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Abschnitt 13

Autor:  lufie
Als er noch klein gewesen war, hatte er ein schmales Buch besessen, ein Heft vielmehr. Er hatte es sich so oft von seiner Mutter vorlesen lassen, bis er es beinahe auswendig gekannt hatte, aber inzwischen hatte er vieles wieder vergessen. Er wusste noch, dass es von zwei Hamstern gehandelt hatte, einem Mädchen und einem Jungen. Das Mädchen hatte Jutta gehießen. Eines Tages war Jutta krank geworden. Der Hamsterjunge hatte lange hin und her überlegt und sich schließlich ein Herz gefasst und entschieden, ihr einen Krankenbesuch abzustatten. Und er pflückte ihr die schönste Kornblume, die er finden konnte. Mads erinnerte sich noch genau an den Wortlaut. Die schönste Kornblume, die er finden konnte. Der Hamsterjunge besuchte sie, Jutta freute sich riesig und wurde schnell wieder gesund. Und die beiden lebten glücklich und zufrieden und bekamen viele Kinder. So ungefähr. Damals hatte er gedacht, Kornblumen müssten etwas wahnsinnig Wertvolles und Schönes sein. Er war fast enttäuscht gewesen, als er auf einem Kornfeld zum ersten Mal bewusst eine gesehen hatte. So klein und unscheinbar. Gewöhnlich fast. Aber dieser Satz war ihm nie aus dem Kopf gegangen. Die schönste Kornblume.
Er fragte sich, wo das Heft hingekommen sein könnte. Er hatte es wohl nicht mitgenommen. Wahrscheinlich stand es jetzt bei seiner kleinen Halbschwester und seinem kleinen Halbbruder, irgendwo im südlichen Norwegen. Seine kleine Schwester hieß auch irgendetwas mit J. Nicht Jutta, aber vielleicht Jette. Wahrscheinlich Jette. An den Namen seines Bruders konnte er sich nicht erinnern. Beim besten Willen nicht. Er hatte ihn auch nur ein einziges Mal gesehen. Er hatte blonde Fusselhaare gehabt, das wusste er noch. Wie alt die beiden inzwischen sein mochten? Er versuchte nachzurechnen, aber er kam auf kein eindeutiges Ergebnis. Ob Jette schon lesen konnte? Bestimmt. Er stellte sich vor, wie sie im Kinderzimmer auf dem Bauch lag, auf einem bunten flauschigen Teppich und ein Bild mit zwei Hamstern malte. Krakelig, mit Filzstiften. Vielleicht sollte er den beiden einen Brief schreiben, seinen beiden Geschwistern. Oder wenigstens eine Karte. Dumm nur, dass der Postweg immer irgendwie über seine Mutter führte.
Er zupfte eine der Kornblumen in seiner Hand zurecht. Es waren Gartenkornblumen, sie waren nicht so schön wie die auf den Feldern, nicht so klein und filigran sondern mit dicken und fleischigen Blättern. Er hatte sie hinter dem Haus gepflückt. Nein, nicht gepflückt natürlich, sondern mit der Gartenschere abgeschnitten, ganz unromantisch. Es waren die schönsten, die er hatte finden können. Sie ließen schon ein wenig die blauen Blüten hängen. Das lag daran, dass er die Stängel zu fest in seiner Hand drückte und dass er schon viel zu lange hier stand. Da bewirkte auch das feuchte Küchentuch, dass er unten um die Schnittstellen gewickelt hatte, nicht viel. Er zupfte noch einmal, dann schaute er wieder auf die Tür vor sich. Eine Holztür, hellblau angestrichen, mit einem kleinen eckigen Fenster in der Mitte. Mit Riffelglasscheibe. Es gab tatsächlich ein Schild mit dem Familiennamen darauf. Es war nicht aus Salzteig, sondern aus Ton. Es hing auf der linken Seite, von einem einzigen Nagel festgehalten. Die Klingel sah vollkommen harmlos aus, ein silberner Knopf, mehr nicht. Und trotzdem stand er da wie festgenagelt und starrte auf den Knopf und auf das Schild und auf das Hellblau und das Riffelglas und traute sich nicht. Er schaute auf seine Blumen und fühlte sich lächerlich, albern, affig. Die Liste war endlos. Eigentlich fehlte noch die Mandoline in der Hand, merkwürdige mittelalterliche Kleidung, inklusive Strumpfhosen. Und singen können müsste er. Dann würde wenigstens ein stimmiges Gesamtbild der Peinlichkeit entstehen.
