonst würde sein Kopf in den nächsten Tagen überlaufen. Auch, wenn auf jede beantwortete Frage tausend neue folgten.
„Und wird sie helfen?“
Er hätte sich ein lautes, motiviertes Ja, natürlich gewünscht, aber eigentlich rechnete er nicht damit, dass eines kommen würde. Woher auch.
Zunächst folgte Stille. Lois antwortete nicht, schaute auf den Kissenbezug, fuhr mit den Fingern darüber, gleichmäßig, gedankenverloren, weltverloren. „Weiß nicht.“, sagte sie schließlich. Mehr ein Flüstern. „Wahrscheinlich nicht. Aber vielleicht kommt ja noch ein Wunder daher.“ Sie lachte leise und zutiefst ironisch. Wenn nicht gar zynisch. Mads versetzte es einen Stich.
Er setzte sich wieder aufrecht hin. „Aber“, setzte er an. Sie blickte auf. Das Weiße in ihren Augen schimmerte rötlich. Sie glänzten seltsam, ihre Augen. Sie hatte sie weit geöffnet, trotzdem konnte sie nicht verhindern, dass sich unten kleine glitzernde Tropfen sammelten, unten am Liedrand, direkt über den dunklen Ringen, es wurden mehr und mehr, kurz bevor sie überschwappten, senkte sie das Gesicht, wischte mit dem Handrücken. Erst das linke, dann das rechte. Danach war alles noch röter und es wurde nicht besser. Neues Glitzern, neues Tropfen, neues Überquellen, sie schniefte. Atmete durch den Mund. Wollte wieder wischen. „Entschuldige“, presste sie hervor. Tastete nach einem Taschentuch. Mads überlegte nicht lang. Streckte beide Arme aus und griff nach ihren Händen. Er drückte sie auf das Kissen, das noch immer auf ihrem Bauch lag, auf den dunkelgelben Bezug mit roten Streifen, drückte und ließ nicht los. Lois hob langsam den Kopf, er blickte in ihre geröteten und verquollenen Augen. Tränen liefen aus der Mitte heraus über die Augenringe hinweg, über ihre Wangen. Kullerten, tropften, über das Kinn, stempelten dunkle Abdrücke in den weißen T-Shirt-Stoff. „Psst“, machte er und wurde sich im selben Moment erschrocken dessen bewusst, was er da gerade tat. Hastig ließ er los, legte seine eigenen Hände unbeholfen auf die Knie. Wusste nicht, wohin damit. Lois ließ ihre Hände liegen, auf dem Bezug. Sie betrachtete sie, die hellen Knöchel, die so deutlich hervortraten. Die Fingernägel, die leicht bläulich schimmerten. Ganz leicht nur.
Sie sagte nichts.
Irgendwann hörte es auf zu laufen, zu tropfen, zu kullern. Schmale Spuren hatten sich in ihr Gesicht gegraben, sie glänzten ganz matt.
Er hörte sie tief einatmen. Wieder ausatmen.
„Was wolltest du sagen?“, fragte sie. Ihre Stimme klang rau. Er schüttelte den Kopf. „Nichts. Ist schon gut.“ Eine Pause entstand. Zuweilen zog sie noch die Nase hoch, ein leises Schniefen. Aber die Abstände wurden kleiner, irgendwann war es verschwunden.
„Nun sag schon“, setzte sie wieder an. Müde. Erschöpft. „Aber...?“ Mads nestelte an seinen Händen herum, zupfte an der Haut links und rechts der Fingernägel. „Ich wollte eigentlich nur fragen, warum du dann damals die Münzen in den Brunnen geworfen hast.“ Er zupfte zu viel, ein Finger begann zu bluten, schnell steckte er ihn in den Mund. Noch so eine lächerliche, nichtige Frage. Aber so betrachtet war alles nichtig und unwichtig, regelrecht lächerlich. Sternenstaub, alles Sternenstaub.
„Ach das.“ Sie lächelte blass. „Das war vor der Chemo. Da war ich noch fest überzeugt, dass ich das irgendwie schaffen würde. Ich dachte, wenn ich nur will, schaffe ich alles.“ Sie lehnte den Kopf wieder nach hinten gegen die Wand, sie schaute auf einen bestimmten Punkt, während sie das sagte. Mads folgte ihrem Blick. Da hing der Hut am Kleiderschrank. Unversehrt, das Hutband leuchtend rot.
„Vielleicht ist es ja auch so.“, sagte er. Das Hutband erinnerte ihn an eine andere Lois, eine buntere, fröhlichere. Sie schien so wenig gemeinsam mit dieser blassen geisterhaften Gestalt hier auf der Matratze direkt vor ihm, mit der Transparenthaut, den Augenringen, den Tablettenschachteln, den ausfallenden Haaren. Auch, wenn die Heiterkeit von damals vielleicht nur gespielt gewesen war.
Lois lächelte matt, fast amüsiert. Das sagt sich leichter als es ist, sagten ihre Mundwinkel. Besonders vorher. Sie sprach es nicht aus. Stattdessen sagte sie etwas anderes:
„Ich würde viel lieber wieder in die Schule gehen.“ Sie legte den Kopf auf einen der Kissenhaufen in einer Ecke des Bettes, auf die Seite, die Beine anzogen, um Mads nicht ins Gehege zu kommen. Ihre Haare ergossen sich über die Matratze. „Das hätte ich auch nicht gedacht, dass ich ausgerechnet die Schule vermissen würde.“, sagte sie. Sie lachte wieder leise, aber diesmal weniger ironisch. „Manchmal denke ich mir, dass es besser wäre, einfach so weiterzumachen wie bisher. Am besten niemanden davon erzählen. Einfach alles wie immer. Und irgendwann war's das dann. Fertig.“ Sie lächelte. „Bäm“, sagte Mads leise, weil ihm gerade nichts Geistreiches einfiel. Lois lachte. „Genau“ Sie richtete sich wieder auf, begleitet von Rascheln und Knistern.
So blieben sie sitzen, nebeneinander auf die Matratze gestützt, vertieft, gedankenkreisend, verschiedene Punkte fixierend, vielleicht auch ein und denselben, so genau wussten sie das nicht und überprüften es auch nicht.
Durch den Fensterspalt sickerten zwitschernde Vogelstimmen, sich immer abwechselnd wie auf einer kleinen Bühne, ein auf und ab hüpfender Singsang. Das Brausen des Verkehrs. Das Knattern eines Rasenmähers. Oder einer Kettensäge. Oder eines Laubbläsers, wenn Herbst gewesen wäre. Aber es war nicht Herbst. Es war ein steckengebliebener Frühling. Einer, der sich nicht so recht aus seiner Ecke traute.
„Das wäre aber auch zu einfach.“, sagte Mads, mitten in die seichte Stille hinein. Fast schien es, als wirbelte der Schall die stehende Luft auf. Wie ein leichter Luftzug die Staubpartikel im Gegenlicht.
„Hm“, sagte Lois und er war nicht sicher, ob sie zugehört hatte. Eingängig musterte sie ihre Zimmerdecke. Das wiederkehrende, krisselige Muster der Raufasertapete. Sie legte den Kopf schief, erst nach links, dann nach rechts. „Hm“, sagte sie wieder, nachdenklich und zog den Mund auf die rechte Seite, wie viele Menschen es taten, wenn sie überlegten. Dann auf die linke Seite. „Findest du nicht auch, dass meine Decke furchtbar leer aussieht?“, fragte sie dann. Mads betrachtete sie überrascht von der Seite. Fast hätte er gefragt, ob sie vielleicht doch telepathische Fähigkeiten besaß, aber dann besann er sich. Er wollte es selbst herausfinden. Eines Tages würde er dahinterkommen, ganz sicher. Er folgte ihrem Blick zur Decke. „Hm. Schlimm. Wirklich schlimm. Da helfen nur Leuchtsterne, fürchte ich. Viele Leuchtsterne.“ „Oh nein“, seufzte Lois. „Was mache ich denn da jetzt nur?“ Sie bemühte sich wirklich, trübselig zu schauen, aber in ihren Mundwinkeln sammelte sich bereits ein Lachen und bald konnte sie es nicht mehr zurückhalten.
„Ich würde sagen, Sie suchen sich tatkräftige Unterstützung, die Ihnen in dieser schwierigen Aufgabe tatkräftig zur Seite steht.“ Er versuchte sich in einem stahlend weißen Zahnpastawerbungs-Grinsen und streckte beide Daumen in die Höhe. Lois lachte. Sie lachte tatsächlich. „Wann können Sie anfangen?“
„Wann immer Sie wünschen.“

