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Abschnitt 4

Autor:  lufie
Freitage zu überleben beherrschte er inzwischen recht gut. Acht Stunden Unterricht, demnach weniger Zeit am Nachmittag, weniger Zeit, die totgeschlagen werden musste. Er musste noch einkaufen. Wenn er ein wenig in den Zeitschriften blätterte, könnte er eine ganze Stunde dafür einplanen. Er hatte noch eine DVD aus der Bibliothek. Die konnte den Abend ausfüllen. Und für die Zeit dazwischen würde ihm schon noch etwas einfallen. Hoffentlich. Hausaufgaben hatte er keine aufbekommen. Er wusste nicht, ob er das schade finden sollte. Die Schule machte ihm keinen Spaß, obwohl viele seiner Mitschüler das von ihm dachten, weil er Hausaufgaben so sorgfältig erledigte. Aber der Schein trog. Er trog wirklich.
Ihm lag nicht viel daran, mit diesem Irrtum aufzuräumen. Wozu auch. An seinem Status hätte es ohnehin nicht viel geändert. An seiner Beliebtheit schon gar nicht. Dazu hätte er vielleicht ein wenig sportlicher sein müssen. Oder wenigstens ein neueres Handy besitzen müssen. Ein bisschen Sinn für Humor hätte auch nicht geschadet. Die Volkshochschule drei Straßen weiter bot Kurse an. Kurse, um die eigene Sozialkompetenz zu verbessern. Selbstbewusstsein trainieren. An der eigenen Ausstrahlung arbeiten. Besser reden. Besser Kontakte knüpfen. Und so weiter. Er wusste nicht, was seine Mitschüler über ihn dachten. Früher hätte er es gern gewusst. Er hätte sich dreimal um die halbe Welt gedreht, um wenigstens einen Bruchteil davon zu erfahren. Früher hatte er auch ernsthaft darüber nachgedacht, sich eines dieser Handys mit den tausend Funktionen und Spielereien zu kaufen. Seit er Lois kannte, war er froh, dass er es nicht getan hatte. Wenn er es sich recht überlegte, hatte er heute den ganzen Tag über mit niemandem gesprochen. Nicht mit den Lehrern, nicht mit seinen Banknachbarn, mit niemandem. Und er ärgerte sich nicht einmal darüber. Es kümmerte ihn nicht mehr. Seit er Lois kannte, hätte er eigentlich Privatunterricht nehmen können. Zumindest eine Veränderung, die sich eingeschlichen hatte. Vielleicht sogar eine Besserung.
Er kramte nach seinen Schlüsseln, drückte die Gartentür mit der Schulter auf, als er plötzlich stehen blieb. Etwas stand vor der Eingangstür. Etwas Großes, Eckiges, Undefinierbares. Er kniff die Augen zusammen, langsam stieg er die wenigen Stufen nach oben, ohne das Etwas aus dem Blick zu verlieren, den Schlüssel mit der Faust umklammert. Über das Etwas war ein Stück Stoff gespannt. Ein Spannbettlaken. Ein mintgrünes. Jemand hatte es an den Seitenkanten mit einigen Wäscheklammern befestigt, darunter schaute weißes, abgeschabtes Plastik hervor. Von drinnen hörte er es rappeln. Er blieb stehen. Kein Briefumschlag, kein Zettel, keine Nachricht. Wieder rappelte es. Raschelte. Knisterte. So langsam er konnte, fast wie in Zeitlupe, ging er in die Hocke und entfernte vorsichtig eine Wäscheklammer, eine orangefarbene. Noch eine. Noch eine. Dann hob er das Laken ein Stück an. Eine Nase schaute ihn an. Eine weiße Nase mit dichten weißen Barthaaren, die ununterbrochen auf- und ab wackelte, schnüffelte und schnupperte. Dann zwei schwarze Knopfaugen. Weißes flauschiges Fell, schwarze Flecken, wie mit einer halben Kartoffel darauf gedruckt. Große durchscheinende Ohren, von winzigen Äderchen durchzogen. An den Gitterstäben hing doch ein Zettel, mit zwei Streifen Tesafilm befestigt. „Für Mads“ stand darauf.
Er streckte den Finger aus. Die weiße Nase schnupperte daran. „Hallo, Mr. Knibbles“, sagte er. Die Nase schnupperte weiter. Er überlegte, wonach sein Finger riechen könnte. Nach Papier. Nach Schlüssel. Nach Amonniumsulfat aus dem Chemieunterricht vielleicht. Wahrscheinlich aber nach labbrigen Pommes aus der Kantine. Mr. Knibbles biss herzhaft in den Finger. Er mochte wohl Pommes. Es tat kaum weh. Mads entfernte die restlichen Wäscheklammern und nahm das Laken ganz herunter. In der rechten Ecke des Käfigs stand ein Pappkarton. Jemand hatte eine Tür und ein Fenster hineingeschnitten. Um das Fenster waren Fensterläden gemalt. Zwei grüne Wachsmalstiftfensterläden. Ob Lois sie gemalt hatte? Oder eine ihrer Schwestern? Mads setzte sich in den Schneidersitz. Er betrachtete Mr. Knibbles. Mr. Knibbles betrachtete ihn. Mr. Knibbles kratzte sich am Ohr. Mr. Knibbles hoppelte nach links, hoppelte nach rechts. Knabberte an einem Stück Möhre. Mads spürte, wie die Kälte seinen Rücken nach oben zog. „Hm“, sagte er. Mr. Knibbles blickte auf. „Soll ich dir das Haus zeigen?“, fragte Mads. „Wo du schon mal da bist...“ Mr. Knibbles legte den Kopf schief.

Wenig später stand der Käfig mitsamt Mr. Knibbles auf dem Küchentisch. Mit ein wenig Geschick und Kombinatorik konnte Mads noch seinen Teller, seine Tasse und das Nutellaglas darauf unterbringen, aber mehr brauchte er meistens ohnehin nicht. Sein Vater würde den Gedanken nicht gut finden, dass ein Kaninchen auf dem Küchentisch wohnen sollte. Aber sein Vater würde überhaupt den Gedanken, dass ein Kaninchen bei ihnen wohnen sollte, nicht gut finden. Ganz und gar nicht gut. Um nicht zu sagen abgrundtief schlecht. Aber sein Vater würde erst in vier Tagen wieder kommen. Und bis dahin musste Mads nun wenigstens beim Essen nicht mehr den Kühlschrank anstarren. Er konnte sogar mit jemandem gemeinsam essen. Das konnte er zwar auch, wenn er den Fernseher anschaltete, auf irgendeinem Sender gab es immer jemanden, der gerade aß, aber es war nicht dasselbe. Sein Vater würde kein Verständnis dafür haben, das wusste er jetzt schon. Aber vielleicht würde er so viel zu tun haben, dass er vor lauter E-Mails-Gechecke und Smartphone-Gewische vergaß, sich darum zu kümmern, Mr. Knibbles wieder loszuwerden. Das hoffte er. Mit Argumenten würde er nicht sehr weit kommen, und wenn sie noch so stichhaltig waren. Am Ende hatte doch sein Vater das letzte Wort. Aber auch erst in vier Tagen. Mittwoch.
Mads verschränkte die Arme auf dem Tisch, sie passten geradeso neben den Käfig. Mr. Knibbles schaute ihn an aus seinen runden Augen. Er saß ganz still, als warte er auf etwas. Nur sein linkes Ohr drehte sich zuweilen in eine andere Richtung wie der Ausguck eines U-Boots. Mads fragte sich, warum Lois ihn weggegeben hatte. Aus ihren Erzählungen hatte er entnommen, dass sie es gemocht hatte, dieses kleine gefleckte Kaninchen. Sie hatte es zu ihrem zehnten Geburtstag bekommen und seitdem gehütet wie einen Schatz. Diesen Eindruck bestätigten die grünen Wachsmalstiftfensterläden und Mr. Knibbles doch recht beachtlicher Bauchspeck. Woher also dieser Sinneswandel? „Woher“, murmelte er. „Weißt du es?“ Er schaute zu Mr. Knibbles. „Du müsstest sie doch eigentlich besser kennen als ich.“ Er streckte wieder den Finger zwischen den Gitterstäben hindurch und streichelte ihn zwischen den Ohren, dort, wo das Fell am flauschigsten war. Es hatte etwas mit dem Eigentlich zu tun. Mit diesem großen düsteren Eigentlich, hinter dessen Bedeutung er nicht kam. Einfach nicht kam.

