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Abschnitt 12

Autor:  lufie
Er konnte nicht sagen, ob die Zeiten, in denen sein Vater da war, besser waren als die, in denen er nicht da war. Wahrscheinlich waren sie es. Sie mussten es sein, nur rein objektiv betrachtet. Zumindest waren sie anders, abwechslungsreicher. Ja, abwechslungsreicher. Er konnte sich darüber aufregen, wenn sein Vater seine Sachen wegräumte. Er konnte sich darüber aufregen, wenn sein Vater sich darüber aufregte, dass er seine Sachen ständig überall verstreute. „Unordnung stiftete“, wie sein Vater es nannte. Er konnte darüber seufzen, wenn sein Vater ekelhaften Joghurt kaufte und fest behauptete, dieser sei schon immer Mads' Lieblingsjoghurt gewesen. Er konnte die Augen verleiern, wenn sein Vater zum wiederholten Male gegen die Beschlüsse irgendeiner Sitzung irgendeiner Institution wetterte oder gegen diejenigen, die solche Beschlüsse fassten und dabei die Zeitungsseiten in den Händen zerknautschte. Und er konnte müde lächeln, wenn sein Vater die vertrocknete Zimmerpflanze gegen eine neue ausgetauscht hatte. Wieder einmal.
Immerhin machte er ihm keine Vorschriften, wie und wie oft er die Pflanze während seiner Abwesenheit zu gießen hatte. Er sagte auch nichts zu dem völlig verdreckten Badezimmer oder zu dem T-Shirt, das immer noch an dem Haken hing. Manchmal sah Mads förmlich, wie ihm Tadel und Belehrungen solcher Art schon auf der Zunge lauerten, aber er schluckte sie jedes Mal hinunter. Andersherum sagte Mads nichts dazu, wenn sein Vater in der Küche rauchte. Er öffnete nur das Fenster, obwohl ihm die Übelkeit jedes Mal beißend die Kehle hinaufkroch. Es schien, als wüsste jeder genau, woran er herumkritteln durfte und woran nicht. Geheimes Herumkrittelungs-abkommen, kurz GHKrit. Und es kamen immer noch Paragraphen und Absätze hinzu. Es wurde fleißig ausgebessert, durchgestrichen, ergänzt.
Und trotzdem musste Mads immer wieder an diesen Film denken, in dem sich Vater und Sohn gegenüber saßen, vollkommen aneinander vorbei redeten, sich nicht zuhörten und schließlich auseinander gingen mit den Worten „Gutes Gespräch!“.
Sie unternahmen einige Versuche, gegeneinander Schach zu spielen. Mads mochte Schach nicht, sein Vater liebte es. Er konnte stundenlang mit Begeisterung in den Augen über ausgeklügelte Strategien und Schlagabfolgen referieren, aber das machte das Spiel für Mads eher schwieriger als einfacher. Bei Mensch-ärgere-dich-nicht ärgerte sich immer mindestens einer, wenn nicht sogar beide. Mau-Mau war zu zweit langweilig. Und Memory fand sein Vater kindisch.
Wenigstens bei Filmen konnten sie zuweilen einen gemeinsamen Nenner finden, aber auch der erschöpfte sich schnell. Es war immer dasselbe. Anfangs versuchten sie, sich irgendwie zusammenzuraufen, aber nach spätestens zwei, manchmal auch drei Wochen ging dann doch jeder wieder seinen eigenen Beschäftigungen nach. Sein Vater las irgendwelche schlauen Magazine über Finanzen, Wirtschaft oder Management und strich sich ständig Stellen an, die er wohl für wichtig hielt. Mads fragte schon gar nicht mehr, was er da anstrich, weil immer die Gefahr bestand, dass ein endloser Vortrag folgen könnte. Das Wissen seines Vaters war zwar zuweilen im Unterricht recht nützlich, aber es gehörte nicht zu Mads' Vorlieben, vor der ganzen Klasse mit Schlaumeiereien zu glänzen. Sein Ruf war ohnehin schon schlecht genug.
Und so saß Mads meist still daneben, schaute fern oder verschlang dicke Fantasybücher aus der Bibliothek, über die sein Vater jedes Mal den Kopf schüttelte. Wahrscheinlich hätte er es lieber gesehen, wenn er Goethe oder Nietzsche gelesen hätte, aber Mads wollte seine Welten voller Elfen, Zwerge und Ungeheuer, voller Helden und Magie ungern gegen trockene Abhandlungen, vollgestopft mit Fremdwörtern, die er nicht einmal beim dritten Lesen verstand, eintauschen. Und was Goethe anbelangte, hatte seine Deutschlehrerin gute Arbeit geleistet. Für die nächste Zeit würde er die Finger davon lassen, so viel stand fest.