Abschnitt 13

Autor:  lufie
Als er noch klein gewesen war, hatte er ein schmales Buch besessen, ein Heft vielmehr. Er hatte es sich so oft von seiner Mutter vorlesen lassen, bis er es beinahe auswendig gekannt hatte, aber inzwischen hatte er vieles wieder vergessen. Er wusste noch, dass es von zwei Hamstern gehandelt hatte, einem Mädchen und einem Jungen. Das Mädchen hatte Jutta gehießen. Eines Tages war Jutta krank geworden. Der Hamsterjunge hatte lange hin und her überlegt und sich schließlich ein Herz gefasst und entschieden, ihr einen Krankenbesuch abzustatten. Und er pflückte ihr die schönste Kornblume, die er finden konnte. Mads erinnerte sich noch genau an den Wortlaut. Die schönste Kornblume, die er finden konnte. Der Hamsterjunge besuchte sie, Jutta freute sich riesig und wurde schnell wieder gesund. Und die beiden lebten glücklich und zufrieden und bekamen viele Kinder. So ungefähr. Damals hatte er gedacht, Kornblumen müssten etwas wahnsinnig Wertvolles und Schönes sein. Er war fast enttäuscht gewesen, als er auf einem Kornfeld zum ersten Mal bewusst eine gesehen hatte. So klein und unscheinbar. Gewöhnlich fast. Aber dieser Satz war ihm nie aus dem Kopf gegangen. Die schönste Kornblume.
Er fragte sich, wo das Heft hingekommen sein könnte. Er hatte es wohl nicht mitgenommen. Wahrscheinlich stand es jetzt bei seiner kleinen Halbschwester und seinem kleinen Halbbruder, irgendwo im südlichen Norwegen. Seine kleine Schwester hieß auch irgendetwas mit J. Nicht Jutta, aber vielleicht Jette. Wahrscheinlich Jette. An den Namen seines Bruders konnte er sich nicht erinnern. Beim besten Willen nicht. Er hatte ihn auch nur ein einziges Mal gesehen. Er hatte blonde Fusselhaare gehabt, das wusste er noch. Wie alt die beiden inzwischen sein mochten? Er versuchte nachzurechnen, aber er kam auf kein eindeutiges Ergebnis. Ob Jette schon lesen konnte? Bestimmt. Er stellte sich vor, wie sie im Kinderzimmer auf dem Bauch lag, auf einem bunten flauschigen Teppich und ein Bild mit zwei Hamstern malte. Krakelig, mit Filzstiften. Vielleicht sollte er den beiden einen Brief schreiben, seinen beiden Geschwistern. Oder wenigstens eine Karte. Dumm nur, dass der Postweg immer irgendwie über seine Mutter führte.
Er zupfte eine der Kornblumen in seiner Hand zurecht. Es waren Gartenkornblumen, sie waren nicht so schön wie die auf den Feldern, nicht so klein und filigran sondern mit dicken und fleischigen Blättern. Er hatte sie hinter dem Haus gepflückt. Nein, nicht gepflückt natürlich, sondern mit der Gartenschere abgeschnitten, ganz unromantisch. Es waren die schönsten, die er hatte finden können. Sie ließen schon ein wenig die blauen Blüten hängen. Das lag daran, dass er die Stängel zu fest in seiner Hand drückte und dass er schon viel zu lange hier stand. Da bewirkte auch das feuchte Küchentuch, dass er unten um die Schnittstellen gewickelt hatte, nicht viel. Er zupfte noch einmal, dann schaute er wieder auf die Tür vor sich. Eine Holztür, hellblau angestrichen, mit einem kleinen eckigen Fenster in der Mitte. Mit Riffelglasscheibe. Es gab tatsächlich ein Schild mit dem Familiennamen darauf. Es war nicht aus Salzteig, sondern aus Ton. Es hing auf der linken Seite, von einem einzigen Nagel festgehalten. Die Klingel sah vollkommen harmlos aus, ein silberner Knopf, mehr nicht. Und trotzdem stand er da wie festgenagelt und starrte auf den Knopf und auf das Schild und auf das Hellblau und das Riffelglas und traute sich nicht. Er schaute auf seine Blumen und fühlte sich lächerlich, albern, affig. Die Liste war endlos. Eigentlich fehlte noch die Mandoline in der Hand, merkwürdige mittelalterliche Kleidung, inklusive Strumpfhosen. Und singen können müsste er. Dann würde wenigstens ein stimmiges Gesamtbild der Peinlichkeit entstehen.
Er schluckte, schloss fest die Augen und versuchte krampfhaft, sein trommelndes Herz zu ignorieren. Dann streckte er den Finger aus, quälend langsam, er zitterte, ohne, dass er es verhindern konnte. Und drückte. Drückte fester, bis zum Anschlag. Er öffnete die Augen und wartete. Einen Moment war er drauf und dran, doch noch schnell wegzurennen oder wenigstens die Blumen wegzuwerfen, als sich die Tür auch schon öffnete. Sie quietschte ganz leise in ihren Angeln, kaum hörbar. Ein Mädchen trat aus dem Türspalt, vielleicht zehn Jahre alt, vielleicht ein wenig älter. Sie trug geringelte Strumpfhosen unter einem bunten Kleid und eine ebenso bunte Spange im Haar. „Hallo“, sagte sie und beäugte ihn misstrauisch. Mads versuchte unauffällig, die Blumen hinter seinem Rücken verschwinden zu lassen, aber sie hatte sie bereits gesehen. Ihr Blick blieb daran haften. Ihre Augen waren nicht so grün wie die von Lois. „Hallo“, sagte Mads. Sein Hals fühlte sich trocken an. Er streckte ihr die freie Hand entgegen. Es war dummerweise die linke. „Ich heiße Mads.“ Das Mädchen legte den Kopf schief. Ihr Blick wechselte von seiner Hand zu seinem Gesicht zu den Blumen hinter seinem Rücken und wieder zurück. Sehr lange betrachtete sie ihn und er glaubte schon, dass sie die Tür wieder schließen würde, als sie doch nach seiner Hand griff, auch mit der linken, als wäre es ganz normal. „Ich bin Laura.“, sagte sie. „Du willst bestimmt zu Lois, oder?“
Ein wachsames Mädchen. Mads nickte. Sie hielt ihm die Tür auf, dabei legte sie wieder den Kopf schief. Vorsichtig betrat er die einhüllende Dämmerung eines schmalen Flurs. Schuhe stapelten sich auf den weißen Fliesen und ein dezenter, kaum wahrnehmbarer Geruch empfing ihn. Jede Wohnung hatte ihren eigenen Geruch, das hatte er schon früh festgestellt. Überall roch es anders, aber immer undefinierbar. Und auch nur in fremden Wohnungen. Innerhalb der eigenen Wänden roch es nach nichts. Wenn nicht gerade jemand kochte oder Räucherstäbchen abbrannte oder seine Schuhe putzte oder was auch immer. Einfach nach gar nichts. Als hätte sich die Nase irgendwann so sehr an den eigenen Geruch gewöhnt, dass sie ihn einfach ausblendete. In anderen Wohnungen dagegen... Er glaubte, einen Hauch Waschmittel zu erkennen, aber vielleicht irrte er sich auch. Er streifte die Schuhe ab, warf sie zu den anderen. Er hatte den Anorak heute zu Hause gelassen. Es war wärmer geworden. Wenn auch nur ein wenig und eigentlich hätte er doch eine Jacke gebraucht. Aber es fühlte sich besser an, ohne herumzulaufen. Weniger eingeengt. Mehr nach Sommer. Die Menschen in Skandinavien liefen den ganzen Sommer in kurzen Hosen und Sandalen herum, auch, wenn es noch so kalt und regnerisch war. Für sie war Sommer und fertig. Wenn das Wetter nicht mitspielen wollte, hatte es eben Pech.
Er folgte Laura in eine geräumige Wohnküche. Eine schmale Treppe führte in das obere Stockwerk. Eine Glastür wies in den Garten. An einen knorrigen Apfelbaum klammerte sich ein kleines schiefes Baumhaus. Das Holz war dunkel und verwittert. Auf dem Dach flatterte eine zerschlissene Piratenflagge.
Laura öffnete einen Schrank nach dem anderen, kramte, suchte, klapperte mit Tellern, Gläsern. Schließlich fädelte sie eine mittelblaue Vase hervor, betrachtete sie prüfend. „Passt die?“, fragte sie und hielt sie ihm hin. Mads zuckte mit den Schultern. „Bestimmt“, sagte er, ohne die Blumen in seiner Hand überhaupt anzusehen. Überall an den Wänden hingen Fotografien, manche eingerahmt, manche auch nur mit einfachen Reißzwecken festgepinnt. Lois und ihre Schwestern sahen sich so ähnlich, dass er sie auf manchen Bildern kaum voneinander unterscheiden konnte, nur, wenn sie alle drei nebeneinander abgebildet waren, ging es leichter. Er hörte, wie Laura in einem Nebenraum verschwand. Kurz darauf das Geräusch fließenden Wassers.
Lois hatte das rundeste Gesicht und die rundesten Augen. Gehabt, dachte er. Zumindest, was das Gesicht anbelangte. Gehabt.
„Bitteschön“ Er zuckte zusammen. Laura hielt ihm die Vase hin. Wasserkreise glänzten im Inneren. Sie schaute plötzlich sehr ernst. Mads fädelte die Blumen in die Öffnung, stopfte, sortierte. Sie passten. Geradeso. Er nahm ihr die Vase aus den Händen. „Danke“, sagte er. Sie lächelte nicht. „Lois ist oben“, sagte sie. „Ich zeig's dir.“ Und sie huschte davon, die Treppe hinauf. Sie trug keine Schuhe, nur Socken, ihre Füße verursachten keinerlei Geräusche auf den Stufen. Mads spürte wieder, wie sein Herz zu klopfen begann. Vorsichtig nahm er eine Stufe nach der anderen, etwas Wasser tropfte über den Rand der Vase und lief kalt seine Finger hinunter. Er hörte einen Tropfen auf eine Stufe plitschen. Oben herrschte Dunkelheit. Es gab keine Fenster. Einige schmale Lichtstreifen verrieten, dass sich dort Türen befanden. Laura wartete auf ihn. Ungeduldig wippte sie mit den Füßen vor und zurück, die Hände hinter dem Rücken verschränkt. „Hier“, sagte sie und deutete auf eine Tür links von sich. „Aber es kann sein, dass sie schläft.“ Sie schaute ihn noch einen Moment an, mit einer Spur Misstrauen in den Augenbrauen, dann rannte sie davon, die Treppe wieder hinunter.
Es stand sogar Lois auf der Tür. In großen Windowcolorbuchstaben, gelb und hellgrün. Die Ränder waren bereits ausgefranst, als hätte jemand mit den Fingernägeln daran geknibbelt. Er lauschte, aber er konnte nichts hören. Nicht einmal von unten drangen Geräusche. Es war still. Nur Herz und Lunge arbeiteten. Er betrachtete die Klinke. Legte die Hand auf das kühle Metall und drückte.

Abschnitt 12

Autor:  lufie
Er konnte nicht sagen, ob die Zeiten, in denen sein Vater da war, besser waren als die, in denen er nicht da war. Wahrscheinlich waren sie es. Sie mussten es sein, nur rein objektiv betrachtet. Zumindest waren sie anders, abwechslungsreicher. Ja, abwechslungsreicher. Er konnte sich darüber aufregen, wenn sein Vater seine Sachen wegräumte. Er konnte sich darüber aufregen, wenn sein Vater sich darüber aufregte, dass er seine Sachen ständig überall verstreute. „Unordnung stiftete“, wie sein Vater es nannte. Er konnte darüber seufzen, wenn sein Vater ekelhaften Joghurt kaufte und fest behauptete, dieser sei schon immer Mads' Lieblingsjoghurt gewesen. Er konnte die Augen verleiern, wenn sein Vater zum wiederholten Male gegen die Beschlüsse irgendeiner Sitzung irgendeiner Institution wetterte oder gegen diejenigen, die solche Beschlüsse fassten und dabei die Zeitungsseiten in den Händen zerknautschte. Und er konnte müde lächeln, wenn sein Vater die vertrocknete Zimmerpflanze gegen eine neue ausgetauscht hatte. Wieder einmal.
Immerhin machte er ihm keine Vorschriften, wie und wie oft er die Pflanze während seiner Abwesenheit zu gießen hatte. Er sagte auch nichts zu dem völlig verdreckten Badezimmer oder zu dem T-Shirt, das immer noch an dem Haken hing. Manchmal sah Mads förmlich, wie ihm Tadel und Belehrungen solcher Art schon auf der Zunge lauerten, aber er schluckte sie jedes Mal hinunter. Andersherum sagte Mads nichts dazu, wenn sein Vater in der Küche rauchte. Er öffnete nur das Fenster, obwohl ihm die Übelkeit jedes Mal beißend die Kehle hinaufkroch. Es schien, als wüsste jeder genau, woran er herumkritteln durfte und woran nicht. Geheimes Herumkrittelungs-abkommen, kurz GHKrit. Und es kamen immer noch Paragraphen und Absätze hinzu. Es wurde fleißig ausgebessert, durchgestrichen, ergänzt.
Und trotzdem musste Mads immer wieder an diesen Film denken, in dem sich Vater und Sohn gegenüber saßen, vollkommen aneinander vorbei redeten, sich nicht zuhörten und schließlich auseinander gingen mit den Worten „Gutes Gespräch!“.
Sie unternahmen einige Versuche, gegeneinander Schach zu spielen. Mads mochte Schach nicht, sein Vater liebte es. Er konnte stundenlang mit Begeisterung in den Augen über ausgeklügelte Strategien und Schlagabfolgen referieren, aber das machte das Spiel für Mads eher schwieriger als einfacher. Bei Mensch-ärgere-dich-nicht ärgerte sich immer mindestens einer, wenn nicht sogar beide. Mau-Mau war zu zweit langweilig. Und Memory fand sein Vater kindisch.
Wenigstens bei Filmen konnten sie zuweilen einen gemeinsamen Nenner finden, aber auch der erschöpfte sich schnell. Es war immer dasselbe. Anfangs versuchten sie, sich irgendwie zusammenzuraufen, aber nach spätestens zwei, manchmal auch drei Wochen ging dann doch jeder wieder seinen eigenen Beschäftigungen nach. Sein Vater las irgendwelche schlauen Magazine über Finanzen, Wirtschaft oder Management und strich sich ständig Stellen an, die er wohl für wichtig hielt. Mads fragte schon gar nicht mehr, was er da anstrich, weil immer die Gefahr bestand, dass ein endloser Vortrag folgen könnte. Das Wissen seines Vaters war zwar zuweilen im Unterricht recht nützlich, aber es gehörte nicht zu Mads' Vorlieben, vor der ganzen Klasse mit Schlaumeiereien zu glänzen. Sein Ruf war ohnehin schon schlecht genug.
Und so saß Mads meist still daneben, schaute fern oder verschlang dicke Fantasybücher aus der Bibliothek, über die sein Vater jedes Mal den Kopf schüttelte. Wahrscheinlich hätte er es lieber gesehen, wenn er Goethe oder Nietzsche gelesen hätte, aber Mads wollte seine Welten voller Elfen, Zwerge und Ungeheuer, voller Helden und Magie ungern gegen trockene Abhandlungen, vollgestopft mit Fremdwörtern, die er nicht einmal beim dritten Lesen verstand, eintauschen. Und was Goethe anbelangte, hatte seine Deutschlehrerin gute Arbeit geleistet. Für die nächste Zeit würde er die Finger davon lassen, so viel stand fest.
Sein Vater schlug vor, in den Park zu gehen und Fußball zu spielen. Mads wollte nicht, nicht einmal um der friedlichen Stimmung Willen. Sein Vater schlug vor, abends in eine Kneipe zu gehen und dort Fußball zu schauen. Mads war sich nicht sicher, ob er diesen Vorschlag wirklich ernst gemeint hatte. Sein Vater schlug vor, Eis essen zu gehen. Lange starrten sie auf das Thermometer, das außen am Küchenfenster klebte. 15° C. Mehr waren es tatsächlich nicht. Und mehr wurden es auch nicht, indem sie darauf starrten. Aber sein Vater nahm seinen Vorschlag nicht wieder zurück und Mads konnte nicht Nein sagen, denn ihm fiel nichts ein, was er stattdessen hätte vorschlagen können. Also rafften sie alle Willenskraft zusammen, die sie aufbringen konnten und gingen auf den großen runden Platz. Nicht in dasselbe Café, in ein anderes, beinahe direkt gegenüber. Die Tische waren viereckig und aus Holz. Wahrscheinlich kippelte nicht einer von ihnen. Sie betrachteten eine Weile die Wolldecken, die säuberlich zusammengefaltet über den Stuhllehnen hingen und entschieden sich für Eis auf die Hand. Mit Waffel. Eistüte. Wie auch immer man das nannte. Mads hatte keine Lieblingseissorte. Nicht einmal annäherungsweise. Er nahm die Sorte, von der noch am meisten da war. Er dachte an Lois. Er fragte sich, welche Sorte sie wohl mochte. Ihm fiel dieser Film ein, wieder ein seichter Film. Eine Frau betrat ein Café, setzte sich. Ein Mann beobachtete sie von einem anderen Tisch aus und versuchte zu erraten, welches Getränk sie wohl bestellen würde. Nach einigem Überlegen landete er bei Aprikosensaft und behielt recht. Später heirateten sie. Seichte Filme eben. Wieso dachte er jetzt daran?
Sein Vater versuchte ihn zu überreden, eine zweite Kugel zu nehmen. Vielleicht war ihm eine noch nicht teuer genug oder er fand es aufregend, sich hoffnungslos zu überfressen. Wer die meisten Kugeln schafft, muss nicht das Bad putzen. So ungefähr. Zu einer solchen Wette hätte Mads sich vielleicht sogar hinreißen lassen, immerhin ging es um eine Zeiteinsparung von mindestens einer Stunde pro Woche. Aber seinem Vater waren solche Wetten zu kindisch. Bestimmt. Jedenfalls schlug er nichts vor. Nur, durch den Park zu spazieren. Mads nickte.
Und so gingen sie langsam nebeneinander her, schweigend, jeder mit seiner eigenen Eiskugel beschäftigt, der Kies knirschte unter ihren Füßen und an jeder Ecke klebte Lois, sie hing an jedem Grashalm, an jedem Maulwurfshügel, an jeder Pusteblume, deren Schirmchen noch nicht in alle Winde zerstreut waren. Mads fragte sich, ob sie es ihm sehr übel nehmen würde, wenn er ihr schon morgen einen Besuch abstatten würde. Freitag. Zwei Tage nach Mittwoch. Nach X. Keine sehr lange Zeit, aber sie würde wohl reichen müssen.
Zu allem Überfluss waren seinem Vater noch einige Fragen zu ihr eingefallen, die er ihn fragen konnte, kurze Fragen, auf die er wohl keine allzu komplizierten Antworten erwartete. Sie hieß Lois. Nachname hatte er vergessen. Alter wusste er nicht. Schule auch nicht. Weshalb sie das Kaninchen hatte weggeben wollen. Ähm. Haarallergie. War kürzlich bei ihrer kleinen Schwester festgestellt worden. Mads hatte keine Lust, sich originelle Lügengeschichten einfallen zu lassen. Irgendwann gab sein Vater Ruhe. Mads überlegte, ob er zurückschlagen sollte. Wie war es bei der Geschäftsreise. Was wurde besprochen. Wie war das Hotel. Gab es Schokolade auf den Kopfkissen. Wer war eigentlich neulich die Frau am Telefon. Aber er ließ es bleiben.
Laut GHKrit war so etwas bereits gesetzliche Grauzone.