Abschnitt 3

Autor:  lufie
An diesem Abend ging er erst spät nach Hause zurück. Er streunte durch die Straßen, mal hierhin, mal dorthin, ohne ein festes Ziel, außer dem einen, die Zeit so lange wie möglich hinauszuzögern. Er wollte nicht in das stille Haus zurück, er wollte nicht der Erste sein, der das Licht anschaltete und erst recht nicht der Letzte, der es wieder ausschaltete. Er wollte nicht wieder das Radio oder den Fernseher anschalten, nur, damit irgendetwas zu hören war, und wenn es nur die nervige Stimme eines Moderators war. Und erst recht wollte er beim Essen nicht wieder nur die weiße Tür des Kühlschranks anstarren. Eines Designerkühlschranks zwar, aber was nützte das schon. Sprechen konnte er nicht, so weit war die Technologie dann doch noch nicht. Sicher konnte er auch den Fernseher anstarren, der konnte immerhin sprechen, aber da gab er inzwischen doch dem Kühlschrank den Vorzug. Eines Tages würde er schon anfangen zu reden, dieser Kühlschrank, wenn sein Kopf keinen anderen Ausweg mehr wusste, als es ihm vorzugaukeln. So ähnlich wie bei dem bekannten Kolumnisten, der seinen Kühlschrank Bosch getauft hatte und sich immer mit ihm unterhielt, wenn er nachts nicht schlafen konnte. Aber der hatte sich diese Geschichte wohl nur ausgedacht, um ein Buch darüber schreiben zu können. Vielleicht würde er ja auch eines Tages ein Buch über sein Leben mit dem Kühlschrank schreiben. Aber bis dahin würde sein Abbild im Badezimmerspiegel wohl der Einzige sein, dem er einen Guten Morgen wünschen konnte.
Sein Vater würde erst in fünf Tagen von seiner Geschäftsreise wiederkommen. Aber selbst dann würde sich nicht viel ändern, außer, dass ab und zu ein Getriebener durch die Wohnung tigerte, abwechselnd telefonierte, E-Mails checkte oder anderweitig auf seinem Smartphone herumwischte. Fragen stellte er wenige. Man konnte ihm nicht vorwerfen, dass er sich nicht für seinen Sohn interessierte, in seinem überfüllten Gehirn war einfach kein Platz mehr für noch mehr Probleme, schon gar nicht für die eines einsamen Schülers. Sein Vater war schon immer anders gestrickt gewesen, er dachte anders, er ging anders mit anderen um. Von ihm stammte der Vorschlag, es doch einmal mit dem Fußballverein zu versuchen. Mads hatte alte Fotos von ihm als Jugendlicher gesehen. Darauf sah man ihn ausschließlich lachen, meistens mit irgendwelchen Freunden neben sich oder einem Mädchen im Arm, beim Fußballspielen im Park, beim Ostseeurlaub, gleich nach dem Abitur. Sein Vater war nie allein gewesen und er hatte immer geschickt verhindert, dass es so weit kommen würde. Dass er seit der Trennung von seiner letzten Freundin nun schon beinahe ein halbes Jahr single war, stellte eher eine Seltenheit dar. Aber neulich hatte eine Stimme am anderen Ende des Handys weiblich geklungen und er hatte während des gesamten Gesprächs über gelächelt, sodass wohl bald wieder eine neue Frau in der Tür stehen würde. Wahrscheinlich mit blondem Haar, einer kleinen Nase und langen geschwungenen Beinen in dunklen Feinstrumpfhosen. Das war einer der wenigen Bereiche, in denen Mads seinen Vater doch ein bisschen kannte: In Sachen Frauen. Seine eigene Mutter hatte genauso ausgesehen. Zwar waren die Umrisse ihrer Beine bereits von Cellulite ausgefranst gewesen, aber ihr Haar hatte noch immer diesen Blondton gehabt, in dem sich das Sonnenlicht zu einem hellen Schimmer verfing...
Als die Kälte längst unter seine Jacke gekrochen war und er seine Zehen kaum noch spüren konnte, blieb ihm doch nichts anderes übrig, als zurückzugehen. Wäre es nicht so klapprig kalt gewesen, er hätte im Park übernachtet, auf irgendeiner Bank, es wäre ihm egal gewesen, für einen Obdachlosen gehalten zu werden. Im Grunde war er ja auch nichts anderes. Er hatte vielleicht ein Obdach, aber eine Heimat, die fehlte ihm. Ein Heimatloser.
Als er die Haustür aufschloss, war drinnen alles dunkel. Logisch, er hatte schließlich das Licht ausgemacht, als er weggegangen war. Müde tastete er nach dem Schalter, tapste auf schweren Schritten in den Wohnraum. Er hatte das Gefühl, als würde jede seiner Bewegungen, jedes noch so kleine Geräusch, tausendfach zurückgeworfen, als befände er sich nicht in einer Eigentumswohnung im Gründerzeitviertel der Stadt, sondern in einer riesengroßen Zeppelinhalle.
Er streifte Schuhe und Anorak ab, er räumte sie nicht ordentlich weg, sondern warf sie achtlos neben den Schirmständer in der Ecke. Eine Motte schwirrte in immer engeren und immer sinnloseren Kreisen um den Lampenschirm unter der Decke. Das Flattern ihrer Flügel warf große unscharfe Schatten auf das Laminat. Er erwog, sie mit einem Glas einzufangen und aus dem Fenster in die Freiheit zu entlassen. Er erwog auch, sie einfach mit der Fliegenklatsche zu erschlagen. Zu nichts von Beidem fühlte er sich in der Lage. Träge folgte ihr der Blick seiner Augen, so lange, bis er genug Motivation gesammelt hatte, um den Weg zum Badezimmer anzutreten. Er hatte keine Ahnung, wie er bis Dienstag durchhalten sollte. Und das Wochenende stand erst noch vor ihm. Die Wochenenden waren das Schlimmste. Wenn er es etwas geschickt anstellte, konnte er sie wieder in Hausaufgaben und seichten Filmen ertränken. Wenn nicht, würde er wieder aus dem Fenster starren und die Stunden zählen. Die Stunden bis Dienstag.
Der Stoff des Pullovers streifte seine Lippen, als er ihn über den Kopf zog. Er schmeckte nach kalter Luft. Die Schnalle des Gürtels klapperte. Er wartete nicht, bis das Wasser, das aus dem Duschkopf sprudelte, warm geworden war. Er drehte den Hahn bis ganz nach links, auf die rote Seite. Bald begannen seine Füße sich ebenso rot zu färben, er achtete nicht darauf. Langsam legte er den Kopf in den Nacken, immer weiter, bis der heiße Strahl über seine Haare spritzte, über seine Schläfen lief, ihm die Haut fast verbrannte. All seine Nervenzellen sträubten sich, drängten nach vorn, weg vom Wasser, aber er war inzwischen darin geübt, ihre Signale wegzudrücken. Er dachte an die vielen seichten Filme, in denen Menschen nach einer bedeutungsvollen Begegnung vollkommen neu auflebten, beflügelt wurden. Sie verliebten sich und stellten fest, dass das versiffte Leben, das sie bisher geführt hatten, auf keinen Fall so weiter gehen konnte. Also neuer Job, neue Freunde, neue Klamotten, neue Perspektiven. Und natürlich ein glückliches Happy End mit jener bedeutungsvoll begegneten Person, die sich natürlich als die große Liebe entpuppte. Seichte Filme eben. Er stellte das Wasser ab. Noch eine Weile lauschte er den rhythmischen Geräuschen der aufplitschenden Tropfen. Sie beruhigten ihn. Er versuchte, eine Melodie zu erkennen, etwas Wiederkehrendes, aber er fand nichts. Als ihm kalt wurde, stieg er aus der Dusche. Erst, als seine Hand ins Leere fasste, bemerkte er, dass er vergessen hatte, ein neues Handtuch an den Haken zu hängen. Er griff nach seinem T-Shirt.
Sicher, die Treffen mit Lois beflügelten ihn, aber nur so lange, bis ihr roter Kringel wieder hinter der nächsten Ecke verschwunden war. Danach war alles wieder beim Alten. Versifft eben. Und er wusste auch nicht, wie er das ändern sollte. Neuer Job funktionierte schlecht. Neue Freunde hatte er schon zu oft versucht. Neue Klamotten. Er schaute auf sein T-Shirt. Auf sein grünes T-Shirt. Er musste lächeln. Waldgnom. Er hängte es an den Haken, an dem normalerweise das Handtuch hängen sollte. Irgendwann würde er es wieder austauschen. Irgendwann. Vielleicht aber auch nicht. Er gähnte, als er das Licht hinter sich ausschaltete. Als Letzter. So wie immer.

