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Snowdrops and Chocolate

Die Fortsetzung des gleichnamigen Doujinshi
von

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Was bisher geschah...

Willkommen und herzlichen Dank für Euer Interesse an „Snowdrops and Chocolate“!
 

Bevor ich Euch in den großen Lesespaß entlasse, muss ich Euch noch etwas verraten: die Geschichte beginnt nicht an dieser Stelle.

Vor etwa zweieinhalb Jahren habe ich „Snowdrops and Chocolate“ als Manga begonnen. Inzwischen habe ich leider nicht mehr so viel Zeit, dass ich regelmäßig an der Geschichte weiterzeichnen kann. Aus diesem Grund werde ich sie als Fanfic fortsetzen.

Die ersten viereinhalb Kapitel von „Snowdrops and Chocolate“ findet ihr also als Doujinshi bei meinem Account. Ein Link dazu befindet sich auf der Übersichtsseite. ^^

Falls Ihr Euch meine alten Kritzeleien (SaC war mein allererster Manga) nicht antun wollt, liefere ich im Folgenden eine Zusammenfassung der ersten Kapitel.
 

Zalei sind Schamanen. Wenn ein Mensch geboren wird, der die Gabe eines Zalei hat, kommt im selben Augenblick irgendwo auf der Welt ein Tier zur Welt, mit dem sein Schicksal verbunden ist. Wenn dieser Mensch seinen Tier-Partner, seinen Carn, findet, kann er ein richtiger Zalei werden. Nach einem geheimen Ritual ist er untrennbar mit seinem Carn verbunden. Der Tod des Einen bedeutet den Tod des anderen.

Abgesehen vom Weihe-Ritual müssen sich angehende Zalei auch einer harten Ausbildung unterwerfen. Nach dem Abschluss der Ausbildung muss sich ein Zalei dann einen eigenen Schüler nehmen. Zalei dürfen aus Sicherheitsgründen nie allein sein.
 

Kei Chiharu (18 Jahre) ist zu Beginn der Geschichte noch ein ganz normaler Jugendlicher, der sich gerade mit der Vorbereitung seiner Abschlussprüfungen herumplagt.

Eines Tages erfährt er, dass sein Mitschüler Yuki Natsukori (19 Jahre) Zalei ist. Natürlich muss er sich das erst beweisen lassen. Doch er sieht, dass Yuki ein Zalei und seine Fledermaus Minuit sein Carn ist.

Wegen Yuki zerstreitet sich Kei mit seinem besten Freund Atari Kizuta (19 Jahre). In den folgenden Wochen freundet Kei sich zunehmend mit Yuki an.

Irgendwann kommt natürlich was kommen muss. Yuki bittet Kei, sein Zalei-Schüler zu werden. Und Kei sagt sofort zu.

Der Rat der Zalei erteilt nach einigem Hin und Her schließlich auch seine Einwilligung. Mit Yukis Hilfe findet Kei seinen Carn. Ein Fuchs, den er Robin nennt.

Da Zalei nicht allein leben dürfen, ist Kei gezwungen, in die Zalei-WG einzuziehen, in der Yuki lebt. Sie besteht aus Yukis älterem Halbbruder Ryu Fuyutaka (21 Jahre), dessen Schülerin Kiku Aki (17 Jahre) und den Carn. Ryus Carn ist ein Esel namens Sleipnir, Kikus ein Totenkopfäffchen namens Jack.

Kei überrascht schon nach kurzer Zeit die anderen mit seinem ungewöhnlich starken Talent als Zalei.
 

Soviel zur Grundgeschichte.

Im Moment befinden sich Kei, Yuki, Ryu und Kiku im Café Cardinal. Hier findet im Rahmen eines Pärchenabends ein Konzert der Band „Black Cerise“ statt. Die Karten haben die vier vom Zalei-Tierarzt Pierre Loire bekommen. Der wiederum hat die Karten ebenfalls geschenkt bekommen, verzichtet aber auf das Konzert, weil im Cardinal jemand sein wird, den er nicht sehen will.

Da nun eben Pärchenabend im Cardinal ist, hatten die vier schon einige Probleme mit dem Türsteher. Ryu und Kiku sind als Paar problemlos durchgelassen worden. Kei und Yuki konnten ihn aber letztendlich doch überzeugen, dass sie beide ebenfalls ein Paar sind. (An dieser Stelle sollte ich vielleicht erwähnen, dass Yuki vom anderen Ufer ist .__.).

Sie haben eben das Café Cardinal so eben betreten.

Café Cardinal

Café Cardinal
 

„Willkommen im Café Cardinal. Ich begleite Sie zu Ihrem Tisch.“

Die Bedienung, ein Mädchen wohl etwa in Keis Alter, lächelte sie freundlich an. Pechschwarze Strähnen umrahmten das Gesicht, aus dem wunderschöne blau-grüne Augen strahlten. Mit der Rechten bedeutete sie den Vieren, ihr in den Saal zu folgen.

„Taki-chan!“ hörte Kei hinter sich plötzlich Kiku freudig ausrufen. Und sofort antwortete die Bedienung mit einem ebenso freudigen „Kiku-chan!“.

Im Folgenden warfen sich die beiden Mädchen einander in die Arme und Kiku drückte Taki einen kleinen Kuss auf die Wange. Kei hatte noch nie verstanden, warum Mädchen so etwas taten. Aber angesichts der Szene, die sich gerade am Eingang ereignet hatte, hielt er es für angebracht, sich jede Art von Kommentar zu verkneifen.

„Ich wusste gar nicht, dass du im Cardinal jobbst.“

„Na ja, das Leben ist teuer... vor allem mit so einer Schwester wie meiner.“

„Das ist Taki Hisui, eine Freundin aus der Schule.“ wandte sich Kiku schließlich wieder ihren Begleitern zu.

Es folgte eine kurze Vorstellung und Begrüßung aller Anwesenden. Hier bot sich Taki erneut die Möglichkeit, ihren Gegenübern ihr niedliches Lächeln zu schenken.

„Ich setze Euch an einen Vierertisch, in Ordnung?“

Sie führte die Gruppe an einen runden Tisch in der vorderen Hälfte des Saals. Von hier aus hatte man einen perfekten Blick auf die Bühne. Jetzt wurde Kei auch richtig bewusst, dass „Pärchenabend“ war. An jedem einzelnen Tisch saß ein Paar, das kaum die Finger von einander lassen konnte. Die einen konnten nicht mehr essen, weil sie ständig Händchen halten mussten, die anderen weil sie sich dauernd küssen mussten. Am besten hatten es wohl die, die unterm Tisch füßelten. Sie hatten wenigstens noch die Hände frei.

Kei, Yuki, Kiku und Ryu setzten sich.

„Im Eintritt ist ein Welcome-Cocktail inbegriffen. Was darf ich Euch bringen?“

Kiku musste nicht lange überlegen, was ihr Lieblingscocktail war. Yuki dagegen schon einige Minuten, die wiederum nutze Ryu, um seine Bestellung aufzugeben. Und Kei bemühte sich nach Leibeskräften, die Frage so lange wie möglich zu ignorieren. Schließlich wandte sich Taki aber doch direkt an ihn, so dass es kein Entrinnen mehr gab.

„Egal. Ich vertrag sowieso gar nichts.“ Seufzte er resignierend.

Taki lachte kurz und verabschiedete sich dann.

„Echt? Gar nichts?“ wollte Yuki natürlich sofort wissen.

„Überhaupt Null Komma Null gar nichts.“ Bestätigte Kei noch einmal verlegen.

Wenn es nicht so wäre, wäre ihm sicher ein peinlicher Moment vor zwei Jahren auf der Klassenfahrt erspart geblieben. Aber es war nun einmal so.

Nach einer Weile kam Taki auch schon wieder zurück. Sie balancierte geschickt ein Tablett mit vier Gläsern.

Kei hatte nicht die geringste Ahnung, was für einen Cocktail sie ihm ausgesucht hatte. Aber er schmeckte sehr lecker, gefährlich lecker. Ein bisschen nach Zitrone und Erdbeeren, aber doch nicht zu süß.

„Gleich beginnt das Konzert. Ich wünsche Euch viel Spaß dabei.“

Taki verbeugte sich knapp und wandte sich wieder zum Eingang, um die nächsten Gäste zu begrüßen.

„Wer tritt denn auf?“ erkundigte sich Kei, zugegeben sehr früh.

„Black Cerise.“ Antwortete Ryu, den Blick schon auf die Bühne gerichtet.

„Die Mega-Stars von morgen.“ Fügte Kiku breit grinsend hinzu.
 

Das Licht im Saal wurde schwächer. Nur noch die kleinen Lampen an den Wänden des Cafés erhellten den Raum etwas. Man konnte sagen, das Licht war gerade ausreichend, um noch zu erkennen was man gerade aß.

Im selben Moment, in dem der Saal vom Klang einer E-Gitarre erfüllt wurde, schalteten sich auch ein paar Scheinwerfer vorne an der Bühne an. Erst jetzt konnte man sehen, dass die Band schon eine ganze Weile auf der Bühne gestanden hatte. Das Stück begann mit einem Gitarren-Solo. Dann setzte eine tiefe, wohlklingende Frauenstimme ein.

„A nightly wind plays in trees whose leaves reflect the pale moon´s light. The night´s a shadow hunted by stars. Where is a shadow as dark as my heart´s?“

Während sie sang, trat sie langsam aus dem Dunkel und an den vorderen Teil der Bühne. Sie trug ein knappes, schwarzes Kleid, hohe Stiefel und lange Ohrringe, die im Scheinwerferlicht aufblitzten, wenn sie den Kopf drehte. Ihr langes, blondes Haar folgte geschmeidig ihren Bewegungen.

Pünktlich zum Refrain begann auch der Schlagzeuger seine Arbeit. Ganz schön harte Beats, wenn man bedachte, dass hier gerade ein „Pärchenabend“ stattfand. Da hätte Kei eher mit romatischer Schnulzmusik gerechnet. Er war angenehm überrascht. Pierre hatte nicht gelogen. Das Konzert war wirklich sehr gut.

Erst beim zweiten Song schaffte Kei es endlich, seinen Blick von der Sängerin loszureißen. Man konnte es drehen wie man wollte, aber er war eben doch nur ein Kerl. Einmal hatte er sogar das Gefühl gehabt, dass die Sängerin in seine Richtung zwinkerte. Jetzt aber bemerkte er erst den Gitarristen. Er kannte ihn, wenn auch nicht im Muscleshirt und zerrissenen Jeans.

„Das ist doch... der aus dem Rat, oder?“

„Ja, Lan Sekiei.“ Nickte Yuki.

Dann herrschte wieder Stille. Ihre Blicke waren auf die Bühne gerichtet. Das änderte sich erst, als Kei Kikus Stimme hörte, die sich offensichtlich an ihn richtete.

„Ihr hockt neben einander wie die Hühner auf der Leiter. So hält euch aber keiner für ein Paar!“

„Muss ja auch keiner.“ Zuckte Kei mit den Schultern. „Wir sind ja schon drin.“

„Sei doch nicht so schüchtern! Steh ruhig dazu!“ lachte sie.

„Nochmal zum Mitschreiben: Ich- bin- nicht- schwul.“

„Schon klar. Alle Beweise sprechen gegen dich. Oder wie war das vor zwei Jahren in Paris? Die Stadt der Liebe...“

„Also doch! Die Fotos waren nur...“

„Hi!“

Kei konnte seinen Satz nicht beenden. Lan hatte die Bühne verlassen und stand nun direkt vor ihrem Tisch.

„Oho! Der große Star traut sich ins Publikum. Hast du keine Angst, dass dich die Heerscharen deiner Fans entführen?“ witzelte Ryu.

„Klar. Aber ich muss mir doch noch ein paar Groupies aussuchen, die ich nachher in die Umkleide entführe. Wie wär´s mit uns, Süßer?“

„Nein, danke. Dein Angebot ehrt mich. Aber ich hab Angst vor Miyuki.“

Kei beobachtete die Szene amüsiert. Er lebte jetzt schon fast einen ganzen Monat in der WG. Aber so un-ernst hatte er Ryu bis jetzt noch nie erlebt. Sonst war der immer der Ruhepol in der Runde, sowas wie der Erwachsene, der sich um die Kinder kümmerte und alles managte. Kei war irgendwie beruhigt zu sehen, dass auch Ryu ein ganz „normaler“ Jugendlicher sein konnte.

„Ryu und Lan sind seit der Ausbildung befreundet. Sie waren beide Schüler von Meister Adoy.“ flüsterte Yuki Kei zu, als er dessen Blick bemerkte.

„Was macht deine Ausbildung? Alles ok?“ wandte sich Lan nun an Kei.

„Ich denke schon. Aber das müsste wohl mein Lehrer beurteilen.“

„Er ist großartig. Kei kann sogar schon den Körpertausch alleine.“ berichtete Yuki stolz.

„Echt? Nach einem Monat schon? Das ist toll!“ Lan wirkte echt beeindruckt. Das machte Kei wiederum etwas verlegen. Immerhin hatte Yuki ihm ja damals im Rat erzählt, dass Lan der bisherige Rekordhalter bezüglich Ausbildungsdauer war. Länger als eine Woche hatte er sicher nicht gebraucht, um den Körpertausch zu lernen.

„Ich hab dir was mitgebracht.“

Lan gab Kei ein Buch, sofern man es nicht besser als „Broschüre“ bezeichnete. Besonders dick war es nicht.

„Es ist ein Buch, das wir ursprünglich für Außenseiter geschrieben haben. Aber für Schüler finde ich es auch sinnvoll.“

Kei blätterte ein wenig darin.

„Ein Buch über Zalei. Danke!“

„Theorie muss leider auch sein.“ Lächelte Lan und zündete sich eine Zigarette an.

Jetzt überflog Kei das Inhaltsverzeichnis. In dem Buch wurde alles erklärt von der Geschichte der Zalei über das Leben in der Öffentlichkeit bis hin zum Aufbau des Rates. Mit anderen Worten: Alles, was er sich bisher nicht getraut hatte zu fragen.

„Glaubst du, Onyx findet es toll, wenn du deine Gesundheit ruinierst?“ Das war schon eher der übliche kluge Ton, den Kei von Ryu gewohnt war.

„Das geht ihn nichts an.“ gab Lan gleichgültig zurück und zog erneut an seiner Zigarette.

„Doch. Wenn du an Lungenkrebs stirbst, trifft´s ihn auch.“

„Er hat mich auch nicht gefragt, ob er in eine Brücke einbrechen darf.“

„Das kann man wohl kaum vergleichen...“

„Als Zalei lebt man eh zu kurz, um sich über so was Gedanken zu machen. Dann sterb ich eben ungesund. Na und?“

„Da stimme ich dir nicht zu.“

Dieses Gespräch gefiel Kei schon weitaus weniger. Nicht nur der Ton, in dem die beiden Freunde mit einander redeten, sondern auch der Inhalt. Lan meinte also, ein Zalei hatte keine hohe Lebenserwartung. Das hatte Kei zum erstenmal gehört. Natürlich wusste er, dass Zalei und Carn in Leben und Tod verbunden waren. Aber Meister Adoy war ja auch unglaublich alt... zumindest sah er so aus.

Kiku riss ihn wieder aus seinen Gedanken. Sie hielt Kei ihren Cocktail unter die Nase und wollte ihn unbedingt mal probieren lassen. Immerhin war das der beste Cocktail der Welt (oder so ähnlich).

„Themawechsel.“ Lan atmete laut aus. Ein Rededuell mit Ryu hatte er noch nie gewonnen. „Monsieur bequemt sich heute nicht her?“

„Nein. Er hat uns seine Karten vermacht.“

„Hab ich mir fast gedacht. Diese Zicke! Dabei wollte ich mit ihm reden.“

„Ach so! Dann bist du also der, den er ‚nischt se´en‘ wollte.“ Kam die Erkenntnis über Kei.

„Hat er das gesagt? Wir haben... etwas differierende Vorstellungen über die Tätigkeit unseres Rates. Deshalb.“

„Und Lan hat ihn abblitzen lassen.“ ergänzte Kiku lachend.
 

Schweigen senkte sich über den Tisch. Die einzigen Geräusche waren Kikus leises Summen mit der Musik, die zwischen den Auftritten von Black Cerise gespielt wurde, Keis Cocktail-Schlürfen und Lans Aushauchen von Zigarettenrauch. Doch nach ein paar Minuten wurde die Stille von einem Räuspern unterbrochen.

Kei blickte auf. Noch ein Mega-Star von morgen hatte sich an ihren Tisch gewagt. Die hübsche Sängerin war neben Lan getreten. Sie hatte die linke Hand in die Hüfte gestützt, die rechte auf Lans Schulter gelegt.

„Black Cerise suchen dringend einen Gitarristen. Hättest du kurz Zeit?“

„Für dich immer, Darling.“ Lächelte er, während er seine Zigarette ausdrückte.

„Danke, Schätzchen.“ erwiderte sie sein Lächeln.

Lan verabschiedete sich bis später, bevor er in Richtung Bühne verschwand. Davor kündigte er den Vieren aber an, dass sie in wenigen Minuten den neuen Nummer 1-Hit von morgen hören würden, den neuen und alles bisher dagewesene in den Schatten stellenden Song von Black Cerise.

Die Sängerin, Miyuki Yamada wie Kei nun endlich erfuhr, begrüßte die vier Gäste, vor allem Ryu, und wünschte ihnen einen schönen Abend, bevor sie Lan folgte.

Wenig später erfüllte Miyukis sanfte Stimme wieder den Raum, im Intro noch ohne instrumentale Begleitung. Der neue Song klang ruhiger als die vorherigen und irgendwie traurig. Miyukis Stimme zitterte etwas und ließ sie völlig verloren wirken, da oben auf der Bühne, im Zentrum der einzigen Lichtquelle im Saal.

Aber nach ein paar Versen gewann sie ihre Stärke wieder, mit einer Demonstration ihres ganzen Klangspektrums über mindestens zwanzig Oktaven ging Miyuki vom Intro in die erste Strophe über. Nun erhielt sie auch massive Unterstützung von Lan und dem Schlagzeuger. Von „traurig“ oder „Ballade“ war nichts mehr zu hören. Der eigentliche Song war total rockig.

„You´re my bird in a golden cage. You´re to sing me sweet love songs. Sing, darling. Sing for me! – You can still fly away tomorrow.“

Der Auftritt gewann an zusätzlichem Reiz durch Miyukis Tanzeinlage. Dieser Hüftschwung zog vermutlich die Aufmerksamkeit von so mancher männlichen Paarhälfte auf sich.

Den Refrain sagen Miyuki und Lan gemeinsam. Ihre Stimmen harmonierten perfekt. Wunderschön. Über Keis Unterarme breitete sich eine Gänsehaut aus.

„And so I whisper in your ear: Please don´t leave me alone tonight. I´m a desperate girl. And that´s my desperate wish. You can still be free tomorrow.“
 

„Der neue Song ist schön.“ Hauchte Kiku genußvoll.

Sie schmiegte sich an Ryu, der ganz selbstverständlich den Arm um ihre Schultern legte. Kiku hatte den Kopf gegen Ryus Nacken gelegt und die Augen geschlossen. Ob sie nun den neuen Song oder die gesamte Situation genoss...?

„Sag mal...“ flüsterte Kei zu Yuki. “Sind die beiden jetzt eigentlich zusammen oder nicht?“

„Tja. Ich bin mir nicht ganz sicher. Vermutlich wissen sie das selbst nicht so genau.“ er hob ahnungslos die Schultern.

Über fünf Minuten dauerte „Desperate Girl“. In dieser Zeit herrschte ansonsten überall im Saal andächtiges Schweigen. Sogar die Bedienungen bekamen ein verärgertes „Psssst!“ zu hören, wenn sie die Gäste nach Bestellwünschen fragten. Alle Blicke waren wie gebannt auf die Bühne gerichtet.

Vermutlich irgendwann während der letzten Strophe, hob Kiku etwas den Kopf und warf Kei einen kontrollierenden Blick zu. Sie grinste und bedeutete ihm unauffällig, er solle doch endlich etwas näher zu Yuki rücken.

„You´re the drug that I abuse. You´re to make me high and higher. Kill me, darling. Kill me now!“

Entsetzt schüttelte Kei heftig den Kopf. Das würde ihm im Traum nicht einfallen!

Kikus Grinsen wurde breiter. Mit neuen Gesten wollte sie Kei inspirieren, den ersten Schritt zu machen. Kei verstand nicht was sie genau sagen wollte und er wollte es auch nicht wissen. Verärgert leerte er seinen Cocktail in einem Zug und setzte das Glas laut wieder auf den Tisch.

Kiku hatte dieses Zeichen wohl verstanden. Doch ihr Grinsen wurde nur noch breiter. Jetzt wurde sogar Ryu auf die wortlose Kommunikation der beiden aufmerksam. Verlegen wandte sich Kei sofort wieder der Bühne zu, als sein Blick den von Ryu kreuzte. Kiku dagegen streckte den Hals etwas und flüsterte Ryu irgendetwas ins Ohr, was Kei nicht verstehen konnte. Danach lachten beide leise und sahen sich weiter das Konzert an.

Nur gelegentlich drehte sich Kiku zu Kei und Yuki um. Doch zu ihrer Enttäuschung musste sie jedesmal erneut feststellen, dass die beiden noch immer dasaßen wie Fremde auf einer Parkbank.

Es folgten vier weitere, phänomenale Songs von Black Cerise. Das Konzert war einfach großartig, nach jedem Titel gab es rasenden Beifall vom Publikum. Die Band hängte sich aber auch „voll rein“. Miyuki, Lan und der Schlagzeuger gaben ihr Bestes und kamen entsprechend ins Schwitzen.

Und ihre Bewegungen wurden unkoordinierter. Man konnte fast sagen, sie flimmerten... oder nein, das war nur das Bild vor Keis Augen, das langsam verschwamm. Er rieb sich die Augen. Besser, aber leider nicht für lange Zeit. Bald begann alles wieder, sich zu drehen.

„Alles klar?“ flüsterte Yuki ihm besorgt zu.

„Hmh... Ich sag ja, ich vertrag nichts.“

„Kann ich was für dich tun?“

„Nein... Ich glaub, ich geh mal kurz an die frische Luft.“

Beim zweiten Versuch konnte Kei aufstehen, mit einer Hand auf dem Tisch abgestützt. Dann drehte er sich schwungvoll um und wankte gen Terrassentür. Yuki sah ihm mit unwohlem Gefühl nach. Er stand wirklich kurz davor, Kei zu folgen. Doch diesen Job übernahm bereits Kiku.
 

Die Terrasse war bereits gut besucht von Pärchen, die sich von der Masse im großen Saal absetzen wollten. Inzwischen war es ganz dunkel geworden. Im Schein der Laternen erkannte man nur grob ihre Umrisse.

Kei setzte sich etwas unsanft auf die oberste Stufe der kleinen Steintreppe, die von der Terrasse auf einen kleinen Platz führte, auf dem bei Tage Tische standen. Kiku ließ sich wenig später neben ihm nieder.

„Was machst du denn hier?“

„Auf dich aufpassen. Ich bin im Schulsanitätsdienst.“

„Seh ich vielleicht so aus, als bräuchte ich einen Schulsanitätsdienst?“

Kei war Kikus Gegenwart hörbar unangenehm. Immerhin war sie die einzige in der WG, die bei jeder Gelegenheit auf ihm rumhackte. Es ärgerte ihn, dass sie ihn in diesem Zustand sah.

„Wenn du mich so fragst, ja.“ Sie grinste.

Schweigen. Stumm saßen Kei und Kiku neben einander auf den Stufen und starrten in die Ferne. Umgeben von liebesflüsternden Paaren in einer sternklaren Sommernacht. Vom großen Saal drangen noch leise die Songs von Black Cerise. „I am free – I´m leaving paradise“ oder so ähnlich.

„... ganz schön viele Sterne...“ begann Kei irgendwann vor sich hinzumurmeln. „... und aaaaaaaaaalle drehen sich...“

Um diese Tatsache so deutlich hervor zu heben wie möglich, verdrehte Kei passend dazu den Kopf. Als ob es dazu führen würde, dass die Himmelskörper wieder ihre angestammten Plätze einnehmen würden. Was sie natürlich nicht taten. Kiku hörte lächelnd, aber aufmerksam zu.

Schließlich saß Kei wieder ruhig da, legte aber den Kopf zur Seite, als er bemerkte: „... sogar der Mond...“.

Kiku lächelte freundlich, kommentierte Keis Gebrabbel aber in keiner Weise.

„Kennst du den Unterschied zwischen einem Stern? – Je näher, desto leucht.“

Erst als Kiku sogar diesen – tollen – Witz weder mit einer Bemerkung, noch mit Lachen würdigte, sah sich Kei nach ihr um. Zu seinem Erstaunen, insoweit er trotz Cocktail erstaunt sein konnte, lächelte sie ihn sehr freundlich an. Ein Gesichtsausdruck, den Kei sonst eher im Profil bei ihr sah, wenn sie Ryu gegenüberstand. Erstaunlich, doch Kiku sah richtig hübsch aus, wenn sie lächelte. Aber warum lächelte sie ihn jetzt an?

„Was?“

„In vino veritas. Ein weiser Mann hat mal gesagt, wenn du einen Menschen wirklich kennenlernen willst, musst du ihn betrunken sehen. Menschen zeigen dann ihren wahren Charakter.“

„Und jetzt siehst du erst wie toll ich eigentlich bin?“

„Du überraschst mich. Ich hätte nicht gedacht, dass du so albern werden würdest.“

Kei war sich nicht ganz sicher, ob das ein Kompliment gewesen sein sollte. Aber seine Gedanken waren ohnehin nicht mehr so geordnet, dass er ernsthaft darüber nachdenken konnte. Also richtete er seinen Blick wieder auf die Sterne, die wie irre Glühwürmchen immer wieder ihre Plätze tauschten.

Kiku dagegen wandte ihren Blick nicht ab. Eine Weile beobachtete sie Kei noch wortlos. Eine Weile, in der ihr Ausdruck langsam von amüsiert lächelnd in nachdenklich ernst überging.

„Kei...?“

„Hmh?“

„Yuki mag dich wirklich... Was denkst du über ihn?“

„Ich mag ihn.“ Nickte Kei leicht, ohne den Blick zu senken.

„Und... Atari-kun?“

Gespannt wartete Kiku auf die Antwort auf diese Frage. Und Kei reagierte auch sofort. Sein Blick trennte sich vom Himmel, wanderte kurz über Kikus Gesicht und schließlich auf den Fußboden vor ihnen, wo er verharrte.

„Atari war mein bester Freund... wie´s aussieht.“

Kikus Züge hellten auf. Sie erhob sich.

„Also, dann! Wenn das so ist, werde ich...“

Sie sprach nicht weiter und ihr Lächeln verschwand auch wieder. Kei ging es offensichtlich schlechter. Er war zusammengesunken und hielt sich den Kopf.

„Kei?! Was ist los?“

Besorgt hatte Kiku sich gleich vor ihn hingekniet und versuchte herauszufinden, was ihm fehlte. Ihre eine Hand lag auf Keis Schulterblatt. Mit der anderen versuchte sie, seine Hand von der Schläfe zu nehmen, um sein Gesicht sehen zu können.

Kei hatte die Augen zusammengekniffen. Sein Atem ging schwer und ungleichmäßig. Er zitterte am ganzen Körper. Kam das nur vom Alkohol?

„Mir ist... schwindelig... Weiß nicht...“
 

Ryus zog laut ausatmend sein Handy aus der Jackentasche. Ein Glück, dass er das Klingeln überhaupt gehört hatte, bei der lauten Musik. Auf dem Display sah er, dass keine andere Wahl hatte als abzunehmen.

„Ja? Meister?... Nein, Lan kann nicht... Nein, heute werde ich ihn nicht von der Bühne zerren... Nein, heute nicht... Gut. Ja, ich gehe. Mit wem?.... Ryami Hisui, in Ordnung... Bis gleich.“

Kaum dass er aufgelegt hatte, atmete er erneut laut aus.

„Meister Adoy?“ fragte Yuki und Ryu bestätigte nickend.

„Ja. Ein neuer Auftrag.“

„Meine Schwester auch...?“ flüsterte Taki heiser, die zufällig an ihrem Tisch vorbeigekommen und stehengeblieben war, als sie etwas von „Meister“ gehört hatte.

Doch Takis Frage blieb unbeantwortet. Kiku rannte in heller Panik und atemlos durch die Terrassentür in den großen Saal und bis zu ihrem Tisch. Unterwegs warf sie eine Bedienung und drei Gäste um. Doch in ihrer Aufregung nahm sie das kaum war.