Abschnitt 11

Autor:  lufie
Als kleines Kind war er oft weggerannt, mitten im Streit, manchmal wütend, manchmal beleidigt, manchmal in Tränen aufgelöst. Er hatte sich in immer dieselbe Ecke seines Zimmers gekauert und gewartet, dass jemand ihm hinterherkommen würde. Sollten doch die anderen das Problem irgendwie lösen und sich einen Kompromiss überlegen. Er selbst würde keinen Finger mehr rühren und sich ganz sicher nicht entschuldigen. Manchmal hatte es funktioniert, manchmal auch nicht. Aber wenn ihm jemand hinterhergekommen war, dann war es nie sein Vater gewesen. Soweit er sich erinnern konnte. Immer nur seine Mutter.
Er legte sich auf den Teppich, auf die Seite, und drückte mit dem Finger auf den Griff der Gabel. Er hing über den Rand des Tellers, sodass sich das andere Ende der Gabel hob und wieder nach unten schnellte, sobald er den Druck lockerte. Es klackte leise. Er wiederholte die Prozedur, wieder und wieder, bis es ihm irgendwann langweilig wurde. Er zog die Hand zurück.
Er würde nicht zurückgehen und sich entschuldigen. Er durfte nicht. Auch wenn es bedeutete, dass er den ganzen restlichen Nachmittag und die ganze Nacht hier liegen musste. Sollte sein Vater sich mal etwas überlegen. Geschäftsführer zu sein bestand schließlich hauptsächlich darin, irgendwelche Kompromisse zu finden. Glaubte er zumindest. Mal gehört zu haben.
Er drehte sich auf den Rücken. An die Decke seines ersten Kinderzimmers hatte sein Vater Sterne geklebt, die im Dunkeln hellgelb geleuchtet hatten. Er hatte sie in Form bekannter Sternbilder angeordnet. Viele Jahre hatte Mads die wirklichen Sternbilder sogar am Himmel finden können, inzwischen hatte er auch das wieder verlernt. Er fragte sich, warum er so lange nicht mehr daran gedacht hatte. Und warum die Decke hier so ekelhaft leer und weiß aussah.
Er dachte an Lois. Er könnte sie fragen, ob sie Lust hätte, ihm dabei zu helfen, neue Sternbilder an seine Decke zu kleben. Aber noch im selben Moment, in dem er den Gedanken zu Ende gedacht hatte, erschien er ihm schon wieder unendlich albern. Lois wollte bestimmt nicht die wenigen Tage, an denen es ihr einigermaßen gut ging, mit dem Kleben von leuchtenden Plastiksternen an fremde Tapete verbringen. Oder vielleicht doch? Ob sie schon wieder zu Hause war? Oder lief die Suppe in diesem Moment in sie hinein? Mads hatte keine Ahnung, wie lange so eine Chemo dauerte. Bisher hatte er auch nie darüber nachdenken müssen. Zum Glück, hätte man sagen können. Aber nie darüber nachdenken zu müssen wäre vielleicht noch besser gewesen. Auch, wenn ihm das wiederum utopisch erschien.
Mr. Knibbles hoppelte von rechts nach links, von einer Ecke seines Käfigs in die andere. Und wieder zurück. Zuweilen knabberte er an einigen Möhrenstücken. Und er guckte. Guckte er doof? Vielleicht. Aber was machte das schon? Mads fielen auf Anhieb fünf Mitglieder des Bundestages ein, die die Disziplin des Doofguckens auch ziemlich gut beherrschten. Aber stellte deshalb jemand ihre Daseinsberechtigung in Frage?
Vergleich doch nicht Äpfel mit Birnen, hörte er seinen Vater schon antworten. Kaninchen sind kein Ersatz für Menschen. Mads zog den Kopf zwischen die Schultern und biss in den Halssaum seines Pullovers. Na und. Kühlschränke auch nicht. Und Fernseher erst recht nicht.
Irgendwann nahm er Mr. Knibbles aus dem Käfig, setzte ihn sich auf den Bauch und streichelte ihn, mit beiden Händen, über die angelegten Ohren, den Rücken, bis nach hinten zu dem puscheligen Schwänzchen. Und wieder von vorn.
Lange lag er so da, streichelte sich die Hände taub, dachte an Lois oder führte das Gespräch mit seinem Vater auf ein Neues, wieder und wieder spulte es durch seinen Kopf, wieder und wieder ließ er seine Argumente gegen die seines Vaters antreten. Das Ergebnis war selten positiv.
Die Zeit verstrich langsam, quälend langsam, draußen war es immer noch hell, das konnte man selbst durch die Jalousie hindurch erkennen. Durst kroch leise seine Kehle hinauf. Anfangs gelang es ihm gut, ihn zu ignorieren, aber er wurde schlimmer und irgendwann konnte ihn nicht einmal der Argumente-Austausch-Generator in seinem Kopf noch davon ablenken. Wieso hatte er sich nie einen Vorrat an Wasserflaschen in seinem Kleiderschrank zugelegt?
Seufzend kappte er seine ineinander verschlugenen Gedankenfäden, setzte Mr. Knibbles zurück in den Käfig. Für einen Moment erwog er ernsthaft, sich in den Keller zu schleichen, um gleich einen ganzen Kasten zu holen – wer wusste schon, wie oft und lange er noch in seinem Zimmer würde ausharren müssen – aber da hätte er auch gleich an seinem Vater vorbei in die Küche spazieren können. Die Kellertür schnarrte und quietschte verräterisch laut. Aber wieso stellte er sich überhaupt so an? Er war hier zu Hause, er musste sich vor nichts verstecken, nicht schleichen, gar nichts. In einem Anflug von Entschlossenheit öffnete er die Tür und marschierte los.
Im Flur blieb er abrupt stehen. Sein Vater saß noch in der Küche.
Er hatte ihm den Rücken zugewendet und schien beschäftigt. Wie immer also. Mads wollte davonschleichen, um seinen Durst am Wasserhahn im Badezimmer zu stillen, als er sich plötzlich umdrehte. „Mads?“ Mads stand wie erstarrt, wie erwischt, ertappt. Bei was eigentlich? „Bitte setz dich.“ Sein Vater wies mit der Hand auf den Stuhl neben sich. Mads setzte sich. Er fühlte sich lächerlich. Als hätte er doch noch auf Knien rutschend um Verzeihung gebeten, gefleht. So wie der König vor gut tausend Jahren in Cabanossi. Nein, falsch, Canossa.
Sein Vater hatte die Ärmel seines Hemdes hochgekrempelt und die beiden obersten Knöpfe geöffnet. Die Lesebrille hatte er wieder in die Haare geschoben. Das Smartphone hielt er noch in der Hand. Er legte es auf den Tisch. Eigentlich ließ er es vielmehr aus seiner Handfläche auf die Tischplatte gleiten.
Er fixierte ihn nicht, er schaute ihn an. „Mads“, sagte er. Mads nickte kurz, obwohl es überflüssig war. Sein Vater atmete ein. „Ich kann nichts daran ändern, dass ich so oft weg muss.“, sagte er. „Damit musst du leider zurechtkommen. Aber...“ Er runzelte die Stirn „Du hast immer gesagt, es würde dir nichts ausmachen. Darauf habe ich mich verlassen. Und jetzt kommst du und machst mir Vorwürfe.“ Mads sagte nichts. Sein Vater zupfte an seinem Hemdskragen. Seufzte. „Ich hatte ehrlich gesagt auch gehofft, dass du schneller Freunde finden würdest.“
Falsch gedacht. Mads zuckte mit den Schultern, lächelte verlegen, hilflos. Mit einer Spur Bitterkeit. Ehrlich gesagt hatte er das auch gehofft. In einem dieser Anflüge von Enthusiasmus und schierer Selbstüberschätzung, dir ihn manchmal befielen. Er kam wohl nicht heraus aus seiner Haut, zumindest nicht so einfach.
Immerhin hatte er jetzt Lois. Wobei haben vielleicht nicht das richtige Wort war. Vielleicht hatte sie ihn mehr als er sie. Er wusste es nicht.
Sein Vater lehnte sich zurück und fuhr mit dem Finger die Tischkante entlang. „Deine Freundin, woher kennt ihr euch? Aus der Schule?“ Mads schüttelte den Kopf. „Nein“, sagte er. „Aus der Stadt.“ „Aus der Stadt?“ „Ja“ „Wie? Einfach so?“ Sein Vater lächelte, aber es war viel von der Belustigung und dem Spott verschwunden. Nicht alles, ein wenig noch hing in den Mundwinkeln, aber das war meistens so. Mads nickte. „Und was macht ihr so zusammen?“ „Wir trinken Milchshake und gehen spazieren.“ Und schenkten sich dicke Kaninchen. Und brauchten Wochen, um Adressen auszutauschen. Und brauchten Ewigkeiten, um sich das wirklich Wichtige zu erzählen. Sein Vater lachte nicht, obwohl Mads sich sicher war, dass er diese Art von gemeinsamen Unternehmungen sicher lustig fand. Er überlegte, was er mit seinen Freundinnen wohl gewöhnlich getan hatte. Auf Konzerte gehen, auf Partys gehen, sie zu seinen Fußballspielen einladen. Verreisen. Und spazieren gehen vielleicht auch.
Sein Vater schwieg eine Weile. Das Lächeln war verschwunden, dafür war die Falte zwischen den Augenbrauen zurückgekehrt, ganz blass nur. Er rutschte auf seinem Stuhl hin und her. „Und ist sie nun eine Freundin oder...“ Bedeutungsvolle Pause „...deine richtige Freundin?“ Er fixierte wieder. Die linke Augenbraue rutschte in die Höhe. „Sie ist eine Freundin“ Mads legte die Betonung auf eine und versuchte, so zu klingen, als wäre er sich hundertprozentig sicher. Ich weiß nicht, wäre die richtige Antwort gewesen. Irgendetwas dazwischen. So ähnlich. Aber das hätte seinen Vater nur beunruhigt und das Gespräch endlos in die Länge gezogen.
Und tatsächlich. Sein Vater lehnte sich zurück, die Falte zwischen den Augenbrauen verschwand. Er wirkte erleichtert, beinah entspannt. Insofern jemand wie er überhaupt dazu in der Lage war, sich zu entspannen. „Fein, fein“, sagte er. Wahrscheinlich hatte er sich schon darauf gefasst gemacht, seinem Sohn Vorträge über Verhütung und Ähnliches halten zu müssen.
Mads nickte kurz, stand auf, füllte sich ein Glas aus dem Wasserhahn, bis zum Rand, trank in einem Zug. Füllte das Glas erneut. Trank. Sein Vater saß eine Weile still, als lausche er dem Gluckern, mit dem das Wasser seine Kehle hinabfloss. Fast schon reflexartig tasteten seine Finger wieder nach dem Smartphone, aber er starrte weiter geradeaus, an die gegenüberliegende Wand, dort, wo der Heizkörper ebefalls vor sich hin gluckerte, leise und regelmäßig. Mads füllte das Glas ein drittes Mal. Er wollte sich unauffällig aus dem Zimmer schieben, aber sein Vater war wohl doch nicht so geistesabwesend gewesen wie er gewirkt hatte. „Mads?“ Er wandte sich um. Mads hielt inne. Sein Vater stand auf. „Ähm...und wegen dem Kaninchen. Behalt das Vieh von mir aus. Ich weiß zwar immer noch nicht, was du damit willst, aber...“ Er gab sich redlich Mühe, nebensächlich und gelassen zu klingen. Das Smartphone steckte er in die Hosentasche. „Ich will keinen Ärger damit haben. Kein Dreck, kein Gestank und es bleibt in deinem Zimmer. Verstanden?“ Mads nickte, lächelte, still in sich hinein und hoffte, dass sein Vater den dunklen Fleck auf dem Esszimmerteppich nie entdecken würde. Oder für etwas anderes halten würde. Für verschütteten Saft vielleicht. „Danke“, sagte er. Sein Vater lächelte kurz, dann schob er sich an ihm vorbei. „Ich muss nochmal kurz weg.“, sagte er und steuerte auf den Garderobenschrank zu. „Soll ich was mitbringen?“ Mads schüttelte den Kopf. Er umfasste das Wasserglas mit beiden Händen und sah seinem Vater dabei zu, wie er in Schuhe und Jacke schlüpfte. „Nichts?“ Er blieb noch einmal kurz stehen, Mads schüttelte wieder mit dem Kopf. „Gut, dann bis gleich.“ Und er wehte aus der Tür, die Jacke noch nicht einmal zugeknöpft.
Mads seufzte.
Manche Dinge änderten sich nie.