Abschnitt 2

Autor:  lufie
In den folgenden Wochen trafen sie sich oft. Das, was sich allmählich zwischen ihnen entwickelte, nannte man wohl Freundschaft. Es war lange her, dass er von Freundschaft gesprochen hatte. Dass er jemandem gegenüber gesessen, ihn angesehen hatte und ihm plötzlich auffiel, dass das, was gerade in diesem Moment geschah, Freundschaft war. Die meisten Menschen, die er kannte, bezeichnete er leichthin als Bekannte. Manchmal auch als Kumpel. Nie als Freunde. Aber es waren ohnehin nicht viele, die er kannte und mit Bezeichnungen versehen musste. Und eigentlich war ihm das ganz Recht so. Die meisten Kontakte hielt er ohnehin nur aufrecht, um Ablenkung zu haben, wenn ihm die Einsamkeit zu viel wurde.
Die Einsamkeit, ja. In den vielen Stunden mit Lois merkte er, mit wie vielen Ticks und Macken ihn die Einsamkeit in den letzten Monaten versehen hatte, als wäre sie mit staubigen Füßen über ihn hinweggegangen. Er achtete nicht auf seine Kleidung, er vergaß häufig, sich zu kämmen, er aß nur dann, wenn der Hunger beinahe Löcher in seinen Bauch bohrte, er hing seinen Tagträumen in den ungünstigsten Momenten nach, seine Fähigkeit, auf unerwartete Situationen zu reagieren, entsprach etwa der eines Kühlschranks.
Und vor allem. Er war unfähig, Gespräche zu führen. Es sollte ja Leute geben, die diese Disziplin bis zur Perfektion beherrschten, die Fäden spannen, geschickt Verbindungen knüpften, die Glut stetig am Glimmen hielten und denen man schließlich Dinge erzählte, die man ihnen gar nicht hatte erzählen wollen. Er gehörte nicht zu ihnen. Obwohl er nicht sicher war, ob daran wirklich nur seine Einsamkeit Schuld trug. Es konnte vorkommen, dass er und Lois sich gegenüber saßen und minutenlang nichts sagten, einfach, weil es gerade nichts zu sagen gab. Weil das Gespräch an einem Nullpunkt angelangt war. Jeder nippte am Strohhalm seines Milchshakes, ließ Augen und Geist schweifen, auf vorüberziehende Leute, Hunde, Tauben, Wolken. Und es störte gar nicht. Lois war die Einzige, die man anschweigen konnte, ohne ein schlechtes Gewissen zu bekommen, weil man das Gefühl hatte, jetzt unbedingt etwas sagen zu müssen. Wahrscheinlich hatte sie selbst irgendwann festgestellt, wie schädlich der Gedanke sein konnte, man müsse unbedingt die Kunst des Sich-unterhaltens fehlerfrei beherrschen.
Fast immer tranken sie Milchshake, mit Erdbeereis, denn in einen richtigen Milchshake gehörte Erdbeereis, das fanden sie beide und diese Gemeinsamkeit führte sie immer wieder zu dem kleinen Café an dem großen Platz mit den runden Marmorimitat-Tischen, ohne, dass sie dieses Ritual beabsichtigt hätten, es kam einfach. Einfach so daher.
Lois trug immer ihren Hut, seit sie ihn gekauft hatte, hatte er sie ihn nicht mehr abnehmen sehen. Sie sprach viel, über Dieses und Jenes, wild durcheinander, als dächte sie nicht lange über das nach, was sie sagen wollte, sondern sagte einfach, was ihr durch den Kopf ging. Auf diese Weise erfuhr er eine Menge von ihr. Über sie. Er erfuhr, dass sie genauso alt war wie er, nicht ganz natürlich, aber fast. Er erfuhr, dass sie eine kleine und eine große Schwester und ein schwarz-weiß geflecktes Kaninchen hatte, das Mr. Knibbles hieß. Warum wusste niemand mehr. Falls es überhaupt einmal einen Grund gegeben hatte, dieses Kaninchen Mr. Knibbles zu nennen. Sie liebte alle Arten von Pflanzen und Blumen, sie hatte ihr ganzes Zimmer mit Blumentöpfen und Bestimmungsbüchern zugepflastert, ihre Schwester nannte es nur noch Dschungel oder auch grüne Hölle, nämlich immer dann, wenn sie das Gießen übernehmen musste, weil sie selbst es gerade nicht konnte.
„Warum kannst du es manchmal nicht?“, hakte er nach in solchen Momenten, in denen er kleine Ungereimtheiten witterte. Nur kleine, winzige. Sie zuckte mit den Schultern. „Na, wenn ich halt mal nicht da bin. Zur Klassenfahrt zum Beispiel, was weiß ich.“ Es klang zu beiläufig, um der Wahrheit zu entsprechen. „Du würdest da gut reinpassen, in mein Zimmer. Du würdest gar nicht weiter auffallen.“ Sie lachte. Zu schnell wechselte sie das Thema, zu heiter. Er stellte schnell fest, dass Wirken und Sein bei ihr immer Zweierlei waren. Immer wirkte sie heiter, immer gut gelaunt und immer sprachen ihre Augen eine andere Sprache als ihr Mund. Aber er entschied, nicht tiefer zu bohren, er wüsste ohnehin nicht, wie er das anstellen sollte.
Trotzdem passierte es ihm manchmal, dass er eine dieser Nachhakfragen zu scharf stellte. Zu unangenehm. Oder dass ihm ein sarkastisches „Ach so“ herausrutschte. In solchen Augenblicken, in denen die flockige Heiterkeit so plötzlich zerplatzte und nichts zurückblieb als tonnenschwere, erdrückende Stille, in solchen Momenten fing er doch an, von sich aus und von sich zu erzählen. Einfach, um zu retten, was noch zu retten war. In schlechten Filmen fingen die Charaktere in solchen unerträglichen Momenten immer an, einen Witz zu erzählen oder auf irgendeine andere Weise witzig zu sein. Das musste natürlich gründlich schief gehen und das lag nicht daran, dass die Filme schlecht waren. Er probierte eine andere Methode. Die Momentsrettungsmethode.
Anfangs fiel es ihm noch schwer, von sich zu erzählen, aber er merkte schnell, dass es half, nicht zu lange und zu viel nachzudenken. Wer gar zu viel bedenkt, wird nichts leisten. Schon wieder so ein Spruch. Von wem war nun der wieder. Es wollte ihm nicht einfallen, aber er nahm sich vor, bei Gelegenheit nachzuschauen.
Nur langsam tastete er sich vor. Anfangs erzählte er nur kleine nette Episoden, aus seinem Schulalltag, aus seinem Nichtschulalltag. Davon gab es nicht viele, weder in dem einen Alltag noch in dem anderen, aber er gab sich Mühe, danach zu fischen und sie möglichst mundgerecht, unterhaltsam, eben momentrettend, zu präsentieren. Er erzählte von der Motte, die sich am Morgen in seinen Vorhängen verfangen hatte. Oder von dem Mitschüler, der mit kleinen stichelnden Witzen den Lehrer zur Weißglut getrieben hatte. Oder von der Nachbarin, die immer mit Kleiderbügeln nach der Katze warf, damit sie ihren Blumenbeeten nicht zu nahe kam. Und meistens fand Lois danach den Anschluss, irgendetwas fiel ihr ein, um es zu umschiffen, dieses große, düstere und bedrohliche „Eigentlich“, dieses Eigentlich, dass zu den ersten Worten überhaupt gehört hatte, die sie mit ihm gesprochen hatte, in diesem Hutladen, gleich um die Ecke.
Manchmal glaubte er, sich alles nur einzubilden. Vielleicht hatte dieses Eigentlich gar nichts weiter zu bedeuten gehabt, vielleicht war es nur so daher gesagt gewesen. Vielleicht war das, was sie letztendlich davon abgebracht hatte, die Münzen erst nach Abschluss der Schule in den Brunnen zu werfen, sondern schon früher, etwas vollkommen Harmloses, nichts, worüber man sich Gedanken machen müsste. Und trotzdem hatte er immer das Gefühl, als würde dieses Eigentlich über ihnen schweben, wie eine große dicke Regenwolke, die darauf wartete, sich endlich nach Herzenslust ausregnen zu können.