Sein Vater schlug vor, in den Park zu gehen und Fußball zu spielen. Mads wollte nicht, nicht einmal um der friedlichen Stimmung Willen. Sein Vater schlug vor, abends in eine Kneipe zu gehen und dort Fußball zu schauen. Mads war sich nicht sicher, ob er diesen Vorschlag wirklich ernst gemeint hatte. Sein Vater schlug vor, Eis essen zu gehen. Lange starrten sie auf das Thermometer, das außen am Küchenfenster klebte. 15° C. Mehr waren es tatsächlich nicht. Und mehr wurden es auch nicht, indem sie darauf starrten. Aber sein Vater nahm seinen Vorschlag nicht wieder zurück und Mads konnte nicht Nein sagen, denn ihm fiel nichts ein, was er stattdessen hätte vorschlagen können. Also rafften sie alle Willenskraft zusammen, die sie aufbringen konnten und gingen auf den großen runden Platz. Nicht in dasselbe Café, in ein anderes, beinahe direkt gegenüber. Die Tische waren viereckig und aus Holz. Wahrscheinlich kippelte nicht einer von ihnen. Sie betrachteten eine Weile die Wolldecken, die säuberlich zusammengefaltet über den Stuhllehnen hingen und entschieden sich für Eis auf die Hand. Mit Waffel. Eistüte. Wie auch immer man das nannte. Mads hatte keine Lieblingseissorte. Nicht einmal annäherungsweise. Er nahm die Sorte, von der noch am meisten da war. Er dachte an Lois. Er fragte sich, welche Sorte sie wohl mochte. Ihm fiel dieser Film ein, wieder ein seichter Film. Eine Frau betrat ein Café, setzte sich. Ein Mann beobachtete sie von einem anderen Tisch aus und versuchte zu erraten, welches Getränk sie wohl bestellen würde. Nach einigem Überlegen landete er bei Aprikosensaft und behielt recht. Später heirateten sie. Seichte Filme eben. Wieso dachte er jetzt daran?
Sein Vater versuchte ihn zu überreden, eine zweite Kugel zu nehmen. Vielleicht war ihm eine noch nicht teuer genug oder er fand es aufregend, sich hoffnungslos zu überfressen. Wer die meisten Kugeln schafft, muss nicht das Bad putzen. So ungefähr. Zu einer solchen Wette hätte Mads sich vielleicht sogar hinreißen lassen, immerhin ging es um eine Zeiteinsparung von mindestens einer Stunde pro Woche. Aber seinem Vater waren solche Wetten zu kindisch. Bestimmt. Jedenfalls schlug er nichts vor. Nur, durch den Park zu spazieren. Mads nickte.
Und so gingen sie langsam nebeneinander her, schweigend, jeder mit seiner eigenen Eiskugel beschäftigt, der Kies knirschte unter ihren Füßen und an jeder Ecke klebte Lois, sie hing an jedem Grashalm, an jedem Maulwurfshügel, an jeder Pusteblume, deren Schirmchen noch nicht in alle Winde zerstreut waren. Mads fragte sich, ob sie es ihm sehr übel nehmen würde, wenn er ihr schon morgen einen Besuch abstatten würde. Freitag. Zwei Tage nach Mittwoch. Nach X. Keine sehr lange Zeit, aber sie würde wohl reichen müssen.
Zu allem Überfluss waren seinem Vater noch einige Fragen zu ihr eingefallen, die er ihn fragen konnte, kurze Fragen, auf die er wohl keine allzu komplizierten Antworten erwartete. Sie hieß Lois. Nachname hatte er vergessen. Alter wusste er nicht. Schule auch nicht. Weshalb sie das Kaninchen hatte weggeben wollen. Ähm. Haarallergie. War kürzlich bei ihrer kleinen Schwester festgestellt worden. Mads hatte keine Lust, sich originelle Lügengeschichten einfallen zu lassen. Irgendwann gab sein Vater Ruhe. Mads überlegte, ob er zurückschlagen sollte. Wie war es bei der Geschäftsreise. Was wurde besprochen. Wie war das Hotel. Gab es Schokolade auf den Kopfkissen. Wer war eigentlich neulich die Frau am Telefon. Aber er ließ es bleiben.
Laut GHKrit war so etwas bereits gesetzliche Grauzone.


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