Abschnitt 10

Autor:  lufie
Er kam pünktlich. Er hatte es nicht anders erwartet. In der Schule hatte sich nichts verändert, die Klassenräume nicht, die Schüler nicht und die Lehrer. Erst recht nicht. Weshalb auch. Nur, weil er nun eine krebskranke Freundin hatte? Er zählte die Minuten, die Sekunden. Sein Kopf fühlte sich schwer an, randvoll mit einem zähen Brei aus Gedanken, Bildern, Worten. Alles vemengte sich ineinander und übereinander und es gab so viel zu beachten und so vieles wollte nicht vergessen werden. Da blieb kein Platz für Zellatmung oder Ethansäuren und schon gar nicht für die Koalitionskriege. Auch, wenn seine Lehrer dafür kein rechtes Verständnis aufbringen wollten. Er kassierte eine schlechte Note und eine handvoll Ermahnungen, die sich in ihrem Wortlaut kaum voneinander unterschieden. Er konnte sich kaum an sie erinnern, sie flossen durch seinen Kopf und versickerten in irgendwelchen Untiefen, irgendwelchen Gehirnwindungen. Er war nur froh, wenn sich unter ihnen nicht Sätze befanden wie „Komm nach der Stunde mal bitte zu mir“ oder „Ich werde wohl mit deinen Eltern sprechen müssen“. Das wäre der Höhepunkt gewesen. Ein Kaninchen und ein Lehrerbrief für seinen Vater. Obwohl es sicher interessant gewesen wäre, auszutesten, wie weit sich der Geduldsfaden seines Vaters spannen ließ. Aber eigentlich auch wieder nicht. Sollte jemand anders es testen.
Er überlebte den Unterricht. Er überlebte ihn tatsächlich. Als Erster schlich er sich aus der Tür, gerade in dem Moment, in dem die Klingel dazu ansetzte, die Pause zu verkünden. Er hatte noch nie das Gefühl gehabt, seine Zeit mehr verschwendet zu haben. Er hatte noch nie das Gefühl gehabt, weiter vom Leben entfernt zu sein als in dem Moment, in dem er die Schemazeichnung einer Zelle in seinem Lehrbuch betrachtet hatte. Mitsamt Mitochondrien, mitsamt Endoplasmatischem Ritikulum.
Er lief zügig nach Hause. Zumindest zügiger als normalerweise. Manchmal hatte er das Gefühl, dass zügig für einen Beobachter trotzdem noch langsam aussah. Als würden seine Sinnesorgane nach einem grundsätzlich anderen Prinzip arbeiten als die anderer Menschen.
Er dachte an die wackeligen Aufnahmen von Astronauten, die über den Mond liefen, oder zumindest versuchten, über den Mond zu laufen. Wie in Zeitlupe wirkten ihre Schritte, unbeholfen, als würden die Befehle, die ihre Köpfe an ihre Körper sendeten, erst nach Minuten auch dort ankommen. Der kleine Schritt für einen Menschen war ein ziemlich ungelenker gewesen.
Aber bei ihm dauerte es ja sogar Stunden, bis Informationen erst einmal in seinem Kopf anlangten. Kein Wunder also.

Sein Vater erwartete ihn. Er saß in der Küche. Er trug noch seinen Anzug, nur die Krawatte hatte er abgenommen. Sie lag auf dem Schuhschrank in der Diele. Er hatte sie nicht ordentlich zusammengelegt. Auch seine glänzenden Schuhe standen nicht, schon gar nicht nebeneinander, sie lagen verquer vor dem Schrank, wie hingeworfen. Er hatte den obersten Knopf seines Hemdes geöffnet. Es war eines dieser Hemden, die so steif waren, dass die Falten, die sie warfen, ganz eckig aussahen. Wenn sie überhaupt Falten warfen. Er saß weit zurückgelehnt auf dem Stuhl, hatte den linken Fuß auf den rechten Oberschenkel gelegt, sodass sein linkes Bein einen rechten Winkel bildete. In der Hand hielt er einen Stoß Blätter und betrachtete sie mit gerunzelter Stirn durch seine Lesebrille. Zuweilen blätterte er in ihnen, mit fahrigen Bewegungen. Manchmal leckte er an Daumen und Zeigefinger, um eine Seite besser greifen zu können. Auf dem Tisch, in Reichweite lag das Smartphone und war ausnahmsweise still. Es dauerte eine ganze Weile, bis sein Vater aufblickte. Die Haustür war längst zugeklappt. Er ließ die Blätter sinken und lächelte.
„Na“, sagte er. „Hallo“, sagte Mads, während er sich im Stehen die Schuhe abstreifte, mit einer Hand an der Türklinke. Er warf sie nicht in den Schirmständer. Den Anorak hängte er in den Garderobenschrank, an einen Kleiderbügel. An einen der vielen freien Kleiderbügel.
„Ich habe Mittag gemacht.“ Sein Vater schob sich die Brille ins Haar. Es ergraute bereits. Im Gegenlicht des Küchenfensters konnte man es deutlich erkennen. Mads nickte und öffnete die Spülmaschine, um Teller, Messer und Gabel herauszunehmen. Das Essen in den Töpfen auf dem Herd war noch warm, sein Vater hatte gut geplant. Es kam nicht häufig vor, dass ihm das gelang, aber es kam vor. Kartoffeln mit Gemüse aus dem Gefrierfach und Fleischklößchen, auch aus dem Gefrierfach. Keine dieser Zutaten hatte er selbst gekauft. Mads hatte sie gekauft, schon vor vielen Tagen, in einem Anflug von Enthusiasmus und schierer Selbstüberschätzung. Hatte sich eingebildet, er könnte mal wieder eine selbstgekochte Mahlzeit vertragen, als Abwechslung von Nutellabroten und latschigen Pommes aus der Kantine. Überschätzt hatte er nicht einmal seine Kochkünste - für Tiefkühlkost reichten sie allemal aus - sondern seine Fähigkeit, sich zu so etwas Komplexem und Aufwändigem wie Kochen überhaupt aufzuraffen. An manchen Abenden hatte er noch an sein Vorhaben gedacht, ein- oder zweimal sogar einen Blick ins Gefrierfach geworfen, aber dann hatte das Nutellaglas durch die Schranktüren hindurch zu ihm geflüstert, wie viel einfacher und schneller doch Nutellabrote zu schmieren waren.
Auch so eine Sache, die am Anfang anders gewesen war. Als er früher allein gewesen war, hatte er immer selbst gekocht. Bis eines Tages der Appetit gegangen war. Und mit ihm der Antrieb, zu kochen.
Mads nahm einen großen flachen Löffel aus einem Schubfach und füllte sich den Teller. Die Hälfte der Kartoffeln blieb an dem Löffel kleben, er half mit dem Finger nach.
Er setzte sich.
Er ließ sich viel Zeit damit, die Kartoffeln erst zu zerteilen, dann zu zerdrücken und mit dem Gemüse zu vermischen.
Ab und zu warf er seinem Vater einem kurzen Blick zu. Aber der saß nur da und sah ihm zu, wie er zerdrückte und vermengte und schließlich die Fleischklößchen in immer kleinere Stücke zerteilte.
Manchmal hatte Mads seinen Vater noch gefragt, wie es gewesen war, dort, wo er gewesen war. Manchmal hatte er sogar gefragt, was genau er dort eigentlich getan hatte, dort, wo er gewesen war. Irgendwann hatte er es aufgegeben. Er verstand es meistens ohnehin nicht und sein Vater machte sich nicht die Mühe, es ihm eingehender und verständlicher zu erklären.
Sein Vater nahm den linken Fuß vom rechten Oberschenkel und tastete mit der Hand nach dem Smartphone, als hoffte er, es würde sich dadurch rühren, aber es blieb still. Der Bildschirm glänzte schwarz und dunkel. Er schob es mit der Kante genau auf die Kante des Tisches. Dann verschränkte er die Finger auf der glänzenden Holzplatte. „War alles in Ordnung?“, fragte er. „Hat alles geklappt?“ Mads nickte und schob sich eine Gabel Zermantschtes in den Mund. Er wollte keine zu ausführlichen Antworten geben müssen.
„In der Schule alles ok?“ Wieder ein Nicken. „Irgendetwas, was ich unterschreiben müsste?“ Mads ließ sich Zeit, aufzukauen und zu schlucken. „Liegt im Wohnzimmer auf dem Tisch“, sagte er. „Die Post auch.“ Sein Vater nickte. Kurzes Schweigen. Die Fragerunde war vorläufig beendet. Sie lief immer gleich ab, immer, wenn sein Vater länger fort gewesen war, immer die gleichen Fragen, die nur an der Oberfläche kratzten. Meistens die gleichen Antworten.
„Sonst noch irgendetwas, was ich wissen müsste?“ Mads schob sich eine extra große Portion in den Mund. Er kaute ausgiebig. Ohne, dass er es verhindern konnte, begann sein Herz zu klopfen, seine Zunge sich zu sträuben, aber die Gelegenheit war vielleicht die einzige, die bleiben würde. Er schluckte hart und spürte den Kartoffel-Gemüse-Brei seine Speiseröhre hinunterwandern. Es gluckerte ganz leise, als er im Magen anlangte, so leise, dass wahrscheinlich niemand sonst es hören konnte. Er spürte die Augen seines Vaters auf sich ruhen. Er selbst hatte dieselben. Zumindest dieselbe Farbe. Wieder schluckte er, obwohl es nichts zu schlucken gab.
„Ich...Ich habe jetzt ein Kaninchen.“
Die Pause danach erschien endlos. Die Luft, die den Raum füllte, schien plötzlich zähflüssig und schwer, erdrückend wie flüssiger Kaugummi. Falls es so etwas überhaupt gab. Die Augenbrauen seines Vaters rutschten ungläubig in die Höhe. „Ein Kaninchen?“ Er hielt es für einen Scherz. Mads hatte nichts anderes erwartet. Er nickte und versuchte, seinem Vater fest ins Gesicht zu sehen. Ohne, dass er es bemerkte, umklammerte er seine Gabel, als wäre sie eine Waffe. „Eine Freundin hat es mir geschenkt. Sie konnte es nicht länger behalten.“ „Eine Freundin?“ Ein amüsiertes Lächeln stahl sich auf die Lippen seines Vaters. Beinahe belustigt. Mads umklammerte die Gabel fester. Er wusste genau, was sein Vater in diesem Moment dachte und er schwor, sämtliche Fassungen zu verlieren, sollte sein Vater seine Gedanken tatsächlich auch aussprechen. Er malte sich schon aus, wie er ihm sein Mittagessen um die Ohren werfen würde. Mitsamt Teller. Und das Smartphone gleich hinterher. Er würde nicht zögern. Aber sein Vater blieb still. Vielleicht hatte er Mads seine Wut von der Stirn abgelesen, vielleicht hatte er die Anspannung gespürt, die in der Kaugummiluft gelegen hatte, jedenfalls verschwand das Lächeln so schnell, wie es gekommen war.
„Hm“ Er runzelte die Stirn. „Und ich nehme mal an, dass du das Tier jetzt behalten möchtest?“ Zwischen „jetzt“ und „behalten“ legte er eine besonders lange Pause.
Mads nickte.
„Hm“ Sein Vater schaute nachdenklich. Sein Blick kam dem Smartphone auf dem Tisch verdächtig nahe und Mads konnte nicht sagen, ob er wirklich über Mr. Knibbles nachdachte oder ob seine Gedanken schon wieder ganz woandershin abdrifteten. „Hm“, sagte er zum dritten Mal, ein missbilligender Unterton schwang in seiner Stimme. „Und wie stellst du dir das vor, wenn ich fragen darf?“ Er verschränkte die Arme vor der Brust und schaute ihn an mit einer Mischung aus Herausforderung und Skepsis, nur eine Augenbraue nach oben gezogen. Die linke. Die andere konnte er nicht unanbhängig von der anderen hochziehen. Mads kannte diesen Blick gut. Es war dieser Egal-was-du-jetzt-sagst-ich-bleibe-bei-meiner-Meinung-Blick und Mads hätte ihn am liebsten hinweggewischt, wegradiert, ausgetauscht. Irgendetwas. „Es könnte in meinem Zimmer wohnen.“, sagte er. Er überlegte, ob er noch ein Wo liegt das Problem hinzufügen sollte, entschied aber, sich zurückzuhalten. Wenn es ihm auch schwerfiel.
Ein kurzer Blick zum Smartphone. „Du weißt schon, wie viel Dreck so ein Kaninchen macht?“ „Und?“ „Und du willst dich dann um das Vieh kümmern?“ „Ja“ Sein Vater beugte sich vor, verschränkte wieder die Finger auf der Tischplatte und fixierte ihn. Sekunden verstrichen, langgezogene Sekunden, ehe er schließlich den Mund öffnete. Seine Pupillen weiteten sich, als draußen die Sonne hinter einer Wolke versank und die kleine Küche in Schatten tauchte. „Mads“, sagte er. „Du bist 17 Jahre alt. Was bitte willst du mit einem Kaninchen?“ Die Betonung lag scharf und einschneidend auf du. „Was bitte haben Kaninchen mit dem Alter zu tun?“, gab Mads zurück. Eine tiefe senkrechte Falte grub sich in die Stirn seines Vaters. Er lehnte sich zurück, so abrupt, dass die Stuhllehne knackte, die Hände blieben auf dem Tisch liegen. Dicke Adern zeichneten sich auf den Handrücken ab. „Nichts“, beantwortete Mads seine Frage selbst. Das Herz klopfte ihm bis zum Hals, aber er zwang sich, weiterzusprechen. „Ich werde mich immer gut um ihn kümmern. Du wirst keinen Ärger mit ihm haben.“ Er hängte sogar noch ein „Versprochen“ an.
Die steile Falte auf der Stirn blieb. Mads hatte eher das Gefühl, als würde sie sich noch weiter vertiefen. „Du hast meine Frage nicht beantwortet, Mads. Ich hatte dich gefragt, was du mit einem Kaninchen willst.“ Mads antwortete nicht. Er schaute auf die Gabel in seiner Hand und legte sie auf den Tisch neben den Teller. Es klackte kaum hörbar und er ärgerte sich. Er ärgerte sich so sehr, aber eine Antwort fiel ihm trotzdem nicht ein. Zumindest keine, die sein Vater akzeptieren würde.
„Willst du ihm dabei zuschauen, wie es von links nach rechts hoppelt, doof guckt und Möhrchen knabbert?“ Sein Vater nahm das Smartphone und wischte mit dem Finger darüber. Der Bildschirm leuchtete auf. „Hm?“
Mads hob den Kopf. „Wenn mich eine Freundin darum bittet, sich um ihr Kaninchen zu kümmern, dann mache ich das auch. Sie wird schon ihre Gründe haben, dass sie es nicht ins Tierheim geben möchte. Und außerdem“ Er atmete ein. „Außerdem fühle ich mich nicht mehr so allein.“
Den letzten Teil des Satzes verschluckte er fast, ganz leise und murmelnd kam er ihm über die Lippen.
Sein Vater lachte auf. „Nicht mehr so allein! Mads, ich bitte dich. Seit wann sind Kaninchen ein Ersatz für Menschen? Jetzt musst du mir nur noch erzählen, dass du verstehst, was das Vieh dir erzählt.“ Wieder lachte er leise und spöttisch. Stichelnd.
Mads drückte die Fingernägel in die Handflächen, bis es wehtat. „Es ist aber so.“, sagte er. „Ob du es glaubst oder nicht. Aber dir kann es doch eigentlich egal sein, ob hier nun ein Kaninchen oder zwei Pferde oder fünf Elefanten wohnen, du bist doch sowieso nie da!“
Das hatte er nicht sagen wollen, obwohl es die Wahrheit war. Es tat ihm Leid, aber eigentlich auch wieder nicht. Er stand auf.
Sein Vater musterte ihn so eisig, dass ihm beinah wirklich kalt wurde. „Es tut mir ja Leid, dass ich irgendwie Geld für uns verdienen muss.“ Er sagte es so leise, dass man es kaum verstehen konnte, er flüsterte vielmehr.
„Und mir tut es Leid, dass ich es ziemlich schwierig finde, in einer völlig fremden Stadt wochenlang auf mich allein gestellt zu sein.“ Wieder ein Flüstern.
Mads nahm den Teller und die Gabel und verließ die Küche. Einen Moment hatte er überlegt, das übrige Essen vor den Augen seines Vaters in den Mülleimer zu kippen, aber dann hätte sich wohl Monate niemand beim anderen entschuldigen können. Und eigentlich fehlte ihm für eine solche Aktion die nötige Wut. Er wäre gern wütend gewesen. Er hätte gern laut mit der Tür geknallt, aber eigentlich fühlte er nur eine große Leere. Eine große bedrückende Leere. Und Traurigkeit.
Er setzte sich in sein Zimmer zu Mr. Knibbles auf den Teppich, stellte den Teller auf eines seiner verschränkten Knie und aß stumm und viel zu schnell. Er hatte keinen Hunger, trotzdem schlang er, als hätte er drei Tage keinen Bissen in den Magen bekommen. Die Leere ging davon trotzdem nicht weg. Natürlich.
Nach wenigen Minuten war er fertig. Er stellte den Teller neben sich. Mr. Knibbles musterte ihn neugierig. Den Teller und Mads.
Vielleicht hätte er seinem Vater gar nicht von Mr. Knibbles erzählen müssen. Vielleicht hätte er ihn wirklich für einige Zeit verstecken können, so lange, bis sein Vater auf die nächste Reise gegangen wäre. Aber sinnlos. Nun war es ohnehin so, wie es war. Nicht zu ändern. Und er hatte wenigstens nicht lügen müssen.