„Yuki! Du musst sofort mitkommen!“ schrie sie mit weit aufgerissenen Augen.

„Ist was passiert?“

„Ja! Kei braucht deine Hilfe! Schnell!“

Auch wenn er keine Ahnung hatte, was passiert war, sprang Yuki sofort auf und rannte hinaus. Wenn es um Kei ging, brauchte er keine zweite Aufforderung.

Kiku und Ryu folgten.
 

Auf der Terrasse angekommen wurde Yuki gleich klar, was passiert war. Blumentöpfe waren umgeworfen und zerbrochen. Die Pärchen, die eben noch ausgiebig Liebeleien ausgetauscht hatten, waren bis an den äußersten Rand der Terrasse zurückgewichen. Die Nacht wurde von Schreien und Fauchen erfüllt, die an den Hauswänden widerhallten.

Kei hatte sich offensichtlich im betrunkenen Zustand nicht mehr konzentrieren können und versehentlich das Bewusstsein mit Robin, seinem Carn getauscht. Eine Gefahr, die leider bei Zalei-Neulingen bestand.

Yuki konnte Kei nicht sofort sehen. Die Laternen warfen zu schwaches Licht in den Hof. Doch nachdem das Geräusch der umstürzenden Tische ihn verraten hatte, erkannte Yuki auch Keis Silhouette unklar auf dem Platz. In einem Satz ließ er trotz der hohen Absätze die kleine Treppe hinter sich und stürzte auf seinen Schüler zu.

Kiku stand immer noch atemlos neben Ryu in der Terrassentür. Ihre Finger hatten sich in seinen Ärmel gegraben. Sie zitterte.

Ein Schrei. Wahrscheinlich Keis Stimme. Das Geräusch von Metall, dass auf Stein schlug. Wahrscheinlich Gartenstühle, die umfielen. Wimmern der anderen Gäste. Metall, das auf Stein schlug. Ein Schrei. Knurren. Rascheln. Knacken von Ästen. Keramik, die zersprang. Klirren von Scherben.

Es war zu dunkel, um irgendetwas erkennen zu können. Nur hin und wieder sah Kiku Yukis weißes Haar im Dunkel aufleuchten. Sie zitterte, hatte Angst. Aber sie konnte sich nicht bewegen.

„Warte hier.“ Hatte Ryu zu ihr gesagt, bevor er Yuki zu Hilfe gekommen ist. Also wartete sie. Das Abenteuer heute Nachmittag im Garten hatte ihr gereicht. So lange Kei Robin nicht besser unter Kontrolle hatte, war er gefährlich.
 

Schließlich wurde es still. Ganz still.

Kiku erwachte aus ihrer Starre. Während die Gäste um sie herum in ängstliches Getuschel ausbrachen, lief sie in den Hof, von wo die Geräusche gekommen waren. Ihr Herz schien bis zum Hals zu klopfen.

Dann sah sie sie. Alle drei. Und sie waren anscheinend ok. Kiku verlangsamte ihren Schritt.

Kei war bei Bewusstsein. Etwas benommen, er lag mehr auf dem Platz als er saß, aber er atmete wieder normal. Yuki kniete neben ihm und hielt ihn im Arm.

Ryu ließ Keis Arm los und stand auf. Offensichtlich war diesmal Ryu die Aufgabe zugefallen, Kei festzuhalten. Alle drei hatten hier und da ein paar Schürfwunden und Kratzer. Aber im Großen und Ganzen schien niemand ernsthaft verletzt zu sein. Kiku atmete erleichtert auf.

„Kei? Wie geht´s dir?“ fragte Yuki besorgt, obwohl er die Antwort bereits kannte.

Mehr als „Hmh...“ konnte Kei ohnehin nicht mehr antworten, bevor er noch tiefer in Yukis Arme sank. Er fühlte sich, als wäre jede Kraft aus seinem Körper gewichen. Er hätte keinen Finger mehr rühren können. Eine Müdigkeit, wie er sie nie gekannt hatte, breitete sich in ihm aus.

„Jetzt weißt du jedenfalls warum Zalei nie allein leben dürfen. Es ist sehr gefährlich...“ flüsterte Yuki nachdenklich, den Blick auf Keis blasses Gesicht gerichtet.

„Kei.“ Kiku beugte sich etwas zu ihm herunter und lächelte. „Was ich vorhin sagen wollte. Ich hab mich entschlossen, dir zu helfen. Ich werde eure Liebe unterstützen.“

Was sie damit sagen wollte, verstand wohl keiner der Anwesenden. Yuki und Ryu konnten nicht wissen, worüber ihre beiden Schüler vorhin gesprochen hatten und was Kiku meinte.

Und Kei... tja, selbst wenn er es gewusst hätte, erfuhr er es nicht mehr. Inzwischen hatte ihn seine Müdigkeit übermannt. Er lag friedlich schlafend in Yukis Armen.
 

~~~
 

Na? Kann ich noch schreiben oder haben die drei Jahre Behördendeutsch meinen Schreibstil vollends versaut? XD
 

Ich hoffe, das Kapitel findet Eure Zustimmung. Gegenüber der geplanten Manga-Version hab ich nur ein paar Dialoge gestrichen. Ansonsten ist es original das, was ich sonst gezeichnet hätte. (Ich frag mich allerdings ernsthaft wie viele Jahre ich dafür gebraucht hätte. *seufz*)

Im Moment bin ich fest davon überzeugt, dass meine Entscheidung, SaC als Fanfic fortzusetzen, richtig war. ^^°
 

Kleiner Kommi-Anreiz übrigens: Wer mir einen Kommentar hinterlässt, kriegt eine ENS, sobald das nächste Kapitel online geht. ^^

In diesem Sinne, bis bald! ^^/

Es war einmal

Es war einmal
 

Genauso grauenvoll wie der letzte Tag geendet hatte, fing der neue an. Um kurz vor sieben Uhr begann der Wecker gnadenlos seinen Gesang. Unbarmherzig nahm er seine Arbeit wieder und wieder auf, egal wie oft Kei auf die Schlummertaste hämmerte.

Genau genommen konnte sich Kei kaum an das grauenvolle Ende des vorigen Tages erinnern. Er hatte zu viel getrunken und dann... Nun, er erinnerte sich wie gesagt nur düster. Aber er konnte sich lebhaft vorstellen was passiert war. Sein ganzer Körper war mit Kratzern und blauen Flecken übersät.

Er hatte nicht die geringste Ahnung wie er nach Hause gekommen war. Und eigentlich wollte er es auch gar nicht wissen. Eigentlich wollte er nicht einmal aufstehen. Was, wenn er gestern jemanden verletzt hatte?

Er wollte keinem seiner Mitbewohner unter die Augen treten. Kei schämte sich sehr für das, was – vermutlich – passiert war. Am liebsten wäre er einfach im Bett liegengeblieben und hätte sich eingeredet, alles sei nur ein Traum gewesen.

Genau, einfach weiter schlafen...

-Piiiiiiiiiiiep-

Erneut schlug Kei auf den Wecker ein. Und in derselben Bewegung zog er sich die Decke über den Kopf. Angesichts der Tatsache, dass es bereits Mitte Juni, ein warmer Sommermorgen, war, konnte man diese Geste durchaus auch als Selbstgeißelung betrachten. Ebenso wie die Gedanken, die immer wieder in Keis Bewusstsein zurückkehrten, wie sehr er auch versuchte, sie wegzuschieben.

Er war wach. Und gestern Abend war – vermutlich – irgendetwas Schlimmes passiert. Er selbst hatte ein paar Blessuren davon getragen. Und die anderen? Wenn er aus seinem Zimmer kommen würde... mal angenommen, er würde doch aufstehen... was würde er sehen? Wären seine Mitbewohner verletzt? Enttäuscht? Wütend? Würden sie überhaupt noch etwas mit ihm zu tun haben wollen?

Und Robin?

Stille. Kei hielt unter seiner Decke den Atem an. Kein Geräusch. Dann drehte er sich ganz langsam, vorsichtig und so geräuschlos wie möglich unter der Decke um, so dass er ins Zimmer hätte sehen können, wäre die Decke nicht gewesen. Immer noch absolute Stille.

Zögerlich hob er nun die Decke etwas an und riskierte einen ersten Blick in sein Zimmer. Die Morgensonne warf schon taghelles Licht auf den Teppich. Und in der Ecke neben dem Fenster, an der Seite des Schreibtisches, in einem umfunktionierten Hundekorb, erblickte er schließlich was er gesucht hatte. Rotbraunes Fell, das sich gleichmäßig hob und senkte. Robin schien zu schlafen.

Ach ja! Schlafen. Ein erneuter Kontrollblick auf den Wecker. Sieben Uhr, sogar fast genau.

Kei atmete laut aus. Lange konnte er sich nicht mehr einreden, dass er eigentlich noch schlief. Heute war immerhin sein erster Tag im Fairy Tales Park. Und darüber hinaus lag er äußerst unbequem.

Erstens taten seine Kratzer weh, alles tat weh. Und zweitens, wer auch immer ihn gestern ins Bett geschleppt hatte, hatte ihn nicht aus dem albernen Kostümchen befreit, das Kiku ihm ausgesucht hatte. Nicht einmal den breiten Nietengürtel, das Arm- oder Halsband hatten sie ihm abgenommen. Und drittens hatte er Hunger.

Kei hatte also kaum eine andere Wahl als aufzustehen. Erster Versuch. Seine Gelenke fühlten sich an, als müsse man sie neu schmieren. Wie eingerostet. Zweiter Versuch, diesmal langsamer. Vorsichtig stützte Kei die Ellenbogen in die Matratze und drückte sich langsam hoch, rollte zur Seite und balancierte ebenso langsam erst das eine, dann das andere Bein aus dem Bett auf den Boden. Geschafft. Er saß. Seufzen.

Wie ein betrunkener Roboter stolperte Kei bis zu Robins Körbchen. Nicht nur seine Beine waren eingeschlafen. Sein ganzer Körper war wie taub.

Der kleine Fuchs schien tatsächlich zu schlafen. Er hatte sich so klein zusammengerollt, dass man seinen Kopf kaum unter dem buschigen Schwanz und den Pfoten erkennen konnte. Gleichmäßiges, tiefes Schnaufen drang von irgendwo in der Mitte des Fellknäuels.

Kei kniete sich hin. Oder besser gesagt, er ließ sich auf seine Knie fallen. Von der Erschütterung geweckt, zuckte Robin aufmerksam mit den Ohren.

„Guten Morgen...“ hauchte Kei etwas verlegen. „Wegen gestern... das...“

Er zögerte etwas, streckte dann aber doch die Hand aus und berührte seinen Carn. Robins Kopf schnellte nun sofort hellwach nach oben. Er musterte Kei aus seinen durchdringenden Fuchsaugen. Ansonsten regungslos.

„Das wegen gestern tut mir wirklich Leid.“ seufzte Kei und senkte den Blick.

Langsam fuhr er über Robins Fell. Und Robin ließ es sich einen Moment gefallen.
 

Einen Moment. Kei hätte es besser wissen sollen. Robin war nun seit einem guten Monat sein Carn und doch nie ein Haustier geworden. Ein Fuchs gab nicht so einfach seine Freiheit auf, um von einem Tag auf den anderen ein nettes Schoßtier zu werden. Und er war auch zu schlau, um sich von Streicheleinheiten, netten Worten oder einem freundlichen Gesicht ködern zu lassen.

Und so nahmen Keis Verletzungen noch weiter zu. Ein perfekter Abdruck von Robis Gebiss auf Keis Handrücken. Jeder einzelne Zahn glühte in dunklem Rot auf.
 

Als Kei ins Esszimmer kam, saßen Yuki und Kiku bereits beim Frühstück. Jack saß wie immer auf Kikus Schulter und bettelte ihr einige Bissen ab. Yuki wünschte Kei mit einem Lächeln einen guten Morgen, kaum dass der das Zimmer betreten hatte. Kei antwortete verlegen und ohne Yuki ins Gesicht sehen zu können.

Kiku hatte offensichtlich nichts abbekommen. Aber die Blessuren an Yukis Armen und Händen fielen Kei sofort ins Auge. Und so fügte er seinem verlegenen „Guten Morgen“ auch noch ein „Entschuldige. Tut mir echt Leid, was gestern passiert ist“ hinzu.

Doch Yuki lächelte nur weiter und winkte ab. Das sei keine Seltenheit bei neuen Zalei. Vielen passiere so etwas sogar ohne Alkoholeinfluss. Und Kiku nickte bestätigend. Das änderte aber nichts daran, dass Kei sich elend fühlte.

Bevor er sich zu den anderen an den Esstisch setzte, ging er in die Küche, um Robin zu füttern. Auf diese Art und Weise konnte er vielleicht noch länger seine Gliedmaßen genießen. Das Klappern eines Löffels in seiner Schüssel war so ziemlich das einzige Geräusch, auf das Robin bisher zu hören gelernt hatte. Und so kam er brav wie ein Hündchen an, um sich sein Frühstück abzuholen.

Einen Augenblick sah Kei ihm beim Fressen zu. Dann kehrte er wieder ins Esszimmer zurück.

Yuki hielt Kei den Brotkorb hin. „Und jetzt bist du dran. Sitz!“

„Ist Ryu gar nicht da?“

„Nein. Er muss etwas für den Rat erledigen.“
 

Und da lag das nächste Problem. In der WG gab es eine Regel: Geld muss selbst verdient werden. (In erster Linie weil Ryu keine Almosen von seinem Vater annehmen wollte, wenn Kei das richtig verstanden hatte.) Allerdings ging die Schule vor. Also keine Jobs, die mit der Schule nicht vereinbar waren.

Bis jetzt hatte Ryu neben seinem Studium zwei Nebenjobs gehabt. Einen im Fairy Tales Park, einem Freizeitpark in der Nähe, und einen in Pierres Praxis. Nach dem Abi hätte Yuki eigentlich auch einer vergüteten Arbeit nachgehen sollen. Da er jedoch genau zu dieser Zeit einen Schüler bekommen hatte, wurde sowohl seine, als auch Keis, Frist etwas verlängert und sie sollten vorerst nur einem Teilzeitjob nachgehen. Gerade am Anfang der Ausbildung zum Zalei konnte noch zu viel passieren. Deshalb hatte ihnen Ryu erst ab jetzt Stellen im Park vermittelt. Jeden Montag, Mittwoch und Freitag würden sie ab jetzt entweder von 09:00 bis 17:00 Uhr oder von 15:00 bis 23:00 Uhr im Fairy Tales Park arbeiten.

Eigentlich war geplant gewesen, dass Ryu sie am ersten Tag mit in den Park begleiten, ihnen alle vorstellen und ihnen die Arbeit erklären sollte. Nun war Ryu aber nicht da.
 

Den Fairy Tales Park zu finden war keine große Leistung gewesen. Allerdings gestaltete es sich schon ziemlich schwierig, jemanden zu finden, der sie in ihren neuen Job einweisen konnte. Die Einen hatten keine Zeit, die anderen waren nicht zuständig, wieder andere waren selbst erst seit ein paar Tagen da.

Eher zufällig waren sie an einen wie ein Räuber kostümierten Mann geraten, der sich als Arco vorstellte und ihnen tatsächlich helfen konnte. Kaum zu glauben und doch war: er wusste sogar, dass zwei Neue kommen sollten und was zu tun war. Er führte Kei und Yuki zu einem unauffälligen Gebäude am Rand des Parks, ein Gebäude der Parkverwaltung. Dort konnten sie ihre Sachen ablegen, die sie während der Arbeit nicht brauchen würden.

Jetzt erfuhr Kei, dass der Fairy Tales Park seinen Namen nicht grundlos trug. Das Motto „Märchen“ zog sich nicht nur durch alle Attraktionen des Freizeitparks. Es spiegelte sich auch in den Outfits der Beschäftigten wieder. Kaum dass Arco die Ankunft der Neuen verkündet hatte, stürzten auch schon ein paar Mitarbeiterinnen auf die beiden zu und begannen ihre Arbeit.
 

Eine halbe Stunde später stand Kei verkleidet an einem kleinen Süßigkeitenstand zwischen Kettenkarussell und Spiegelkabinett. Er hatte schon gewusst, welche Märchenfigur ihm am besten zu Gesicht stand. Es wäre absolut nicht notwendig gewesen, ihm das so unter die Nase zu reiben. Fast als hätte Kiku den Park-Mitarbeiterinnen einen kleinen Tip gegeben. Frechheit! Und dann hatte Arco auch noch ausdrücklich darauf hingewiesen, dass Schmollen bei der Arbeit verboten war. „Immer fröhlich, immer lächeln.“

Je öfter Kei sich aber im Laufe des Vormittags dazu ermahnt hatte, desto mehr hatten die Worte an Wirkung verloren. Wie sollte man auch fröhlich sein? In so einem gemeinen Kostüm und dann auch noch ganz allein vor einem Berg von Süßigkeiten, die man nicht essen durfte.

Und so handelte Kei erneut wider seinen Arbeitsanweisungen, als er unsanft aus seinen Tagträumen gerissen wurde.

„Hey, Zipfelmütze! Eine Tüte gebrannte Mandeln.“

„Ich bin ein ZWERG!“ entfuhr es ihm böse.

„Ja... Ist nicht zu übersehen.“ Lachte sein Gegenüber schallend, als er zu Kei herunter sah.

„Atari! Was machst du denn hier?“

Kei wusste nicht recht, ob er lachen oder weinen sollte. Atari, sein ehemals bester Freund, mit dem er über Jahre durch Dick und Dünn gegangen war. Allerdings auch der Atari, der ihm die Freundschaft mit Yuki verbieten wollte. Es hatte nie eine Aussprache zwischen ihnen gegeben. Aber zumindest wusste Kei jetzt, dass er wegen der „Zipfelmütze“ nicht böse sein brauchte.

„Ich bin mit meiner kleinen Schwester hier.“

„Ach so...“ Kei reichte ihm die gebrannten Mandeln. „Geht´s ihr gut?“

„Die ist nicht tot zu kriegen.“ Grinste er, während er Kei das Geld gab.

Schweigen...

„Lange nicht mehr gesehen...“ versuchte Atari das Gespräch zu retten.

„Stimmt. Jetzt wo wir nicht mehr in die Schule müssen...“

„Kei, ich hab mehrmals versucht, dich anzurufen. Und bei dir zu Hause war ich auch.“

„Da ist keiner. Meine Eltern sind auf Weltreise und ich wohn nicht mehr dort. Ich hab dir doch mindestens 20 SMS geschickt.“

„Mir ist vor paar Wochen mein Handy geklaut worden.“

Schweigen...

Abgelöst von schallendem Lachen. Da hatten die beiden Freunde wirklich ein ausgesprochen schlechtes Timing gehabt. Als ihnen das bewusst wurde, konnten sie sich kaum noch halten vor Lachen. Eine ganze Weile brachte keiner von beiden mehr ein vernünftiges Wort heraus.

Doch schließlich war es Atari, der wieder ernst wurde.

„Was ich da gesagt hab, wegen Natsukori... Das tut mir Leid. Ich hab´s nicht so gemeint. Es ist nur...“

„Schon ok. Ich war auch nicht sauer deswegen. Ich kenn dich ja...“ was eigentlich nur halb der Wahrheit entsprach.

„Danke. Und was treibst du so, wenn du gerade nicht in albernen Zipfelmützen Bonbons verkaufst?“

„Hmh... Ich bin... Tja, das hört sich jetzt vermutlich total bescheuert an... Ich bin Zalei.“

Eine Mandel fiel zu Boden. Mit versteinerter Mine und weit aufgerissenen Augen sah Atari seinen Freund an. Und Kei starrte völlig ahnungslos zurück.

„Mist... Also doch. Ich hab mir gleich gedacht, dass so was kommt.“

„Du weißt über Zalei Bescheid?“

„Das wäre übertrieben. Meine Schwester hat mir bisschen was erzählt. Ich wusste, dass Natsukori einer ist. Deswegen wollte ich ja nicht, dass du dich zu viel mit ihm abgibst... Aber der Schuss ist offensichtlich nach hinten losgegangen.“

„Deswegen? Aber warum...?“

Für Kei ergab das keinen Sinn. Und Atari wollte ihm die Antwort wohl schuldig bleiben. Viel denkend, nichts sagend starrte er eine ganze Weile vor sich hin. Er sah besorgt aus. Aber weshalb?

Schließlich atmete er laut aus und beantwortete Keis Frage doch noch, wenn auch ziemlich unbefriedigend.

„Ich hoffe, das wirst du nie herausfinden. Aber falls doch, ich bin immer für dich da. Ok?“

„Das klingt, als wär ich totkrank... Mach mir keine Angst...“
 

Die Szene wurde in ihrer vollen Dramatik gestört, als sich ein kleines Mädchen von hinten an Atari heranschlich und ihm blitzschnell die Tüte mit den Mandeln aus der Hand riss. Bevor der aber reagieren konnte, wehrte sie ihn mit einem strahlenden Lächeln und einem „Danke, Bruderherz!“ ab.

„Hallo, Shimari-chan! Du bist vielleicht groß geworden!“ lächelte Kei. Klar war der Spruch blöd, aber er meinte es ernst. Shimari war 12 und schon beinahe so groß wie er selbst.

„Du nicht... Hi, Kei!“ sie sprang ihm um den Hals und räumte dabei um ein Haar den ganzen Verkaufsstand ab.

„Wieso hast du dich denn nicht auf unseren Brief gemeldet?“

„Brief? Was für ein Brief denn?“

„Na, wir haben dir doch letzte Woche einen Brief geschickt. Von K.R.O.S.S.“

Kei erstarrte, kaum dass Shimari diesen Namen ausgesprochen hatte. Den Brief hatte er bekommen. Er enthielt eine Aufforderung, sich bei eben dieser Organisation zu melden, die übernatürlich Phänomene untersuchte und dafür Zalei als Versuchskaninchen suchte. Ryu hatte ihm erzählt, dass K.R.O.S.S. illegale Experimente machte und er auf gar keinen Fall auf den Brief reagieren sollte.

„Du gehörst zu K.R.O.S.S.?“

„Jawohl! Sie haben mich vor einem Jahr wegen meiner enormen übermenschlichen Fähigkeiten angeworben. Aber das tut jetzt nichts zur Sache. Meld dich ruhig mal bei uns. Wir können dir in so mancher Hinsicht helfen, wenn du uns hilfst. Und jetzt entschuldige mich bitte. Ich hab noch ein dringendes Meeting mit dem Kettenkarussell.“

Damit sprang die kleine Business-Lady auch schon wieder davon.

„Shimari-chan ist bei K.R.O.S.S....?“

„Yo, ne Weile schon. Die haben sie mal wegen ihrem Tarot-Quatsch angesprochen.“

„Und was macht K.R.O.S.S. so?“

„...“

„Du hast also wie immer keine Ahnung was deine Schwester den lieben langen Tag treibt.“

„Ach was... Ich hab noch nicht mal rausgefunden, was K.R.O.S.S. eigentlich bedeutet.“

„Also, mein Tip wäre ja ‚Komisch regierte Organisation schlimmer Schurken‘.“

„Ha ha! Das ist auch gut. Mein Favorit war bisher ‚Keiner repräsentiert organisierten Schwachsinn schöner‘.“
 

Währenddessen hatte Yuki ganz andere Probleme.

Über sein Kostüm konnte er sich nicht wirklich beklagen. Bis auf die Tatsache, dass ihm ständig die lange Feder an seinem Barett ins Gesicht hing und die Strumpfhosen unangenehm kratzten. Aber ein Minnesänger war immer noch ein besseres Kostüm als ein Zwerg. Er konnte Keis verärgertes Gesicht schon verstehen... Aber er hatte als Zwerg einfach zu süß ausgesehen. Da hatte er sich einfach nicht mehr gegen das Verlagen wehren können, ihn zu umarmen.

Yukis Problem war in erster Linie seine Arbeit. Man hatte ihm den Crêpes-Stand in der Nähe des Varieté-Theaters zugeteilt. Aber wie man mit diesen komischen Mini-Hammern umgeht, mit denen der Teig auf der Herdplatte ausgebreitet wurde, hatte ihm niemand erklärt. Irgendwie im Kreis... oder so ähnlich. Diese Tätigkeit gehörte wohl zu denen, die man tausendmal beobachtete und doch nie selbst lernte.

Doch Yuki machte Fortschritte. Die Löcher in den Crêpes wurden immer kleiner und weniger. Manchmal war sogar nur noch ein einziges drin. Und die Soßen liefen auch nicht mehr zu allen Seiten heraus, sondern nur noch auf einer oder zwei.

Beschwerden gab es trotzdem zuhauf. Yuki hatte deshalb die Konsequenz gezogen und jedem seiner Kunden gleich drei, statt einer Serviette mitzugeben. Die würden sie auf jeden Fall brauchen.

Und immer fröhlich, immer lächeln. Das fiel Yuki nicht annähernd so schwer wie Kei. Ganz im Gegenteil: er strahlte seine Gegenüber so herzlich an, dass ihm niemand mehr wegen einer ruinierten Designerbluse böse sein konnte.

So freundlich, niemand wäre auf die Idee gekommen, dass er außer den Crêpes auch noch ein anderes Problem hatte.

Es war jetzt fast zwei. Gestern Abend hatte Ryu ihn, Kiku und Kei nicht vom Café Cardinal nach Hause begleitet. Er war direkt zu Meister Adoy gegangen, der wohl irgendeine Aufgabe für ihn – und Ryami Hisui – gehabt hatte. Und hier lag das Problem. Seit diesem ungeplant schnellen Abschied hatte er kein Lebenszeichen mehr von seinem großen Bruder erhalten. Langsam machte Yuki sich ernsthaft Sorgen.

Er hatte sogar trotz ausdrücklichem Verbot sein Handy mitgenommen und eingeschaltet gelassen. In der Pause hatte er kurz mit Kiku telefoniert, die nicht weniger besorgt zu Hause auf Ryu wartete. Zu dieser Zeit war dieser noch nicht nach Hause gekommen und hatte sich auch nicht bei Kiku gemeldet. Erreichbar war er bis jetzt immer noch nicht. Yuki versuchte gelegentlich ihn anzurufen, wenn keine Crêpes-Esser anstanden. Doch jedesmal bekam er nur das gleiche „Der gewünschte Gesprächspartner ist derzeit nicht erreichbar.“ zu hören.

Es war ja nicht das erstemal, dass Ryu etwas für Meister Adoy erledigen sollte. Yuki selbst hatte das auch schon mehrmals getan und kannte die übliche Natur von solchen Aufträgen. In der Regel waren sie nicht mit großen Gefahren verbunden. Aber jede Regel hatte Ausnahmen.

Außerdem wollte Meister Adoy offensichtlich zuerst Lan schicken, einen der besten Zalei ihres Landes. Das musste doch einen Grund haben. Und Ryami war dabei, die sich nur zwei Ränge unter Meister Adoy selbst befand, genauso wie Ryu übrigens. Ryu war gut, keine Frage. Er war ja nicht umsonst Zalei 4. Ranges geworden (bei Yuki hatte es dagegen nur bis zum 6. Rang gereicht... von sieben).

Es würde schon alles gut gehen. Das sagte sich Yuki wieder und wieder vor. Und konnte sich doch nicht restlos überzeugen.
 

Erst nach mehr als zwei weiteren qualvollen Stunden des Wartens kam der erlösende Anruf von Kiku.

Ryu war gegen vier oder halb fünf nach Hause gekommen. Es ging ihm wohl gut, wie sie auf die Schnelle beurteilen konnte. Aber er war sehr müde gewesen und deshalb gleich ins Bett gegangen.

So auch noch der Stand der Dinge, als Kei und Yuki am Abend nach Hause kamen.

Yuki sah noch einmal kurz nach seinem Bruder und stellte dabei nur fest, was ihm Kiku schon am Telefon gesagt hatte. Offensichtlich war ihm nichts passiert, keine Verletzungen, kein Ärger. Er schlief tief und fest. Damit gab sich Yuki vorerst zufrieden und schlich wieder hinaus. Über Details würde er Ryu morgen ausfragen.
 

~~~

... Und was würde Ryu zu erzählen haben? .__.

Gespannt warten wir alle auf die Fortsetzung. *rofl*
 

Hi! ^^
 

Vielen Dank erstmal für die lieben Kommentare zum letzten Kapitel und auch für das Lesen dieses Kapitels! *euch alle knuddel*

Es freut mich, dass die meisten mit einer Fortsetzung als Fanfic leben können. ^^° So geht das einfach bedeutend leichter...
 