Irgendwann ging er dazu über, mehr zu erzählen. Nicht nur die netten Episoden, auch das ganze Drumherum, das eigentlich einen viel größeren Teil seines bisherigen Lebens einnahm. Er erzählte, dass er neu in dieser Stadt war, erst vor wenigen Monaten hinzugezogen. Er erwähnte seinen Vater und den Beruf seines Vaters. Vorstandsmitglied in einem erfolgreichen Unternehmen. Er merkte, wie Lois aufmerkte. „In was für einem Unternehmen?“, fragte sie. Er wusste nicht, weshalb sie das fragte, antwortete aber wahrheitsgemäß. „So genau weiß ich das auch nicht. Die stellen Bauteile her, die zusammen mit anderen Bauteilen dann irgendwann in der biochemischen Forschung gebraucht werden. So ungefähr.“ „Dein Vater hat dir das nie genauer erklärt, hm?“, fragte sie. Es ähnelte eher einer Feststellung als einer Frage. Er nickte langsam. Sie war gut darin, Situationen schnell zu erfassen.
„Und was machst du dann die ganze Zeit über, wenn du so allein bist?“ Sogar sehr gut, wie er immer wieder feststellen musste. Andere Menschen hätten vielleicht noch gefragt, ob es eine Mutter gab, Geschwister. Lois nicht. Sie setzte sich ein wenig aufrechter hin und legte die Unterarme auf ihren Schoß. Sie wollte zuhören und genauso schaute sie auch. Aufmerksam, interessiert, als hätte sie nur auf diesen Moment gewartet. Als hätte sie schon lange gewusst, dass irgendetwas ihn beutelte, etwas Ernsthafteres als Klausuren und Schwärmereien, als Streitereien mit den Eltern über Tischabräumen und Müll-nach-draußen-bringen. Vielleicht hatte sie ja dieses dicke Eigentlich auch gesehen, die ganze Zeit über, nur nicht über sich selbst, sondern über ihm.
Er zögerte. Sehr lange. Stocherte mit dem Strohhalm in seinem Glas, schaute auf die schaumige Oberfläche seines Milchshakes, hob den Kopf, direkt in das tiefe Grün ihrer Augen. Senkte ihn wieder. „Was ich mache...“ Er stocherte weiter. Eigentlich hatte er nicht davon erzählen wollen. Eigentlich. Da war es wieder. Es wäre besser, wenn es verschwinden würde. Er atmete ein, holte Luft, so tief er konnte. „Eigentlich mache ich gar nichts.“, sagte er. „Ich schaue fern, ich spiele Computer, ich lese. Manchmal gehe ich spazieren. Das ist alles.“ Er betrachtete den Plastikmarmor der Tischplatte. Lois schwieg. Er hatte erwartete, dass sie etwas sagen würde, irgendeine Frage stellen, irgendeine Bemerkung einwerfen, aber sie tat es nicht. Er schaute sie an und fand noch immer denselben Ausdruck in ihrem Gesicht, aufmerksam, interessiert, zuhörend. Zaghaft setzte er fort. „Nun ja. So ist das wahrscheinlich, wenn man zu viel allein ist. Irgendwann hat man keine Lust mehr, irgendetwas zu machen. Sogar essen macht dann keinen Spaß mehr. Manchmal stehe ich vor dem Kühlschrank und mache ihn wieder zu, weil ich auf nichts mehr Appetit habe. Und manchmal liege ich morgens im Bett und überlege ernsthaft, ob ich überhaupt aufstehen möchte.“ Er lächelte schwach und wusste nicht, warum. Vielleicht, weil man immer dazu neigte, beruhigend zu lächeln, wenn man von etwas Beunruhigendem erzählte. Als wolle man den Worten noch im selben Moment ihre Schärfe nehmen. „Am Anfang...Am Anfang ging es noch ganz gut. Ich habe mir immer eine Liste geschrieben mit den Dingen, die ich machen wollte und habe die dann abgehakt. Ich habe auch versucht, Freunde zu finden. Hab' versucht, mit den Leuten in meiner Klasse zu reden, etwas mit denen zu unternehmen. Ich bin sogar in einen Fußballverein eingetreten. Dabei mag ich Fußball gar nicht.“ Wieder lächelte er, ohne es zu wollen. Jetzt, im Rückblick, kam ihm das alles lächerlich vor. Albern fast. Aber ihm war einfach nichts Besseres eingefallen. „Ein paar Leute waren auch ganz nett, das hätte sicher etwas werden können, aber das wurde es nicht. Ich glaube, das lag auch an mir.“ Er nippte an seinem Milchshake. „Du wolltest nicht?“ Wieder so eine Frage, die eigentlich mehr einer Feststellung ähnelte. Er nickte. „Mir gingen die irgendwann alle auf die Nerven. Und ich glaube, ich ging ihnen auch auf die Nerven.“ Sie nickte verstehend, ganz leicht, mehr ein kurzes Rucken mit dem Kopf. Nur zu wenigen hatte der Kontakt gehalten. Aber das reichte oft nicht zu mehr als gemeinsamen Kinogängen oder im Freibad sitzen und über andere Leute lästern. Meistens hörte er ohnehin nur zu, während die anderen lästerten. Und meistens fühlte er sich nach solchen Nachmittagen noch leerer als vorher.
Niemand sprach mehr, lange Zeit, die Stille breitete sich aus, zog ihre Kreise. Der Platz hatte sich geleert, Dämmerung zog die Schatten in die Länge wie weichgekaute Kaugummis. Der Bratwurststandbesitzer kurbelte die Klappe seines Standes herunter. Ein alter Mann kehrte das Pflaster. Der Kellner begann, Kissen und Aschenbecher nach drinnen zu räumen.
„Könnte ich vielleicht deine Adresse haben?“, fragte Lois plötzlich, mitten hinein in die kalte Abendluft. Er nickte. „Sicher“ Sie begann, in ihrer Umhängetasche zu kramen. Es war noch immer dieselbe, die mit der kleinen Handytasche an der Seite, in die nur zwei Finger passten, dafür aber ein zusammengerollter Umschlag. Sie zog ein zerknicktes Notizbuch hervor, blätterte darin, schlug gewissenhaft eine ganz bestimmte Seite auf und legte es ihm aufgeschlagen hin, einen Kugelschreiber in der Kante zwischen den beiden Seiten. Sie waren leer, schneeweiß. Nur auf der linken Seite drückten einige geschriebene Zeilen durch das Papier, wohl vom vorherigen Blatt. Er konnte sie nicht lesen. Er griff nach dem Stift und schrieb Straße und Hausnummer auf. Darüber schrieb er „Mads“, aus Gewohnheit. Lois nahm das Buch zurück, las, lächelte. „Danke“, sagte sie. Als sie es wieder einpackte, nagte sie an ihrer Unterlippe und er merkte genau, wie sie über irgendetwas nachgrübelte. Als wäre seine Adresse Teil eines Plans, eines Vorhabens, dass sie ausgetüftelt hatte oder noch austüfteln würde und eines Tages in die Tat umsetzen würde. Sie schloss ihre Tasche, blickte zur Rathausuhr. Dann nickte sie ihm zu. Das bedeutete, dass sie nun gehen würde. „Nächste Woche?“, fragte sie. „Wie wäre es mit morgen?“, fragte er zurück. „Da kann ich nicht“, sagte sie. „Übermorgen?“ Sie schüttelte den Kopf. „Diese Woche gar nicht mehr.“ „Hm“ Wieder so ein Haken. Aber er war zu müde, um nachzufragen. „Nächsten Dienstag vielleicht?“ Er nickte. Sie stand auf, schulterte ihre Tasche. Legte das Geld auf den Tisch neben ihr leeres Glas. „Mach's gut.“, sagte sie, streckte die Hand aus und strich ihm kurz über die Haare, ganz kurz nur. Schnell zog sie die Finger zurück, als fiele ihr im selben Moment auf, dass es komisch war, jemandem über die Haare zu streichen, von Kindern einmal abgesehen. Er brachte kein Wort heraus. Seine Zunge fühlte sich taub an, unfähig auch nur ein simples „Tschüß“ herauszubringen. Stumm saß er auf seinem Platz, das kalte Glas in den Händen und schaute ihr nach. Schaute und schaute, so lange, bis er den roten Kringel nicht mehr sehen konnte. Er lächelte. Er mochte es, wenn sie „Mach's gut“, sagte.