Abschnitt 9

Autor:  lufie
Der Mittwoch kam, selbst die verstellte Uhr konnte das nicht verhindern. Er kam viel zu früh. Mads wusste nicht, wie viel er geschlafen hatte, ob er überhaupt geschlafen hatte. Das scharfe Piepen, das sich in seine Ohrmuscheln bohrte, sagte ihm, dass er es zumindest geschafft hatte, den Wecker zu stellen. Er wünschte, er hätte es vergessen. Er war noch nie zu spät gekommen, selbst, wenn er es versucht hatte. Und er hatte es schon oft versucht. Einmal war er einfach erst zur dritten Stunde erschienen. In der Pause hatte er sich auf seinen Platz geschlichen, ganz unauffällig, es hatte kaum jemand bemerkt. Dabei würde er so gern mal mitten in den Unterricht geplatzt kommen. Am besten noch außer Atem und mit einem dicken Pflaster auf der Stirn. Oder einem blauen Auge. So richtig dramatisch. Aber selbst dazu fehlte ihm der Mut.
Er drückte den Wecker aus und setzte sich auf. Blasse Streifen Tageslicht fielen durch die Jalousie, wie in Scheiben geschnitten, auf den Teppich, auf seine Hände auf seinen Knien. Mittwoch. Einen Moment überlegte er, ob er nicht doch verschlafen sollte. Oder er rief im Sekretariat an und meldete sich krank. Er horchte in sich hinein, suchte nach irgendeinem Wehwehchen, das er vorschieben könnte. Halsschmerzen vielleicht. Er schluckte. Oder Husten. Er räusperte sich. Schnupfen? Er zog die Nase hoch. Nichts. Nicht einmal auf Krankheitserreger war noch Verlass. In irgendeinem Film war die Hauptfigur barfuß im Schlafanzug Runden durch den Garten gelaufen und hatte löffelweise Zahnpasta geschluckt, aber auch sie war nicht krank geworden. Also brauchte er es damit gar nicht erst zu versuchen, es würde nicht funktionieren.
Dabei wäre es besser, wenn er zu Hause wäre, wenn sein Vater kam. Er wusste nicht, wann sein Vater kam. Wahrscheinlich wusste sein Vater es selbst nicht. Und wahrscheinlich würde er auch nicht anrufen. Das machte er nur selten.
Aber er wollte auch nicht erleben, dass er aus der Schule kam und sein Vater war schon da und verkündete ihm, dass er dieses Kaninchen aus der Küche soeben ins Tierheim gebracht hatte. Dieses Kaninchen da aus der Küche. Und während er das sagte, würde er wieder irgendetwas anderes machen, telefonieren oder irgendwelche Papiere durchlesen oder sich einen Kaffee kochen oder was auch immer. Und er würde nicht zuhören.
So zumindest sähe der schlechteste Fall aus. Ein Informatiker würde von einem worst case sprechen. Und der best case? Gab es den überhaupt?
Er war zu Hause, wenn sein Vater kam. Oder sein Vater hatte so viel zu tun, dass er Mr. Knibbles zwar registrierte, aber erst einmal nicht weiter darauf einging.
Aber eine riesige Diskussion würde es geben, so oder so. Egal wie er es drehte und wendete.
Er wollte nicht. Vielmehr. Er hatte Angst davor. Und das hing nicht nur mit Mr. Knibbles zusammen.

Irgendwann hatte er lange genug auf den Wecker gestarrt. Auf den Wecker, der zwar richtig ging, aber trotzdem die falsche Zeit anzeigte. Er würde immer noch pünktlich in der Schule sein. So wie fast immer. Er seufzte und begann, sich anzuziehen. Er versuchte, es so langsam wie möglich zu tun, wie er so viele Dinge versuchte, so langsam wie möglich zu erledigen. Wohl eine Angewohnheit, wenn man zu oft und zu lange allein war.
Als er den dunkelblauen Pullover über den Kopf zog, kam ihm für einen Moment der Gedanke, dass er Unglück bringen könnte. Schließlich war er nicht grün. Er erwog, sich noch einmal umzuziehen, hielt einen anderen, grünen Pullover schon in der Hand, aber dann legte er ihn wieder zurück in den Schrank. Ein absurder Gedanke. Beinahe lächerlich.
Mr. Knibbles steckte verschlafen den Kopf aus dem Fenster seines Pappkartons, als er in die Küche kam. „Guten Morgen“, sagte Mads. Nur kurz musterte er prüfend den Käfig, dann griff er mit den Händen an die Seiten der Plastikschale und hob ihn vorsichtig an. „Es wird Zeit umzuziehen“.
Es war nicht einfach, einen Käfig durch die halbe Wohnung zu bugsieren, in dem ein hibbeliges Kaninchen ständig von links nach rechts hoppelte. Und wieder zurück. Er verlor einige Krümel Streu und stieß einige Scharten in Wände und Türrahmen, aber schließlich war der Umzug vollendet und Mr. Knibbles stand mitsamt Zuhause auf dem Teppich. Verwirrt blickte er in das streifige Licht der Jalousie. Sonderlich glücklich wirkte er nicht über die aufgezwungene Veränderung, aber das war jetzt nicht wichtig. Mads schloss seine Zimmertür, drehte den Schlüssel einmal herum und steckte ihn in die Hosentasche.
Normalerweise schloss er seine Tür nicht ab. Er hatte schließlich keinen Grund dazu. Aber seinem Vater würde es vermutlich nicht auffallen. Zumindest für die nächste Zeit. Wie lange auch immer das sein würde.

Abschnitt 8

Autor:  lufie
Irgendwann fand er die Motivation, nach Hause zu gehen. Er steckte seine Hände mitsamt dem Zettel in seine Anoraktaschen, er musste sich zwingen, nicht doch noch auf die große Uhr zu blicken, stattdessen starrte er auf das spiegelnde Laternenlicht auf dem Kopfsteinpflaster, während seine Füße ganz automatisch den Weg fanden, den sie gehen sollten, hinunter von dem großen runden Platz, hinein in das Straßenmeer, in Richtung der Hügel, auf denen die schicken Villen und Einfamilienhäuser thronten, als hätte man sie nur dort oben hingebaut, damit auch jeder in der Stadt sie sehen konnte.
Er bemühte sich redlich, langsam und schleichend zu gehen, hin und wieder blieb er stehen, um in die leuchtenden Fenster oder den leuchtenden Himmel zu schauen, baute sogar einige Umwege ein, aber irgendwann kam er dann doch an. Die Stadt war einfach zu klein, um sich ordentlich in ihr verlaufen zu können.
Aber ein Mr. Knibbles wartete auf ihn und das war nicht das Schlechteste, was ihm hätte passieren können. Er saß direkt hinter den Gitterstäben, zusammengeduckt zu einer dicken weißen Kugel, fast so, als hätte er wirklich auf ihn gewartet. In seinen schwarzen Knopfaugen leuchteten die Glühbirnen auf, als Mads das Licht anschaltete. „Na“, sagte er. Dann holte er Lois' Zettel aus seiner Tasche und las. Eine akkurate Schrift. Kleine, gedrängte Buchstaben, aufrecht stehend, die kleinen 'a's bauchig und gewölbt, das große L schnörkellos, einfach ein rechter Winkel. Man merkte, dass sie im Dunkeln geschrieben hatte, die Zeilen rutschten ein Stück ineinander und überlappten sich. Er kannte die Straße nicht, zumindest glaubte er es. Er hatte sich noch nie Straßennamen merken können. Weder in dieser Stadt noch in der davor noch in der davor. Aber er würde sie schon finden. Wozu gab es schließlich Karten und Internet.
Er legte den Zettel auf den Tisch. Strich mit den Fingern darüber, obwohl die Knicke dadurch kein wenig glatter wurden. Warf Jacke und Schuhe in den Schirmständer.
Dann holte er eine Möhre aus dem Kühlschrank, dem Dritten im Bunde, und begann, sie in Scheiben zu schneiden. Er setzte sich auf seinen Platz und reichte sie Mr. Knibbles, eine nach der anderen. Er wartete, bis er sie vollständig aufgeknabbert hatte, erst dann schob er die nächste zwischen den Gitterstäben hindurch. Den Blick auf die Küchenuhr direkt gegenüber an der Wand konnte er nicht mehr verhindern. Dummerweise ging sie auch noch richtig, zumindest schätzte er, dass sie richtig ging. Schließlich gehörte sie seinem Vater. Er stand auf, nahm sie von der Wand und pulte die Batterie aus dem Gehäuse. Dann drehte er einmal mit Schwung an den Zeigern und hängte sie wieder an ihren Platz. Die Batterie stellte er ordentlich auf den Kühlschrank. Zufrieden betrachtete er sein Werk.
12 Minuten nach 16 Uhr. Oder nach Vier Uhr. Wen interessierte das schon.
Mr. Knibbles biss in seinen Finger. Mads reichte ihm die letzte Möhrenscheibe. Er sah zu, wie die kleinen Zähne sich durch das orangefarbene Fruchtfleisch arbeiteten, knabberten und raspelten, Stück für Stück. Hieß es überhaupt Fruchtfleisch? Vielleicht Gemüsefleisch? Wurzelfleisch?
Er stützte das Kinn auf die verschränkten Arme. Er konnte sein eigenes Spiegelbild in den Kaninchenaugen sehen, blass und müde.
Er streckte die Hand aus, griff nach dem Zettel, lange betrachtete er ihn, ohne die Worte zu erfassen. Was würde wohl passieren, wenn er einfach dort klingeln würde? Wie groß wäre die Wahrscheinlichkeit, dass Lois öffnen würde und nicht eine ihrer Schwestern, ihre Mutter, ihr Vater? Rein rechnerisch eins zu fünf. Wenn es ihr nicht gut ging, sie müde im Bett lag, näherte sie sich bedrohlich null zu vier. Er stierte auf das rechtwinklige L. Guten Tag, ich bin Mads. Ist Lois da? Verwundertes Augenbrauenhochziehen vorprogrammiert. Er war sich sicher, dass sie nicht von ihm erzählt hatte. Er wusste nur nicht, weshalb. Ob es an ihm lag oder an ihren Eltern. Ob ihre Eltern einfach zu viel um die Ohren hatten. Oder ob er einfach nicht wichtig genug war.
Er strich über die Kaninchenohren. Nicht wichtig genug. Die Vorstellung versetzte ihm einen Stich.
Er konnte Argumente dagegen sammeln so viele er wollte, sie verschwand nicht. Das Stechen auch nicht. Nicht wichtig genug.
Er dachte an den Moment, in dem sie sich verabschiedet hatte. Dass ihr Gesicht wieder so anders ausgesehen hatte, wie zugeschlossen. Was sie wohl in dem Moment gedacht hatte? Was sie wohl über ihn gedacht hatte? Er drehte den Zettel zwischen den Fingern.
Nicht wichtig genug.
Er dachte an seine Mutter aber das machte das Stechen nur schlimmer. Für sie war er auch nicht wichtig genug gewesen, auch wenn tausende Argumente das genaue Gegenteil besagten. An manchen Tagen glaubte er, was sein Kopf ihm sagte, aber das Stechen verschwand nicht, es war immer da, ganz versteckt, manchmal weniger, manchmal mehr. Und es flüsterte leise. Wenn deine Mutter sich nur ein wenig mehr Mühe gegeben hätte, dann hättest du nicht zu deinem Vater ziehen müssen. Und wenn dein Vater sich nur ein wenig mehr Mühe geben würde, dann wäre er jetzt vielleicht zu Hause und nicht irgendwo in der Weltgeschichte unterwegs. Nicht wichtig genug.
Ärgerlich schob er die Gedanken beiseite. Er hatte sich zu lange den Kopf darüber zerbrochen, ohne Ergebnis. Das brachte nichts. Nur immer wieder die gleichen Bauchschmerzen.
Er betrachtete eines der bauchigen kleinen 'a's.
Sollte er nun klingeln oder nicht? Er stellte sich vor, wie wohl ihre Klingel aussah, die Haustür. Bestimmt gab es ein selbstgebasteltes Türschild aus Salzteig mit dem Familiennamen darauf. Mit Wasserfarben angemalt. Bestimmt trug Lois' kleine Schwester bunte Haarklammern und geringelte Strumpfhosen. Und bestimmt legte sie beim Sprechen den Kopf schief.
Oder aber er versuchte Lois im Krankenhaus zu finden. Wenn sie morgen Chemo hatte, konnte das so schwer ja nicht sein. Aber. Er ließ den Zettel sinken.
Er stellte sich vor, wie er die Tür öffnete und ihre Eltern saßen an ihrem Bett. Sie hielten ihre Hände, während das Zeug in ihrem Arm versickerte. Wer konnte sich da dazusetzen? Niemand.
Selbst, wenn ihre Eltern nicht da wären. Wer konnte sich da dazu setzen?
Er zupfte Mr. Knibbles ein loses Haarbüschel aus dem Fell.