Also, das sechste Kapitel war jetzt mal etwas weniger turbolent. Irgendwie fehlt ein Höhepunkt sogar komplett. o_O Aber ich hoffe, es war trotzdem nicht zu langweilig. Das nächste wird wieder spannender, versprochen. ^^
 

So. Wieder das gleiche Spielchen wie letztesmal: Kommentarschreiber kriegen eine ENS von mir, wenn das nächste Kapitel online geht. ^^

Die Miss auf der Brücke

Die Miss auf der Brücke
 

Es war tiefdunkle Nacht geworden. Wo beim Café noch Laternen und beleuchtete Häuser etwas Licht gespendet hatten, herrschte jetzt absolute Dunkelheit. Zwei der insgesamt fünf Straßenlaternen, die am Rand des schmalen Waldwegs standen, waren defekt. Schon seit mehreren Wochen, vielleicht sogar Monaten. Da der Weg nachts so gut wie nie benutzt wurde, kümmerte das niemanden.

Vor vielen Jahren war hier eine junge Frau einem Verbrechen zum Opfer gefallen. In einer Neumondnacht wurde sie von mehreren Männern überfallen, die ihr irgendwo im Wald aufgelauert hatten. Ein sehr tragischer Fall, von dem lange Zeit alle Medien beherrscht worden waren. Seit damals ermahnten alle Eltern ihre Kinder, sich von diesem Waldweg fernzuhalten, vor allem wenn es dunkel wurde. Wahrscheinlich folgten auch die Herren von der Stadtverwaltung noch heute diesem Rat und konnten so niemals sehen, dass die Laternen im Dunkeln nicht brannten.
 

Sogar Ryu hatte immer wieder von seiner Mutter gehört, dass er sich lieber einen anderen Weg suchen sollte. Aber das interessierte ihn heute nicht mehr als damals. Und so folgte er mit selbstbewussten Schritten dem Waldweg, dem kürzesten Weg zum Ratsgebäude, Sleipnir an seiner Seite. Vielleicht war die schaurig-düstere Atmosphäre, die dem Waldstück anhaftete, sogar genau die richtige Einstimmung auf das folgende Abenteuer.

Ryu wusste nicht wirklich, was ihn in dieser Nach noch erwarten würde. Meister Adoy hatte am Telefon nicht viel erzählt. Vermutlich war er wütend gewesen, weil er eigentlich Lan für den Auftrag haben wollte und Ryu sich quergestellt hatte. Aber Ryu hatte oft genug miterlebt, wie Lan Konzerte, Jobs oder Shows abbrechen musste. Außerdem waren Aufgaben für Lan meistens auch Aufgaben, die Ryu an seiner Stelle übernehmen konnte. Ein Esel war zwar kein Pferd, aber diesem zumindest einigermaßen ähnlich.
 

Ryami Hisui würde vor dem Ratsgebäude auf ihn warten und ihm die Details erklären, hatte Meister Adoy gesagt. Es würde wohl keine außergewöhnliche oder besonders schwierige Mission werden.

Dafür sprach, dass Meister Adoy relativ schnell mit Ryu als Vertretung einverstanden gewesen war. Dagegen allerdings, dass er Zalei des vierten und dritten Ranges schicken wollte. Das wies normalerweise auf eine doch recht anspruchsvolle Aufgabe hin.

Aber Ryu würde ja ohnehin gleich erfahren worum es ging.
 

„Guten Abend, Fuyutaka-san!“ begrüßte ihn die junge Frau, die unter dem Efeu bewachsenen Torbogen wartete. Sie trug Jeans und ein schlichtes T-Shirt. Aber ihre Haare warten kunstvoll hochgesteckt und ihr Gesicht wies noch Rückstände des starken Make-ups auf, das Ryami bei der Arbeit trug. Offensichtlich hatte Meister Adoy auch ihr nicht viel Zeit gelassen.

„Guten Abend.“

Mit einer Mischung aus Schnurren und Miauen wünschte auch Ryamis Carn einen schönen Abend. Aurora saß auf der halbhohen Mauer vor dem Tor. Dort war sie mit ihrem schwarzen Fell fast unsichtbar, hätten ihre Katzenaugen nicht im Mondlicht geleuchtet.

„Ich bin überrascht. Eigentlich hatte ich mit Lan gerechnet.“

„Er hat einen Auftritt.“

„Du hast ihm nicht gesagt, dass der Meister angerufen hat, oder? Macht nichts. Für solche Aufträge bist du mir sowieso lieber.“ lächelte Ryami.

„Das kann ich mir gar nicht vorstellen. Worum geht´s denn?“
 

Ryami erzählte Ryu unterwegs von Meister Adoys Auftrag. Sie verließen das Ratsgebäude auf demselben Weg, auf dem Ryu gekommen war. Durch den dunklen Wald, begleitet von unheimlichem Rascheln links und rechts neben ihnen und von Schreien, die sie nur schwer verschiedenen Tieren zuordnen konnten. Als sie den Waldweg verlassen hatten und in die breitere Staatsstraße an dessen Ende einbogen, waren die Tierlaute fast vollkommen verstummt. Der Rat hatte sich seinen Sitz fern der eigentlichen Stadt nicht grundlos ausgesucht. Mancher Mensch konnte sich wohl durch das Heulen von Wölfen und den Gesang exotischer Vögel etwas in seiner Nachtruhe gestört fühlen. Nicht wenige Zalei waren schon mehrmals wegen nächtlicher Ruhestörung angezeigt worden oder hatten Besuch von der Polizei bekommen.
 

Meister Adoys Aufgabe für diese Nacht klang recht einfach.

Eine Frau, die er schlicht „Miss“ nannte, würde sich an der Ludwig-Brücke mit jemandem treffen, der ihr Informationen überbringen würde. Miss hatte kinnlanges, dunkel gelocktes Haar und würde vermutlich einen Mantel tragen. Sie würde um halb zwei Uhr nachts allein auf der Brücke warten. Über ihren Boten hatte Ryami keine Angaben. Die Informationen, die er hatte, sollten aber anscheinend die Zalei betreffen. Das hatte Meister Adoy zumindest auf Ryamis Nachfrage versichert.

Der Auftrag bestand nun darin, das Gespräch unbemerkt zu belauschen und umgehend zum Rat zurückzukehren, sobald die beiden Personen sich getrennt hatten. Dort sollten sie Meister Adoy einen ausführlichen Bericht übergeben, der ihn wiederum seinem Auftraggeber übergeben würde. Bei letzterem handelte es sich anscheinend um ein Stadtratsmitglied. Genau erfuhr das niemand.
 

Die Ludwig-Brücke führte über die Autobahn etwa zwei Kilometer außerhalb der Stadt. Von der Staatsstraße aus musste man nur dreimal abbiegen und dann immer der Nase nach. Zu Fuß ein ordentlicher Marsch, definitiv nicht geeignet als ruhiger Abendspaziergang. Jetzt wusste Ryu jedenfalls warum Lan mitkommen sollte. Auf einem Pferd hätte man zu zweit wesentlich angenehmer reiten können als auf einem Esel.

Ryu überließ Ryami und Aurora den Platz auf Sleipnirs Rücken und legte selbst den größten Teil des Wegs zu Fuß zurück. Irgendwie hatte er das Gefühl, dass Sleipnir seine Kraft noch für etwas anderes brauchen würde. So einfach anmutende Missionen endeten für gewöhnlich immer in einer rasanten Verfolgung.
 

Als sie die Brücke erreichten, war diese noch leer. Keine Menschenseele in der näheren Umgebung zu sehen. Das war etwa um ein Uhr.

Etwa fünfhundert Meter hinter der Brücke waren eine Reihe von Parkbuchten. Hinter den vorderen beiden stand ein kleiner Kiosk, hinter den anderen ein kleines Waldstück. Ein ideales Versteck. Ryu führte seinen Carn durch einen schmalen Wiesenstreifen in das dunkelgrüne Dickicht. Der Esel schnaubte etwas missmutig, legte sich dann aber brav hin und verschmolz mit der Dunkelheit.

Ryu selbst setzte sich direkt auf den Gehweg und lehnte sich gegen eine Laterne. Ein perfektes Bild, da er ohnehin noch immer seinen schwarzen Mantel und die Silberkette mit dem Kreuzanhänger trug. Noch eine leere Bierflasche, wie man sie haufenweise an einem Kiosk fand, daneben und er wirkte wie ein Partygänger, der den Heimweg nicht mehr geschafft hatte. Nichts, was einer Miss verdächtig vorkommen musste.

Ryami kniete sich neben ihn.

„Ryu? Erinnere mich doch bitte kurz. Warum machen wir diesen Unsinn nochmal?“

Ryu hob die Schultern und grinste zynisch. „Wir sind jung und brauchen das Geld?“

„Das muss es sein.“ Lachte sie leise.

Viertel nach eins. Ryami setzte sich nun ebenfalls und legte sich in Ryus Arm. Ganz klar: ein Pärchen, das gerade von einer Party gekommen und sturzbetrunken am Straßenrand eingenickt war. Offensichtlich.

Weniger offensichtlich war, dass Ryami in Auroras Körper schon fast die Ludwig-Brücke erreicht hatte.
 

Die Miss war überpünktlich. Ryami erkannte schon aus etwa hundert Meter Entfernung die dunkle Silhouette, die am höchsten Punkt der Brücke stand. Noch war sie allein. Sie stand direkt vor der Brüstung und starrte auf die Autobahn, die nach Norden führte.

Vorsichtig, trotz ihrer perfekten Tarnung, wagte sich Ryami Stück für Stück vor. Mit katzenhafter Geschmeidigkeit balancierte sie auf dem Stück hinter der Brüstung auf der Südseite der Brücke. Gerade in guter Sicht- und Hörweite von der Miss entfernt setzte sie sich und verbarg sich hinter einer der Säulen, die die Brüstung trugen.

Nicht ein einziges Mal sah sich die Miss um. Sie schien überhaupt keine Angst zu haben vor eventuellen Spionen oder Angreifern. Immerhin war es für eine Frau auch unter normalen Umständen nicht ganz ungefährlich, mitten in der Nacht allein an einer Autobahnbrücke zu warten. Doch ihre ganze Körperhaltung strahlte Selbstbewusstsein aus. Sie stand kerzengerade, das Kinn etwas angehoben, den Blick in die Ferne gerichtet. Die Hände hatte sie in die Taschen ihres dunklen Trenchcoats gesteckt. Der nächtliche Wind spielte in ihren Locken, blies sie mal in ihr Gesicht und warf sie gleich darauf wieder auf ihren Hinterkopf.

Halb zwei. Noch immer war die Miss allein und starrte in die Weite. Von ihrer Verabredung keine Spur. Doch das schien sie nicht zu stören. Sie warf nicht einmal einen Blick auf die Uhr.

Dreiviertel. Noch immer nichts.
 

Erst um zwei näherte sich mit schnellen Schritten eine Gestalt. Ein junger Mann in Jeans, Sportjacke und mit Baseballcap. Er war wohl schon ein ganzes Stück gerannt. Als er die Miss erreichte, beugte er sich zuerst vornüber und rang nach Luft.

Die Miss drehte sich währenddessen ganz langsam zu ihm um. Fast als sei jede ihrer Bewegungen zu edel, um sie jemandem wie ihm zu zeigen. Sie strahlte eine unbeschreibliche Würde aus, als sie mit kühler und ganz ungerührter Stimme feststellte: „Du bist zu spät.“.

„Ich weiß... Es tut mir Leid, dass Sie warten mussten... Ich bin aufgehalten worden.“ Keuchte er.

Ryami konnte sein Gesicht nicht erkennen. Die nächste Laterne auf der Brücke warf nur Licht auf das Gesicht der Miss. Die schien jedoch aus ihrer Identität kein Geheimnis machen zu wollen. Sie versuchte nicht einmal, ihr Gesicht zu verstecken. Allerdings kam Ryami dieses auch nicht bekannt vor.

Der Bote dagegen hatte sein Cap tief ins Gesicht gezogen und den Kragen seiner Jacke aufgestellt. Ryami kannte seine Stimme, auch wenn sie jetzt nicht sagen konnte woher. Aber von seinem Gesicht sah sie überhaupt nichts. Das Stück, das nicht von Kleidung verdeckt war, verhüllte die Nacht. Das einzige, was sie erkennen konnte, waren seine hell- bis mittelbraunen Haarsträhnen, die unordentlich über den Kragen seiner Jacke fielen.

So sehr Ryami ihre Katzenaugen auch anstrengte, sie konnte nicht erkennen wer der junge Mann war. Dabei hätte sich sein Name in ihrem Bericht zweifellos sehr gut gemacht. Meister Adoy würde sicher enttäuscht sein.

„Hast du denn eine Antwort für mich?“ fragte die Miss genauso ruhig wie eben.

„Natürlich. Ich soll Ihnen das hier geben...“ der junge Mann zog einen Umschlag aus der Tasche an der Innenseite seiner Jacke und hielt ihn der Miss hin. Die Frau senkte den Blick auf das Papier, ohne eine Miene zu verziehen. Hatte sie das erwartet? War sie überrascht? Wütend? Erfreut?

Keine Ahnung. Ihr Gesicht war völlig ausdruckslos.
 

Ryami war jedenfalls überhaupt nicht erfreut. Das würde der sinnloseste Bericht aller Zeiten werden. Keine Namen und jetzt auch noch keine Botschaften. Meister Adoy hatte sie ermahnt, auf jeden Fall unerkannt zurückzukommen. Unentdeckt zu bleiben war diesmal wichtiger als die Botschaft zu bekommen. Also nichts riskieren. Den Umschlag würde sie sicher nicht bekommen.

Ryami seufzte leise und klappte ihre Katzenohren enttäuscht nach hinten.
 

„... Und ich soll Ihnen etwas ausrichten.“

Jetzt spitzte Ryami ihre Katzenohren wieder. Ihr Blick haftete fest an der Stelle des Jackenkragens, hinter der sie den Mund des jungen Mannes vermutete.

„Was hat er gesagt?“ fragte die Miss unterkühlt.

„Er dankt Ihnen für die Kooperation. Sie können sich auf seine Hilfe und seine Verschwiegenheit verlassen. Mit Ihrer Vergütung ist er einverstanden. Näheres schildert er Ihnen in diesem Schreiben.“

Die Miss nickte, noch immer scheinbar völlig emotionslos. Langsam zog sie ihre Rechte aus der Manteltasche, nahm den Brief an sich und schob ihre Hand sofort mit dem ungelesenen Brief in die Tasche zurück.

Schweigen. Das war also die unspektakulärste Übergabe einer Geheimbotschaft, die sich Ryami vorstellen konnte. Die Miss und der Bote standen sich noch gegenüber und starrten einander einen Moment an.

Dann ergriff der junge Mann wieder das Wort.
 

„Da hinten sind zwei Betrunkene. Aber sonst hab ich niemanden gesehen. Ich weiß nicht, ob wir unbeobachtet sind oder...“

„Das ist mir egal.“ erwiderte die Miss kalt. Und Ryami, die plötzlich wie elektrisiert hochgeschreckt war, sank wieder auf ihren Katzenhintern zurück. So ein Schreck!

„Ich habe meine Antwort, dein Herr hat mein Wort. Damit steht unser Deal. Was darüber hinausgeht, geht mich nichts an.“

Der junge Mann sah aus wie vor den Kopf gestoßen. Doch die Miss wandte sich zum Gehen. Über die Schulter bat sie den jungen Mann noch, seinem Herrn einen Gruß auszurichten. Er nickte stumm.

Dann verschwand die Miss in die Richtung, die noch weiter aus der Stadt führte. Der junge Mann blieb noch eine Weile wie versteinert stehen. Doch dann kehrte er auch um und ging zurück in die Stadt, aus der er gekommen war. Ryami duckte sich unwillkürlich, als er an ihr vorbeitrat.
 

„Was für eine unspektakuläre Mission!“ dachte sie. Und genau das sagte sie wieder und wieder, während sie mit Ryu zusammen zum Ratsgebäude zurückkehrte.

„Keine Botschaft, keine Namen, keine Gesichter... Wir sind nicht einmal entdeckt worden! Keine Flucht, keine Schießerei... Was für eine Zeitverschwendung!“

Ryu lachte von Zeit zu Zeit kurz auf, wenn Ryamis Wut ihren nächsten Höhepunkt erreichte.

„Du hast gut Lachen! Du konntest ja ein gemütliches Nickerchen machen, während ich völlig umsonst gelauscht hab.“

Das stimmte natürlich nicht. Ryu hatte zwischen Kieselsteinen, Ameisenkolonie und Glasscherben kein Auge zumachen können. Und zu allem Überfluss war dann auch noch eine Polizeistreife vorbeigekommen. Ziemlich anstrengend, die beiden eifrigen Beamten wieder loszuwerden. Aber er hatte sie in weniger als einer dreiviertel Stunde von ‚Wir bringen euch in die Ausnüchterungszelle‘ über ‚ Wir fahren euch nach Hause und wollen mit euren Eltern sprechen‘ bis ‚Ach so! Dann nehmt euch nächstesmal lieber ein Taxi, wenn kein Bus mehr fährt‘ gebracht.

„Wie langweilig... Jetzt bin ich erst so richtig müde... Mit Lan hätte das mehr Spaß gemacht. Der hätte sicher versucht, den Brief zu bekommen, wetten?“

„Bestimmt. Gut, dass er nicht dabei war.“

Noch bevor Ryu diesen Satz beendet hatte, kam ihm ein Gedanke. Ein Gedanke, den er nicht wagte, laut auszusprechen. Wäre genau das Meister Adoys Absicht gewesen? Wollte er deshalb unbedingt Lan schicken?
 

Ryami schrieb ihren Bericht. Immerhin eine halbe DIN A4-Seite Text ohne brauchbaren Inhalt, Ryu ergänzte eine Zeile über den spannenden Heimweg. Dann unterschrieben beide und übergaben das Werk etwa gegen vier Uhr Meister Adoy.

Der Meister saß wie fast zu jeder Tages- oder Nachtzeit im runden Sitzungssaal des Zaleirates. Schnappi lag schlafend wie ein Stein auf seinem Schoß. Ryami und Ryu standen in der Mitte des kreisrunden Saals, während der Meister den Bericht las.

Ryami gähnte laut, streckte sich und tippte unruhig mit dem Fuß auf dem Boden. Ryu starrte aus einem der großen Fenster.

Meister Adoy las den Bericht einmal, zweimal. Dann gab er ein langgezogenes „Hmh...“ von sich.

„Das sehr wenig Informationen sind. Aber gut. Dass ihr unentdeckt bleibt wichtiger ist, habe ich gesagt.“

Er legte das Blatt zur Seite. Dass er nicht sehr zufrieden war, war offensichtlich. Aber unzufrieden schien er auch nicht direkt. Eher so, als hatte er mit diesem Ergebnis gerechnet.

Einen Moment legte sich Stille über den Saal. Meister Adoy strich langsam über Schnappis Panzer. Er schien nachzudenken. Ryus Aufmerksamkeit galt nun nicht mehr dem Fenster, sondern dem Meister.
 

Doch zur Enttäuschung aller Anwesenden, war das Ergebnis seines Denkprozesses nur „Seinen Bericht bekommt unser Auftraggeber, wie vereinbart. Ihr scheint müde. Ins Bett ihr jetzt gehen solltet. Wir treffen uns bald wieder.“
 

Ryami und Ryu wünschten Meister Adoy eine gute Nacht und verließen den Sitzungssaal. Außerhalb des Saals waren im ganzen Gebäude die Lichter gelöscht. Nur ein paar kleine Lampen in den Gängen spendeten schwaches Licht. Normalerweise wurde auch das nachts nicht benötigt, denn das Gebäude sollte leer sein. Nur Meister Adoy befand sich Tag und Nacht im Ratsgebäude.

Ryami sehnte sich schon nach ihrem Zuhause und ihrem weichen Bett. Sie konnte ihr Gähnen kaum für ein paar Minuten unterdrücken. Kein Wunder, denn sie hatte schon um acht Uhr morgens angefangen zu arbeiten, um eine erkrankte Kollegin zu vertreten.

Sie traten gerade die breite Treppe hinunter, die vom ersten Stock in die Eingangshalle führte. Nachdem sie etwa ein Viertel der Stufen hinter sich gelassen hatten, gab das Mauerwerk den Blick auf die Halle und das Eingangstor frei.

Überraschung! Ryami und Ryu waren doch nicht allein. In der Eingangshalle, direkt vor dem schweren Tor hatte sich Lan gegen die Wand gelehnt, die Arme vor der Brust verschränkt. Er schien auf die beiden zu warten.

„Was treibst du denn hier?“ rief Ryami durch die ganze Halle.

„Ich bin auch Ratsmitglied, Frau Kollegin! Ich darf hier sein.“ lachte er.

„Aber auch Ratsmitglieder sollen gerüchteweise noch ein zu Hause haben.“

Ryami und Ryu hatten die Treppe hinter sich gelassen, die Halle durchquert und standen jetzt fast bei Lan.

„Ach, ich war neugierig... Ryu! Wieso hast du mir nicht gesagt, dass Adoy einen Auftrag hatte?!“ Lan schien böse.

„Weil du ein Konzert hattest.“ Erwiderte Ryu ganz ruhig. „Und der Auftrag war so leicht, dass ich ihn auch für dich erledigen konnte.“

Ryami nickte zustimmend.

„Pft! So wie ich das sehe, habt ihr den Auftrag aber nicht erledigt. Oder kennt ihr die Botschaft? Wirklich dumm, dass ich erst so spät davon erfahren habe.“

„Das bringt uns zur nächsten Frage. Woher weißt du von dem Auftrag, seinem Inhalt und dem Ergebnis?“ wunderte sich Ryu, konnte sich die Antwort aber eigentlich schon denken. Lan grinste frech.

„Ich bin eben nicht auf den Kopf gefallen.“
 

Lan wandte sich zum Eingangstor um und verließ das Ratsgebäude. Ryami und Ryu sahen einander kurz an und folgten ihm dann. Sleipnir und Onyx, die beiden Carn warteten geduldig auf dem Vorplatz. Nachdem sie auch die Gartenanlagen und das efeubewachsene Tor in der Grundstücksmauer passiert hatten, blieben sie stehen.

„Ich hol mir den Brief.“ bemerkte Lan ganz beiläufig. Er hatte sich schon Onyx´ Zügel gegriffen und wollte losmarschieren. Doch Ryu hielt ihn auf.

„Lan! Unser Auftrag war vor allem, unbemerkt zu bleiben. Du kannst den Brief nicht holen, ohne die Miss merken zu lassen, dass irgendwas nicht stimmt. Spätestens wenn der Brief weg ist, wird sie misstrauisch werden.“

„Wetten?“

„Das ist kein Spiel!“

„Doch, ist es! Und ich hab noch ein paar Züge nachzuholen.“

Ryu atmete laut aus. Ebenso wie es sinnlos war, mit ihm Rededuelle zu führen, war es völlig aussichtslos, Lan von einer seiner Ideen abzubringen. Alles, was er hier noch betreiben konnte, war Schadensbegrenzung. Er konnte nur noch aufpassen, dass Lan unterwegs nichts passierte. Aufhalten konnte er ihn nicht.

„Ryami. Du solltest nach Hause gehen. Du bist müde und deine Schwester macht sich sicher Sorgen, wenn du so lange weg bist. Ich gehe mit Lan.“

Ryami nickte dankbar. Sie war jetzt seit fast 20 Stunden auf den Beinen, noch dazu in einem Beruf tätig, der körperlich sehr anstrengend war.
 

Diesen Plan setzten die drei in die Tat um. Ryami verabschiedete sich, wünschte den Jungs viel Erfolg und kehrte nach Hause zurück.

Lan und Ryu machten sich auf den Weg. Erst durch den Wald in die Stadt, dann der Bundesstraße entlang in Richtung Ludwig-Brücke. Ryu hatte keine Ahnung, was Lan vorhatte. Aber der schien ganz genau zu wissen, wohin er ging.

Unterwegs zündete sich Lan eine Zigarette an und erklärte Ryu wie er von dem Auftrag erfahren hatte. Nach dem Konzert hatte die Band geholfen, den Saal aufzuräumen. Eigentlich hatten sie zuerst nur ihre Instrumente abgebaut und sie im Transporter von Shin, dem Schlagzeuger, verstaut. Danach wollten Lan und Jake, der Bassist, sich sofort aus dem Staub machen und nach Hause fahren. Aber der super gewissenhafte Shin hatte sie zurückgepfiffen und sie zum Aufräumen verdonnert. So war das. Wenn Shin sich unbedingt etwas einbildete, was Gott sei Dank nicht allzu oft vorkam, war weder lauter noch stummer Protest hilfreich. Sogar Lan hatte sich nach einer halben Stunde geschlagen geben müssen und (mehr oder weniger) brav Tische getragen. Jake hatte Shins Schimpftiraden ignoriert und war einfach gegangen, was sicher noch ein Nachspiel haben würde. Nur Miyuki, so was wie eine kleine Schwester für Shin, auf die er immer gut aufpasste, war von der Arbeit stillschweigend bereit gewesen.

Jedenfalls war natürlich auch Ryamis jüngere Schwester Taki noch da gewesen und hatte gearbeitet. Lan hatte sich etwas mit ihr unterhalten, auch über Ryami. Und dann hatte Taki gesagt, sie habe Angst um ihre Schwester, weil die gerade irgendwas für Adoy erledigen musste. So hatte Lan von dem Auftrag erfahren.

Dass es um eine Botschaft an die Miss ging und die Beauftragten den Brief nicht bekommen hatten, hatte er durch seine üblichen Methoden herausgefunden. An dieser stelle fragte Ryu nicht weiter nach. Lans ‚übliche Methoden‘ kannte er zu Genüge. Wahrscheinlich würde er auch versuchen, den Inhalt des Briefs auf diese Weise zu erfahren.
 

„Wir könnten Pierre fragen, ob er mitkommt.“ Überlegte Lan. „Antoinette wäre super als Spion.“

„Theoretisch. Aber erstens wird Pierre nicht mitkommen, wenn kein offizieller Auftrag von Meister Adoy vorliegt. Zweitens wird er nicht mitkommen, wenn du dabei bist... Und drittens wird er sauer, wenn du seinen Schönheitsschlaf störst.“

„Der soll sich nicht immer so haben. Vorschriften sind da, um gebrochen zu werden. Außerdem... Ich hab kein Problem damit, dass er mich nicht mag. Aber dass er deswegen jede Art von Zusammenarbeit ablehnt, ist auf Dauer ganz schön anstrengend.“
 

Gerade hatten Ryu und Lan den Kiosk hinter sich gelassen, bei dem Ryu auf Ryami gewartet hatte. Jetzt gingen sie genau auf die Ludwig-Brücke zu. Bis auf ein paar Autos, die sie hin und wieder überfuhren, war die Brücke noch immer ganz leer. Die Miss war, natürlich, schon seit Stunden weg. Ryu hatte nicht die geringste Ahnung, warum Lan ausgerechnet hierher kam.

Aber die Frage musste er gleich zurückziehen. Lan wollte gar nicht auf der Brücke nach ersten Anhaltspunkten suchen. Er bemerkte nur, dass diese Brücke ein recht merkwürdiger Treffpunkt für heimliche Treffen war. Immerhin war sie von allen Seiten gut einsehbar. Dabei überquerte er sie ohne stehen zu bleiben.
 

Auch hinter der Brücke folgten Lan und Ryu weiter der Bundesstraße. Noch etwa einen halben Kilometer bis zur Stadtgrenze. Die Wohnhäuser nahmen schon jetzt immer weiter ab. Stattdessen erstreckten sich rechts neben der Straße große Wiesenflächen und kleine Wälder. Der Himmel hatte sein nächtliches Schwarz bereits gegen ein blasses Dunkelblau getauscht. Und im Osten lugten schon die ersten Sonnenstrahlen über den Horizont.

„Nur um mal gefragt zu haben... Wo gehen wir eigentlich hin?“

Lan grinste und steckte sich seine zweite Zigarette in den Mund. „Ins Gewerbegebiet. Dort sollten wir die Miss antreffen.“

„Woher weißt du das schon wieder?“

„Tja... Ich bin eben schlau.“
 

Das Gewerbegebiet lag etwa drei Kilometer außerhalb der Stadt. Zwei Kreuzungen hinter der Autobahnauffahrt.

Vor etwa fünf Jahren hatte die Stadt begonnen, mehrere hohe Bürogebäude zu errichten und auf weiten Freiflächen ein paar große Unternehmen anzusiedeln. Was sich dort genau befand, wusste Ryu gar nicht. Ein Zulieferer für Autoteile hatte dort einen Betrieb eröffnet, das wusste er aus den Zeitungen. Der Betrieb hatte einige Startschwierigkeiten gehabt. Aber von den anderen ansässigen Gewerben hörte man so gut wie nie etwas. Es hatte vor drei oder vier Jahren auch Verhandlungen der Stadtverwaltung mit einem Forschungsinstitut für Psychologie und Medizin gegeben. Viele Bürger hatten ihre Bedenken bezüglich Versuchen mit Menschen und Tieren geäußert. Aber wie die Verhandlungen ausgegangen waren, hatten die wenigsten mitbekommen.