2013-1 Abschnitt 1

Autor:  lufie
Ich hab mal wieder eine Geschichte geschrieben. Und ich fände es irgendwie blöd, die ganzen Seiten alle auf einmal als Fanfic hochzuladen. Mich zumindest schreckt es als Leser immer etwas ab, wenn Fanfics so lang sind (die Faulheit lässt grüßen). Und weil ich es bei Doujinshi immer so toll finde, wenn jeden Tag eine Seite hochgeladen wird und man sich dann jeden Tag schon auf die Seite freuen kann, dachte ich, ich probier das auch mal.
Da die Freischalterei im Fanficbereich aber immer so elend lange dauert, muss mein Weblog jetzt dafür herhalten. Es wird insgesamt 14 Abschnitte geben, jeden Tag einen, das Ganze wird also über zwei Wochen laufen.

Ein Titel wollte mir bisher noch nicht einfallen, deshalb hab ich sie erst einmal nur nummeriert. Wer Ideen und Vorschläge hat, nur her damit! :)

Und jegliche Fragen, Kritik und Verbesserungsvorschläge sind natürlich auch herzlich willkommen!
(Vorsicht: Kann Spuren von Romantik und Kitsch enthalten)

1

Als das Mädchen erschien, hatte er gerade den letzten Schluck seines Milchshakes getrunken.
Er saß in einem Eiscafé auf dem größten und zentralsten Platz, den die kleine Stadt zu bieten hatte, an einem kippeligen Tisch, dessen Plastikbeschichtung weißen Marmor zu imitieren versuchte. Er bemerkte sie erst, als sie an den großen Brunnen in der Mitte des Platzes trat. Aus den dicken Backen eines kugeligen Fisches sprudelte unaufhörlich klares, kaltes Wasser in das steinerne Becken. Das Mädchen lehnte sich mit dem Bauch gegen die Brüstung, ihr Rücken wölbte sich dadurch ein Stück zu einem Hohlkreuz. Aus einer kleineren Tasche an der Seite ihrer Umhängetasche, die eigentlich für Handys bestimmt war, angelte sie mit Zeige- und Mittelfinger – mehr passten offenbar nicht hinein – einen zusammengerollten Briefumschlag. Weiß, mit einem durchsichtigen Folienfenster in der unteren Ecke. Es klimperte und klapperte, als sie ihn langsam entrollte, aber das Fenster erlaubte keinerlei Blicke auf den Inhalt, denn immer war eine ihrer Hände in seinem Sichtfeld. Um eben dieses Sichtfeld zu ändern, hätte er den Kopf bewegen müssen und er fürchtete, schief angeschaut zu werden. Oder als Beobachter aufzufliegen. Beides galt es zu vermeiden. Das Mädchen öffnete den Umschlag sehr langsam. Als sie versehentlich einen Schnipsel Papier abriss, warf sie ihn nicht einfach weg, wie vielleicht jeder andere es getan hätte, sondern steckte ihn in die große Bauchtasche ihres Pullovers.
Sie holte Münzen aus dem Umschlag, kleine glänzende Kupfermünzen. Der Größe nach wohl 1-Cent-Münzen. Eine nach der anderen ließ sie sie in den Brunnen gleiten, zwischen Daumen und Zeigefinger geklemmt. Sie warf sie nicht hinein, sondern tauchte die Kuppen der beiden Finger ein Stück unter die Wasseroberfläche, um die Münze dann loszulassen. Diese Prozedur wiederholte sie sehr langsam und sehr geduldig, nie nahm sie mehrere Münzen in die Hand oder schüttete sie gar aus dem Umschlag direkt ins Wasser. Gebannt schaute sie auf die spiegelnde Oberfläche, nie hob sie den Blick, als habe sie Angst, etwas könne sie von ihrem Ritual abbringen. Er wusste nicht, wie lange sie dort stand. Er wusste auch nicht, wie viele Münzen sie letztendlich in den Brunnen versenkte. Er wusste nur, dass es viele waren, sehr viele, und dass sie alle dieselbe Größe hatten.
Als sie fertig war, faltete sie den Umschlag zusammen und steckte auch ihn in ihre Bauchtasche. Dann hob sie den Kopf und schaute sich erstmals seit langer Zeit wieder um. Niemand sonst schien ihr Treiben bemerkt zu haben oder alle taten so, als hätten sie es nicht bemerkt. Sie drehte den Kopf, um einen Blick auf die große Uhr am Rathaus zu werfen. Für einen Moment konnte er ihr Gesicht sehen. Sie hatte grüne Augen, gefüllt mit einer Ernsthaftigkeit, die ihn erschreckte. Sie wirkte erwachsener, als sie aussah. Aber vielleicht bildete er sich das auch nur ein, weil sie so weit entfernt stand. Er überlegte, was er tun sollte, wenn sie ihn bemerken würde, aber sie tat es nicht. Steckte nur die Hände in ihre Bauchtasche, warf noch einmal einen Blick in den Brunnen, auf dessen Grund jetzt wohl viele kupferne Münzen schillerten und ging davon. Im Vorbeigehen warf sie den Umschlag und den Papierschnipsel in einen Mülleimer.
Er wäre sitzen geblieben. Hätte gewartet, bis eine der Kellnerinnen in den weißen Blusen sich genähert hätte, um seinen Milchshake zu bezahlen. Vielleicht hätte er Trinkgeld gegeben. Er wäre aufgestanden und seines Weges gegangen, so wie er es immer tat. Und das Mädchen auch. Er hätte sie nicht vergessen. Zumindest nicht gleich. Vielleicht hätte er jemandem von ihr erzählt. Von den Münzen, nicht von den Augen. So, wie er es immer tat, wenn sich ihm die Chance bot, neue Kontakte zu knüpfen, hier in dieser fremden kleinen Stadt. Ausweichen, davonstehlen. Sich nicht trauen. Wie immer eben.
Aber heute war etwas anders. Kurz, bevor das Mädchen seinen Blicken entschwand, bog es ab. In einen Hutladen. Einen Hutladen. Sein Herz tat einen Hüpfer, ein Kribbeln fuhr bis in seine Fingerspitzen. Wann war es das letzte Mal so einfach gewesen, einen Fremden anzusprechen? Er hatte etwas, das er diesen Menschen fragen konnte. Er musste nicht die üblichen Phrasen herunterdreschen, die man immer herunterdrosch, wenn man versuchte, Freundschaften zu schließen. Hallo, wie heißt du, was sind deine hobbys, schönes wetter heute, hast du haustiere, geschwister, wollenwirwaszusammenunternehmen. Er konnte sie fragen, warum sie das gemacht hatte. Warum sie so viele Münzen in diesen Brunnen geworfen hatte. Und nicht nur das, er konnte sie fragen, was für Münzen es gewesen waren und wie viele und warum sie sich so sehr auf das Hineinwerfen konzentriert hatte. Und das Beste: Er wusste mit keiner Silbe, was sie antworten würde. Er wusste es wirklich nicht. Er wusste nur, dass sie es bestimmt nicht nur aus Spaß getan hatte.