Abschnitt 7

Autor:  lufie
Sie ließen die Milchshakes zurück, ungetrunken, die schaumige Oberfläche unangerührt, sie schütteten nur die Kleingeldfächer ihrer Portemonnaies auf den runden Tisch, stapelten die Münzen zu einem Haufen in seiner Mitte, die großen Münzen nach unten, die kleinen nach oben. Und verschwanden, bevor der Kellner ihr Konstrukt bemerken konnte. „Ob das jetzt Kunst ist?“, überlegte Lois laut. Sie blickte zurück, während sie den großen runden Platz überquerten, ein kleines Stück lief sie rückwärts, der Wind bauschte ihren Pullover auf, wischte einige Haarsträhnen über ihre Schultern hinweg. „Wahrscheinlich eine Installation.“, sagte Mads. „Oder ein Happening.“ Er sprach Happening aus, wie Andy Warhol es ausgesprochen hätte. Lois lächelte. Der Wind riss an ihrem Hut, sie hielt ihn fest, mit der rechten Hand an den Hinterkopf gedrückt. Sie bogen ein in die Straße, in die sie sonst immer allein abgebogen, die sie immer allein entlanggelaufen war, während Mads ihrem roten Kringel nachgesehen hatte. Ihre Schritte auf dem Kopfsteinpflaster hallten von den Häuserwänden wider. „Glaub mir. Auf dem Kunstmarkt wird das Millionen machen. Wir werden reich.“ Zum ersten Mal an diesem Tag lachte Lois. Sie legte den Kopf in den Nacken, er sah ihre weißen Zähne aufleuchten. „Millionen“, sagte sie. „Und was machen wir dann damit?“ Mads zuckte mit den Schultern. „Was weiß ich. Darin baden vielleicht. So wie Dagobert Duck.“ Wieder lachte sie. Hell, beinahe unbeschwert.
Am Ende der Straße kam der Park in Sicht. Mads kannte ihn. Nicht sehr gut zwar, nur ein wenig, so wie er alles in dieser Stadt nur ein wenig kannte. Für einige Momente blinzelte die Nachmittagssonne zwischen Wolkenfetzen hindurch, schickte gelbe weiche Lichtstrahlen über die kurzgeschnittenen Wiesen, über die zusammengedrängten Baumgruppen, ließ das Plätschern des Flusses in einer Vielzahl von Glanzpunkten aufleuchten, glitzern und schimmern. Noch ein gutes Stück stand sie über den blaugrauen Hügeln der Stadt, ganz weit hinten, dort, wo die weißen Fassaden der Villen hervorstachen wie ausgestanzt. Noch würde sie nicht untergehen. Sie würde bleiben, für eine Weile, vielleicht.
Lange durchstreiften sie den Park, achteten nicht darauf, ob sie auf den akkurat gepflegten Wegen blieben, stiefelten querfeldein, über Grasbüschel und Maulwurfshügel, an dicken knorrigen Eichen vorbei, an Kastanien, die stolz ihre Blüten trugen wie Kerzen auf einem Weihnachtsbaum. Stolz solange, bis die Miniermotte über ihre Blätter herfallen und sie braun und welk werden lassen würde. So wie jedes Jahr. Schon bald. Aber noch nicht jetzt. Ihre Schatten zogen sich länger und länger, je länger sie liefen, bald sah es aus, als würden sie auf Stelzen über die Wiesen staken. An vielen Stellen tüpfelten Löwenzahnblüten die Hügel, vereinzelt streckten sich bereits plüschige Pusteblumen dem schwindenden Licht entgegen. Lois pflückte eine von ihnen, aber sie war noch nicht ganz reif, so sehr sie auch pustete, die kleinen Schirmchen wollten nicht fliegen. Schließlich griff sie sie büschelweise mit den Fingern, setzte sie vorsichtig in die Luft. Von dort sanken sie zu Boden, aneinandergeklebt, in taumelnden Bewegungen, als versuchten sie doch noch, sich vom Wind davontragen zu lassen, bis sie schließlich an der Spitze eines Grashalms haften blieben.
Viel sprachen sie nicht. Zumindest über nichts Wichtiges. Mads war es ganz recht so. Er hatte das Gefühl, als würde sein Gehirn auf Sparflamme arbeiten, als würde es alle Bilder und Informationen, die auf ihn einströmten lediglich aufbewahren, um sie irgendwann, irgendwann mal zu verarbeiten. Er realisierte nicht. Immer wieder hörte er, was Lois im Café zu ihm gesagt hatte, er hörte den Klang der Worte, er verstand sogar den Sinn dahinter, aber er begriff nicht die Dimensionen. Die Dimensionen in ihrem vollen Ausmaß. Er war in der Lage, zu antworten, wenn Lois mit ihm sprach, aber es geschah eher automatisch, als antwortete sein Mund von selbst. Irgendetwas, ohne nachzudenken. Er hätte im Nachhinein auch nicht mehr sagen können, worüber sie eigentlich gesprochen hatten. Alles wirkte gedämpft und unwirklich, wie durch eine Scheibe aus Milchglas. Vielleicht erlebte man die Welt ja so, wenn das Gehirn sich gerade zurückgezogen hatte, weil es zu viel nachzuholen hatte. So wie das verschwommene Bild einer Überwachungskamera, die angeschaltet worden war, weil gerade niemand da war, der hautnah dabei sein konnte.
Nur allmählich spürte er, wie sein Gehirn nacharbeitete, versuchte, hinterher zu hechten und als sie den Park verließen und wieder in das Meer schmaler Straßen und Gassen eintauchten, da begriff er ein Stück. Lois zeigte auf ein Bild, ausgeschnitten aus Tonpapier in einem Fensterkreuz, irgendetwas sagte sie wohl auch dazu, wohl, dass sie es schön fand, er betrachtete sie und in dem Moment fiel ihm ein, dass sie ja sterben würde.
Als hätte sein Kopf soeben diese Information von ganz hinten nach vorn durchgereicht, durch die feinen Nervennetze geschickt, direkt bis zu seinen Augen. Er betrachtete sie und plötzlich stand da der Tod, direkt über ihr, in großen dicken schwarzen Buchstaben. Als wäre er ein Teil von ihr. Untrennbar verbunden. Er blinzelte. Würde sie sterben? Würde sie nicht? Oder anders gesagt: Wollte sie? Wollte sie nicht?
Wer sagte das überhaupt? Die Ärzte? Sie selbst? Wer entschied so etwas?
Am Ende das Röntgenbild? Der Geldbeutel?
„Millionen“, hörte er ihre Stimme in seinem Kopf widerhallen. „Und was machen wir dann damit?“ „Keine Ahnung. Darin baden vielleicht. So wie Dagobert Duck.“ Immer noch betrachtete er sie. Oder. Oder so lange die teuersten Medikamente kaufen und die besten Ärzte in den besten Krankenhäusern, bis irgendetwas, irgendjemand half. Bis irgendjemand es entfernen konnte, vertreiben, verjagen, dieses Ding, dieses diffuse Etwas, das sich dort in ihrem Kopf eingenistet hatte und das sich Tumor nannte. Herausoperieren, schneiden, ätzen, ausradieren. Und wenn nichts half, wenn nichts half, ein Mausoleum bauen. Ein Mausoleum mitten auf dem kleinen Friedhof dieser kleinen Stadt für dieses leuchtende Mädchen. Aus weißem Marmor. Weißem italienischen Marmor. Und die Touristen würden kommen und niemand würde sie jemals vergessen.
Er bemerkte, dass sie seinen gesenkten Blick suchte, hastig brach er seine Gedankengänge ab. Alles in Ordnung, fragten ihre Augen, die Worte schienen ihr auf der Zunge zu liegen, sie öffnete den Mund, besann sich dann aber eines Besseren und schloss ihn wieder.
Einzelne ausgefallene Haare zeichneten sich auf ihrem Pullover ab. Er pflückte eines aus dem Wollstoff. Er zeigte es ihr auf seinem ausgestreckten Zeigefinger. Es schimmerte in der Sonne. „Du kannst dir etwas wünschen.“, sagte er. „Das funktioniert nicht.“, sagte sie. „Es funktioniert nur bei Wimpern.“ Er schüttelte den Kopf. „Es funktioniert sogar tausendmal besser. Schließlich ist so ein Haar auch tausendmal länger.“ Er kam sich lächerlich vor, als er das sagte, aber Lois lächelte. Dann pustete sie doch, mit geschlossenen Augen. Das Haar segelte davon, langsam und taumelnd, wie die Pusteblumenschirme im Park. Sie hielt die Lider fest geschlossen. Mads schaute auf die Buchstaben über ihrem Kopf, dick und schwarz. Tod.
Als sie sie wieder öffnete, lächelte sie etwas breiter. „So“, sagte sie und griff nach seiner Hand, die eben noch das Haar gehalten hatte. „Wenn das jetzt nicht hilft, dann weiß ich auch nicht.“ Ihre Haut fühlte sich kalt an, rau und trocken und kalt, aber er umschloss sie mit seinen Fingern so weit er konnte. Fast konnte er spüren, wie seine eigene Wärme über seine Handfläche zu ihr strömte. Physik hautnah, dachte er. Im wahrsten Sinne des Wortes. Dabei hatte er Physik abgewählt. Und überhaupt. Wieso dachte er jetzt an Physik. Er schaute zu den drei Buchstaben. Sie wirkten dünner, weniger schwarz und groß. In der Typografie nannte man solche Buchstaben auch Light. Leicht. Schwach. Kurz vor dem Verblassen. Vielleicht taten sie das ja auch eines Tages. Verschwinden. Verdunsten. Langsam gingen sie weiter, durch Gassen, Straßen, Winkel und Ecken. Die Fenster der Häuser beugten sich über sie, kleine gelbe Vierecke in der bläulichen Dämmerung. Nur noch wenige Menschen schälten sich aus den Schatten, schmale schwarze Silhouetten unter den ausgeschalteten Straßenlaternen. Irgendwo läutete eine Glocke, hell und einsam, aber es ließ sich nicht sagen, an was sie erinnern wollte.
Lois zeigte zwischen zwei Häusern hindurch. „Sieh mal“, sagte sie. Aus dem Hinterhof heraus lugte ein flaches Garagendach. Jemand hatte Gras darauf wachsen lassen. Erst, als Lois ihn näher heranzog und er herabgebeugt über ihre Schulter hinwegschielte, um ihren Blickwinkel besser nachvollziehen zu können, bemerkte er den Tisch und die Bank darauf und die kurze Holzleiter, die aus einem der Fenster des Nachbarhauses führte, angeschienen von gelbem Glühbirnenlicht. „Hübsch, nicht“, sagte sie und Mads nickte. Eine ihrer Haarsträhnen kitzelte seine Wange. „Siehst du, das meinte ich. Ich bin schon so oft hier entlang gegangen, aber das hier habe ich vorher nie bemerkt. Oder das dort.“ Wieder zeigte sie, diesmal auf ein kleines Fenster weit oben. Jemand hatte schmale Regalbretter hinter die Scheiben gezogen und kleine Töpfchen mit Kakteen darin daraufgestellt. Einige blühten, winzige faserige Blüten in gelb und rosa. Wieder nickte Mads. Wahrscheinlich war das so. Wenn man alles im Kopf hatte, wirklich alles, nur nicht das nahende Unglück, dann wurden die Sinne blind für alles scheinbar Unwichtige. Er drückte ihre Hand fester. Und andersherum eben doch. Oder so ähnlich. Wie auch immer. Die nächsten Abende würden lang werden, das wusste er jetzt schon. Lange Grübelabende voller wirrer Gedankenfäden, die auseinandergeknotet und sortiert werden wollten. Aber er hatte ja Mr. Knibbles, dem er nebenbei die Ohren kraulen konnte.
Irgendwann landeten sie wieder auf dem großen runden Platz. Irgendwann. Er erschien Mads fremd, als sähe er ihn zum ersten Mal. Er schob es auf die nahende Dunkelheit, die Farben und Schatten bis zur Unkenntlichkeit verschieben konnte, aber sicher war er sich nicht. Etwas hatte sich geändert. Vieles.
Lois blieb stehen. Sie schaute zu den leuchtenden Zeigern der Rathausuhr. Mads folgte ihrem Blick nicht. Er wollte gar nicht wissen, wie spät es war, denn das hätte ihn doch nur zurückkatapultiert in dieses feste Gefüge aus Tag und Nacht, Stunden und Minuten, Terminen und Verpflichtungen. Er hatte jegliches Zeitgefühl verloren und eigentlich wollte er es nicht zurück. Zumindest nicht sobald. Lois' linke Gesichtshälfte wurde angestrahlt von irgendeiner Lichtquelle, von woher auch immer. Eine Straßenlaterne konnte es nicht sein, die waren immer noch ausgeschaltet. Oder schon wieder? Die Lichter in den Fenstern, die noch brannten, kamen sie von Nachtmenschen oder von Frühaufstehern? Das schwache Licht, das am Himmel schimmerte, war es noch Abenddämmerung oder schon Morgenröte?
Lois löste vorsichtig ihre Hand aus seiner. Sie war inzwischen warm geworden. Sie steckte sie zu der anderen Hand in die große Bauchtasche ihres Pullovers. „Ich muss dann“, sagte sie. Mads nickte mechanisch. „Nächste Woche Dienstag?“, fragte sie. Fröstelnd zog sie den Kopf zwischen die Schultern. „Warum erst so spät?“ Mads gab sich Mühe, die Frage so nebensächlich wie möglich klingen zu lassen. Seine Enttäuschung nicht herausklingen zu lassen.
An Lois' verlegenem Lächeln merkte er, dass es ihm nicht gelungen war. Sie zuckte mit den Schultern. „Ich kann eben nicht früher.“ „Hm“ Wieso, was machst du denn so. Die Frage lag ihm schon auf der Zunge, gleich neben dem sezierenden Blick und dem Verhörertonfall. Hektisch schluckte er alles hinunter, er spürte es seinen Hals hinunterwandern. Er schwieg, mit zusammengekniffenen Lippen. Lois kratzte mit der Schuhspitze matschiggrünes Moos zwischen zwei Pflastersteinen hervor. „Ich hab morgen Chemo.“, sagte sie, als habe sie die Vorgänge hinter seiner Stirn längst beobachtet wie Zahnräder in einem geöffneten Uhrwerk. Sie sagte es sehr leise, vielmehr murmelte sie es in den Wind hinein. Vielleicht hatte sie gehofft, dass er ihre Worte nicht verstehen und nachfragen würde. Dann hätte sie „Ach, nichts“ sagen und geschickt auf irgendein anderes Thema ablenken können. So, wie sie es so gern tat.
„Ich kann mitkommen“, sagte er schnell. Er erwartete nicht, dass sie wirklich Ja sagen würde, dafür kannte er sie inzwischen zu gut. Lois schüttelte den Kopf. Er hatte richtig geschätzt, aber nicht darauf spekuliert. Er wäre wirklich mitgekommen, er sagte nie irgendetwas nur so dahin. Zumindest nicht absichtlich. „Das willst du nicht.“, sagte sie. Ein seltsamer Glanz mischte sich in ihre Augen. Erschöpfung, Müdigkeit, Abneigung, Ekel, sie senkte den Blick auf die Pflastersteine, auf ihre kratzende Schuhspitze. Das Licht ließ die Schatten in ihrem Gesicht noch dunkler erscheinen. „Warum nicht?“ Sie hob den Kopf wieder. Lange Zeit sagte sie nichts. Schließlich eine zögerliche Antwort „Weil ich nicht möchte.“, die einzige, die ihr eingefallen war, bei der sie sicher sein konnte, dass er nicht widersprechen würde. Sie lag richtig.
Mads nickte. Mal wieder. Er überlegte. „Und übermorgen?“ Er entschied, noch nicht locker zu lassen. Lois schüttelte den Kopf. „Nach der Chemo bin ich immer so müde. Nur am Dienstag, da geht es dann schon wieder.“ Sie lächelte entschuldigend. „Tut mir Leid.“
Sie wandte sich schon ab, öffnete schon den Mund, um sich zu verabschieden, als Mads doch noch etwas einfiel. „Ähm...kann ich dann deine Adresse haben?“
Lois seufzte. Dann nickte sie langsam und holte das Buch heraus, dass er bereits kannte. Sie schlug es willkürlich auf, irgendwo in der Mitte, kramte nach einem Stift, schrieb. Klemmte den Stift zwischen die Lippen, hockte sich hin, legte das Buch auf die angewinkelten Knie und riss vorsichtig mit beiden Händen das Geschriebene aus der Seite heraus. Sie streckte den Arm aus und reichte ihm das Stück Papier. „Bitte“
Mads konnte nicht erkennen, was sie geschrieben hatte, die Dunkelheit färbte das Papier blauviolett. Er konnte lediglich fühlen, dass sie mit Kugelschreiber geschrieben hatte, schmale Rillen drückten sich auf der Rückseite durch.
Lois hatte Buch und Stift wieder eingepackt, sie schloss die Tasche und schob sie zurück auf die Hüfte. „Dann“, sagte sie. „Mach's gut. Bis Dienstag.“ Sie lächelte, aber es war nicht mehr dasselbe Lächeln wie noch vor einer halben Stunde. Es war auch nicht mehr die Lois, die fröhlich Pusteblumensamen verpustet und in der schmalen Gasse nach seiner Hand gegriffen hatte. Vieles von dem Transparentpapier schien zurückgekehrt, vieles von den Schleiern und Schatten und ihr Lächeln glich wieder dem blassen Bleistiftstrich vom Anfang vor wenigen Stunden. Oder waren es Tage gewesen? Mads erschien es wie Jahre, Jahrhunderte, Lichtjahre. Ewigkeiten.
„Wiedersehen“ Er hob die Hand zu einem missglückten, lachhaften Winken. Lois lächelte noch einmal, dann drehte sie sich um und ging. Er blieb stehen, sah zu, wie ihr roter Kringel die Straße hinunterwanderte. Sie drehte sich nicht um, nur einmal wandte sie den Kopf ein Stück nach rechts, als überlegte sie, sich noch einmal umzusehen, aber dann blickte sie doch wieder nach vorn und verschwand hinter der Hausecke, hinter der sie immer verschwand.
Mads ging nicht sofort. Er blieb noch ein bisschen stehen, mitten auf dem menschenleeren Platz. Er starrte auf das Pflaster, fühlte den Zettel in seiner Hand. Ein bleicher Mond stieg den Himmel hinauf, sein Licht spiegelte sich auf den Dachziegeln. Die Straßenlaternen schalteten sich an. Sie kamen zu spät.