In den vielen Bürogebäuden dagegen konnten sich Hinz und Kunz einmieten. Auf Briefköpfen von öffentlichen und privaten Unternehmen las man die Adresse recht häufig.

Bedeutete die Tatsache, dass die Miss hier sein würde, dass sie Unternehmerin war?
 

„Ryu?“ Lan ließ seinen Zigarettenstummel auf den Boden fallen und trat ihn aus.

„Was denn?“

„Vor ein paar Tagen hat mich dein Vater angerufen. Er hat etwas erfahren über diese Sache.“

„Ach ja?“ murmelte Ryu gleichgültig.

„Ja. Wenn er recht hat, haben wir wirklich gut daran getan, was zu unternehmen. Es sieht viel übler aus als ich bisher befürchtet hatte. Bei Gelegenheit erzähl ich dir mal mehr darüber.“

„Ich kann mir nicht vorstellen, dass er irgendwas rausgefunden hat, was uns weiterhelfen würde. Und wenn doch, würde er uns sicher nicht einweihen.“

Ryus Blick hatte sich etwas verfinstert. Lan beobachtete ihn aus den Augenwinkeln. Immer dasselbe! Kaum, dass er Ryus Vater erwähnte, wurde der total bockig. Dabei konnten sie seine Hilfe wirklich brauchen, sollten sie ihr Ziel weiter verfolgen.

„Wieso hast du nur so eine schlechte Meinung von ihm? Er ist ein großartiger Zalei und ein guter Mensch. Wir haben das gleiche... oder zumindest ein ähnliches Ziel. Warum sollten wir nicht zusammenarbeiten?“

„Hmh... Meine Definition von ‚guter Mensch‘ unterscheidet sich offensichtlich grundlegend von deiner.“
 

Etwa um sechs Uhr erreichten Lan und Ryu das Gewebegebiet. Der Himmel war schon taghell. Vögel sangen. Auch die Zahl der Autos auf der Bundesstraße nahm immer weiter zu. Die Stadt wurde langsam wach.

Etwas umständlich betraten die beiden Zalei die Siedlung. Man musste zuerst eine Abzweigung nach links einschlagen, dann eine kleine Parallelstraße zur Bundesstraße und dann konnte man praktisch ‚rückwärts‘ auf das Gelände, auf dem sich die Bürogebäude erhoben.

Aber hier war auch Lan ratlos. Er hatte herausbekommen, dass die Miss in einem Betrieb im Gewerbegebiet zu finden sein würde. Aber wo genau dieser Betrieb war, wusste auch er nicht. Er war zum ersten Mal hier.

So blieb ihm und Ryu nicht anderes übrig, als die Adressschilder jedes einzelnen Gebäudes zu überprüfen. Lan wollte aber auch nach mehrmaliger Nachfrage nicht sagen, nach was sie genau suchten. Sonst hätte er den schönen Überraschungs-Effekt ruiniert, wie er meinte.

Die Suche dauerte fast eine Stunde. Fündig waren sie danach jedoch nicht geworden. Keines der Bürogebäude trug ein Schild, das auf die Miss hinwies.

Lan atmete laut aus und steckte sich eine dritte Zigarette an.

„Wenn das so ist, haben sie offensichtlich kein gesondertes Verwaltungsgebäude. Dann sind die Büros und offensichtlich auch im Zentrum.“

„Was für ein Zentrum?“

Lan antwortete nicht. Er grinste nur und zeigte nach Osten. Dort, wo sich die großen Grundstücke mit den großflächigen Gewerbebetrieben befanden.
 

Also wieder raus aus der Bürosiedlung, die Straße zurück und zu den anderen Betrieben. Den Autoteilezulieferer ließen sich hinter sich. Ryu hätte es auch gewundert, wenn die Miss hier gewesen wäre. Bei der Einfahrt danach betraten sie das Grundstück.

Hier stand ein großer Komplex aus mehreren drei- bis vierstöckigen Häusern, die sich weitlaufend über das Grundstück erstreckten.

Von der Einfahrt führte links eine Auffahrt zu einem Parkplatz. Hier stand schon ein Schild mit dem Namen des Unternehmens. Und der gleiche Name prangte auch auf einem unübersehbaren Schild am ersten der Gebäude. ‚K.R.O.S.S.‘ lasen Lan und Ryu in gigantischen, schwarz-silbern glänzenden Buchstaben.

„Das ist nicht dein Ernst...“

„Wenn ich jemals ernst gewesen wäre, dann jetzt.“ bestätigte Lan Ryu, der ganz entgeistert auf den Schriftzug vor ihnen sah.

„Unsere Miss nennt sich ‚Obscure‘. Ihren richtigen Namen kenne ich nicht. Sie ist nicht nur einfach ein Mitglied von K.R.O.S.S., sondern keine geringere als die Chefin persönlich.“

„Das ist verrückt... Aber noch verrückter bist du! Du kannst doch nicht ins K.R.O.S.S.-Hauptquartier einbrechen!“

Lan lachte lauf auf. Das konnte nur eines bedeuten: er war verrückt. Und er wollte sich tatsächlich den Brief von der K.R.O.S.S.-Chefin aus dem K.R.O.S.S.-Gebäude holen. Ryu überlegte schon, ob er ihn vielleicht überwältigen und wieder nach Hause bringen sollte.
 

Gleich das erste der Gebäude, das mit dem Schriftzug, entpuppte sich als das Verwaltungsgebäude. Die anderen waren demnach die Forschungsinstitute. Irgendwo in diesem ersten Gebäude musste also die Miss und damit auch die Botschaft sein.

Die Eingangstür war verschlossen. Um diese Uhrzeit wunderte die beiden das aber auch nicht.

Fragte sich nur, wie sie unter diesen Umständen an den Brief kommen sollten.
 

„Kein Problem. So einfache Besuche durch die Eingangstür sind mir sowieso zuwider.“ Lachte Lan.

Er hatte schon einen Plan. Ryu sollte Onyx und Sleipnir vor der Auffahrt zu den Stellplätzen postieren und bei ihnen warten. Er selbst würde die Botschaft holen und dann gleich wiederkommen.

„Gleich?“ wiederholte Ryu skeptisch.

Lan zog ein zerknittertes Blatt Papier aus seiner Hosentasche und nickte grinsend. Ryu erkannte auf dem Zettel neben einer schematischen Skizze von irgendwas nur eine Menge Wörter in Lans unleserlicher Sauklaue. Er wurde, mit anderen Worten, nicht schlau daraus. Aber Lan versicherte ihm, damit würde er in weniger als einer Stunde mit der Botschaft wieder hier sein.

Ryu befolgte Lans Anweisungen. Bisher war noch jeder von Lans unmöglichen Plänen irgendwie aufgegangen. Manchmal auch erst nach einer stuntreichen Flucht, aber immerhin.

Ihre Handys würden beide auf Vibrationsalarm einstellen. Nur für den Fall der Fälle.
 

Dann lief Lan los. Nach einem kurzen Kontrollblick auf seinen Spickzettel und die Fassade des Gebäudes, ging die neue Mission los. Lan stieg erst auf die Leiste mit den Adressschildern, von dort aus auf das Glasdach über der Eingangstüre und schließlich auf den Sims unter den Fenstern im ersten Stock. Hier balancierte er langsam von der Front zur linken Außenmauer des Gebäudes. Dann verschwand er aus Ryus Sichtfeld.

Ryu hatte sich inzwischen mit den beiden Carn außerhalb des Grundstücks versteckt. Lan hatte ihn zwar gebeten, bei den Stellplätzen zu warten. Jedoch konnten sie sich etwas weiter draußen hinter einer Reihe von Büschen verbergen. Langsam kamen nämlich einige Mitarbeiter des Instituts an, die den Parkplatz anfuhren und zu Fuß wieder verließen. Ryu wäre ohne Zweifel entdeckt worden. Und auf klägliche Erklärungsversuche hatte er nach dem Zusammentreffen mit der Polizei in der Nacht keine Lust mehr.
 

Eine halbe Stunde verging. Eine Stunde. Eineinhalb Stunden. Lan war weder zu hören, noch zu sehen. Aber auch das Handy schwieg. Also war entweder alles in Ordnung oder so nicht in Ordnung, dass Lan Ryu nicht mehr verständigen konnte.

Einmal bei diesem Gedanken angekommen, wurde Ryu ihn nicht mehr los. Fast eine halbe Stunde zwang er sich noch, ruhig zu warten. Dann hielt er es nicht mehr aus und rief Lan an. Der nahm fast sofort ab und meldete sich flüsternd.

„Alles ok bei dir? Deine Stunde ist schon lang um.“

„Ja, alles klar. Ich hab´s gleich. Die gute Frau wollte ihr Büro einfach nicht verlassen. Sieht aus als sei sie ein ganz furchtbarer Workaholic.“

„Und das geht dir gegen den Strich?“

„Und wie!... Ich hab den Brief schon gesehen. Aber lesen konnte ich ihn noch nicht.“

„Schaffst du´s?“

„Natürlich. Ich bin doch schlau. Bin in einer viertel Stunde wieder da.“

„Gut. Bis gleich.“

Piep.
 

Auch diesmal hielt Lan seinen Zeitplan natürlich nicht ein. Doch übermäßig viel zu spät kam er auch nicht. Nach etwa fünfundzwanzig Minuten kam er angelaufen.

„Hey! Eine gute und eine schlechte Nachricht.“

„Die schlechte?“

„Zwei Security-Männer haben mich gesehen und sind gleich da.“ Lachte er.

Ryu atmete laut aus und schwang sich auf Sleipnirs Rücken. „Das hab ich mir fast gedacht. Und die gute?“

„Ich hab die Botschaft.“ Jetzt saß auch Lan auf dem Rücken seines Carn und stieß ihm in die Flanke.

Die Security-Männer waren tatsächlich nicht weit hinter ihm gewesen. Aber zu Pferd, beziehungsweise zu Esel, konnten sie sie bald abhängen. Schon bevor sie das Gewerbegebiet verlassen hatten, waren die Männer nicht mehr zu sehen.

Trotzdem bevorzugten beide auf ihrem Rückweg kleine, unauffällige Straßen.
 

Lan wollte Ryu erst zu Hause von der Botschaft erzählen. Denn er hatte darüber hinaus auch noch etwas anderes, über das er reden wollte. Anscheinend das, was er vorhin schon in Bezug auf Ryus Vater angedeutet hatte. Das schloss Ryu aus Lans Schweigen nach seiner Nachfrage.

„Wirst du Meister Adoy die Botschaft sagen?“

„Adoy? Auf keinen Fall! Ich werde auch niemand anderem sagen, dass ich sie hab… Du siehst dann schon warum.“
 

Lan wohnte in einer Wohngemeinschaft im alten Ortskern. Das Haus befand sich etwa auf halbem Weg zwischen der Ortsgrenze und Ryus Zuhause, ein bisschen mehr als einen Kilometer davon entfernt.

Die Carn brachten sie in den kleinen Garten. Normalerweise war Onyx nicht hier untergebracht. Er hatte seinen Stall im Fairy Tales Park. Aber diesen Umweg wollte Lan um diese Zeit nicht mehr machen.

„Hast du den Boten gesehen?“ fragte Lan, nachdem er die Tür seines Zimmers hinter sich geschlossen hatte.

„Eher nicht. Er hat sein Cap ziemlich weit ins Gesicht gezogen. Aber Ryami sagt, sie kannte seine Stimme.“

„Ja, das glaub ich. Hier!“

Er reichte Ryu einen Zettel, fast ebenso zerknittert wie sein Spickzettel. Aber die Schrift war leserlicher. Lan schmierte nur so furchtbar, wenn keiner außer ihm den Inhalt lesen durfte.

Ryu las den Text einmal, dann noch einmal. Und noch ein drittes Mal.

Lan hatte sich auf einen Sessel in der hinteren Zimmerecke fallen lassen und sich eine Zigarette angezündet. Gespannt, und gleichzeitig amüsiert beobachtete er Ryus Reaktion.
 

„Das… ist nicht wahr.“ Flüsterte Ryu schließlich heiser, immer noch fassungslos auf den Zettel in seiner Hand starrend.

Lan sah ihn ernst an. Er beugte sich vor, so dass seine Ellenbogen die Knie berührten.

„Doch. Ich fürchte, das sind die Tatsachen… Willst du jetzt hören, was Taro gesagt hat?“
 


 

***
 

Ihr seht: da laufen so eine Dinge im Hintergrund ab. Langsam bekommen wir eine kleine Ahnung von den bösen Verschwörungen...

(Ich hoffe nur, dass SaC nicht genauso endet wie Aisia. Die Geschichte musste ich abbrechen, weil ich mich mit meinen ganzen Komplotten selbst total verwirrt hab. *lol*).
 

Im nächsten Kapitel wird endlich das große Geheimnis um die Klassenfahrt nach Paris gelüftet und was es mit den Fotos auf sich hat. Ich fürchte, da wird Kei wieder etwas leiden müssen. *fies lach*
 

Bis dann! ^^

Ein gewöhnlicher Sonntag

Ein gewöhnlicher Sonntag
 

Etwa 45 Minuten fuhr man mit der Bahn bis zum Fairy Tales Park, vorausgesetzt man hatte das Glück, von Betriebsstörungen der Bahn verschont zu bleiben. Mit Fußweg vom Park zum Bahnhof und vom Bahnhof zum Haus waren Kei und Yuki also eine gute Stunde unterwegs gewesen.

Gesprochen hatten sie in dieser Zeit wenig. Kei hatte noch immer über seine unerwartete Begegnung mit Atari gegrübelt. In der Mittagspause hatte er ihn noch einmal getroffen, zugegeben nicht ganz zufällig. Genau genommen hatte er sogar den halben Park nach seinem ehemals besten Freund abgesucht, bis er ihn schließlich fand.

Kei und Yuki arbeiteten von halb zehn bis zwölf und dann noch einmal von fünfzehn bis dreiundzwanzig Uhr. Kei hatte fast zwei Stunden der Mittagspause mit Atari verbracht. Sie hatten zusammen schlachtfrisches Würmerallerlei in der Hexenküche gegessen, außerhalb des Parks bekannt als Spaghetti Bolognese. Und sie hatten viel, viel geredet. Für diese zwei Stunden hatte Kei wirklich das Gefühl gehabt, dass sich zwischen ihnen überhaupt nichts verändert hatte. Immerhin über einen Monat war es her, dass sie einander das letzte Mal gesehen hatten. Aber sie hatten sich unterhalten als wäre es erst gestern in der Schule gewesen. Atari schien ihn noch immer in- und auswendig zu kennen. Aber war deswegen alles ungeschehen, was in der Zwischenzeit passiert war?
 

Auch Yuki hatte während der Zugfahrt seinen Gedanken nachgehangen. Er hatte sich auch jetzt noch Sorgen um seinen Bruder gemacht, wo er schon von dessen glücklicher Heimkehr gewusst hatte. Wenn Yuki etwas gesagt hatte, dann, dass er Ryu beim Frühstück ordentlich aushorchen würde.
 

Das tat er aber natürlich nicht. Na ja, sagen wir, er schaffte es nicht.

Ryu war ein wahrer Meister der Redekunst. Egal wie Yuki versuchte, das Thema anzusprechen, er wich geschickt aus und lenkte das Gespräch auf irgendein anderes. So wusste Ryu inzwischen alles über Keis und Yukis ersten Arbeitstag, die aber überhaupt nichts über seinen Auftrag.

Zuerst war Kei auch noch sehr neugierig gewesen. Aber er hatte bald begriffen, dass aus Ryu keine Informationen zu bekommen waren. Also amüsierte er sich nur noch über Yukis klägliche Versuche. Eine Taktik, die Kiku anscheinend von Anfang an betrieben hatte. Sie kannte ihren Zalei-Lehrer und vielleicht-Freund offensichtlich besser.

„Du bist so doof!“

Oh-oh. Eine Premiere: Kei sah Yuki zum erstenmal wütend. Sonst war er immer so etwas wie der Sonnenschein in der WG gewesen. Immer gute Laune, immer lächelnd und immer am Schlichten. Aber jetzt war er definitiv sauer. Er konnte sogar laut werden, womit Kei bis dato überhaupt nicht gerechnet hatte.

„Ich hab mir Sorgen gemacht! Wenn du nicht einmal sagen willst, was Meister Adoy wollte... Du tust das so einfach ab, aber jüngere Geschwister können sich auch mal Sorgen um ältere machen.“

Ryu antwortete nicht, aber er schien doch einsichtig. Immerhin versuchte er auch nicht mehr auszuweichen und sah Yuki direkt an, der vom Stuhl aufgesprungen war, die Hände auf den Tisch gestützt. Ryu atmete laut aus.

„Woher soll ich denn wissen, ob du nicht so wie Papa-“

„Halt deinen Alten da raus!“

Zweites Oh-oh. Jetzt war Ryu auch wütend. Einen Moment herrschte angespannte Stille. Die beiden Brüder starrten einander an, als würden sie sich gleich zerfleischen. Die Atmosphäre war zum Zerreißen gespannt. Kei konnte die Luft förmlich knistern hören. Wenn Blicke töten konnten...

Doch schließlich beruhigten sich die Gemüter wieder. Yuki setzte sich wieder und Ryu blinzelte den Mörderblick aus seinen Augen.

„Dein Alter ist er auch... So ist das ja nicht...“ murmelte Yuki, wohl wissend, dass Ryu nicht besonders gut auf ihren Vater zu sprechen war.

„Ich fürchte, das kann ich nicht einmal leugnen.“ seufzte Ryu und strich sich mit gesenktem Blick ein paar Haarsträhnen aus dem Gesicht. „Es ist wirklich nichts Aufregendes passiert. Ryami und ich sollten nur jemanden beobachten, das ist alles.“

„Wirklich?“

„Wirklich.“
 

Das Frühstück verlief ab hier völlig normal.

Kiku hatte sich vorgenommen, ihren drei Männern zur Feier des freien Sonntags Rührei zu braten. Diese Aktion war natürlich total schief gegangen. In der Küche sah es einmal mehr aus wie im Schweinestall. Das Rührei war großteils glibbrig, aber trotzdem an anderen Stellen schon angebrannt und total versalzen. Mit anderen Worten, absolut ungenießbar. Nicht einmal Jack wollte das Sonntagsmahl haben, obwohl er ja eigentlich an Kikus Kochkünste gewöhnt hätte sein müssen.

Wieder einmal hatte Kiku bewiesen, dass sie eine miserable Köchin war. Und so beschloss der WG-Rat einstimmig, Kiku ein- für allemal vom Küchendienst freizustellen. Der Haushaltsplan wurde dahingehend geändert. Für den Rest der Woche, immerhin noch fast 13 Stunden, war Yuki fürs Essen zuständig.

„Gut. Was wollt ihr dann heute Abend essen?“

„Ach... Wie wär´s mit... Pfannkuchen? Oder Crêpes, wenn dir das lieber ist.“ Kei konnte sich diesen kleinen Scherz einfach nicht verkneifen. Kiku brach sofort in schallendes Lachen aus, vermutlich aber eher wegen Yukis leidendem Gesichtsausdruck. Sogar Ryu lachte.

Yuki fand das aber gar nicht lustig. Obwohl er ja zu Hause eine handelsübliche Pfanne und eine ganz normale Kelle hatte. Trotzdem bekam Kei sofort eine Strafe für sein loses Mundwerk: einmal kräftig mit dem Zeigefinger gegen die Stirn geschnippt und dann die Haare in perfekte Vogelnestform gebracht. Noch ein Anlass zum Lachen.
 

Ansonsten versprach der restliche Tag das Musterbeispiel eines langweiligen Sonntags zu werden. Ryu zog sich bald in sein Zimmer zurück, um irgendwelchen Unikram zu erledigen. Kei kämpfte schon wieder mit Robin um seine Habseligkeiten, die der so gerne zerbiss. In diesem Fall ging es um einen Turnschuh.

Doch dann merkte Kiku ganz nebenbei an, dass sie heute ihre Mitschülerin Taki eingeladen hatte. Tja, das fiel ihr wohl genau jetzt ein, weil sie Taki schon vom Esszimmerfenster aus gesehen hatte. Die Glocke läutete schon, kaum dass sie ihre Ankündigung ausgesprochen hatte.
 

Schüchtern und zögerlich, eben genau so wie man es von jemandem, der mit Kiku befreundet war, niemals erwarten würde, trat Taki ein. Sie lächelte freundlich und begrüßte alle Anwesenden mit einer knappen Verbeugung. Kei sah sie ganz besonders lange an. Und ihr Lächeln wurde breiter.

Zuerst fühlte sich Kei natürlich geschmeichelt, von so einem hübschen Mädchen ganz besonders herzlich angelächelt zu werden. Aber dann kam ihm die Sache doch etwas suspekt vor. Dieses Gefühl wurde noch verstärkt, als Kiku sich dem Grinsen anschloss. Das konnte nichts Gutes heißen.

Und dann fiel es ihm wie Schuppen von den Augen: seine Haare! Da war ja immer noch dieses Vogelnest, das Yuki ihm vorhin auf den Kopf gezaubert hatte. Mit einem leichten Rotton auf den Wangen machte sich Kei sofort daran, seine Haare so gut es ging wieder nach unten zu streichen.

Da hatte Yuki etwas angerichtet. Einmal durcheinander war es so gut wie unmöglich, Keis Haare wieder unter Kontrolle zu bringen.

Kiku und Taki waren inzwischen schon nach oben in Kikus Zimmer verschwunden. Nach dem Kampf mit seinen Haaren half Kei Yuki, den Tisch abzuräumen. Danach fing er in einer wie immer spektakulären Aktion Robin ein und ging ebenfalls nach oben.
 

Robin stürzte sich sofort auf Keis alten Rucksack, der vor dem Regal auf dem Boden lag. Kei hatte ihn als Attrappe dort plaziert, damit Robin seine neueren Sachen in Ruhe ließ.

Kei setzte sich laut ausatmend auf sein Bett und griff nach dem Buch, das ihm Lan gegeben hatte. Die Informationen darin waren sehr nützlich. Kei verstand ganz langsam etwas mehr, warum die Zalei so waren wie sie waren. Seit gestern hatte er gelegentlich immer ein paar Seiten gelesen. Vor dem Frühstück hatte er mitten im Kapitel über den Zalei-Rat aufhören müssen. Hier las er nun weiter... wenn er nicht gerade in Robins Richtung schimpfte oder sich über das Gekicher wunderte, das aus Kikus Zimmer über den ganzen Gang bis zum ihm drang.

In jedem Land der Erde, in dem Zalei lebten, bestand ein Zalei-Rat. Die Größe dieses Rates richtete sich nach der Zahl der Zalei in dem Land. Bei ihnen in Japan bestand der Rat aus 12 Mitgliedern und seinem Vorsitzenden. Die größten Räte waren die in Nordamerika und Zentralasien. Dort hatte der Schamanismus ohnehin die längste Tradition. In den Rat gewählt werden konnte jeder Zalei, der die Prüfung bestanden hatte. Ernsthafte Chancen hatte aber nur, wer sich durch besonderes Talent oder Verdienste von anderen abhob.

Die Aufgaben des Rates waren hauptsächlich die Überwachung und Regelung der Zalei-Aktivitäten in ihrem Land. Also, dass kein ungeeigneter Zalei wurde, kein Zalei ohne ordentliche Ausbildung sein Talent gebrauchte und dass kein Zalei sein Talent für Illegales missbrauchte.

Über den Räten der Länder befand sich noch ein internationaler Rat. Diesem gehörten die Vorsitzenden der Länderräte an. Der internationale Rat hatte ausschließlich beratende Funktion, um die internationale Arbeit zu koordinieren. Er konnte aber nicht direkt regelnd eingreifen.
 

Bis zu diesem Absatz kam Kei. Doch dann klopfte jemand kurz gegen seine Tür und öffnete sie dann auch gleich. Kiku streckte ihren Kopf herein. Sie grinste.

„Hey! Taki und ich wollen Karten spielen.“

„Schön. Viel Spaß!“

„Ha ha. Spielst du mit? Zu zweit ist es langweilig.“

„Was ist mit Ryu oder Yuki?“

„Ryu muss noch eine Arbeit schreiben und Yuki spielt nur mit, wenn du mitspielst.“ Grinste Kiku.

„Ich mag aber nicht.“

„Komm schon. Wir spielen zwei gegen zwei. Taki und ich gegen Yuki und dich. Du hast doch gerade eh nichts besseres zu tun.“

„Doch. Ich lese und streite mit Robin. Und danach muss ich noch meine neue CD anhören und eine Packung Kekse essen.“

„Prima. Die Kekse kannst du gleich mitbringen.“

„Bitte spiel doch mit, Kei-san. Je mehr wir sind, desto lustiger.“ Lächelte Taki bittend, die jetzt über Kikus Schulter ins Zimmer blickte.

Und da passierte es. Kei gab doch nach. Einem so süßen Mädchen konnte er keinen Wunsch abschlagen, auch wenn er es kurz darauf schon bereute.

Kiku hatte die ältesten Kinderspiele überhaupt ausgegraben. Zuerst spielten sie eine Runde Memory, dann Schwarzer Peter und schließlich Monopoly. Kei fragte sich die ganze Zeit, wie man bei diesen Spielen zwei gegen zwei spielen sollte, abgesehen von der Tatsache, dass Kiku und Taki heimlich zusammenarbeiteten, um ihn zu ärgern. Bald hatte jede von ihnen eine ganze Reihe von Straßen gekauft und über Keis Haupt kreiste der Pleitegeier. Bildlich gesehen. Tatsächlich war es Jack, Kikus Äffchen, das da an der Zimmerlampe herumturnte.

Kiku würfelte schwungvoll wie immer. Und der Würfel sauste über das Spielbrett hinweg, über Los, zwischen Kei und Yuki hindurch und unter den Schreibtisch.

„Ups... Kei-chan...“ Kiku warf ihm ihren süßesten Blick zu.

„Ja ja...“

Kei drehte sich um, schob den Schreibtischstuhl zur Seite und sah sich nach dem Würfel um. Kiku hatte ganze Arbeit geleistet. Er war fast bis zur Wand hinter gerollt. Kei musste sich strecken und ein Stück unter den Tisch kriechen, um ihn zu erreichen.

„Vorsicht, Kei!“ rief Kiku plötzlich hinter ihm. Kei erschreckte so sehr, dass er mit dem Kopf gegen die Tischplatte knallte.

„Autsch! Was denn?“

„Nichts... Ich wollte dich nur warnen, dass Jack gleich auf den Tisch springt.“

„... Danke.“

Den Würfel in der einen Hand, sich mit der anderen den Kopf haltend, kehrte Kei wieder in die Runde um das Spielbrett zurück.

„Es war eine Zwei und die zählt auch.“ Grinste er.

Damit landete Kiku direkt in seinem neuen Fünfsterne-Luxushotel. Das war Keis kleine Rache. Sein Kopf tat immer noch etwas weh. Das würde eine ordentliche Beule geben.

„Unfair! Ich will nochmal würfeln.“

„Nein. Eine Beule reicht mir. Und pleite bin ich eh.“

Taki lachte. Anscheinend hatte sie langsam Mitleid mit Kei. Sie hörte sogar auf, auf dessen Kosten zu schummeln. Damit hatte Kiku fortan einen schweren Stand. Nicht, dass Kei seinen gewaltigen Rückstand noch aufholen konnte. Aber Yuki zog langsam an ihr vorbei. Kiku ärgerte sich ganz gewaltig darüber.

„Tja, Kiku-chan war noch nie ein guter Verlierer.“ Lachte Taki.

„Kennt ihr euch schon lange?“ erkundigte sich Kei, eher mit der Absicht, ein Gespräch mit Taki zu beginnen als etwas über ihre Freundschaft mit Kiku zu erfahren.

„Ja, wir sind seit der Fünften in einer Klasse.“ nickte sie.

„Stimmt! Du hattest damals immer so einen Haarreifen mit einer großen Schleife auf.“

„Und du bist jeden Tag mit diesen abgetragenen Turnschuhen gekommen.“ lachte Taki.

„Die waren aber bequem... Wie sahen die eigentlich nochmal aus...?“

Kiku stand auf und holte einen Schuhkarton aus dem Regal. Sie setzte sich wieder in die Runde und öffnete die Schachtel. Natürlich waren da nicht ihre alten kaputten Schuhe drin. Stattdessen kamen viele, viele Fotos zum Vorschein.