Er schluckte, schloss fest die Augen und versuchte krampfhaft, sein trommelndes Herz zu ignorieren. Dann streckte er den Finger aus, quälend langsam, er zitterte, ohne, dass er es verhindern konnte. Und drückte. Drückte fester, bis zum Anschlag. Er öffnete die Augen und wartete. Einen Moment war er drauf und dran, doch noch schnell wegzurennen oder wenigstens die Blumen wegzuwerfen, als sich die Tür auch schon öffnete. Sie quietschte ganz leise in ihren Angeln, kaum hörbar. Ein Mädchen trat aus dem Türspalt, vielleicht zehn Jahre alt, vielleicht ein wenig älter. Sie trug geringelte Strumpfhosen unter einem bunten Kleid und eine ebenso bunte Spange im Haar. „Hallo“, sagte sie und beäugte ihn misstrauisch. Mads versuchte unauffällig, die Blumen hinter seinem Rücken verschwinden zu lassen, aber sie hatte sie bereits gesehen. Ihr Blick blieb daran haften. Ihre Augen waren nicht so grün wie die von Lois. „Hallo“, sagte Mads. Sein Hals fühlte sich trocken an. Er streckte ihr die freie Hand entgegen. Es war dummerweise die linke. „Ich heiße Mads.“ Das Mädchen legte den Kopf schief. Ihr Blick wechselte von seiner Hand zu seinem Gesicht zu den Blumen hinter seinem Rücken und wieder zurück. Sehr lange betrachtete sie ihn und er glaubte schon, dass sie die Tür wieder schließen würde, als sie doch nach seiner Hand griff, auch mit der linken, als wäre es ganz normal. „Ich bin Laura.“, sagte sie. „Du willst bestimmt zu Lois, oder?“
Ein wachsames Mädchen. Mads nickte. Sie hielt ihm die Tür auf, dabei legte sie wieder den Kopf schief. Vorsichtig betrat er die einhüllende Dämmerung eines schmalen Flurs. Schuhe stapelten sich auf den weißen Fliesen und ein dezenter, kaum wahrnehmbarer Geruch empfing ihn. Jede Wohnung hatte ihren eigenen Geruch, das hatte er schon früh festgestellt. Überall roch es anders, aber immer undefinierbar. Und auch nur in fremden Wohnungen. Innerhalb der eigenen Wänden roch es nach nichts. Wenn nicht gerade jemand kochte oder Räucherstäbchen abbrannte oder seine Schuhe putzte oder was auch immer. Einfach nach gar nichts. Als hätte sich die Nase irgendwann so sehr an den eigenen Geruch gewöhnt, dass sie ihn einfach ausblendete. In anderen Wohnungen dagegen... Er glaubte, einen Hauch Waschmittel zu erkennen, aber vielleicht irrte er sich auch. Er streifte die Schuhe ab, warf sie zu den anderen. Er hatte den Anorak heute zu Hause gelassen. Es war wärmer geworden. Wenn auch nur ein wenig und eigentlich hätte er doch eine Jacke gebraucht. Aber es fühlte sich besser an, ohne herumzulaufen. Weniger eingeengt. Mehr nach Sommer. Die Menschen in Skandinavien liefen den ganzen Sommer in kurzen Hosen und Sandalen herum, auch, wenn es noch so kalt und regnerisch war. Für sie war Sommer und fertig. Wenn das Wetter nicht mitspielen wollte, hatte es eben Pech.
Er folgte Laura in eine geräumige Wohnküche. Eine schmale Treppe führte in das obere Stockwerk. Eine Glastür wies in den Garten. An einen knorrigen Apfelbaum klammerte sich ein kleines schiefes Baumhaus. Das Holz war dunkel und verwittert. Auf dem Dach flatterte eine zerschlissene Piratenflagge.
Laura öffnete einen Schrank nach dem anderen, kramte, suchte, klapperte mit Tellern, Gläsern. Schließlich fädelte sie eine mittelblaue Vase hervor, betrachtete sie prüfend. „Passt die?“, fragte sie und hielt sie ihm hin. Mads zuckte mit den Schultern. „Bestimmt“, sagte er, ohne die Blumen in seiner Hand überhaupt anzusehen. Überall an den Wänden hingen Fotografien, manche eingerahmt, manche auch nur mit einfachen Reißzwecken festgepinnt. Lois und ihre Schwestern sahen sich so ähnlich, dass er sie auf manchen Bildern kaum voneinander unterscheiden konnte, nur, wenn sie alle drei nebeneinander abgebildet waren, ging es leichter. Er hörte, wie Laura in einem Nebenraum verschwand. Kurz darauf das Geräusch fließenden Wassers.
Lois hatte das rundeste Gesicht und die rundesten Augen. Gehabt, dachte er. Zumindest, was das Gesicht anbelangte. Gehabt.
„Bitteschön“ Er zuckte zusammen. Laura hielt ihm die Vase hin. Wasserkreise glänzten im Inneren. Sie schaute plötzlich sehr ernst. Mads fädelte die Blumen in die Öffnung, stopfte, sortierte. Sie passten. Geradeso. Er nahm ihr die Vase aus den Händen. „Danke“, sagte er. Sie lächelte nicht. „Lois ist oben“, sagte sie. „Ich zeig's dir.“ Und sie huschte davon, die Treppe hinauf. Sie trug keine Schuhe, nur Socken, ihre Füße verursachten keinerlei Geräusche auf den Stufen. Mads spürte wieder, wie sein Herz zu klopfen begann. Vorsichtig nahm er eine Stufe nach der anderen, etwas Wasser tropfte über den Rand der Vase und lief kalt seine Finger hinunter. Er hörte einen Tropfen auf eine Stufe plitschen. Oben herrschte Dunkelheit. Es gab keine Fenster. Einige schmale Lichtstreifen verrieten, dass sich dort Türen befanden. Laura wartete auf ihn. Ungeduldig wippte sie mit den Füßen vor und zurück, die Hände hinter dem Rücken verschränkt. „Hier“, sagte sie und deutete auf eine Tür links von sich. „Aber es kann sein, dass sie schläft.“ Sie schaute ihn noch einen Moment an, mit einer Spur Misstrauen in den Augenbrauen, dann rannte sie davon, die Treppe wieder hinunter.
Es stand sogar Lois auf der Tür. In großen Windowcolorbuchstaben, gelb und hellgrün. Die Ränder waren bereits ausgefranst, als hätte jemand mit den Fingernägeln daran geknibbelt. Er lauschte, aber er konnte nichts hören. Nicht einmal von unten drangen Geräusche. Es war still. Nur Herz und Lunge arbeiteten. Er betrachtete die Klinke. Legte die Hand auf das kühle Metall und drückte.


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