Abschnitt 6

Autor:  lufie
Er sah Lois wieder, obwohl er Dienstagmorgen auch damit nicht mehr rechnete. Sie kam. Natürlich kam sie, weshalb hatte er je daran gezweifelt. Sie kam zum richtigen Zeitpunkt, zum richtigen Ort, zu jenem kleinen Café an jenem großen runden Platz. Es war kalt an diesem Tag, als hätte der Mai Urlaub genommen. Oder vergessen, die Heizungen aufzudrehen. Ihren Hut trug sie trotzdem. Sie lächelte, als sie sich setzte und dieses Lächeln wirkte wie mit einem blassen Bleistift gezogen, als könnte ein einfacher Wisch mit der Hand es hinwegwischen. Als bräuchte man nicht einmal einen Radiergummi. Die Schleierschichten über ihren Augen hatten sich verfielfältigt, dunkler, undurchdringlicher, plötzlich waren da Schatten unter ihren Wangenknochen, die ihm nie zuvor aufgefallen waren. Sie stieß gegen den Tisch, nur ein wenig, er kippelte leicht, sie verschränkte die Hände auf dem Tisch, Hände, als wären sie aus Transparentpapier gemacht. Ein ganzes Gesicht, als wäre es aus Transparentpapier gemacht. „Na“, sagte sie. Lächelte wieder dieses durchscheinende Bleistiftlächeln, fuhr sich mit den Fingern durch ihren Pony. Mads brachte nur ein Nicken zustande. Der Pony hatte eine Lücke. Nicht nur so eine Lücke, die entstehen konnte, wenn die eine oder andere Haarsträhne ein wenig verquer lag. Die Lücke verschwand nicht, auch nicht, als die streichenden Finger wieder nach unten auf die Tischplatte gesunken waren. Sie blieb und offenbarte einen schmalen Streifen heller Haut. Erst jetzt wurde ihm bewusst, wie dicht ihr Pony zuvor gewesen sein musste. Er konnte sich nicht erinnern, jemals einen Streifen ihrer Stirn gesehen zu haben. Überhaupt, auch ihr restliches Haar, es lag nicht mehr so schwer und dicht und seidig auf ihren Schultern wie er es in Erinnerung gehabt hatte. Geglaubt zu haben. Eine Einbildung?
Mads schluckte. Der Kellner kam, einer, den sie inzwischen kannten. „Dasselbe wie immer, bitte“, sagte Mads. Der Kellner nickte, verschwand. Wieder fuhr sich Lois durch ihren Pony. Hatte sie das schon immer so häufig gemacht?
„Alles in Ordnung mit dir?“, fragte sie. Er nickte schnell, hoffte, dass es nicht hastig wirkte. „Das ist schön“ Sie lächelte ihr Bleistiftlächeln, breiter zwar, aber nicht kräftiger.
„Und dir?“ Mads versuchte, sie keinen Moment aus den Augen zu lassen. „Wie geht es dir?“ Ihr Lächeln verwischte. „Mir?“ Sie hielt inne, überlegte, öffnete den Mund, schloss ihn wieder. Blickte betreten auf ihre weißen Hände. Als hätte ihr das „Gut, danke“ schon auf der Zunge gelegen und sie es dann doch wieder hinuntergeschluckt. Als würde sie nicht lügen wollen. Als fiele ihr keine angenehme Wahrheit ein. „Warum hast du Mr. Knibbles weggegeben?“, fragte er weiter. Sie hob den Kopf. Er blickte in ihre Augen, verschleiert, überhangen. Sie glänzten kaum. „Ich...“ Sie schluckte. „Ich möchte ihn nicht mehr haben.“ Ihre Stimme zögerlich, kratzig. Wie eine knisternde Schallplatte. „Warum?“ Am unteren Lidrand ihres rechten Auges hing etwas Rundes, Glitzerndes. Sie wischte es weg, mit dem Zeigefinger und tarnte dieses Wegwischen geschickt, als hätte sie nur einen Krümel im Auge. „Ist nicht so wichtig. Bitte kümmere dich um ihn. Machst du das bitte?“ Wieder lächelte sie. „Wenn du nicht willst, dann kannst du ihn natürlich auch weggeben. Ins Tierheim oder so. Ist mir egal. Nur irgendwohin, wo man sich gut um ihn kümmert.“
Mads musterte sie. Lange. „Nicht so wichtig“, wiederholte er. „Was ist denn so unwichtig, dass du dein geliebtes Kaninchen einfach so weggibst?“ Vielleicht hatte er es etwas zu scharf ausgesprochen, etwas zu sehr wie der Polizeibeamte im Verhör. Aber er hatte es satt, ihr ständiges Ablenken und Beschwichtigen. Ihre vorgespielte Heiterkeit. Eine Falte grub sich zwischen ihre Augenbrauen, senkrecht, mitten hinein in die Lücke zwischen den Haarsträhnen auf ihrer Stirn, eine schmerzvolle Falte, keine verständnislose. „Mads, bitte“ In diesem Moment tat es ihm Leid. Der Kellner brachte die Milchshakes, er senkte den Blick in das schaumige Rosa, nagte an seiner Unterlippe. „Entschuldige“, sagte er. Er meinte es ernst.
Lois schaute nur. Auf einen unbestimmten Punkt, er wusste nicht genau, wohin, irgendwo zwischen seine angewinkelten Unterarme, den Rand der Untertasse und den langen silbernen Löffelstiel. Sie schaute sehr lange, immer auf diesen Punkt, ihre Hände rührten abwesend in ihrem Milchshake, langsam, immer im Kreis, das Erdbeereis löste sich auf, schmolz zusammen zu einer dickflüssigen Soße, zuweilen schabte der Löffel über den Grund des Glases, ein leises monotones Schrammen. Sie grübelte. Ihre Vorderzähne nagten an ihrer Unterlippe.
Mads sprach nicht. Wagte kein Wort herauszubringen. Schluckte. Schaute zu Lois, zu ihrem starren, grübelnden Blick, zu ihren grübelnden rührenden Händen.
Er wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, als sie schließlich den Blick hob, sich löste von jenem rätselhaften Punkt, sich ihre Hände senkten. Sie sah ihn an.
„Die Wahrheit“, sagte sie. „Die Wahrheit ist, dass ich bald weg muss.“ Er spürte einen Kloß in seinem Hals wachsen, dick und klemmend. „Wohin?“ Er flüsterte fast. „In eine Klinik. Bald schon.“ „Was für eine Klinik?“ Er schluckte wieder, aber er fand keine Spucke mehr, die er hinunterschlucken konnte. Sein Bauch zog sich zusammen. „Eine Spezialklinik, irgendwo, ziemlich weit weg. Für Krebskranke.“, sagte sie dann. Mads fand seine Sprache nicht mehr. Als hätte seine Zunge sich verkrochen, ganz weit hinten in seinem Hals, dort saß sie nun und brachte vor Schreck keinen Ton mehr heraus. „Aber“ Lois strich mit den Fingern über den Marmor. „Vielleicht muss ich da gar nicht hin. Vielleicht kann ich vorher...“ Sie hielt inne, ihr Blick wanderte nach oben, zum Himmel. Ein graublauer Himmel voller Wolken, schwer und dick und träge. Mads schüttelte den Kopf. Einige Haarsträhnen schlugen gegen seine Schläfen. „So ein Quatsch“, sagte er. Etwas anderes fiel ihm nicht ein. Zu etwas anderem war sein Kopf nicht fähig. Unfähig zu denken. Zu begreifen. Als würde er immer wieder gegen eine Wand rennen, immer und immer wieder, wie eine gefangene Fliege. „So ein Quatsch“, wiederholte er, als würde es dadurch Wirklichkeit. Oder wenigstens ein bisschen mehr. Seine Augen begannen zu brennen, obwohl er das gar nicht wollte. Er drückte die Arme auf den Bauch. „Mads“ Lois saß da, zusammengesunken, die Augen verschleierter, überschatteter denn je, die Haut durchscheinender noch als das dünnste Transparentpapier, als könnte sie sich in jedem Moment auflösen, sich verflüchtigen wie ein Fetzen Nebel, eine Brise, nach oben zum Himmel, dorthin, wo sie hinwollte. Ein Häufchen, ein Schemen, dort auf dem Stuhl, hinter der Tischplatte. Gern hätte er etwas mehr gesagt als nur dieses dahingeworfene „So ein Quatsch“, gern hätte er ihr Mut gemacht, sie ein wenig aufgebaut, motiviert, vielleicht wäre ihm sogar etwas Witziges eingefallen, etwas Erheiterndes, irgendetwas, das wenigstens einige dieser Schleierschichten hinwegnahm, dieses Bleistiftlächeln wenigstens ein bisschen kräftigte. Er konnte nicht. Er saß da wie festgenagelt. Wie in Wachs gegossen. Er spürte etwas Fadenhaftes, Nasses seine Wange hinunterrieseln, er wischte es hastig weg und ärgerte sich über sich selbst, über alles. „Wo sitzt dieses verfluchte Ding überhaupt?“ Seine Stimme drohte zu ertrinken. Er biss sich auf die Lippen. Lois legte den Finger an ihre linke Schläfe.
„Hier“, sagte sie.