Eine Weile kramte Kiku im Karton. Dann zog sie ein altes Klassenfoto heraus, das sie den anderen zeigte.

„Damals war ich noch ein richtig süßes Kind.“ Nickte sie überzeugt.

Kei konnte sich das zuerst gar nicht richtig vorstellen. Aber dann gab Yuki das Foto an ihn weiter. Tatsache. Da saßen Kiku und Taki neben einander in der vordersten Reihe der Klasse. Beide etwa zehn Jahre alt. Taki hatte kinnlanges Haar und trug einen Haarreifen mit Schleife. Kiku grinste frech in die Kamera. Sie hatte wirklich diese alten Turnschuhe an, dazu eine viel zu weite Jeans und ein geblümtes T-Shirt. Ihre Haare waren so lang, dass sie fast bis an ihre Ellenbogen reichten. Sie sah wirklich feminin aus und in der Tat sehr hübsch. Kaum zu glauben, aber sie hatte wirklich ein sehr hübsches Lächeln.

Moment. Kei erinnerte sich dunkel, dass er vor ein paar Tagen schon einmal zu dieser Erkenntnis gekommen war...

„Ah! Da hab ich noch was Schönes!“ rief Kiku und drückte Yuki ein anderes Bild in die Hand. Der warf einen kurzen Blick darauf und fing dann an zu lachen. Neugierig sah Kei ihm über die Schulter.

Ein Bild von Ryu. Er war damals wohl jünger gewesen als Kiku heute. Schon damals sehr gutaussehend saß er auf einer Treppe und sah zur Seite. Ganz offensichtlich hatte Kiku das Bild heimlich gemacht.

„Damals kannte ich ihn nur vom Sehen.“

Kiku zog noch ein paar amüsante Fotos aus ihrer Schachtel. Vor allem die Fotos aus ihrer ersten Zeit in der Zalei-WG waren sehr lustig. Jack hatte offensichtlich mehrmals täglich das ganze Haus auf den Kopf gestellt. Und Kiku hatte ganz schön darunter gelitten, sich immer wieder vor ihrem coolen Lehrer zu blamieren. Yuki war dann erst einige Monate nach Kikus Einzug von einer Reise mit seinem Lehrer zurückgekehrt und ebenfalls eingezogen. Deswegen gab es von ihm nicht so viele Bilder wie von den anderen. Auf einem, das musste Kei leider zugeben, sah Yuki aber wirklich verteufelt gut aus. Er saß in einer Latzjeans auf der Terrasse und hielt ein Buch in der Hand. Der Wind hatte seine Haare etwas durcheinander geblasen und er lächelte freundlich in die Kamera.

Yuki gefiel Kei auf dem Bild wirklich. Aber das sagte er natürlich nicht. Er wollte Yuki nicht noch mehr falsche Hoffnungen machen.

„Oh! Da hab ich noch ein ganz besonderes Juwel meiner Sammlung.“

Kiku lachte laut und sah geheimnisvoll in die Runde, bevor sie die Hand mit den Bildern aus der Schachtel zog. Kei erkannte ein ganzes Bündel von etwa fünf oder sechs Fotos in einer Hülle. Er wusste aber nicht, was daran so besonders sein sollte.

Zuerst hielt Kiku die Hülle mit den Fotos nur Taki hin.

„Du kennst die noch, oder?“

Taki lächelte und nickte knapp. Kiku öffnete die Hülle und holte den ganzen Stoß Fotos heraus. Die beiden Mädchen sahen ein Foto nach dem anderen an und kicherten dabei immer lauter. Kei und Yuki warfen einander fragende Blicke zu. Sie hatten nicht die geringste Ahnung, was auf den Bilder zu sehen sein konnte. Wahrscheinlich irgendwas, was Mädchen eben toll fanden. Kleine Tiere, irgendwelche Stars. Nichts, was ihn interessieren würde.

Als die Mädchen alle Fotos durch hatten, hielt Kiku Yuki den Stapel hin.

„Hier. Die kennst du noch nicht.“ grinste sie.

„Kiku. Das ist gemein.“ Wandte Taki ein.

Gemein...?

Yuki nahm die Fotos.

„Ist doch egal. Ob sie jetzt einer mehr kennt oder nicht...“

Kei grübelte noch immer.

Yuki hingegen war schon beim dritten Foto. Er schien ziemlich überrascht von dem, was er da sah. Eine zarte Röte lag auf seinen Wangen.

„Nicht, dass ich deswegen aufhören würde, sie anzuschauen... Aber das ist wirklich gemein, Kiku.“

Jetzt wurde Kei doch zu neugierig. Er rückte ein Stückchen näher zu Yuki, so dass er über dessen Schulter einen Blick auf die Bilder werfen konnte. Und ein Blick reichte ihm schon.

Sofort sprang er mit hochrotem Kopf auf.

„Du hast diesen Müll noch?!“ rief er wütend.

„Na klar. So was werf ich doch nicht weg. Ist doch lustig.“ Lächelte sie.

„Lustig, ja? Find ich überhaupt nicht!“

„Gerade du! Das hättest du dir vielleicht überlegen sollen, bevor du so etwas machst.“

Natürlich hatte Kiku da recht. Aber das änderte nichts an Keis Laune. Die Fotos waren ihm absolut peinlich. Und dass ausgerechnet Yuki sie jetzt auch kannte, war ihm mehr als nur unangenehm.

„Das war doch alles nur Blödsinn... nur eine saublöde Wette.“

Yuki gab Kiku die Bilder zurück. Kiku sah sie noch einmal durch, bevor sie sie wieder in die Hülle und in die Schachtel steckte.

„Also, ich muss sagen, mich erstaunt sehr was ich da gerade gesehen hab. Das waren also diese Paris-Anspielungen von Kiku in der letzten Zeit...“ lächelte Yuki etwas verlegen.

„Ja. Ich kannte die Fotos. Die kursierten vor zwei Jahren an der ganzen Schule. Drei verschiedene Fünfersets aus der Stadt der Liebe...“ Lachte Kiku.

Kei hatte sich abgewandt. Seine Wangen glühten so heiß, dass er den anderen sein Gesicht nicht zeigen wollte.

„Und das war eine Wette...?“ Yuki warf ihm einen vorsichtigen Blick zu.

Kei seufzte leise.

„In der Elften waren wir auf Klassenfahrt in Paris. Ich hab ja gesagt, dass ich keinen Alkohol vertrage... An einem Abend haben wir im Gemeinschaftssaal Karten gespielt. Und dann kam irgendwer auf die blöde Idee mit der Wette. Na ja, wie ihr gesehen habt, haben Atari und ich haushoch verloren...“

„Und... das war der Einsatz?“

„Genau. Ein filmreifer, leidenschaftlicher Kuss vor der Kulisse des Eiffelturms...“ flüsterte Kei kaum hörbar.

Und genau das zeigten auch die Fotos: Atari und ihn vor dem Eiffelturm küssend, ohne Zunge, mit Zunge, den Kopf in den Nacken geworfen, in leidenschaftlicher Umarmung, Keis Hand in Ataris Haar gekrallt, Ataris Hand unter Keis Hemd... in drei verschiedenen Fünfersets.

Wochen- und monatelang waren die wüstesten Gerüchte um die beiden kursiert. Eigentlich hatten die Gerüchte sogar erst geendet, als Atari gegen Ende der Zwölften mit Mi-chan zusammengekommen war.

Kei wollte im Boden versinken, jedesmal wenn er auch nur an die Fotos denken musste. Aber wenn keine Fotos von diesem Kuss gemacht worden wären, wenn nicht die ganze Klasse mitsamt Lehrer zugesehen hätte... Kei war sich auch nach zwei Jahren nicht ganz sicher, ob er den Kuss dann trotzdem bereuen würde.

„Kizuta-kun... Kann er gut küssen?“ fragte Yuki grinsend, als hätte er Keis Gedanken gelesen.

Kei lief sofort hochrot an. Auch auf Takis Wangen legte sich ein zartes Rot. Sie hatte langsam wieder Mitleid mit Kei. Kiku dagegen lachte laut auf.

Eigentlich wäre die Antwort ein deutliches „Ja“ gewesen. Aber noch mehr wollte sich Kei nun wirklich nicht in Schwierigkeiten bringen. Schlimm genug, dass alle von dem Kuss wussten. Dass er es nicht völlig widerwillig über sich ergehen lassen hatte, mussten sie nicht erfahren.

„Ach, ich schätze... Nicht halb so gut wie du, Yuki-kun.“ Zwinkerte Kiku.

Und Kei wäre am liebsten auf der Stelle im Erdboden versunken.
 

Nach einem qualvoll langen Moment der peinlichen Stille wurde Kei schließlich erlöst.

Ein gigantischer Knall hallte durchs Haus. Sofort fuhr Kei herum. Das Geräusch kam vom anderen Ende des Ganges, aus seinem Zimmer.

„Robin“ kam ihm sofort in den Sinn. Er atmete laut aus und machte sich mit großen Schritten auf den Weg in sein Zimmer, wo er Robin eingesperrt hatte.

Kei hatte es sich in den letzten Wochen zur Gewohnheit gemacht, alles Zerbrechliche und alles Wertvolle in Schubläden und Schränken zu verstauen. Aber Robin fand immer wieder etwas, das er kaputt machen konnte. Er ließ Kei deutlich spüren, dass er ein wildes Tier war. Das war mehr als anstrengend. Wenn das so weiterging, würde Kei noch eine richtige Abneigung gegen seinen Carn entwickeln.

Er öffnete die Tür und sein Blick fiel sofort auf den Schreibtisch... oder was davon übrig war. Robin hatte den Drehstuhl umgeworfen. Das war wohl der laute Knall gewesen. Danach hatte er den halben Schreibtisch abgeräumt. Blätter, Ordner und Stifte lagen überall im Zimmer verteilt. Robin saß mitten in diesem Chaos und biss auf der Kante eines Buches herum. Dessen Umschlag war schon völlig zerfetzt. Es war ein Bildband über europäische Großstädte, den ihm seine Mutter erst letzte Woche von ihrer Weltreise geschickt hatte. Kei war noch nicht weiter als bis London gekommen.

„Du kleine Ratte!“ seine Stimme zitterte vor Wut. Kei trat ins Zimmer und warf die Tür hinter sich zu.

Robin ahnte Schlimmes und ließ von dem Buch ab. Er zog sich rückwärts und mit gesträubtem Fell in die Ecke hinter dem Bett zurück. Von dort aus knurrte er Kei böse an. Doch dem war es jetzt zu bunt geworden, vor allem nachdem er durch Kikus Fotoshow ohnehin schon etwas geladen war. Diesmal ließ er sich von Robins Drohgebärden nicht mehr abschrecken.
 

Yuki und die Mädchen hatten Kikus Zimmer erst verlassen, als zum zweiten und dritten Mal laute Geräusche zu ihnen gedrungen waren. Doch dann waren sie doch besorgt zu Keis Zimmer gekommen. Yuki stand nun in der Tür und blickte auf das Schlachtfeld.

Schreibtisch, Regale, Kästchen, Schränke, sämtliche Möbel waren von allem befreit, was auf ihnen gestanden hatte. In dem Zimmer sah es aus als hätte eine Bombe eingeschlagen. Bücher, Decken, Dekorationsstücke, Stehlampen... Alles lag wild auf dem Boden verteilt.

Kei hatte Robin zu Fassen bekommen und hielt ihn mit aller Kraft auf dem Bett herunter gedrückt. Robin konnte seine Krallen in dieser Position nur in die Matratze senken. Aber ein Blick auf Kei zeigte sein voriges Ziel. Die paar Kratzer, die Yuki und Ryu in der Nacht beim Cardinal davon getragen hatten, waren nichts dagegen. Keis T-Shirt und Jeans wiesen deutliche Blutspuren auf. Woher diese stammten, ließ sich gar nicht auf den ersten Blick beurteilen. Hauptquell war wohl seine linke Hand, in die sich Robin fest verbissen hatte.

„Kei! Meine Güte! Was treibst du denn da?“ rief Yuki schließlich erschrocken und lief zu seinem Schüler. Kei sah zu ihm auf.

„Was ich treibe? Keine Ahnung... Aber diesmal hab ich gewonnen.“

Fragte sich nur, um welchen Preis. Yuki trennte die beiden Kontrahenten. Auch als er Robin aus Keis Griff befreit hatte, dauerte es noch eine ganze Weile, bis der seinen Biss endlich lockerte. Yuki umfasste seine Schnauze und drückte ihm die Lefzen gegen die Zähne. Als er endlich aufgab, versteckte er sich knurrend unter dem Schreibtisch.

Die beiden Streithähne warfen einander immer noch bitterböse Blicke zu.

„Kiku!“ rief Yuki jetzt zur Tür „Sag bitte Ryu, dass wir Kei zum Arzt bringen müssen. Wir brauchen das Auto.“

Kiku nickte und verschwand aus seiner Sicht.

„Arzt? Wieso? Sind doch nur ein paar Kratzer.“ Wunderte sich Kei.

Yuki seuzte leise. Er hatte ein Taschentuch um Keis linke Hand gewickelt. Doch dieses war schon nach wenigen Augenblicken komplett in Rot getränkt. ‘Kratzer‘ war gut. Es würde ihn nicht wundern, wenn zumindest diese Wunde genäht werden musste.

„Kei... Einen Zalei macht nicht nur aus, dass er den Körpertausch beherrscht. Es geht auch um das Leben mit den Tieren.“

Kei warf seinem Lehrer einen fragenden Blick zu.

„Robin ist dein Carn, dein Partner. Nicht dein Feind. Ihr teilt ab jetzt euer Leben. Ob es dir... oder ihm passt, ihr müsst euch irgendwie arrangieren.“

Kei erkannte den ernsten, besorgten Ton in Yukis Stimme. Er wagte, nicht Widerworte zu geben und senkte stattdessen den Blick beschämt auf den Fußboden.

Natürlich hatte Yuki recht. Aber Kei war nicht der geduldige Typ, der ein wildes Tier langsam zähmen konnte. Genauso wie Robin war er zu temperamentvoll und fuhr zu schnell und zu oft aus der Haut. Die Notwendigkeit, das zu ändern, sah er jedoch auch selbst.
 

Ryu klopfte gegen die ohnehin schon geöffnete Tür.

„Kiku sagt, ihr müsst zum Doc?“

„Kei hat sich einen kleinen Kampf mit Robin geliefert. Ich schätze, wenigstens seine Hand sollte sich mal ein Arzt ansehen.“ Nickte Yuki.

Ryu kam näher und warf einen Blick auf die Wunde. Er schien Yukis Meinung zu sein.

„Allerdings kämen wir bei einem Humanmediziner etwas in Erklärungsnot. Wie oft wird schon jemand von einem Fuchs verletzt, der nachweislich keine Tollwut hat und ganz sicher nicht eingeschläfert werden muss...“

„Was dann?“

Ryu wandte sich zur Tür.