Diese Chance, sie lag vor ihm, er musste nur zugreifen. Er musste nur aufstehen und in diesen Hutladen gehen. Das Kribbeln wurde bald unerträglich. Er musste handeln. Und er handelte. Begann, in seinen Taschen zu kramen, holte sein Portemonnaie hervor, griff mit der ganzen Hand in das Fach mit dem Kleingeld, schüttete alles auf den runden Tisch mit dem Marmorimitat, ohne nachzuzählen, warf nur einen kurzen Blick, ob es dem zu zahlenden Betrag wenigstens nahe kam, dann sprang er auf, ohne den Stuhl wieder ordentlich hinzustellen und überquerte mit langen Schritten den Platz. Ihm fiel ein Spruch ein, den er einmal gehört hatte. Es gibt drei Dinge, die unwiederbringlich sind: Ein gesprochenes Wort, ein geschossener Pfeil und eine verpasste Gelegenheit. War der von Schiller? Oder von Goethe? Von Helmut Schmidt vielleicht? Er wusste es nicht mehr. War aber auch nicht so wichtig. Sein Herz pulsierte in seinem ganzen Körper, als er schließlich das Geschäft betrat.
Er brauchte nicht lange nach ihr zu suchen, sie stand nicht weit vom Eingang entfernt und hatte ihm den Rücken zugewendet. Von einer hinteren Ecke des Ladens konnte er eine Verkäuferin rumoren und kramen hören. Vorsichtig näherte er sich. Er bemerkte, dass ihr Pullover auf dem Rücken einen Aufdruck hatte. Eines der vielen Musikfestivals, vermutete er, der Druck war so rissig und verwaschen, dass er nicht mehr lesen konnte, wie es hieß, wann oder wo es stattgefunden hatte. Aber er ahnte, dass sie damals weit gereist sein musste, um zu diesem Festival zu gelangen und dass sie seitdem diesen Pullover so oft wie möglich und voller Stolz getragen hatte und ihn auch weiter tragen würde. Solange, bis der Stoff so dünn gerieben war, dass er sich auflösen würde.
Noch ein Stück näherte er sich. Ihm fiel auf, dass sie die breiten Bündchen an den Ärmeln bis über die Handflächen gezogen hatte. Nur die Fingerspitzen schauten noch heraus und die befühlten nun die vielen Hüte, die verschiedenen Stoffe, die Muster und bunten Hutbänder. Ganz sacht nur, als wären es Raritäten, die da vor ihr in das Regal gestopft und gestapelt lagen, wertvolle Exponate einer Ausstellung. Er holte tief Luft, zwang sich, nicht länger inne zu halten und stellte sich mit zwei großen Schritten neben sie an das Regal. Einen Moment überlegte er, ob er so tun sollte, als schaute er sich ebenfalls die Hüte vor sich an, entschied sich aber dagegen. Es waren ohnehin Damenhüte. Er streckte einen Finger aus. Den Zeigefinger seiner rechten Hand. Er wanderte langsam durch die Luft, unbehelligt, bis er auf den Stoff ihres Pullovers traf, wanderte noch ein bisschen tiefer, bis er die Haut darunter durchdrücken fühlte, kehrte dann schnell zurück zu seinem Besitzer unter den schützenden Jackenärmel.
Das Mädchen wandte sich zu ihm um. Er fühlte die grünen, ernsthaften Augen, wie sie zu ihm umschwenkten, ihn eingehend musterten, sehr genau. Sein Herz trommelte ununterbrochen. „Darf...darf ich dir eine Frage stellen?“ Sie nickte. Seine Finger nestelten am Saum seiner Ärmel. Jetzt oder nie. „Wieso hast du die vielen Münzen in den Brunnen geworfen?“
Sie lächelte und griff nach einem Strohhut. Ihre Finger fuhren den ausgefransten Rand der Krempe entlang. Sie setzte ihn auf. „Eigentlich“, sagte sie. „Eigentlich wollte ich das machen, sobald ich mit der Schule fertig sein würde.“ Sie blickte sich nach der Verkäuferin um. Als diese weiterhin nicht zu sehen war, fuhr sie fort. „Der Brunnen dort drüben“ Sie deutete in Richtung des großen Platzes vor der Eingangstür. „ist ein Glücksbrunnen. Es bringt Glück, wenn man eine Münze hineinwirft. Und weil man nach der Schule noch viel mehr Glück braucht als sonst, dachte ich mir, wenn ich hundert Münzen hineinwerfe, sollte es eigentlich für mein ganzes weiteres Leben reichen.“ Sie setzte den Hut wieder ab und legte ihn zurück an seinen Platz.
„Und wieso gerade hundert Stück?“ Er senkte die Stimme. Sie zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht.“
„Und...wieso...wieso eigentlich?“ Er flüsterte. Ihr Lächeln blieb, aber in ihren Augen veränderte sich etwas. Etwas legte sich über sie, ein grauer Schimmer, ein schwarzer Schleier. Traurigkeit. Erschöpfung. Wieder griff sie nach einem Hut und setzte ihn ihm auf den Kopf. Mit beiden Händen zupfte sie an der Krempe, bis er richtig saß. „Steht dir“, sagte sie. Dabei war es ein Schlapphut, ein gelber Schlapphut mit Plastikblumen und Schleifenbändern an der Krempe. Er sagte nichts. Er schaute sie an. Sie schaute zurück, er glaubte, ein Bitten in ihren Augen zu sehen, er konnte es nicht richtig deuten. Aber dann griff auch er nach einem Hut, ohne hinzusehen zog er einen aus dem Regal und setzte ihn ihr auf den Kopf. Auch er zupfte an der Krempe, bis er richtig saß. Es war ein Strohhut, ein Strohhut aus festem Stroh, mit einem runden Kopfteil und einer schmalen, geraden Krempe. Das Hutband war knallrot. „Sieht gut aus“, sagte er. Er musste an einen Comic denken, den er vor vielen Jahren gelesen hatte. Der Held darin trug genauso einen Hut. Den hatte er von seinem Ziehvater bekommen und hütete ihn wie einen Schatz. Er zog in die Welt um sich seinen größten Traum zu erfüllen. Er fand viele Freunde und hatte so ein unverschämtes Glück, dass er dem Tod gleich mehrmals von der Schippe sprang. Am Ende ging sein Traum in Erfüllung. Natürlich. Sonst wäre es ja auch kein Comic.
Er erzählte ihr die Geschichte von dem Comichelden und als sie lächelte, verschwand der schwarze Schleier, löste sich auf wie eine dicke Staubschicht, über die jemand gepustet hatte, zumindest ein bisschen. So ganz verschwand er wohl nie, dieser Schleier.
Sie drehte den Hut in den Händen. „Wenn das so ist, dann nehme ich ihn natürlich. Wer möchte schließlich nicht unverschämtes Glück haben.“ Er lächelte und schob den gelben Schlapphut zurück zu den vielen anderen. Sie deutete auf die vielen Plastikblumen an der Krempe. „Gefällt er dir etwa nicht?“, fragte sie. Zum ersten Mal lachte sie. Nicht besonders laut. Aber herzhaft.