Er spürte seine Schultern in sich zusammensinken, jegliche Muskelkraft entweichen.
Er sagte nichts mehr. Ohnehin war es egal, wie er reagierte, es war egal, was er sagte, wie er es sagte, es änderte nichts. Krankheiten gehörten nicht zu den Dingen, die man durch Worte beeinflussen konnte. Zumindest nicht diese Art. Schon gar nicht diese Art.
„Ich hätte es dir nicht erzählen sollen.“ Eine ihrer Feststellungen. Es klang keine Enttäuschung aus ihrer Stimme, kein Tadel, so nüchtern und sachlich, als spräche sie über physikalische Formeln. Ihre Hände lagen offen auf dem Tisch, nebeneinander ausgebreitet. Er schaute auf ihre Finger. „Nein“, sagte er. „Ich meine, doch, ich...“ Er verhaspelte sich, holte Luft, überlegte. Nagte an den Lippen. „Ich denke“ Langsam, tastend. „Ich denke, es ist besser so. Besser als vorher.“ Lois lächelte. Kräftiger. Dunkler. Schöner.
Es dauerte länger, bis es verblasste.
Lange Zeit sagte niemand etwas. Die Stille senkte sich nach unten wie eine Glasglocke, eine dicke Staubschicht, dämpfend, tauchte alles in Schwarzweiß wie alte Fotografien und für viele Momente schien die Zeit nicht zu vergehen. Als hätte jemand sie angehalten. Dabei florierte rings um sie herum das kleine Leben dieser kleinen Stadt. Menschen gingen ihren Besorgungen nach, von links nach rechts, manche gehetzt, manche gelassen, manche allein, manche zu zweit, in kleinen Gruppen. Jung und alt. Mit Kindern an der Hand, mit Hunden an der Leine. Lois schaute ihnen nach, als würde sie jetzt auch gern so unbeschwert und nichtsahnend über diesen großen runden Platz flanieren, die Gedanken voller nebensächlicher und doch so wichtig erscheinender Dinge.
Ein Sonnenstrahl umrahmte ihren Umriss mit einem breiten hellen Streifen. Tauchte ihr Gesicht in weiche Schatten. Ließ ihren Hut wirken wie einen Heiligenschein.
„Und jetzt?“ Mads pustete sachte in die Stille. Lois drehte den Kopf. „Was willst du jetzt machen?“ Sie lehnte sich zurück. „Jetzt?“, fragte sie. Mads nickte. „Jetzt...“ Sie schloss die Augen. „Jetzt möchte ich einfach nur hier sitzen. Und danach würde ich gern spazieren gehen.“ Sie öffnete sie wieder. „Ich wohne nun schon so lange hier, aber irgendwie habe ich nicht das Gefühl, mich wirklich auszukennen. Es gibt noch viel zu viele Ecken, an denen ich noch nie war.“ Das war nicht das, was er gemeint hatte. Lois wusste das. Natürlich wusste sie das. Aber eigentlich. Eigentlich hatte er für heute genug Verhörer gespielt, genug Dinge aus ihr herausgekitzelt, über die sie am allerwenigsten sprechen wollte. Mehr Schwermut brauchte dieser Tag nicht.
Er versuchte sich an einem Lächeln. „Hört sich gut an“, sagte er.

Abschnitt 5

Autor:  lufie
Das Wochenende schien zu verfliegen. Zur Abwechslung ein angenehmes Gefühl, die Zeit verfliegen zu spüren. Andere Menschen klagten darüber, dass sie ihnen zu schnell zwischen den Fingern zerfließe, aber er selbst genoss es fast ein wenig. Zumindest zur Abwechslung. Er verbrachte Stunden in verschiedenen Supermärkten, kaufte alles, von dem er vermutete, dass Kaninchen es mögen könnten. Bei einigen Dingen lag er richtig, bei anderen nicht - die aß er dann selbst und kam auf diese Weise seit langer Zeit mal wieder zu einigen Vitaminen. Er zeigte Mr. Knibbles das Haus, das Wohnzimmer, das Badezimmer, das Arbeitszimmer seines Vaters, sein eigenes Zimmer. Er ließ ihn auf dem teuren Teppich im Esszimmer herumhoppeln und konnte nicht sagen, dass er sich wirklich ärgerte, als das Tier mitten auf die teuren Fasern pinkelte. Er versuchte, eine Treppe zu bauen, mit der Mr. Knibbles allein aus seinem Käfig klettern konnte, aber er musste die Baustelle abbrechen, aufgrund mangelnder Kenntnisse über Statik. Er versuchte auch, Mr. Knibbles dazu zu überreden, sich als Springkaninchen ausbilden zu lassen. Er baute extra einige Hürden aus Pappkartons und den alten Lexikonbänden, aber Mr. Knibbles verspürte offenbar kein Bedürfnis nach sportlicher Betätigung, er bevorzugte es, um die Hürden herumzulaufen, um an die ausgelegten Möhrenstücke zu gelangen. Wirklich ein pragmatisch denkendes Kaninchen. Am liebsten hätte Mads ihn in seinem Zimmer übernachten lassen. Er stellte es sich schöner vor, vom Rumoren und Rappeln eines Kaninchens geweckt zu werden, als von dem scharfen und gnadenlosen Piepsen seines Weckers. Er musste aber feststellen, dass Mr. Knibbles die ständigen Umzüge nicht mochte und so blieb er in der Küche, auf dem Tisch, beim Kühlschrank. Die Mahlzeiten zu dritt konnten weiterhin stattfinden.
Den Großteil dieser dahinfliegenden Zeit aber verbrachte er mit Grübeln. Bis spätabends saß er am Küchentisch, kraulte Mr. Knibbles hinter den Ohren und zermarterte sich den Kopf, wie er ihn sich lange nicht mehr zermartert hatte. Er überlegte, wie er an Lois' Adresse kommen könnte. Möglichst noch vor Dienstag. Es gab in dieser kleinen Stadt drei Gymnasien. Eines davon fiel weg, das besuchte er selbst und er hatte sie nie dort gesehen. Wenn er also morgen die erste Stunde schwänzte, konnte er sich morgens vor eines dieser Gymnasien stellen und wenn er Glück hatte, würde er richtig liegen. Und wenn er die letzte Stunde auch noch schwänzte, könnte er sich zu Unterrichtsschluss noch vor das andere Gymnasium stellen. Das erhöhte seine Chancen. Andererseits aber wusste er auch nicht so recht, was er sagen sollte, wenn er sie tatsächlich finden würde. Er kam sich lächerlich vor, sie nur zu fragen, weshalb sie ihr Kaninchen weggeben hatte. Aber er hatte so ein merkwürdiges Gefühl, dass diese Frage überhaupt keine „Nur-so-nebenher-Frage“ war und je weiter das Wochenende voranschritt, desto stärker und deutlicher sammelte es sich in seiner Magengrube, dieses Gefühl. Wie ein großer Klumpen. Sie hatte Mr. Knibbles nicht weggeben, weil sie ihn plötzlich nicht mehr mochte oder weil sie sich lieber auf Klausuren und Prüfungen konzentrieren wollte. Sonntagabend schließlich glaubte er nicht einmal, dass es überhaupt eine Chance gab, dass sie am Montag in eine der beiden Schulen gehen würde. Schließlich hatte sie gesagt, dass sie nicht früher als Dienstag Zeit hätte. Vielleicht steckten dahinter tiefere Gründe als Hausaufgaben oder Flötenunterricht? Er dachte solche Gedankengänge nicht weiter, sie führten nur dazu, dass der Klumpen in seinem Magen noch größer und dicker und schwerer wurde. Er hatte zu viele Filme gesehen. Zu viele dramatische Filme. Eindeutig.

Montagmorgen hatte er alle Pläne endgültig verworfen. Er würde nicht die Schule schwänzen, weder die erste noch die letzte Stunde. Er würde sich vor keines der beiden Gymnasien stellen. Er würde nicht einmal in einem der beiden Sekratariate anrufen, um nach ihrem Namen zu fragen. Er würde nicht nach ihr suchen, denn er würde sie nicht finden, so viel stand fest. Er würde gar nichts tun. Er würde auf Dienstag warten. Mal wieder.
Der Wecker weckte ihn auf seine stechende und gnadenlose Art, kein Knistern und Rascheln der Kaninchenpfoten auf der weichen Sägespänestreu, wie er es sich gewünscht hätte. Frühstück zu dritt, danach zur Schule, mehr schlafend als wach, mehr abwesend als anwesend. Er wusste nicht mehr genau, wie er den Nachmittag und den Abend dieses Montags verbrachte. Irgendwelche Beschäftigungen musste er gefunden haben. Vielleicht hatte er ein Handtuch an den Haken im Badezimmer gehängt. Vielleicht hatte er etwas von dem schmutzigen Geschirr abgewaschen, das sich seit Tagen neben dem Spülbecken stapelte. Vielleicht hatte er auch die Pizzaschachteln aus dem Wohnzimmer geräumt. Es war sogar möglich, dass er die DVD zurück in die Bibliothek gegeben hatte. Die DVD, die er nun doch nicht geschaut hatte. Vielleicht. Sehr wahrscheinlich aber hatte er ferngesehen und sich dabei Mr. Knibbles auf den Bauch gesetzt. Er wusste es nicht mehr, denn es war nur einer dieser Tage von vielen, sie verschwammen in seinem Gedächtnis, mischten sich ineinander wie Spiegelungen in einer Pfütze, er konnte die Details nicht mehr unterscheiden. Aber das war auch nicht wichtig. Nicht wichtig.

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