„Ich wollte sowieso noch ein Wörtchen mit Pierre reden. Komm, Kei!“
 

~~~

Ich LEIDE!!! ;__;

Warum krieg ich dieses blöde Shonen-ai nicht mehr raus? *sniff* Die Jungs machen irgendwie nur noch was sie wollen. *heul*

Na ja, den einen oder anderen Leser wird´s vermutlich freuen. ^^°
 

Kleine Werbung: Midweather lädt jetzt die Geschichte von Black Cerise (Lans Band) als Fanfic hoch. Es geht um das Zusammentreffen der Bandmitglieder, deren Hintergründe und ihren gemeinsamen Weg zum Erfolg. Der Titel ist "Year of Dandelion".

Wir beide würden uns sehr über Kommentare freuen.
 

Pete

Zwei und Zwei

Zwei und Zwei
 

„Mon dieu! Was ´ast du denn angestellt?“

Pierres Blick wanderte von Keis Kopf bis zu den Schuhen und zurück. Yuki und Ryu hatten Kei sofort eingepackt und waren mit ihm zu Pierres Praxis gefahren. Keine Zeit, auch nur die geringsten Blutspuren zu beseitigen oder sich wenigstens umzuziehen. Kei sah sicher gruselig aus. Das T-Shirt zerrissen, die Haare zerrauft, Kratzer an Armen und im Gesicht, Blutspuren auf der Kleidung und die linke Hand in ein dickes Tuch gewickelt.

„War das alles Robin? C´est incroyable!“

„Ähm… Nein, das mit den Haaren war Yuki.“ Erwiderte Kei kleinlaut.

Damit hatte er seinen Gegenübern ein flüchtiges Lächeln abgerungen. Und vielleicht die Situation insofern für einen kurzen Moment entspannt. Wer noch blöde Witze machen konnte, dem konnte es ja gar nicht so schlecht gehen.

Trotzdem führte Pierre ihn gleich durch das Wartezimmer in den Behandlungsraum. Yuki und Ryu blieben im Wartezimmer. Kei setzte sich auf Pierres Wink an den Tisch in der rechten Ecke. Währenddessen kramte Pierre einige Flaschen, Tuben und Verbandszeug zusammen.

„Wie kommst du dazu, mit deinem Carn zu kämpfen? Nischt nur, dass einem normalen Menschen nie einfallen würde, mit einem wilden Fuchs zu raufen. Er ist auch dein Partner. Ein Zalei sollte immer-„

„Schon gut. Die Predigt hat mir Yuki auf dem Weg hierher schon gehalten.“

Pierre setzte sich Kei gegenüber und unterbrach seinen Vortrag, als er in dessen gequältes Lächeln sah. Er nickte knapp.

„Bon. Isch verste´e. Yuki ist in dieser ´insischt sischer ein strenger Lehrer. Für seinen Meister ist die Beziehung zwischen Mensch und Tier der zentralste Aspekt der ganzen Zalei-Lehre. Verständlich, dass er das an Yuki weitergegeben ´at und der das nun an disch weitergeben möschte.“

Pierre wickelte langsam das Tuch von Keis linker Hand. Für den Weg bis zur Praxis hatte es ausgereicht, um die Blutung zurückzuhalten, wobei man anmerken muss, dass Ryu sämtliche Geschwindigkeitsbegrenzungen ignoriert hatte. Aber jetzt wurde sichtbar, dass nicht viel gefehlt hatte. Die Schichten, die näher an der Wunde gelegen hatten, waren knallrot. Und es trat noch immer Blut aus der Wunde. Die ganze Hand war so rot, dass man nicht einmal mehr die Abdrücke von Robins Zähnen erkennen konnte. Pierre atmete laut aus und strich sich einige blonde Strähnen hinter die Schultern.

„Da ´at Robin ganze Arbeit geleistet. Gut, dass ihr gekommen seid. Das muss auf jeden Fall genäht werden.“

Mit einem feuchten Tuch tupfte Pierre Keis Hand einigermaßen sauber. Dann desinfizierte er die Bisswunde und griff zur Nadel. Bevor Pierre anfing zu nähen, erklärte er Kei, dass das jetzt wehtun könnte und er es sagen müsse, wenn er aufhören solle. Tatsächlich fühlte sich Keis Hand aber verhältnismäßig taub an und er nahm nur ganz sanfte Stiche wahr. Die Sache war also gleich erledigt. Noch eine Salbe und ein Verband drauf und fertig. Kei konnte seine Hand jetzt allerdings überhaupt nicht mehr bewegen. Der Verband hätte wohl auch für einen Knochenbruch ausgereicht.

„Soll isch die restlischen Kratzer auch anschauen?“

Kei winkte ab. Der Rest waren nur kleinere Spuren von Robins Krallen, nichts schlimmes. Salbe und Pflaster hatte er schon in weiser Voraussicht gekauft und zu Hause gebunkert. Und so dick wie seine linke Hand wollte er keine weiteren Stellen eingepackt wissen.

Pierre lächelte freundlich und begleitete ihn hinaus.

Yuki stand auf und kam Kei gleich entgegen, als dieser das Wartezimmer betrat. Ein Blick auf den dicken Verband beruhigte ihn allerdings nicht unbedingt.

„Das ist schon in Ordnung so.“ lächelte Pierre. „Isch ´abe den Verband extra dick gemacht. So wie isch Kei einschätze, wird er sischer die Hand nischt freiwillig ruhig ´alten, wenn isch ihm das sage.“

„Das vermute ich auch.“ Lächelte Yuki ein wenig erleichtert.

Kei fühlte sich etwas verloren angesichts dieses Zweiseitenangriffs. Allerdings war ihm selbst am besten bewusst, dass die beiden recht hatten. Er hatte sogar schon angefangen, über einen Racheplan gegen Robin nachzudenken. Also schwieg er lieber.

Eine große Enttäuschung für Yuki, der Kei doch eigentlich etwas provozieren wollte.
 

Ryu war inzwischen aufgestanden und zu Pierre getreten.

„Hast du mal ´ne Minute? Ich muss mit dir reden.“ Seine ruhige, tiefe Stimme betonte, wie ernst Ryu es meinte. Pierre war sichtlich verblüfft.

„Ah… Oui, natürlisch. Isch ´abe doch immer ein offenes Ohr für disch….“

„Ich hab gestern mit Lan ge-„

„… Außer in diesem Fall.“ Pierre wandte sich um und wollte schon wieder ins Behandlungszimmer verschwinden. Doch Ryu hatte sein Handgelenk ergriffen und hielt ihn zurück.

„Pierre! Hör endlich auf mit diesem Kindergartentheater. Das ist kein Spaß.“

Ryu war wirklich nicht zum Spaßen zumute. Er hatte die Brauen ins Gesicht gezogen und seine Augen leicht zusammengekniffen. Pierre warf ihm über die Schulter einen flüchtigen Blick zu. Als er die Lage erkannte, seufzte er leise.

„Isch ´abe dir schon oft gesagt, dass isch mit Lan nischts mehr zu tun ´aben möschte. Er… ´at mir sehr wehgetan, tu sais. Das ist nischt so einfasch zu vergessen… Und dann kommt er plötzlisch angekroschen, wenn er meine ´ilfe brauscht? Non, Monsieur. Nischt mit mir.“

„Kein Mensch verlangt, dass du alles vergisst, was Lan jemals gemacht hat. Ich versteh ja, dass du gekränkt bist. Meine Güte. Aber das hier ist wirklich ernst. Hör dir wenigstens an, was ich zu sagen habe.“

„… Isch will nischt. Sobald Lan mit dabei ist… Non, das ist nischt gut.“

„Pierre! Hier geht es um etwas viel größeres. Da ist es egal, ob du Lan magst oder nicht. Genauso wie es egal ist, ob ich meinen Vater mag oder nicht.“

Pierre drehte sich langsam um. Er sah Ryu aus seinen großen wasserblauen Augen an.

„Du hast mit Taro gesproschen…? Soll isch dir das abkaufen?“

Ryus Miene verfinsterte sich.

Einen Moment legte sich absolute Stille über die Szene. Kei und Yuki waren nicht mehr mehr als zwei Statisten, die sich stumm im Hintergrund hielten und die Hauptdarsteller beobachteten. Kei verstand nicht viel von dem, was gesprochen wurde. Pierre war aus irgendeinem Grund sehr wütend auf Lan. Kiku hatte gesagt, dass Lan Pierre früher zurückgewiesen hatte. Deshalb hatte Pierre ihnen auch die Karten gegeben, die Lan ihm geschenkt hatte, um ihn treffen zu können. Also… Lan wollte wohl eine Aussprache und Pierre nicht.

Was es allerdings mit Ryu und seinem Vater auf sich hatte, war ein nicht weniger großes Mysterium. Bei Gelegenheit würde er Yuki danach fragen. Dass Ryu wütend auf seinen Vater war, hatte Kei ja schon beim Frühstück mitbekommen.
 

Ryu senkte den Blick und lockerte gleichzeitig seinen Griff um Pierres Arm, sodass der sich mit einem Ruck befreien konnte. Pierre machte aber nur einen Schritt nach vorne. Er blieb.

„Ich habe nicht mit ihm gesprochen. Aber ich werde mich überwinden und es tun. Pierre. Im Moment ist Lan außen vor. Jetzt bin ich hier, um mit dir zu reden, nicht Lan. Bitte hör mir zu. Ob du danach mit Lan sprechen willst, oder ob du dich weiter stur stellst, ist dir überlassen. Ok?“

„Ryu… Alors… Du weißt, isch ´abe disch sehr gern. Und… du kannst misch um alles bitten. Aber nischt das.“

Kei hatte nach seinem letzten Besuch in Pierres Praxis nicht gedacht, dass das möglich wäre. Aber Pierre war jetzt ebenfalls völlig ernst geworden. Erschreckend ernst. Keine Liebesbekundungen, keine albernen Gesten oder Aussprüche, kein Lächeln.

„Isch weiß, was Lan für Intrigen spinnt. Es ist in der Vergangen´eit schon schief gegangen, vergiss das nischt… Du rätst mir, misch mit Lan zu versöhnen und ihn anzu´ören? Bon. Lass misch dir ausch einen Rat geben. Lan ist gefährlisch. Er spielt sehr, sehr gefährlische Spiele. Spielt bitte ohne misch. Es tut mir leid, dass isch disch… und ausch ihn nicht ab´alten kann. Isch werde niemandem verraten, dass ihr etwas plant. Aber erwartet nischt noch mehr von mir.“
 

Das waren so ziemlich die letzten Worte, die in der Praxis gesprochen wurden. Ihnen folgte nur noch ein knappes „Auf Wiedersehen“.

Auch auf dem Rückweg wurde im Auto nicht viel gesagt. Kei und Yuki wechselten einige Worte. Aber Ryu starrte stumm auf die Straße. Er hatte mit dieser Antwort von Pierre gerechnet. Eigentlich hätte er es sogar für sehr verdächtig gehalten, wenn Pierre anders reagiert hätte. Aber es ärgerte ihn trotzdem. In Pierre hätten sie einen einflussreichen Verbündeten gehabt. Zwar war Pierre nur ein Zalei des 5. Ranges, sogar ein Rang unter Ryu, aber er war derzeit der einzige Zalei-Tierarzt in der näheren Umgebung.
 

Zu Hause wurden die drei schon von Kiku und Taki erwartet. Die Mädchen, sogar Kiku, waren sichtlich erleichtert, dass Keis Verletzungen nicht schlimm waren. Nachdem Kei ihnen demonstriert hatte, dass er noch lebte, ging er gleich nach oben, um sich umzuziehen.

Als er die Tür zu seinem Zimmer öffnete und eintrat, fiel sein Blick sofort auf das rötliche Fellteil mit den funkelnden Augen, das sich unter den Schreibtisch zurückgezogen hatte. Von hier aus beobachtete Robin jede kleinste Bewegung von Kei, als er sich umzog und deine Kratzer versorgte. Gelegentlich knurrte oder fauchte Robin ein wenig, wenn Kei ihm zu nahe kam. Doch mehr als einen bösen Blick bekam er diesmal nicht zurück.

Kei ermahnte sich immer wieder und rief sich Yukis Worte in Erinnerung. Robin war sein Partner, sein Partner, nicht sein Feind… und daran änderte auch nichts, dass er ihn verletzt hatte…. Und auch nicht, dass Kei vermutlich den restlichen Tag mit Aufräumen verbringen würde.

Das Aufräumen war gar nicht so leicht. Pierre hatte gut Sorge getragen, dass Kei seine linke Hand nicht mehr benützen konnte. Nicht nur, dass es damit viel länger dauerte, den ganzen Kleinkram wieder einzusammeln, der über den gesamten Boden verteilt lag. Es war auch noch extrem schwierig, umgeworfene Möbelstücke mit nur einer Hand wieder aufzustellen.

Da kam zum Glück Hilfe. Yuki trat mit dem sanften Lächeln ein, das er so oft aufsetzte.

„Ich dachte, ich geh dir ein wenig zur Hand, wo du doch nur eine hast.“

Zu zweit ging es schon wesentlich schneller. Allerdings entging auch Yuki das übellaunige Tier unter dem Schreibtisch nicht. Er versuchte mehrmals, Robin aus seinem Versteck zu locken oder ihn wenigstens zu beschwichtigen. Aber Robin dachte nicht im Traum daran. Der knurrte munter weiter. Schließlich musste Yuki aufgeben.

„Du, Yuki? Kann ich dich was fragen?“

„Klar, nur zu.“

„Es geht um Ryu… Was ist denn mit ihm und eurem Vater?“

„Ryu und Papa?“ Yuki sah überrascht aus.

„Na ja. Ryu scheint ja nicht gerade begeistert, wenn jemand euren Vater erwähnt.“

„Ist nicht zu übersehen, was?“ lachte Yuki „Das ist eigentlich etwas albern… Du weißt ja, dass Ryu und ich nur den gleichen Vater haben. Er war… beziehungsweise ist mit meiner Mutter verheiratet. Aber daneben hatte er eine langjährige Affaire mit Ryus Mutter. Als Ryu noch keine zwei Jahre alt war, hat seine Mutter die Beziehung ein- für allemal beendet, vermutlich weil sie erfahren hat, dass Papas Ehefrau auch ein Kind erwartete. Papa hat sich immer noch um Ryu gekümmert, aber er war eben nie ein richtiger Familienvater.“

„Deswegen mag er ihn nicht?“

„Nein, nicht nur deswegen. Aber ich glaube, Ryu würde es nicht mögen, wenn sein kleiner Bruder den Rest auch erzählt.“

Yuki lachte kurz auf und steckte weiter die Stifte, die er aufgesammelt hatte, in die Stiftehalter zurück. Kei sah ihn nach wie vor fragend an.

„Es gab kein dramatisches Schlüsselereignis, wenn du das wissen möchtest. Die beiden können einfach nicht so gut mit einander. Sagen wir´s so.“

„Hmh. Ok, dann wird mir die Erklärung wohl vorerst genügen müssen. Sag mal, weißt du auch, was es mit Lan und Pierre auf sich hat?“

„Nicht wirklich. Das muss alles passiert sein, bevor ich vor zwei Jahren hierher gezogen bin. Ich weiß nur, dass Lan mal irgendwas angestellt hat und Pierre ihn decken wollte, vielleicht tatsächlich weil er ihn geliebt hat. Das ganze ist aber wohl aufgeflogen und Pierre hat Ärger mit dem Rat bekommen.“

„Mit dem Rat? - Moment. Lan sitzt doch selbst im Rat.“

„Das ist richtig. Wie gesagt, ich weiß nicht, was damals wirklich passiert ist. Lan ist auch nicht der Typ, der was anstellt und jemand anderen eine Strafe kassieren lässt.“

Inzwischen hatten Kei und Yuki das Zimmer fast wieder in seinen ursprünglichen Zustand versetzt. Die Möbel standen wieder an ihren angestammten Plätzen, der Boden war großteils frei, Bücher und Dekorationsgegenstände standen wieder in den Regalen, die Vorhänge hingen wieder gerade.

„Darf ich dich auch etwas fragen, Kei?“

„Sicher. Wenn du meinst, dass ich dir was Interessantes erzählen könnte.“ Grinste er frech.

„Du hast gesagt, das in Paris war nur eine Wette. Aber warum hast du dich darauf eingelassen?“

„Ähm….“ Kei spürte, wie sich wieder eine leichte Röte auf seine Wangen legte. Schnell wandte er sich um und sammelte auf dem Boden verstreute Blätter und Hefte ein, die auf seinem Schreibtisch gelegen hatten. Mit einer solchen Frage hatte er nicht gerechnet. „Das ist… Tja, ich war erstens betrunken. Und zweitens haben wir Karten gespielt. Ich bin ein guter Kartenspieler. Ich hatte einfach nicht damit gerechnet zu verlieren.“

„Dann hättest du aber doch trotzdem auch einen anderen Einsatz wählen können.“

„Das war ein Vorschlag von Kaen. Mal ehrlich. Wenn du dir vorstellst, Kaen müsste einen filmreifen Kuss mit Akami hinlegen…“ Kei musste bei dem Gedanken unwillkürlich lachen. Und sogar Yuki schmunzelte.

„Kizuta und du, ihr wart doch beste Freunde. Das frag ich mich schon die ganze Zeit… Wieso hast du von einem Tag auf den anderen jeden Kontakt abgebrochen?... Oder hast du das vielleicht auch gar nicht?“

„Was? Wie kommst du denn auf so was? Wir hatten einen kleinen Streit. Dass es völlig auseinander gegangen ist, war eigentlich keine Absicht. Nur ein paar blöde Zufälle.“ Wieder schlich sich ein Lächeln auf Keis Lippen, als er an sie Szene im Fairy Tales Park denken musste.

„Ich hab euch gestern gesehen, im Park…“

Yukis Stimme war etwas leiser als vorher. Kei drehte sich zu ihm um. Mit großen Augen starrte er ihn an. Irgendwie verstand er nicht, was Yuki damit sagen wollte oder warum er sich überhaupt plötzlich für Atari interessierte.

„Ich hab euch in der Hexenküche gesehen. Ihr schient euch gut zu amüsieren.“

Kei dachte immer noch angestrengt über eine mögliche Antwort nach. Yukis Absicht mit solchen Aussagen war ihm völlig schleierhaft, ebenso wie die Reaktion, die er sich damit erhoffte. Um etwas Zeit zu gewinnen, stand er auf und legte ganz langsam und sorgfältig ein Heft nach dem anderen in die Ablage auf seinem Schreibtisch.

„Wir haben uns ganz zufällig im Park getroffen. Atari war schon seit Jahren mein bester Freund. Ist doch logisch, dass ich mich mit ihm aussprechen will, wenn ich das kann. Es wäre doch schade, wenn so eine lange Freundschaft wegen irgendwelchen Kleinigkeiten in die Brüche geht. Und jetzt weiß ich ja auch, dass alles nur ein Missverständnis war.“ Wieder legte sich bei diesem Gedanken ein Lächeln auf sein Gesicht. Diesmal jedoch aus Erleichterung. Er hatte seinen besten Freund nicht verloren.

„Ach so.“ Yukis Stimme war diesmal noch leiser geworden.

„Wieso interessiert dich das plötzlich? Bist du etwa eifersüchtig auf Atari?“ Kei lachte und drehte sich gleichzeitig zu Yuki um.

Fast im selben Moment bereute er seine Provokation schon. Kei hatte nicht bedacht, dass Yuki immer noch Stifte aufräumte, am Schreibtisch, direkt neben ihm. Solche Scherze hätte er besser gemacht, wenn Yuki etwas weiter von ihm entfernt war. Keine 30 cm trennten ihre Gesichter. Kei starrte direkt in Yukis Augen. Diese Rubine, gesäumt von langen Wimpern, umspielt von schneeweißen Strähnen.

Kei konnte sich weder bewegen, noch ein Wort herauswürgen. Alles, was er noch konnte, war diese Rubine zu bewundern. Er schluckte trocken.

„Ja, ich bin eifersüchtig. Und du hast mir auch meine Frage von vorhin nicht beantwortet.“ Gab Yuki zu. Sein Blick war sanft, aber fest auf Keis Gesicht gerichtet. Ob er wohl ebenso von Keis Augen gefesselt war wie der von seinen?

‚Frage?’ schoss es Kei durch den Kopf. Er konnte seine Gedanken nicht einmal genug ordnen, um sich an irgendeine Frage zu erinnern. Aber offenbar sagte sein Gesichtsausdruck genau das. Yuki half ihm auf die Sprünge.

„Kann Kizuta gut küssen? Hat… dir der Kuss gefallen…?“

Die bisher nur leichte Röte auf Keis Wangen wurde schlagartig intensiver. Seine Augen hatten sich geweitet, die Lippen leicht geöffnet. Noch immer brachte er kein Wort heraus, lediglich das Zittern seiner Lippen deutete an, dass er gerne etwas gesagt hätte.

Einen Moment standen sich die beiden so gegenüber, in angespannter Stille. Eine Weile, in der sich Yuki wohl schon selbst die Antwort auf seine Frage suchen konnte.

Erst dann schaffte Kei es, der hypnotischen Wirkung von Yukis Augen zu entkommen. Er wandte sich ab und senkte den Blick auf den Boden. Ganz langsam ordneten sich auch seine Gedanken, bis er wieder einigermaßen geradeaus denken konnte. Und seine Gedanken sagten ihm, das war gar keine gute Situation.

„Du fragst Sachen… Atari ist kein hübsches Mädchen, von dem ich gerne geküsst werden würde.“ Die Röte verblasste wieder etwas, als Kei in Gedanken ‚und du auch nicht’ hinzufügte. Es auszusprechen war nicht nötig. Yuki hatte ihn offensichtlich sehr gut verstanden. Er legte den letzten Kugelschreiber in die Stiftebox zurück und drehte sich in der gleichen Bewegung nach links, Richtung Tür.

Kei war durchaus bewusst, wie sich Yuki jetzt fühlen musste. Im Prinzip hatte er ihm gerade einen Korb gegeben. Aber er schwieg trotzdem. Was hätte er sagen sollen? Seine Aussage relativieren? Das Ergebnis wäre nur gewesen, dass Yuki sich weiterhin falsche Hoffnungen gemacht hätte. Früher oder später hätte er sowieso die Karten offenlegen müssen. Da war es doch besser, gleich klare Verhältnisse zu schaffen. Ein bisschen tat ihm Yuki aber trotzdem leid.

„Kei?“

„Ja?“ er sah von seiner Arbeit auf. Yuki drehte sich nun doch wieder zu ihm um. Zu Keis Überraschung sah er überhaupt nicht so aus, als hätte er gerade einen Korb bekommen. Ganz im Gegenteil. Er lächelte so freundlich wie immer.

„Jetzt wo wir das Chaos einigermaßen beseitigt haben, möchte ich dir noch einen Rat geben, als dein Lehrer.“

„Nämlich?“ Yuki hatte schon die Hand auf die Klinke gelegt.

„Vertrag dich möglichst bald mit Robin.“
 

Yuki drückte die Klinge herunter.

Doch aus seinem geplanten coolen Abgang wurde leider nichts. Genau in diesem Moment hatte Kiku schon die Faust gehoben, um anzuklopfen. Zum Glück konnte sie noch abbremsen, bevor ihre Hand Yuki traf. Der schreckte allerdings ohnehin ein Stück zurück.

Nachdem der erste Schreck überwunden war, fingen Kiku und Yuki ebenso an zu lachen wie Taki hinter ihnen. Kei, der die Szene nur aus dem Augenwinkel beobachtet hatte, stimmte zumindest mit ein, um nicht völlig als Außenseiter dazustehen.

„Schön, dass du auch da bist, Yuki. Da spar ich mir einen Umweg.“ Lachte Kiku.

„Worum geht´s denn?“

„Taki und ich würden gern ein bisschen spazieren gehen. Zum See oder so. Kommt ihr mit?“

Yuki warf Kei einen fragenden Blick zu. Er wollte wohl Kei die Entscheidung überlassen. Genervt, dass ihm mal wieder der schwarze Peter zugeschoben wurde, atmete Kei laut aus.

„Ich mag nicht. Für heute will ich eigentlich nur noch meine Ruhe… sofern mir Robin welche lässt.“

„Dann nimm Robin mit, damit er müde wird.“ Schlug Kiku vor. „Das hat bei Jack auch oft geholfen.“

Keis Blick wanderte zu Robin. Der hatte seine Position die ganze Zeit über kaum verändert. Er lungerte noch immer mit gesträubtem Fell unter dem Schreibtisch herum und knurrte vor sich hin.

Kikus Vorschlag war sicher nicht dumm. Gerade gegen Abend war Robin meistens unausstehlich. Kei konnte sich kaum erinnern, wann er das letzte Mal die ganze Nacht durchgeschlafen hatte.

Aber wie sollte er ihn denn mitnehmen? In der Transportbox hätte er wieder keine Bewegung. An der Leine? Als ob Robin an der Leine gehen würde…
 

Aber er tat es. Immerhin schon seit fast 30 Minuten. Inzwischen hatte er die Versuche aufgegeben, die Leine durchzubeißen. Robin genoss einfach das bisschen Freilauf, das ihm unter diesen Umständen vergönnt war. Kei hatte sich die Leine fest ums Handgelenk gewickelt, für den Fall der Fälle. So weit es die Leine erlaubte, lief Robin immer wieder voraus, zog und zerrte ein wenig. Dann wartete er aber doch meistens mehr oder weniger brav, bis seine menschlichen Begleiter ihn wieder eingeholt hatten. Hin und wieder versuchte er auch, den kiesigen Waldweg zur Seite hin zu verlassen. Dabei verschwand er von Zeit zu Zeit im Unterholz. Aber weit kam er nie. Kei musste nur der Leine folgen und konnte ihn so einfach wieder einsammeln. Erstaunlicherweise ließ Robin sich das sogar gefallen, ohne zu kratzen oder zu beißen. Vermutlich erinnerte er sich auch noch sehr gut daran, dass Kei heute schon einmal gewonnen hatte.

Kei hoffte stark, dass der Tag nicht mehr allzu fern war, an dem er mit dem Fuchs ebenso normal durch die Gegend spazieren konnte wie Yuki mit Minuit oder Kiku mit Jack. Jack turnte zwar ausgelassen zwischen den Bäumen herum, entfernte sich gelegentlich auch außer Sichtweite, aber kam auf Kikus Kommando immer sofort wieder zurück. Und Minuit war sowieso ein Musterbeispiel eines braven Haustiers. Die meiste Zeit flatterte sie fast direkt über ihren Köpfen herum.

Zum See gelangte man durch ein lichtes Waldstück. Zu Fuß war man, vorausgesetzt man hatte es nicht eilig, eine dreiviertel Stunde unterwegs. Den See selbst konnte man in einer bis eineinhalb Stunden umrunden. Das ganze war also ein netter Ausflug für einen Sonntagnachmittag. Und leider, leider auch für Wandertage. Die vier kannten fast jede Wegbiegung schon in- und auswendig. Trotzdem kamen sie immer wieder gerne hierher.

Gerade weil die meisten Einwohner der Gemeinde den Weg so satt hatten, waren sie oft alleine unterwegs. Nur hin und wieder kam ihnen ein Mountainbiker oder eine kleine Wandergruppe entgegen, die sich über das Vierergespann mit den ungewöhnlichen Haustieren wunderten. Und das sogar an einem Wochenende im Juni bei schönstem Wetter. Kein Wunder, dass der Weg bei Zalei, die ihren Carn etwas Auslauf gewähren wollten, sehr beliebt war. Hinzu kam in ihrem Fall noch, dass das Ratsgebäude auch hinter dem Wald lag, wenn auch in der entgegen gesetzten Richtung wie der See.

Die Tour um den See sparten sich die vier allerdings. Am See angekommen, setzten sie sich an das kiesige Ufer. Kei wollte nicht riskieren, Robin loszumachen. Aber er ließ die Leine so lang, dass Robin einige Schritte ins Wasser konnte. Jack war sofort in den See gesprungen. Dort tobte er im Wasser herum, machte sich einen Spaß daraus, alle nass zu spritzen, die er erwischte, und Steine vom seichten Ufer möglichst weit in den See zu werfen. Noch größeren Spaß schien es ihm dabei zu bereiten, Robin zu ärgern, indem er immer wieder eine Ladung Wasser zu ihm spritzte, und dann schnell wieder aus der Reichweite zu verschwinden, die diesem die Leine ließ.

Eine ganze Weile lang amüsierte sich Kei bestens über Jacks Streiche. Allein schon, weil er sich über Robins Ärgernis freute. Dann hatte er aber doch ein bisschen - nur ein kleines bisschen - Mitleid mit ihm und ließ ihm genau in dem Moment, als Robin mit der Pfote nach Jack schlug, etwas mehr Leine. Um ein Haar hätte sich Jack den Hieb eingefangen. Dafür schimpfte er jetzt gewaltig und wirbelte noch mehr Wasser auf. Allerdings hielt er dabei einen etwas größeren Sicherheitsabstand zu Robin ein als vorher.

„Wenn man die beiden so beobachtet, fühlt man sich doch irgendwie auch an ihre Herren erinnert.“ Stellte Taki lachend fest.

„Allerdings.“ Bestätigte auch Yuki lachend.

„Stimmt gar nicht. Ich bin immer nett.“ Widersprach Kiku sofort. „Sogar zu Kei.“

„Ach ja? Das muss mir irgendwie entgangen sein.“ Grummelte Kei.

„Ein bisschen aufziehen darf ich dich doch. Ich bin immerhin deine Sempai.“

„Was bist du?! Ich bin älter als du.“

„Aber ich bin schon länger Zalei.“

„Genau genommen seid ihr eigentlich beide noch keine Zalei…“ versuchte Yuki vergeblich, sich einzumischen. Doch die beiden Kontrahenten ignorierten ihn einfach.

„Und außerdem bin ich größer als du.“

„Auf den einen Zentimeter kommt´s überhaupt nicht an.“

„Doch. Und es sind sogar drei, du Zwerg!“

„Wah-!“

Der Streit wurde plötzlich unterbrochen. Kei hatte nicht aufgepasst und Robin für einen Moment zu viel Leine gelassen. Sprichwörtlich im allerletzten Moment konnte Jack noch zur Seite hechten und einem Hieb von Robin entkommen. Ob er dabei aber nicht doch einen Kratzer abbekommen hatte, konnte Kei nicht so genau sagen. Zumindest hatte Robin nicht seinen Kopf getroffen, auf den er gezielt hatte.

Und Jack war immer noch fit genug, vor Wut mit den Fäusten auf die Wasseroberfläche zu trommeln.

„Meine Schwester sagt auch immer, Carn und Zalei übernehmen mit der Zeit einige Charaktereigenschaften von einander.“ Nickte Taki.

„Deine Schwester ist wohl auch Zalei?“

Jetzt wickelte sich Kei die Leine doch wieder einmal mehr ums Handgelenk, um Robin künftig besser zurückhalten zu können, wenn dieser plötzlich zu zerren anfangen würde.

„Ja, Ryami ist sogar Ratsmitglied. Du hast sie sicher schon gesehen. Die mit den langen, schwarzen Haaren und der Katze.“

„Ach ja! Dann weiß ich wen du meinst.“… was natürlich gelogen war. Aber Kei wollte die Unterhaltung nicht verebben lassen und beim nächsten Mal würde er ja dann sowieso wissen, wer sie war. Und Taki freute sich. Allein schon, um dieses süße Lächeln noch einmal zu sehen, lohnte sich so eine kleine Flunkerei.

„Das mit dem Fairy Tales Park war auch Ryamis Idee.“ Lächelte Taki.

„Hmh? Was hat das denn mit Zalei zu tun?“

„Viele Zalei können ihre Carn nicht einfach in einer Wohnung halten und manche können auch nicht ganz normal einem Beruf nachgehen. Täglich zehn Stunden im Büro zu sitzen ist nicht ganz ungefährlich, wenn man einen Löwen zu Hause im Wohnzimmer hat, als ganz extremes Beispiel. Man kann das Tier nicht die ganze Zeit unbeaufsichtigt lassen, aber auch nicht beliebig seine Arbeitszeit bestimmen. Deshalb hat der Rat den Park eingerichtet.“ Erklärte Yuki.

„Der Park ist so eine Art Zuflucht für Zalei und Carn. Das heißt allerdings nicht, dass ausschließlich Zalei dort arbeiten.“ Schloss Taki die Ausführungen.

„Ach so. Stimmt, daran hab ich noch gar nicht gedacht. Dann versteh ich jetzt auch, warum von Anfang an feststand, wo wir jobben werden.“ Lachte Kei.
 

Etwa bis 20 Uhr blieben die vier noch am See. Dann sammelten sie ihre Carn ein und machten sich auf den Heimweg. Jack, der sich offenbar beim Toben völlig verausgabt hatte, ließ sich bequem auf Kikus Schulter nach Hause tragen. Sogar Robin war müde und ging wie ein nettes Schoßhündchen brav bei Fuß. Kikus Plan war tatsächlich aufgegangen. Kei staunte nicht schlecht. In Zukunft sollte er vielleicht jeden Abend irgendwas mit Robin unternehmen, um ihn so richtig müde zu machen.

Nur Minuit wurde zu fortschreitender Stunde erst so richtig wach. Kei hatte sich ohnehin schon lange gewundert, warum Minuit grundsätzlich tagaktiv war. Sie wachte zwar morgens sehr spät auf und blieb abends lange wach. Aber dennoch schlief sie hauptsächlich nachts. Yuki erklärte das ganz einfach so, dass sie sich in diesem Punkt seinem Rhythmus angepasst hatte. Immerhin lebten sie schon seit mehr als sechs Jahren zusammen. Umgekehrt war das aber leider genauso. Yuki war ein ganz schrecklicher Langschläfer und deshalb früher regelmäßig zu spät zur Schule gekommen.

In ihre Unterhaltung vertieft merkten Kei und Yuki zuerst gar nicht, dass Kiku und Taki etwas zurückgefallen waren. Die beiden Mädchen hatten einige Meter Abstand zwischen sich gebracht, um umgestört tuscheln zu können.

„Jetzt wo ich Kei auch etwas kennen gelernt hab, versteh ich dich.“ Funkelte Taki ihre Freundin aus den Augenwinkeln an.

„Mich verstehen? Häh? Ach so. Du meinst, weil ich ihn so gern ärgere?“

„Wenn du das so siehst. Ich bin allerdings der Meinung, dass du ihm anders besser zeigen könntest, dass du ihn magst.“

„Ich soll WAS?!“ Kikus Gesicht zeugte von blankem Entsetzen. Aber Taki lächelte nur, mit einem Blick, der scheinbar alles durchschauen konnte.

„Mein Herz gehört ganz allein Ryu. Dem kann dieser Zwerg doch nie das Wasser reichen. Ich, den mögen… Pah!“

„Na, ich weiß nicht recht. Ich kenn dich doch. Kei ist doch eigentlich viel eher dein Typ. Er ist freundlich, lustig, temperamentvoll… und er sieht nicht schlecht aus. Mal ehrlich, Ryu ist dir doch eigentlich zu unterkühlt und zu ernst.“

„Ich bin schockiert.“

„Wirklich? Also, ich an deiner Stelle würde es mir überlegen.“ Taki stieß Kiku sanft in die Seite.

„Da gibt´s nichts zu überlegen. Ryu ist das einzig Wahre. Und damit du´s weißt, Kei hat bestimmt auch kein Interesse an mir.“

„Woher willst du das denn wissen? – Aha! Hast du es also doch versucht?“

„NEIN!“ entfuhr es Kiku fast schon panisch, bevor sie geheimnisvoll weiterflüsterte. „Weißt du, das sag ich jetzt nicht nur wegen der Fotos… Aber Kei hat generell kein Interesse an Mädchen.“
 

~~~

Sorry, dass es diesmal so lang gedauert hat. Ich hatte einiges um die Ohren. ^^°

Ich werde mich aber bemühen, dass es künftig wieder schneller geht.
 

Abschließend folgt wie immer Werbung für Black Cerise.

Na, kommt euch der Titel bekannt vor? :3 Da ist der Name von Lans Band, um die sich die Geschichte dreht. Ich würde mich über Leser und Kommentatoren freuen. ^^

http://animexx.onlinewelten.com/fanfic/?doc_modus=startseite&ff=112795
 

Pete

Zu spät...?

Zu spät…?
 

‚Klack klack klack’ tönte es seit etwas über einer Stunde aus Yukis Zimmer. Gegen halb fünf waren sie von ihrem Job im Fairy-Tales-Park nach Hause gekommen. Yuki hatte sich nur schnell ein Brot in den Mund gesteckt und war gleich nach oben gegangen. Seitdem saß er vor dem PC und tippte ungewohnt fleißig vor sich hin.

Zögerlich klopfte Kei an. Bis zuletzt, bis seine Faust auf das Holz der Türe getroffen war, war er sich nicht sicher gewesen, ob er Yuki stören sollte. Aber einfach so verschwinden wollte er nicht. Und Yukis freundliches „Ja?“ von drinnen bestätigte ihn, dass man Yuki, ganz im Gegensatz zu Ryu, ruhig auch mal ablenken durfte.

Kei öffnete also die Tür.

Yuki stieß sich vom Schreibtisch ab, sodass der Stuhl einen guten Schritt zurückrollte. In der gleichen Bewegung drehte er sich in Richtung der Tür um.

„Du bist´s. Brauchst du doch noch Hilfe beim Putzen?“ grinste er.

„Nein. Hand befreit, Bad blitzeblank.“

Kei trat ins Zimmer. Yukis Schreibtisch stand von der Tür aus gesehen an der linken Wand, ein Stückchen vor dem Bett. Mit zwei Schritten in Yukis Zimmer stand Kei praktisch auch schon direkt vor Yuki.

„Ich wollte nur bescheid sagen, dass ich jetzt gehe. Kiku und Ryu sind anscheinend noch unterwegs.“

„Alles klar. Viel Spaß.“ Lächelte Yuki.

In den letzten Tagen und Wochen hatte sich Kei wieder öfter mit seinem besten Freund Atari getroffen. Yuki war zwar bestimmt nicht sehr glücklich, verlor aber weiter kein Wort darüber. Was sollte er auch anderes tun? Kei war immer noch ein freier Mensch. Yuki konnte nur darauf bestehen, dass Kei immer sein Handy dabei hatte, falls irgendwelche Zalei bedingten Probleme auftreten sollten. Für diesen Fall hatte Kei sogar Atari ermahnt, sofort Yuki anzurufen. Bisher war aber immer alles gut gegangen.

„Was tippst du denn da? Man sieht dich echt selten vorm PC. Ich dachte immer, der ist nur zur Dekoration.“

Neugierig versuchte Kei, einen kleinen Blick über Yukis Schulter auf den Monitor zu erhaschen. Recht viel mehr als eine Tabelle erkannte er dabei allerdings nicht. Sie sah aus wie ein Formblatt, das Yuki gerade ausfüllte.

„Ach, nur meine Hausaufgaben.“ Lächelte Yuki. „Ich muss dem Rat am Ende jedes Monats einen Bericht über deine Fortschritte vorlegen. Und nachdem ja morgen schon der 30. ist, komm ich wohl nicht mehr aus.“

„Echt?! Das wusste ich gar nicht.“ Schreckte Kei hoch. Im nächsten Augenblick versuchte er noch viel angestrengter, die Zeichen auf dem Monitor zu entziffern, sehr zu Yukis Amüsement.

„Der Rat überwacht die Aktivitäten aller Zalei im Inland, inbegriffen der ordnungsgemäßen Ausbildung. Meister Adoy ist sehr dahinter, dass niemand Blödsinn lernt oder unterrichtet.“

Yuki rollte mit seinem Stuhl wieder an den Schreibtisch, allerdings ein bisschen rechts von der eigentlichen Schreibfläche. Genug Platz für einen zweiten Schreibtischnutzer neben ihm.

„Wenn du möchtest, kannst du gern einen Blick drauf werfen. Ich hab nichts zu verbergen.“ Lachte er, nachdem er Keis höchst interessierten Blick bemerkt hatte.

Einen Moment zögerte Kei noch, im Wissen, dass Atari schon auf ihn wartete. Aber schließlich siegte doch die Neugier.
 

Seite 1 begann gleich mit sehr viel Text. Eher uninteressant für Kei, der schon die Notenskala am Seitenende entdeckt hatte. Hier konnte der Zalei-Lehrer für Leistungsmerkmale wie 'Engangement', 'Fachkenntnisse', 'Arbeitsverhalten' oder auch 'Sozialverhalten' durch Anklicken der jeweiligen Felder Punkte von 1 (schlechteste Bewertung) bis 15 (beste Bewertung) vergeben. Diese Oberpunkte wurden jeweils noch durch zwei bis fünf Unterpunkte konkretisiert. Im Fall von 'Engangement' waren das zum Beispiel die Punkte 'Lernfähigkeit', 'Lernbereitschaft', 'Urteilsfähigkeit', 'Einsatzbereitschaft' und 'Pflichtauffassung'. Am Ende jedes Oberpunktes war ein Textfeld für Begründungen der oben stehenden Bewertungen. Das Feld hatte Yuki allerdings noch nicht ausgefüllt. Lediglich die Punkte hatte er schon überall eingegeben.

Kei brachte also die Mouse unter seine Kontrolle und sah sich seine erlangten Punkte an.

"Du gibst mir 15 für Lernfähigkeit und nur 8 für Pflichtauffassung?" Kei war entsetzt.

"Tja... Der Haushaltsplan spielt eben auch mit rein." lachte Yuki.

"Wieso? Ich hab doch jetzt gewischt... Und was soll die 4 bei 'Sicherheit in der Anwendung der Kenntnisse'?... Ich zieh die Frage zurück." Ganz dunkel erinnerte sich Kei an den Abend im Cardinal. Die Note hatte er wohl oder übel verdient. Ebenso die 4 bei 'Umgang mit dem eigenen Carn'. Dafür durfte er sich über 15 Punkte bei 'Arbeitstempo' freuen.

"Na ja, na ja..." Als Kei das Ende des Dokuments erreicht hatte, gab er die Mouse wieder frei und trat einen Schritt zurück.

"Anregungen, Wünsche, Kritik?" lachte Yuki.

"Nein. Das meiste kann ich leider nicht leugnen." Kei klopfte Yuki auf die Schulter und wandte sich zur Tür. "Ich mach mich auf die Socken. Schönen Abend noch. Sitz nicht zu lang vorm PC rum, sonst kriegst du viereckige Augen."