Sie hatte ihre Worte ernst gemeint. Sie kaufte den Hut tatsächlich und setzte ihn auch sofort auf, obwohl die Sonne gar nicht schien und auch den ganzen Tag über noch kein einziges Mal hinter den Wolken hervorgelinst hatte. Aber sie brauchte schließlich unverschämtes Glück, dieses Mädchen, und da konnte man wohl nicht früh genug anfangen, zu sammeln.
„Ich heiße Lois.“, sagte sie, als sie wieder auf dem großen Platz standen. Sie streckte ihm die Hand entgegen. Sie zog vorher den Ärmel ein Stück zurück, sodass nun nicht länger nur die Fingerspitzen, sondern die gesamte Hand aus dem Bündchen herausschaute. Er griff danach. Ihre Haut fühlte sich rau an, rau und trocken, als hätte sie sie lange nicht eingecremt. „Ich bin Mads.“, sagte er. „Freut mich, Mads.“ Eine Weile sagte sie gar nichts, sondern schaute wieder, sehr genau, sehr eingehend, als wolle sie sich jedes Detail einprägen. Jedes einzelne. Er konnte sehen, dass sie kleine Fältchen um die Augen hatte. Ganz kleine, kaum zu erkennen. „Mads.“, echote sie. „Mads. Trägst du immer so viel Grün?“ Er blickte an sich herunter, als müsse er erst nachsehen, was er heute Morgen angezogen hatte. Obwohl das eigentlich überflüssig sein müsste. Er zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht.“, sagte er. Wahrheitsgemäß. Sie lächelte. „Du siehst aus wie ein Waldgnom.“ „Danke“ Wieder lachte sie. „Hättest du Lust, etwas zu unternehmen?“ Er nickte sehr langsam und versuchte dabei, sich nicht anmerken zu lassen, dass er soeben genau dieselbe Frage hatte stellen wollen. „Wir könnten einen Milchshake trinken gehen.“, schlug sie vor.
Er war sich nicht sicher, ob sie sein Zusammenzucken bemerkte. Zumindest war in ihrem Gesicht keine Reaktion ablesbar. Vielleicht mischte sich eine gewisse Amüsanz in ihr Lächeln, er konnte es nicht mit Sicherheit sagen. Aber wenn, dann war es eine freundliche Amüsanz. Wieder nickte er und ärgerte sich im selben Moment darüber. „Ok“, sagte er und ärgerte sich noch mehr. „Morgen? Um dieselbe Zeit?“ Sie blickte zur Rathausuhr. Er folgte ihrem Blick, gab es auf und nickte. „Gut. Dann bis morgen. Mach's gut.“ Sie deutete ein Winken an, lächelte kurz noch ein wenig breiter als sowieso schon die ganze Zeit über, dann wandte sie sich um und fing an zu laufen. Mads blieb stehen und sah zu, wie sie der schmalen Straße folgte, die sich zwischen den Häuserreihen entlangschlängelte, wie ihre Füße von Pflasterstein zu Pflasterstein fanden, ihre Arme mit jedem Schritt ein wenig den Stoff ihres Pullovers an der Hüfte streiften. Ihr Hutband bildete einen roten Kringel inmitten all der grauen Steine. Er blieb stehen, bis er verschwand, der Kringel. Und mit ihm dieses rätselhafte Mädchen. Von der Straße verschluckt.