„Ach, Kei. Heute Abend muss ich noch was für den Rat erledigen. Ich weiß nicht, ob ich das Handy immer eingeschaltet lassen kann. Aber bis ich gehe, müsste Ryu wieder zu Hause sein. Nur falls was wäre…“

Kei nickte knapp, verabschiedete sich noch einmal und schloss die Tür hinter sich.

Also musste auch Yuki von Zeit zu Zeit Aufträge für den Rat erledigen, so wie Ryu in der Nacht, in der sie im Cardinal gewesen waren. Noch konnte sich Kei nicht vorstellen, was es mit diesen Aufträgen auf sich hatte. Oder welche Gefahren diese in sich bargen.
 

Im Moment war ihm das aber auch völlig egal. Er war mit Atari verabredet und ließ ihn schon seit einer halben Stunde warten.

„Du bist spät, Keiji, mein Freund.“

„Keiji…?! Hab ich was angestellt?“

Wenigstens konnte er sich damit entschuldigen, dass es immerhin eine ganze Weile gedauert hatte, Robin einzufangen und ihm die Leine anzulegen. Kei konnte seinen Carn ja nicht zurück lassen, wenn niemand zu Hause war.

Robin schränkte aber nun wiederum die freizeitgestalterischen Möglichkeiten von Kei und Atari beträchtlich ein. Ein Fuchs in einem Café, einer Bar oder einer Gaststätte war nicht wirklich willkommen. Erst in einer zwielichtigen Kneipe mit dem Namen „Sakander“ konnten Kei und Atari eine Kellnerin überzeugen, dass dieses Tier doch nur eine neue Hundezüchtung namens ‚Fuchsterrier‘ sei. Die junge Frau mit südländischem Akzent verstand vermutlich ohnehin kein einziges Wort, nickte jedoch freundlich lächelnd zu allem, was die beiden ihr sagten und führte sie an einen freien Tisch.

Problem Nummer eins war damit gelöst. Blieb nur noch zu hoffen, dass sich Robin auch benehmen konnte wie ein braves Schoßhündchen. Zunächst deutete alles darauf hin. Er rollte sich unter der Bank zusammen, auf der Kei Platz nahm und vergrub den Kopf zwischen den Pfoten. Trotzdem wickelte sich Kei die Leine fest ums Handgelenk.

Nach ein paar Minuten kehrte die Kellnerin mit den Speisekarten zurück, die sie Kei und Atari in die Hand drückte. Dann verschwand sie auch schon wieder.

„Hmh! Eine tolle Speisekarte! Man kann sich das Essen direkt ansehen, bei den ganzen Essenresten, die drin kleben… Igitt!“ Atari klappte die Karte sofort wieder zu.

„Der Herr ist es wohl nicht gewohnt, in so feinen Etablissements zu speisen.“ Lachte Kei.

„So wie´s aussieht, sollten wir uns lieber nur schnell die Bäuche vollschlagen und dann wieder gehen.“ Flüsterte Atari.

Kei war sich nicht ganz sicher, ob er damit das schlechte Essen oder die Gesellschaft meinte. In einer hinteren Ecke der Kneipe saß eine Gruppe von vier- fünf Männern, die offenbar stark alkoholisiert Karten spielte. Und ein oder zwei von ihnen betrogen anscheinend. Immer wieder hörte man wüste Beschimpfungen von dort hinten. Weder die Kellnerin, noch der dicke Wirt selbst, konnten die Raufbolde längerfristig beruhigen.

Eine direkte Gefahr für Atari und Kei ging aber wohl nicht von der Gruppe aus. Immerhin befanden sie sich fast am anderen Ende des Raumes. Was Kei mehr Sorgen machte, war der Mann mit dem schwarzen Mantel, der die ganze Zeit stumm und reglos vier Tische von ihnen entfernt saß und mit seinen giftgrünen Augen jeden musterte, der den Raum betrat. Frage die Kellnerin ihn, ob er noch einen Wunsch hätte, bedeutete er ihr nur mit einer kleinen Geste, sie möge sich entfernen. Er machte sich nicht einmal die Mühe, sich zu der Frau umzudrehen.

Und Kei saß nun dummerweise genau so, dass ihn der Blick des Mannes genau traf. Nur hin und wieder sah er seine Augen im Kerzenschein aufleuchten, da der Mann im Dunkeln saß und sein Gesicht völlig im Schatten seiner Kapuze verschwand.

Kei schluckte trocken und nickte. „Da hast du wohl recht. Aber wo sollen wir stattdessen hin? Uns lässt ja keiner rein, dank Robin.“

„Ihre Bestellung?“ lächelte die Kellnerin mit gezücktem Kugelschreiber.

„Ähm…“ überlegte Kei noch, während er schon zu sprechen begonnen hatte. Erst jetzt fiel ihm auf, dass er keinen einzigen Blick in die Speisekarte geworfen hatte.

„Zwei Wasser und den Brotzeitteller.“ Nahm ihm Atari das Bestellen ab. Die Kellnerin notierte alles, sammelte die Speisekarten ein und verschwand.

„Wasser…?“

„Ja. Aus einem einfachen Grund. Bei Wasser kann man am wenigsten falsch machen.“

Aber offensichtlich noch viel genug. Das mussten Kei und Atari leider feststellen, als die Kellnerin die Gläser vor ihnen abstellte. Spannend war nur die Frage, ob die ganzen suspekten Schwebeteilchen sich schon vorher im Wasser befunden hatten, oder ob einfach die Gläser so schlecht gespült waren. Das wiederum hätte den schmierigen Film auf der Außenseite der Gläser erklärt.

„Zwanzig Euro, wenn du das da trinkst.“ War alles, was Atari noch herausbrachte.

„Fünfzig, wenn du das da isst.“ Ergänzte Kei, als die Kellnerin den Brotzeitteller auf den Tisch setzte. Das Brot stammte vermutlich aus dem letzten Jahrhundert. Eine weiße, krümelige Schicht lag darauf, die allerdings bombenfest mit dem Brot darunter verbunden war, wie der erste Puste-Test vermuten ließ. Das Brot selbst war so hart, dass sich jede Kante so weit sie nur konnte vom Teller erhob. Den Rekord hielt die linke Ecke der zweiten Brotscheibe mit fast fünf Zentimetern. Eine beachtliche Leistung, wenn man bedachte, dass das Brot selbst kaum so groß war. Was auch immer sich am Rand des Tellers befand, war weder eindeutig als Wurst, noch als Käse zu identifizieren. In der Mitte war es wohl gelblich, vielleicht pfirsichfarben. Aber nach außen wurden die Scheiben immer dunkler, bis sie in einer dunkelbraunen Schale endeten. Das Essen war sogar zu widerlich, um es an Robin zu verfüttern.

„So eine Schweinerei!“ tönte es aus der hinteren Ecke. „Es gibt doch gar keine fünf Könige in dem Spiel!“ Einer der Spieler war aufgesprungen und hatte einen anderen über dessen Stuhl gegen den dahinter stehenden Tisch geschubst. Der war mit lautem Krachen umgestürzt. Sichtlich benommen stand der Mann wieder auf und lallte zurück „Fünf Damen gibt´s aber auch nicht!“ Und schon sah sich der andere wiederum gezwungen, sich gegen die Beschuldigung als Schummler zu wehren, mit Fäusten. Innerhalb von wenigen Augenblicken mischten sich auch noch die anderen beiden Spieler ein und eine Schlägerei vom Feinsten begann.

Kellnerin und Wirt eilten herbei, um die Streithähne zu trennen. Nachdem der Wirt jedoch im letzten Moment einem Bierkrug ausweichen konnte, der ihn sonst vermutlich am Kopf getroffen hatte, zogen sie sich doch vorsichtig zurück. Der Wirt griff nach seinem Telefon, die Kellnerin brachte einige Meter Sicherheitsabstand zwischen sich und die raufende Gesellschaft.

Jetzt war Kei dankbar, dass er sich Robins Leine so fest um den Arm gewickelt hatte. Als der Streit begonnen hatte, war Robin aufgewacht. Die lauten Schreie und die Geräusche der umstürzenden Tische und Bänke hatten ihn offenbar erschreckt und verängstigt. Mit gesträubtem Fell und knurrend hatte er sich so weit unter die Bank verzogen wie es die Leine erlaubte. Als Kei ihn herausziehen wollte, fing er sich wieder einen Hieb ein. Einen weiteren, als er Robin auf den Arm nahm. Zum Glück aber nur kleine Kratzer. Inzwischen hatte Kei gelernt, wie er tiefe Wunden vermeiden konnte.

„Fräulein! Wir zahlen bitte!“ Atari legte ein paar Münzen auf den Tisch, packte Keis Arm und zog ihn nach draußen.

„Die hat sich aber ordentlich geschnitten, wenn sie glaubt, dass sie auch nur einen Cent Trinkgeld kriegt.“ Lachte er.

Kei setzte Robin wieder auf den Boden. Der Fuchs beruhigte sich langsam wieder, kaum dass die Kneipe außer Hörweite war.

„Und wohin jetzt?“

„Tja… Wie sagt man so schön… zu dir oder zu mir? – Zu mir. In euren Zoo will ich nicht.“

„Sicher? Robin hat was gegen Einrichtungsgegenstände. Frag nicht wie unsere Vorhänge inzwischen aussehen… oder mein Bett.“

„Passt schon. Mein Zimmer hat deine Besuche seit der Grundschule überlebt, dann überlebt es dein Schoßtier auch noch.“ Lachte Atari.

„Hey! Ich hab nie deine Sachen zerbissen.“

So schlugen Kei und Atari den Weg in Richtung Ataris zu Hause ein. Robin folgte ihnen brav an der Leine. Kei staunte, wie brav. Ihm machte allerdings Robins Unberechenbarkeit mehr denn je Sorgen. Im einen Moment konnte er den Fuchs kaum anfassen, ohne dass der versuchen würde, ihm den Arm abzureissen. Und im nächsten Moment schlief er lammfromm auf seinem Schoss ein. Yuki hatte schon recht, er sollte wirklich versuchen, sich besser mit seinem Carn zu arrangieren. Sonst hatte er keine Aussicht darauf, eines Tages ein Zalei zu werden. Oder wie sollte er jemals Robin seinen Köper anvertrauen?
 

Inzwischen war es fast halb neun geworden. Kei und Atari bogen gerade in die Straße ein, in der Ataris Familie wohnte. Sie unterhielten sich über dies und das, alte Zeiten, neue Pläne und lachten ausgelassen.

Dabei nahmen sie gar nicht das kleine Tier wahr, das einige Meter über ihren Köpfen flog und sich schneeweiß vom Abendhimmel abhob, den die Dämmerung langsam verfinsterte. Yuki war zu seinem Auftrag aufgebrochen.
 

Oben in Ataris Zimmer angekommen blickte sich Robin erst unsicher um. Er drehte eine große Runde, beschnüffelte alles und fand schließlich in Ataris altem Rucksack ein vertrautes Objekt, in das er seine Krallen versenken konnte. Keis Versuche, ihn zurückzuhalten, waren vergeblich. Atari beobachtete Keis Scheitern, lachte ihn aus und gab den Rucksack schließlich zum Abschuss frei. Zum Studienbeginn wollte er sich sowieso einen neuen leisten.

Noch viel spannender als der Rucksack waren allerdings die Kabel von den Controllern, die Atari herauszog, als den Jungs keine bessere Beschäftigung mehr einfiel als Videospiele. Hier wurde Robin allerdings rigoros wieder an seinen Rucksack verwiesen.

„Mann, dein Tier ist vielleicht anstrengend. Ihr müsst echt irgendwie verwandt sein.“

„Wieso denn? Ich bin doch nicht anstrengend.“

„Doch, bist du.“ Grinste Atari wissend „Immer mit dem Kopf durch die Wand. Du tust immer irgendwas ohne vorher nachzudenken, was du damit überhaupt anrichtest.“

„Früher vielleicht mal. Aber ich bin doch auch schon viel erwachsener geworden.“ Überlegte Kei und räumte ein, wohl ein- oder zweimal früher, im Kindesalter ganz schönen Unsinn angestellt zu haben…

„Ach ja? Und was ist mit diesem ganzen Zalei-Dingsbums? Ich wette, du hast dich überhaupt nicht über die Tragweite von der Sache informiert.“

„Natürlich. Lan hat mir sogar ein Buch gegeben.“ Kei verschwieg besser, dass er das Buch erst bekommen hatte, als er schon seit über einem Monat Zalei gewesen war.

„Glaub ich dir nicht. Und was ist mit Robin? Was weißt du alles über Füchse?“

„Äh…“

„Also, eigentlich wäre es doch logisch gewesen, dich als erstes über deinen Carn zu informieren, oder?“

Schweigen.

„Bist du jetzt schon auf Leben und Tod mit ihm verbunden oder kannst du noch zurück?“

Atari war ganz ernst geworden. Das freche Grinsen war von seinem Gesicht verschwunden. Irgendwie hatte Kei ein schlechtes Gewissen. Atari hatte vielleicht recht. Er hatte vielleicht tatsächlich viel zu voreilig zugesagt, Yukis Schüler zu werden. Eigentlich wusste er wirklich sehr wenig über Zalei, Carn und vor allem über Robin. Nachdenklich senkte er den Blick auf den Boden.

„Ein richtiger Zalei bin ich noch nicht. Aber ob ich noch aussteigen kann, weiß ich nicht…“

Schweigen. Nur das Piepsen des Videospiels störte die absolute Stille.

„Weißt du, was für eine Lebenserwartung Füchse haben?“

Kei war wie elektrisiert. Als hätte ihn ein Blitz getroffen. Er fühlte ein komisches Gefühl in der Magengegend, fast als hätte ihm jemand einen Faustschlag verpasst. Atari hatte mit dieser Frage genau ins Schwarze getroffen.

Kei hatte keine Ahnung. Er hatte nie darüber nachgedacht. Aber in diesem Moment wurde ihm schlagartig bewusst, dass das eigentlich eine zentrale Frage war, die er sich unbedingt hätte stellen sollen, bevor er Zalei geworden war.

Er konnte nicht antworten, ebenso wie er den Blick nicht vom Boden vor sich abwenden konnte.

„Ein Rotfuchs wird durchschnittlich 15 Jahre alt, wenn es ihm sehr, sehr gut geht, vielleicht auch mal 20. Ohne dir zu nahe treten zu wollen… Du bist inzwischen 18, Kei... Selbst wenn wir davon ausgehen, dass Carn eine etwas höhere Lebenserwartung haben, als gewöhnliche Tiere, ist Robin ein sehr alter Fuchs.“

„Ich weiß…“ hauchte Kei kaum hörbar. Ob ihm aber tatsächlich bewusst war, was Atari eben gesagt hatte, wusste er ebenso wenig wie sein Freund.

Sehr wohl bewusst war Atari allerdings, dass er Kei mit diesem ernsten Thema ganz schön erschreckt hatte. Selbstverständlich hatte Kei noch nicht darüber nachgedacht, aber hatte er das etwa erwartet?

Freundschaftlich umgriff er Keis Schulter.

„Hey… Ich wollte dir keine Angst machen oder so…“

„Weiß ich doch. Irgendwie hat sich seit der Grundschule überhaupt nichts verändert. Du musst immer noch alles geradebiegen, wenn ich Mist baue.“ Kei versuchte zu lächeln.

„Sieht ganz so aus, was? Ich kann nur wiederholen was ich neulich im Park zu dir gesagt hab. Wenn du mal Hilfe brauchst, bin ich immer für dich da.“

Mehr als ein völlig sprachloses „Danke…“ brachte Kei nicht mehr hervor. Er war wirklich gerührt.

Vor ein paar Tagen noch hatte er ernsthaft geglaubt, seinen Freund Atari für immer verloren zu haben. Und jetzt sah es ganz so aus, als wäre Atari sein bester, und vielleicht einziger, Freund auf der ganzen weiten Welt. Der einzige, der mit ihm durch Dick und Dünn gehen würde und der einzige, der immer zu ihm hielt, egal was er wieder anrichtete.

Im Moment fühlte sich Kei wirklich, als hätte er einen riesigen Fehler gemacht. Als hätte er niemals Zalei werden sollen und als hätte er mit seiner Zusage schon sein Todesurteil unterzeichnet… oder zumindest, als hätte er schon den Stift angesetzt, es zu unterzeichnen.

Aber Atari war bei ihm.

Beinahe hätte glatt eine einsame Träne ihren Weg aus Keis Augenwinkel über seine Wange gefunden. Aber nur eine. Und nur beinahe.
 

„Ist Kei immer noch nicht da?“ Kiku versuchte, so gleichgültig wie möglich zu klingen, als sie sich ganz beiläufig, im Vorbeigehen nach ihm erkundigte. Aber irgendwie durchschaute Ryu sie wie immer und musste ein Lächeln unterdrücken.

„Er ist ein großer Junge und es ist ja erst elf. Wird schon nichts sein.“

„Aber er ist doch zum ersten Mal so lange ganz ohne Aufpasser mit Robin weg… Und außerdem ist es schon halb eins, nicht elf.“ Ganz nebenbei betonte sie diesen Nebensatz noch.

„Wenn was wäre, hätte er doch angerufen.“

„Nicht, wenn er nicht mehr wählen – oder sprechen - kann. Er hätte ja auch mal bescheid sagen können, wenn alles in Ordnung ist, oder?“

Ryu senkte sein Buch und wandte sich Kiku vollends zu. Ihre blauen Augen wanderten unruhig hin und her, schienen den direkten Blickkontakt mit Ryu zu meiden. Fast als müssten sie diesem sonst sofort jedes Geheimnis preisgeben. Ryu bemerkte, wie Kikus Finger hinter ihrem Rücken nervös mit dem Stoff ihres T-Shirts spielten.

„Du kannst ihn ja anrufen und ihn fragen.“

„Wieso? Auf keinen Fall. Am Ende meint er noch, ich würde ihm nachtelefonieren…“

„Dann… Ruf ihn an und frag ihn, ob er auswärts isst oder wir ihm was aufheben sollen.“

„Das ist super! Du bist genial. Danke, Ryu!“

Kiku hopste erleichtert ins Esszimmer, wo sie ihr Handy liegen lassen hatte. Und Ryu nahm mit einem Lächeln sein Buch wieder auf.

Irgendwie war ihm im Moment nicht ganz klar, wie die Rollen in diesem Haus verteilt waren. Eigentlich war er davon ausgegangen, dass Kiku und er ein Paar waren. Na ja, er hatte es zumindest aufgegeben, sie vom Gegenteil überzeugen zu wollen. Er war nur nicht so sicher, ob er sich über Kikus offensichtliches Interesse an Kei freuen oder ob es ihm Sorgen machen sollte.
 

Piep- piep- piiiiiiiiiiiiep.

„Hallo?“ nahm Kei mit fragendem Ton ab. Eine unbekannte Nummer.

„Hi!“ er konnte Kiku förmlich ins Handy grinsen sehen.

„Kiku? Du rufst mich an?“

„Na, du rührst dich ja nicht. Weißt du wie spät es ist? Alles ok bei dir?“

„Ja, alles klar. Ich bin noch bei Atari. Soll ich nach Hause kommen?“

„Nein, schon ok. Ich wollte dich nur fragen, ob wir dir was zum Essen aufheben sollen.“

„Wir haben schon was gegessen. Danke… Ist Yuki noch unterwegs?“

„Ryu meint, er müsste jeden Augenblick nach Hause kommen.“

„Ok, dann bis später… Oder bis morgen, falls du schon schlafen solltest, wenn ich komm.“ Lachte Kei.

„Ja ja… Schönen Abend noch.“ Gab Kiku schmollend zurück.

Tuuuut- tuuuut.
 

Atari hatte dem Gespräch mit einem vielwissenden Grinsen gelauscht. Das bemerkte Kei allerdings erst, nachdem er aufgelegt hatte und seinen Controller wieder aufnehmen wollte.

„Was denn?“

„War das deine Freundin, Keiji?“

„Meine WAS?! Das ist wohl das schlimmste, was ich je in Bezug auf Kiku gehört hab…“

Ganz unwillkürlich traten aber doch die Bilder wieder in Keis Gedächtnis von ihrem niedlichen Lächeln auf dem Foto. Eine sanfte Röte legte sich auf seine Wangen.

„Spielen wir weiter!“
 

Doch gerade als Atari das Spiel fortsetzen wollte, öffnete sich die Tür gerade weit genug, um einen Kinderkopf hindurchzustrecken. Shimari lugte durch den Spalt.

„Oh, sorry. Haben wir dich geweckt?“

Sie öffnete die Tür weiter und trat ins Zimmer. Sie hatte noch Jeans und T-Shirt an. Aber ihre schweren Augenlider und die zerzausten Haare verrieten, dass sie wohl schon eingenickt war. Trotzdem schüttelte sie den Kopf.

„Ich bin beim Lesen eingeschlafen. Macht nichts. Ich hab sowieso noch nicht Zähne geputzt.“ Lächelte sie verschlafen.

„Na dann, Abmarsch ins Bad und dann ins Bett. Morgen ist wieder Schule.“

„Kei! Schön, dass du mal wieder da bist!“ Shimari ignorierte ihren großen Bruder gekonnt, trat auf Kei zu und umarmte ihn.

„Hallo, Shimari.“ Lachte er und drückte sie einmal kurz an sich.

Über Keis Schulter entdeckte Shimari auch Robin, der sich knurrend in Ataris Rucksack verbissen hatte. Einen kurzen Moment hatte er aufgehört und den Neuankömmling ganz genau beobachtet. Dann war ihm der Rucksack aber doch wieder spannender vorgekommen. Offenbar hatte sich der Geruch von Pausenbroten tief in den Stoff eingenistet.

„Ist das dein Carn? Ist der hübsch!“

„Ja. Halt aber lieber Abstand. Noch interessanter als Rucksäcke findet er nämlich menschliche Gliedmaßen.“

„Kannst du mir einen Gefallen tun, Kei?“

„Wenn ich kann. Was denn?“

„Kannst du einen Fragebogen ausfüllen? Für K.R.O.S.S.? Wir brauchen ein paar Infos über Zalei… Wirklich nur ein Fragebogen, nur zwei Seiten?“

Kei zögerte kurz. Ryu hatte ihm gesagt, K.R.O.S.S. würde illegale Experimente machen und er solle sich auf jeden Fall von der Organisation fernhalten.

Aber wie viel Gefahr konnte schon von einem Fragebogen ausgehen? Sollten Kei die Fragen unangenehm werden, würde er sie eben einfach nicht beantworten. Und außerdem konnte er nicht Nein sagen, wenn er in diese großen, verschlafenen Mädchenaugen blickte.

Einen Augenblick und Shimari kehrte mit dem Fragebogen zurück.

„Ok, ich füll ihn dir aus und schieb ihn unter deiner Tür durch. Geh ruhig schon schlafen.“

„Danke. Gute Nacht.“ Shimari schlurfte müde lächelnd davon und schloss die Tür hinter sich.

„Den Quatsch musst du wirklich nicht ausfüllen. Ich kann auch morgen irgendeinen Blödsinn reinschreiben.“ Bot Atari hilfsbereit an.

„Schon ok, versprochen ist versprochen. Und es sind ja wirklich nur zwei Seiten.“ Kei stand auf, ging zu Ataris Schreibtisch und nahm sich einen Kugelschreiber, bevor er sich wieder neben seinen Freund setzte. „Hast du eigentlich inzwischen rausgefunden, was K.R.O.S.S. bedeutet?“

„Nö. Vielleicht ja ‚Katastrophal reformbedürftige Organisation seltsamer Schurken‘.“

„Ich hoffe sehr, dass du damit nicht deine kleine Schwester meinst…“

Der Fragebogen begann auf Seite eins mit ganz „normalen“ Fragen nach Lebenssituation, Bildungs- und familiären Hintergrund des Befragten. Es dauerte aber nicht lange, bis ein Multible-Choice-Teil folgte mit den Auswahlmöglichkeiten ‚Trifft voll zu‘, ‚trifft manchmal zu‘, ‚keine Meinung‘, ‚trifft eher nicht zu‘ und ‚trifft niemals zu‘. Hier sollte der Befragte so gravierend wichtige Aussagen bewerten wie beispielsweise ‚Hatten Sie in der Zeit von 1495 bis 1870 Ihren Hauptwohnsitz in West- oder Zentraleuropa?‘, ‚Haben Sie mehr als einmal pro Monat Kontakt zu extraterrestrischen Lebensformen?‘ oder ‚Haben Sie bei (auch von Wolken verdecktem) Vollmond das Bedürfnis, den Mond anzuheulen?‘.

Mit einem Dauergrinsen und den Kopf schüttelnd machte Kei durchweg seine Kreuzchen bei ‚trifft niemals zu‘. Nur die Frage ‚Befanden Sie sich innerhalb der letzten 6 Monate mehr als einmal in einem Körper, der nicht ihr eigener war?‘ beantwortete er wahrheitsgemäß mit ‚trifft voll zu‘.

„So ein Unsinn! Vor K.R.O.S.S. sollte man nicht wegen ihrer Experimente warnen, sondern wegen der Blödheit ihrer Fragen. Ich hoffe sehr, dass Shimari-chan das nicht ernst nimmt.“ Mit diesen Worten legte Kei den Fragebogen beiseite.

„Vielleicht heißen sie ja auch ‚Komplett ratlose ober-schwachsinnige Spinner‘. Dann wäre mit dem Namen auch gleich die Warnung ausgesprochen.“
 

Es war schon fast vier, als Kei sich von Atari verabschiedete. Robin war inzwischen so müde geworden, dass er sich den halben Weg ganz ruhig auf Keis Arm tragen ließ. Erst als ihm die Gegend wieder vertraut vorkam, bestand er darauf, selbst laufen zu dürfen und verlieh seiner Forderung mit seinen Krallen den nötigen Nachdruck. Die letzten paar Meter bis ins Haus musste Kei seinen Carn dann allerdings wieder regelrecht hinter sich her schleifen. Robin hatte im Vorgarten offenbar eine Maus entdeckt und spontan beschlossen, sich einen kleinen Mitternachtssnack zu gönnen. Er riss und zerrte an der Leine und musste am Ende doch einsehen, dass Kei stärker war.

Kei hatte gerade den Hausschlüssel aus seiner Jackentasche gefischt, da öffnete Ryu ihm die Tür.

„Guten Abend.“ Ryu trat zur Seite und gab so den Weg in den Hausgang frei.

„Du bist noch wach?“ Kei schloss die Tür hinter sich und befreite Robin von seinem Geschirr.

„Dein Lehrer hat mich gebeten, dich in Empfang zu nehmen. Alles ok? Oder gab´s irgendwelche Zwischenfälle?“

„Alles bestens. Ist Yuki inzwischen wieder da?“

Yuki war erst vor etwa 20 Minuten nach Hause gekommen. Nach Ryus Auskunft hatte sich sein nächtlicher Ausflug anscheinend etwas komplizierter gestaltet als zunächst vermutet. Yuki sollte ziemlich müde ausgesehen haben und sei wohl gleich ins Bett gefallen.

Kei wollte ihn wirklich nicht um seinen Schlaf bringen, aber dennoch schlich er zu Yukis Zimmer hinüber, nachdem er Robin in seinem eigenen eingesperrt hatte. Unter den Aufträgen vom Rat konnte er sich überhaupt nichts vorstellen und hatte keinerlei Ahnung, was Yuki für ihn erledigt haben könnte. Aber er erinnerte sich sehr gut daran, dass Yuki sich selbst große Sorgen um Ryu gemacht hatte, als der für den Rat unterwegs gewesen war.

Langsam drückte Kei die Tür auf, sodass die Lampe im Gang einen schmalen Trichter gedämpften Lichtes ins Zimmer warf. Er konnte Yukis Konturen im Halbdunkel auf dem Bett erkennen. Sein weißes Haar leuchtete im schwachen Licht förmlich auf und deutete wellenförmig seine Schultern und den Rücken an. Ebenso weiß leuchtete Minuit auf, die kopfüber an der Vorhangstange gegenüber der Tür schlief. Kei wollte die Tür schon wieder schließen und sich erst am nächsten Morgen nach Yukis Zustand erkundigen, doch da hörte er seinen Namen.

„Bist du´s, Kei?“ flüsterte Yuki verschlafen.

„Ja, ich bin wieder zu Hause… Schlaf weiter. Gute Nacht.“ Der zweite Versuch, die Tür zu schließen.