Fadensucher

Autor:  lufie
über die osterferien haben phieke und ich ein hörbuch aufgenommen:
http://animexx.onlinewelten.com/fanfiction/audiobooks/36/

es ist noch nicht fertig, und wird wohl leider in naher zukunft auch nicht fertig werden, aber ich hoffe, dass wir nach dem abi dazu kommen, uns nochmal daran zu setzen. es ist zumindest als großer vorsatz vermerkt. :)

das aufnehmen hat wahnsinnig großen spaß gemacht, davon zeugen auch ein ganzer haufen outtakes, die jetzt noch auf meinem pc darauf warten, zusammengestellt zu werden. das schneiden war leider ziemlich öde, aber das ist schneiden ja immer. -.-

wer möchte, kann ja mal reinhören und danach auch gerne seine meinung hinterlassen. wir würden uns sehr darüber freuen. :)

Krakelig - Ausgearbeitet

Autor:  lufie
wie bereits angekündigt hier der vergleich zwischen der krakeligen und der ausgearbeiteten version meines bildes "u-bahn fahren":



ich kann mich immer noch nicht entscheiden, welches von beiden ich besser finde. in meiner galerie hochgeladen habe ich dann letztendlich die ausgearbeitete version - aber auch nur deshalb, weil sie mehr arbeit gemacht hat ^^°
hier ist übrigens noch eine dritte version:



bin mir noch nicht so sicher, ob es wirklich ein vorteil ist, dass man beim malen am pc beliebig viele zwischenschritte abspeichern kann...hätte ich das bild traditionell gemalt, hätte es nur eine version gegeben und mit der hätte ich mich irgendwie abgefunden und fertig -.-
naja.
wenn jemand möchte, kann er mir ja mal schreiben, welche version er am liebsten mag. ich würde mich sehr darüber freuen und es würde mir auch ein ganzes stückchen weiterhelfen :)

lg, luf

Wichteln

Autor:  lufie
Ich habe mich dieses Jahr dazu aufraffen können, an einer Wichtelaktion teilzunehmen, und werde deshalb kurz angeben, was ich alles mag, bzw. worüber ich mich freuen würde.

Ich besitze seit einiger Zeit einen eigenen kleinen Charakter. Er hat keinen Namen, nur den Ansatz einer Geschichte, aber ich zeichne ihn sehr gern und irgendwie ist er mir mit jedem Bild mehr ans Herz gewachsen.
So sieht er (ungefähr) aus:
Spoiler

Spoiler

Er hat schwarze kringelige Haare und gelbe Augen und ist immer im Doppelpack mit einer schwarzen Katze unterwegs. Außerdem trägt er eine Mütze mit zwei Knöpfen am Bund. Mehr nicht. Wenn jemand Lust hat, sich an ihm zu versuchen - ich fände es schön. Wenn nicht, ist auch nicht schlimm, ich freu mich über alles andere genauso. :)

Ansonsten mag ich:
Steampunk, krumme schiefe und verwinkelte Häuser, Jugendstil, schillernde Farben, aber auch herbstliche, pastellene Töne, Katzen, Pflanzen, blaue Augen in Verbindung mit dunklem Haar, Ringelstrumpfhosen, traditionelle Medien, Harry Potter (Luna Lovegood, Severus Snape), One Piece (Ruffy, Sanji), Bleach (Ulquiorra, Gin, Ichigo), Charming Junkie (Chihiro, Ichigo, Mihane), Drachenzähmen leichgemacht, Oben, Wall-e, diverse Ghiblifilme (Chihiros Reise, Mein Nachbar Totoro, Das wandelnde Schloss, ...),...wenn mir noch mehr einfällt, schreib ich es hier dazu.

Ich hoffe, ich konnte weiterhelfen und freu mich auf Weihnachten :D

Beitrag gegen das Pech

Autor:  lufie
Also gut…eigentlich hatte ich ja vor, mein Weblog nur dann zu verwenden, um anzukündigen, wenn ich in den Urlaub fahre, aber da Kazu-chanX prophezeit hat, dass ich 10 Jahre Pech haben werde, wenn ich diesen Beitrag nicht schreibe, werde ich mein Weblog dann doch dafür missbrauchen müssen ;PP

(A.) Liste sieben Fakten über dich auf.
(B.) Tagge sieben deiner Freunde, die dasselbe machen sollen.
(C.) Tagge nicht denjenigen, der dich bereits zuvor getaggt hat.
(D.) Schreibe nicht, dass du jeden taggst, der "gerade Lust dazu hat".

1. Ich besitze eine Katze, die nach Kleber süchtig ist und deshalb ständig an Klebeband und Fliegenfallen schleckt.

2. Ich zeichne leidenschaftlich gern, es ist eigentlich ein Wunder, dass der Zeichenstift und meine rechte Hand noch nicht miteinander verwachsen sind. (Könnte man das dann eigentlich als Symbiose bezeichnen?)

3. Ohne mindestens ein Tuch um meinen Hals fühle ich mich unwohl.

4. Unter den Phlegmatikern bin ich vermutlich einer der phlegmatischsten.

5. Ich führe oft Selbstgespräche und werde deshalb mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit nicht an einem Herzinfarkt sterben.

6. Ich bin der einzige Mensch, den ich kenne, der ständig Schluckauf hat.

7. Ich bin meistens eher zu leise als zu laut.

So…und wenn ich jetzt noch einen achten Fakt über mich schreibe, muss ich keine Freunde taggen:

8. Meine Augen haben eine undefinierbare Farbe und ich bekomme allmählich den Eindruck, dass sie ständig wechselt.

Bitteschön Kazu, ich hoffe, ich konnte dich zufrieden stellen. ;)

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