„Komm ruhig rein. Ich bin noch wach.“

Yuki drückte sich mit beiden Armen vom Bett hoch, drehte sich umständlich und wie in Zeitlupe um, bevor er sich eher unbequem auf die Matratze setzte. Mit dem linken Handrücken wischte er sich einige Strähnen aus dem Gesicht, die wirr über seine Schultern fielen. Er trug noch dieselben Klamotten wie am Nachmittag, als Kei sich von ihm verabschiedet hatte. Spätestens jetzt dämmerte Kei, dass irgendetwas nicht in Ordnung war. Der dritte Versuch, die Tür zu schließen, wurde verschoben.

Er trat ein und kam an Yukis Bett. Auf den ersten – noch nicht ans Dunkel gewöhnten - Blick schien Yuki ganz in Ordnung, verschlafen, aber unverletzt. Er lächelte müde.

„Wie war´s bei Atari?“

„Schön… Und was ist mit dir? Du… siehst total scheiße aus, sorry.“

Yuki versuchte zu lachen. „Kann ich mir vorstellen. Unser Plan hat nicht ganz funktioniert. Aber es ist alles gut ausgegangen. Nichts, worüber du dir Sorgen machen müsstest.“

Zuerst wollte Kei ihm glauben. Aber dann gewöhnten sich seine Augen doch zunehmend an die Dunkelheit im Raum und die Konturen vor ihnen wurden schärfer. Es dauerte vielleicht ein paar Minuten, dann fiel Kei das schlitzförmige Loch in Yukis Jeans auf, knapp über dem rechten Knie. Ein paar weitere Minuten und er bemerkte den dunklen Rand darum, der offenbar einen rötlichen Abdruck auf der Bettdecke hinterlassen, bevor Yuki sich umgedreht hatte.

„Du blutest ja!“ erschrak Kei.

Zuerst wollte Yuki sein Bein unauffällig aus Keis Sichtfeld ziehen. Offenbar ging das aber wegen der Schmerzen nicht. Also versuchte er, Kei zu erklären, dass es nur ein ganz kleiner Kratzer sei und er zu müde gewesen sei, ihn noch zu versorgen. Das hätte er sich für morgen vorgenommen. Trotzdem verließ Kei das Zimmer, um Verbandszeug zu holen, nachdem er Yuki angeschafft hatte, sich inzwischen umzuziehen.

Nach einem kurzen Augenblick kehrte er mit einem Sammelsurium an Salben und Pflastern zurück. Yuki hatte sich weisungsgemäß aus der Jeans befreit und seinen Schlafanzug angezogen.

„Du brauchst das nicht machen. Ich kann das auch selbst…“

„Von wegen! Du kannst ja nicht mal aufrecht sitzen…“ grummelte Kei vor sich hin, als er einen Wattebausch mit der Desinfektions-Lösung tränkte. Die Wunde war wirklich nicht besonders tief. Aber offenbar war Yuki schon seit Stunden damit herumgelaufen, sodass sie inzwischen recht wüst aussah.

„Bei Gelegenheit wirst du mir mal verraten müssen, was der Rat euch da für Aufträge machen lässt. Das sieht ja gemeingefährlich aus.“

„Bei Gelegenheit.“ Nickte Yuki. „Aber jetzt noch nicht.“

Schweigen. Sehr gewissenhaft säuberte Kei Yukis Wunde, klebte ein Klammerpflaster darüber, tupfte eine Salbe darauf und verschloss sie mit einem dicken Verband. Genauso wie Yuki in den letzten Wochen und Monaten immer wieder die Wunden versorgt hatte, die Kei aus seinen Raufereien mit Robin davongetragen hatte.

„Ist irgendwas? So still kenn ich dich gar nicht.“ Beendete Yuki schließlich das Schweigen.

„… Ich bin eben auch müde.“

„Du bist sonst aber auch nicht still, wenn du müde bist.“

„Wenn… Hmh… Ist es schon zu spät, oder kann ich noch zurück?“ flüsterte Kei, ohne den Blick von dem Verband abzuwenden, den er gerade um Yukis Bein wickelte. Jetzt war er dankbar für die Dunkelheit, denn er fühlte wie seine Wangen anfingen zu glühen.

„Du meinst, ob du deine Ausbildung abbrechen kannst?“ Yuki gab sich überhaupt keine Mühe, seine Überraschung, und auch seine Enttäuschung, zu verbergen. Kei nickte stumm.

„Es ist nicht zu spät. Du kannst bis zur Prüfung jederzeit zum Rat gehen und kündigen. Die Entscheidung liegt ganz allein bei dir.“

Kei spürte förmlich Yukis Blick, der auf ihm ruhte und versuchte, in seinem Gesicht zu lesen, woher dieser plötzliche Sinneswandel kommen konnte. Er vermied es aufzusehen, aus Angst, schon wieder so durchschaut zu werden wie vorhin von Atari. Auch als er den Verband mit einem letzten Klebestreifen festgeklebt hatte und er aufstand, wandte sich sein Blick nicht vom Boden ab.

„Hat Atari-kun etwa irgendwas gesagt?“

‚Mist. Doch ertappt.‘ zuckte Kei zusammen und zeigte Yuki nun doch, dass er recht hatte.

„Was hat er denn gesagt?“

„Egal… Darüber können wir auch morgen reden. Es ist schon fast fünf…“

„Nein, jetzt bin ich schon wach. Und wenn du mir sagst, dass du aufhören willst,“, Yuki sprach den mittleren Teil ganz leise, “dann kann ich sowieso nicht mehr schlafen.“

Kei atmete laut aus und setzte sich auf die Kante von Yukis Bett, immer noch bestrebt, ihn nicht direkt anzusehen.

„Er… hat gesagt, dass nicht genug nachgedacht habe.“

„Das hab ich dir doch auch schon x-mal gesagt.“

„Und er hat gesagt, dass Füchse höchstens 20 Jahre alt werden können.“ Mehr musste Kei gar nicht mehr sagen, damit Yuki erkannte, woher der Wind wehte.

„Ok, verstehe…“ Yuki winkelte das linke Bein an, um ein Stückchen näher an Kei rutschen zu können. Nah genug, um mit einer Hand beruhigend über seine Schulter streichen zu können. Kei wehrte sich nicht, zeigte aber auch keine andere Reaktion.

„Carn sind nicht wie normale Tiere, genauso wie Zalei nicht wie ganz normale Menschen sind. Es stimmt, dass ein Zalei wohl keine 120 Jahre alt wird, aber er fällt auch nicht mit 20 tot um.“

Noch immer saß Kei völlig reglos da und versuchte, ein Loch in den Teppich vor sich zu starren.

„Ein Beispiel… Der Carn meines Lehrers ist ein Leopard. Leoparden werden allerhöchstens, wenn sie ganz behütet gehalten werden, 25 Jahre alt. Weißt du wie alt mein Lehrer jetzt ist?“

Kei schüttelte den Kopf.

„Er ist dieses Jahr 46 Jahre alt geworden. Mein Lehrer ist mein Vater.“ Nun drehte sich Kei doch um und sah in Yukis lächelndes Gesicht. Ein bisschen erleichterte ihn schon, das zu hören. Aber wirklich beruhigen konnte es ihn nicht.

„Pierre hat Robin nicht umsonst auf Herz und Nieren durchgecheckt. Weder er, noch ich oder der Rat, hätten dich Zalei werden lassen, wenn irgendwas nicht in Ordnung gewesen wäre.“

Yukis Hand fuhr von Keis linker Schulter über seinen Rücken zur rechten Schulter und legte sich um sie. Mit einem sanften Ruck zog Yuki seinen Schüler an sich.

Kei wehrte sich diesmal nicht, sei es aus Müdigkeit, aus Verzweiflung oder aus Erleichterung. Sein Kopf lag auf Yukis Schulter. Er fühlte seinen Atem warm an seiner Schläfe. Aber er blieb einfach liegen. Vielleicht auch, weil Yuki die Träne in seinem Augenwinkel bemerkt hätte, wenn er den Kopf gehoben hätte.

„Ob du aufhörst oder nicht, ist ganz allein deine Entscheidung… Aber ich werde sehr traurig sein, wenn du es tust…“
 

~~~
 

Puh!

Ich weiß, ich hab versprochen, Euch nicht mehr so lange warten zu lassen. Es tut mir wirklich leid. *sich in den Dreck werf*

Dafür ist dieses Kapitel extra-lang geworden… Und ich darf behaupten, dass wir uns ganz, ganz langsam dem Höhepunkt der Geschichte nähern… ^^°
 

Ich hab mir was überlegt. Das mit den Benachrichtigungs-ENS überzeugt mich nicht so wirklich.

Deswegen werde ich in Zukunft einfach ein Benachrichtigungs-Bild im alten Doujinshi hochladen, sobald ein neues Kapitel hochgeladen ist. Wer dafür ist, Hände hoch! - Alle? Sehr schön… XD

Verlass mich nicht

"Verlass mich nicht"
 

Die Sonne streckte ihre ersten Strahlen langsam über den Horizont. Der Himmel tauschte sein Nachtschwarz gegen ein dunkles Taubenblau, das von frischem, morgendlichem Rot durchzogen war. Vögel besangen den neuen Tag. Eine Amsel saß anscheinend auf der Dachrinne direkt über Yukis Fenster und wollte den Morgen am lautesten begrüßen.

Zumindest vermutete Kei, dass es eine Amsel war. Die Jalousien waren noch geschlossen und ließen nur dünne Streifen Sonnenlicht herein. Kein Wunder, denn die Zeiger auf Yukis Wecker näherten sich erst der Fünf. So viel konnte Kei im Halbdunkel von Yukis Zimmer erkennen.

Regungslos verharrte er und hasste sich selbst dafür. Sein Kopf ruhte auf Yukis Schulter. Ein Wort von Atari hatte genügt, ihn seine Zalei-Ausbildung und den Kontakt zu Yuki abbrechen wollen zu lassen. Und nun hatte nur ein Wort von Yuki gereicht, um ihn seinen Entschluss wieder vergessen zu lassen.

War er denn so leicht zu beeinflussen? Hatte er denn keinen eigenen Willen?

Ganz ehrlich… Im Moment konnte sich Kei diese Frage nicht beantworten. Auf das, was er sich selbst tatsächlich wünschte, konnte er sich einfach nicht konzentrieren. Er fühlte an seiner Schulter wie sich Yukis Brust hob und senkte, spürte dessen Atem warm an seiner Schläfe. Dieser sanfte Hauch, der ein paar von Keis Strähnen in sein Gesicht fallen ließ. Und Yukis Herzschlag, der dazu den Takt schlug. Keis Wangen glühten. Sein Herz schien mit seinen schnellen, lauten Schlägen sogar die Amsel auf der Dachrinne übertönen zu wollen. Er wagte nicht, sich zu bewegen. Was wenn Yuki merken würde, was gerade in ihm vorging? Aber würde er sich nicht noch viel mehr in seiner Zuneigung bestätigt fühlen, wenn er blieb? Andererseits… würde Kei die Kraft haben, Yuki von sich zu stoßen und ihm ins Gesicht zu sagen, ihre Umarmung – inzwischen immerhin schon mehrere Minuten lang – hätte nichts zu bedeuten? Hätte sie das tatsächlich nicht? Würde Keis Herz denn so schlagen, wenn sie das nicht hätte? Wäre da dennoch dieses seltsame Gefühl in der Magengegend?

Yukis Arm lag noch immer auf Keis Schulter. Keinen Millimeter hatte sie sich bewegt, seit sie Kei mit einem sanften Ruck in Yukis Arm befördert hatte. Der Grund für ihr Ausharren war wohl vor allem Yukis Angst, diesen flüchtigen Moment zu zerstören, in dem Kei sich – sei es aus Müdigkeit, Verzweiflung oder Erleichterung – nicht gegen seine Umarmung wehrte. Er war sich bewusst, dass Kei diese Nähe normalerweise niemals zugelassen hätte. Aber jetzt konnte er nicht anders, als sie einfach zu genießen und jede Bewegung zu vermeiden, die diese magische Stimmung hätte vertreiben können. Auch wenn Yuki noch so gern Keis Kinn angehoben hätte, sich in diese smaragdgrünen Augen verloren, diese feinen rotbraunen Strähnen durch seine Finger gleiten lassen, diese weiche Haut auf der seinen gespürt, und diesen sanften Lippen einen zweiten Kuss gestohlen hätte…

Kei hasste sich dafür, dass er sich nicht wehren konnte. Und noch viel mehr dafür, dass er es auch nicht wollte.
 

Es war 08:48 Uhr, als die Türklingel zum ersten Mal einen Besucher ankündigte. Niemand öffnete. Womöglich befanden sich noch alle – bis auf Kiku, die schon brav in der Schule saß – in ihrer Tiefschlafphase und nahmen das Klingeln nur als grellen Vogelschrei in ihren Träumen war. Möglicherweise waren sie aber auch nur zu faul aufzustehen. Um 08:52 Uhr klingelte der morgendliche Besucher zum zweiten, um 08:54 Uhr zum dritten und um 08:54 ein halb Uhr zum vierten Mal. Um 08:55 Uhr klingelte dann Ryus Handy auf dem Nachttisch.

Erst jetzt warf Ryu murrend seine Bettdecke zurück, stieg in seine Jeans, griff sich auf dem Weg zur Tür noch ein T-Shirt und machte sich herzhaft gähnend auf den Weg nach unten. Es war Donnerstag, der 30. Juni. Ausnahmsweise hatte er an diesem Vormittag keine Vorlesungen und musste auch nicht in Pierres Praxis aushelfen. Eigentlich hatte er sich aufs Ausschlafen gefreut und hätte diesen Störenfried nur zu gerne ignoriert. Aber leider wusste Ryu, für welchen Anrufer er diesen Klingelton eingestellt hatte und dass es leider wichtig sein musste, wenn dieser Anrufer ihn unbedingt erreichen wollte.

„Ich hab schon dreimal geklingelt.“ Grinste Lan.

„Viermal. Dir auch einen guten Morgen.“

Lan trat gleich ein, kaum dass Ryu die Haustür geöffnet hatte und er schloss sie sofort hinter sich. Er trug zerrissene Jeans, Nietengürtel und -armbänder, wie fast immer in seiner Freizeit. Das ließ vermuten, dass er nicht vom Ratsgebäude oder der Arbeit kam.

Ryu durchquerte das Esszimmer und ging direkt in die Küche, wo er Kaffeewasser kochte.

„Wir haben ein Problem.“ stellte Lan nüchtern fest. Dennoch konnte Ryu die Anspannung in seinem Gesicht sofort erkennen.

„Ist dein ‚wir‘ ein ‚wir‘ im Sinne von ‚wir‘ oder ‚ihr‘ oder ‚du‘?“ antwortete Ryu unterkühlt und goss das heiße Wasser in zwei Tassen. Er bedeutete Lan, sich an den Esstisch zu setzen, auf dem er die beiden Kaffeetassen abstellte.

„Eigentlich ‚ich‘. Aber irgendwie auch ‚wir‘, es sei denn du hast die Grabrede für deinen besten Freund schon fertig.“

Ryu holte sich einen Schokoriegel aus dem Hängeschrank rechts vom Kühlschrank und setzte sich Lan gegenüber.

„Kaffee und Schokoriegel zum Frühstück…?“

„Ja, mir wird schlecht, wenn ich so früh schon was Gescheites esse… Also, schieß los.“

„Hast du nochmal mit Pierre geredet?“

„Ja, er will dich nicht sehen, wie erwartet. Ich schätze, in dieser Beziehung bleibt er stur.“

„Das hab ich befürchtet. Dann muss ich mir wohl was einfallen lassen. Solche emotionalen Typen sind echt unpraktisch, wenn man eine Verschwörung plant. Kein Platz für Gefühle.“

„Und was ist jetzt tatsächlich ‚unser‘ Problem?“

Lan atmete laut aus und ließ seinen Blick über Tisch, Schränke, Fenster, Herd und noch mehr Schränke einmal durch den ganzen Raum wandern, während er überlegte, wo er am besten anfangen sollte. Ryu nahm währenddessen einen Schluck Kaffee. Als Lans Blick seine Tour durch die Küche beendet hatte, fuhr sich Lan mit beiden Händen durchs Haar, kratzte sich in der gleichen Bewegung am Hinterkopf und sah seinen Gegenüber dann ernst an.

„Also… Du weißt ja, ich hab da diese lästige Angewohnheit, immer überall meine Augen und Ohren offen zu halten…“

„Du hast mal wieder rumgeschnüffelt.“ Stellte Ryu fest.

„Genau.“ Lachte Lan. Ryu konnte er nichts vormachen.

„Hast du wieder irgendwelche filmreifen Stunts hingelegt und irgendwer hat dich erwischt?“

„Nein, diesmal nicht.“ Lan wurde wieder ernst. „Aber ich hab etwas gehört, was mir sehr zu denken gibt. Und nicht nur das. Wenn irgendwer erfährt, dass ich das weiß… Dagegen ist die Sache mit dem Brief an K.R.O.S.S. gar nichts.“

„Kannst du´s mir erzählen? Wir hängen da immerhin beide mit drin.“ Zu Ryus Erstaunen schüttelte Lan den Kopf.

„Ich behalt das erstmal für mich. Adoy und der Rat wissen inzwischen, dass ich wieder irgendwas plane. Sie sind nicht so bescheuert, dass sie das nicht merken würden. Aber sie können noch nicht abschätzen, ob ich allein bin, gegebenenfalls wessen Hilfe ich habe und wie viel ich schon weiß. So lange sie das nicht wissen, und keiner das weiß, was ich jetzt weiß, besteht eigentlich für keinen außer mir Gefahr. Sie können das Risiko nicht eingehen, jetzt offen etwas zu unternehmen. Sonst würden sie unter Umständen die Büchse der Pandora öffnen… Verstehst du?“

„Nein. Und vor allem versteh ich nicht, warum du mich dafür aus dem Bett geholt hast.“

Lan atmete laut aus, lehnte sich zurück und umgriff in der gleichen Bewegung mit beiden Händen seine Tasse. Fast als wollte er seine Hände an dem heißen Kaffee wärmen. Den Blick hatte er ebenfalls auf das Porzellan gesenkt. Einen Moment herrschte Stille.

„Weil…“ noch einmal atmete Lan tief durch. „Ich glaube, Adoy bereut schon sehr, dass er dieses Ärgernis nicht schon vor Jahren aus der Welt geschafft hat. Als es noch einfach gewesen wäre…. Ich kann dir beim besten Willen nicht erzählen, was ich da letzte Nacht gehört habe. Aber ich hab jetzt wirklich Angst.“

Mit einem festen Blick sah Lan Ryu direkt in die Augen. Einem Blick, der sowohl bestätigte, dass er die Wahrheit sagte, als auch gleichzeitig wie ernst es ihm war. Lan hatte wirklich Angst. Was auch immer er von wem auch immer gehört hatte. Ryu blieb zwar unterkühlt wie immer, er konnte aber nicht leugnen, dass ihm langsam auch etwas mulmig wurde.

Aber hatte er nicht von Anfang an gewusst, wie ernst es werden konnte?

Lan und er hatten beide beim gleichen Zalei-Meister gelernt, bei Meister Adoy persönlich. Sie waren beste Freunde geworden und hatten einander alles anvertrauen können, ob es nun um Alltägliches ging oder das System der Zalei. Dennoch war Ryu natürlich schockiert gewesen, als Lan ihm vor etwa zwei oder drei Jahren zum ersten Mal erwähnt hatte, dass in ihrer Zalei-Gemeinde wohl nicht alles so optimal lief wie es sie der Rat glauben lassen wollte. Dieser Verdacht hatte sich bestätigt, als Lan in den Rat gewählt wurde und in dessen Arbeit Einblick hatte. Vor allem mit einer Organisation, die sich K.R.O.S.S. nannte, gab es immer wieder Probleme. Immer wieder erschreckte K.R.O.S.S. die Zalei mit ihren Zielen, Methoden und Wissen um eigentlich geheime Vorgänge. Es schien, dass der Rat dieser Organisation nicht Herr werden konnte. Und so beschloss Lan einfach, seine eigenen Ermittlungen durchzuführen. Leider stand an deren Ende nicht nur ein großes Fragezeichen, sondern auch jede Menge Ärger mit dem Rat. Lan hatte wenig bis überhaupt keinen Respekt vor Vorschriften oder Vorgesetzten und verfolgte seine Ziele meist ohne Rücksicht auf Verluste. So war früher oder später ein Konflikt mit dem Rat unumgänglich, der nun eben seine Struktur aus Vorschriften und Hierarchie ohne Rücksicht auf Verluste zu wahren versuchte.

Lan hatte Ryu nie erzählt, wie der Rat seinem Alleingang damals ein Ende gesetzt hatte. Aber Ryu wusste, dass seine Meinung von Meister Adoy seitdem nicht die beste war. Lan war der einzige Zalei, der Meister Adoy, den Vorsitzenden des Zalei-Rats ihres Landes, nicht ehrfürchtig mit ‚Meister‘ ansprach.

Und von seinem Alleingang hatte der Streit Lan ohnehin nur insoweit abgebracht, als er sich inzwischen einige wenige Verbündete gesucht hatte. Er war K.R.O.S.S. noch immer genauso auf der Spur wie damals. Ryu hatte sogar eher das Gefühl, dass Lan die Sache seit dem Ärger mit dem Rat allein schon aus persönlicher Rache noch ehrgeiziger verfolgte.

Warum er selbst sich beteiligte, konnte er gar nicht sagen. Hätte man ihn gefragt, hätte er vermutlich geantwortet ‚weil ich weiß, dass da irgendwas nicht stimmt‘. Vielleicht war er einfach nur auf der Suche nach der ganzen Wahrheit. Es gab so viele Ungereimtheiten in Bezug auf K.R.O.S.S., in Bezug auf den Rat und in Bezug auf die gesamte Tradition der Zalei. Ryu wollte vielleicht einfach nur die ganze Wahrheit, nicht mehr. Aber die wollte er so unbedingt, dass er sich auf Lans Spiel eingelassen hatte, und die Gefahr in Kauf nahm.
 

„Kannst du mir auch nicht verraten, wovor du Angst hast? Oder wie ich dir helfen könnte?“

Lan überlegte einen Moment.

„Wovor ich Angst habe, ist im Grunde… ich weiß, dass etwas passieren wird, aber ich kann überhaupt nicht abschätzen was. Ich weiß nur, dass mir entweder K.R.O.S.S. oder Adoy kräftig auf die Finger hauen will. Ich glaub nicht, dass du mir da helfen könntest… Aber keine Sorge, ich hau zurück.“ Lachte er.

Ryu wusste nicht recht, ob er mitlachen sollte. Wie er Lan kannte, würde er selbstverständlich zurückhauen. Aber vermutlich würde er damit die ganze Sache nur noch schlimmer machen. Genau wie damals.

Ganz diplomatisch sagte Ryu deshalb gar nichts mehr, sondern trank einen Schluck.

„Noch was anderes.“ Wechselte Lan das Thema. „Wie machen sich denn eure Schüler?“

„Du kennst ja Kiku. Sie ist gut und lernt fleißig. Wenn es so weit ist, legt sie bestimmt mal eine gute Prüfung hin. Was Kei angeht, solltest du aufpassen. Der wird noch deinen Rekord brechen, wenn er so weitermacht.“

„Oh, bloß nicht.“ Lan rollte mit den Augen und setzte ein gequältes Lächeln auf. Seit er die Prüfung bestanden hatte, wurde er bewundert. Er hatte nämlich als erster und bisher einziger Zalei die Prüfung weniger als ein Jahr nach dem Ausbildungsbeginn bestanden. Ein trauriger Rekord. Man hatte ihm immer wieder gesagt, wie stark doch das Zalei-Talent bei ihm ausgeprägt sei. Deshalb sei er ja auch sofort in den 3. Rang eingestuft worden, nur eine Stufe unter Meister Adoy selbst und eine Stufe, die er landesweit mit nur drei weiteren Zalei teilte. Und nicht zuletzt deshalb konnte er überhaupt in den Rat gewählt werden.

„Und was ist mit deinem Schüler?“

„Ceersh? Wir haben viel Spaß und ich geb mir alle Mühe, ihm viel Blödsinn beizubringen. Adoy kontrolliert die monatlichen Berichtsbögen schon höchst persönlich. Letzten Monat hat er mich zur Schnecke gemacht, weil ich als Beispiel ‚kostenfreier Kinobesuch in Carnform‘ aufgeschrieben hab, den Monat davor ‚Passantenbefragung „Verstehen Sie Spaß?“ mit Überprüfung in der Praxis‘. Diesen Monat hab ich den Bogen noch gar nicht ausgefüllt.“

„Wenn du so weitermachst, setzt Meister Adoy irgendwann wirklich noch einen Auftragskiller auf dich an.“

Im Grunde war Lan wohl nur gekommen, weil er tatsächlich Angst gehabt hatte. Er hätte es vermutlich nie zugegebenen, aber er wollte wohl einfach nur mit jemandem sprechen, dem er vertraute. Einfach nur eine Bestätigung, dass er nicht allein war.

Und daneben noch ein bisschen über Meister Adoy schimpfen.

Gegen späteren Vormittag, als Kei und Yuki auch endlich aufstanden, hatte Lan schon wieder ganz normal gute Laune. Die beiden konnten daher nicht einmal auf den Gedanken kommen, dass irgendetwas mit Lan nicht in Ordnung sein könnte. Er unterhielt sich ganz normal über ganz normale Themen mit ihnen und verabschiedete sich schließlich auch wie immer. Anscheinend.

Nur Ryu und Lan hatten dieses merkwürdige Gefühl, dass irgendetwas anders war, als Lan mit den Worten „Bleibt brav und bis bald“ durch die Tür nach draußen trat. Aber beide waren sich sicher, dass dieses trügerische Gefühl lediglich das Ergebnis ihres Gesprächs sein musste.
 

Kei saß im Wohnzimmer. Das Radio spielte Musik, unterbrochen von Nachrichtenmeldungen, die er gar nicht registrierte. Auf dem Tisch vor ihm stand eine Tasse Tee, von dem er noch nicht getrunken hatte. Kei war tief in Gedanken versunken.

Seit er aufgewacht war, waren da noch mehr Gedanken, die ihm keine Ruhe ließen. Nicht mehr nur die quälende Frage, ob er Zalei werden sollte oder nicht.

An diesem Morgen war sein Blick zuerst auf eine lange Schrankwand aus Buchenholz gefallen, die über und über mit Büchern und DVDs vollgestopft war. Schon im Halbschlaf, Momente bevor er seine Sinne gesammelt hatte, hatte er gewusst, dass diese Schrankwand gestern definitiv nicht gegenüber von seinem Bett gestanden hatte. Dann war sein Blick auf den blauen Teppich gefallen. Nein, der hatte auch nicht in seinem Zimmer gelegen, da war sich Kei auch im Halbschlaf sicher gewesen. Er hatte die Augen geschlossen. Vielleicht waren seine Augen ja auch noch im Land der Träume. Aber seine Nase gab seinen Augen recht. Dieses Kopfkissen hatte irgendwie anders gerochen als das, auf dem er sonst schlief. Aber diesen Geruch kannte er gut. Und was lag da eigentlich so schwer auf seiner Taille?

‚Oh nein!‘ hatte er nur gedacht und die Augen wieder aufgerissen. Im selben Moment, in dem ihm bewusst geworden war, wo er sich befand, war er auch schon hochgeschreckt, dass er beinahe aus dem Bett gefallen wäre.

Kei konnte sich nicht erinnern warum, wie es dazu gekommen war und wann er überhaupt eingeschlafen war… aber offensichtlich hatte er die Nacht nicht nur in Yukis Bett, sondern auch in dessen Arm verbracht. Da war auch nur ein schwacher Trost, dass er noch dieselbe Jeans und dasselbe Shirt trug wie am vorigen Abend.

Er war aufgesprungen und ohne ein Wort aus dem Zimmer gerannt. Seitdem hatte er Yuki gemieden. Eigentlich wollte er Yuki noch sagen, dass das alles nichts zu bedeuten hatte, er nicht gewusst hatte was er tat, ihm das Versprechen abnehmen, nichts zu verraten… Aber er konnte ihm nicht einmal gegenüber treten. Wenn er Yuki nur am anderen Ende des Gangs sah, spürte er die Röte, die sich auf seine Wangen legte, ein merkwürdiges Kribbeln im Bauch und den größten Frosch, den er jemals im Hals gehabt hatte.

Es hatte ihn unendlich viel Überwindung gekostet, sich auch nur ein paar Minuten im selben Raum aufzuhalten wie Yuki. Aber Ryu und Lan gegenüber wollte er sich schließlich nichts anmerken lassen. So hatte er Yuki zumindest nach seinem Bein gefragt, um irgendetwas gesagt zu haben. Ein etwas problematisches Thema, schien Kei. Denn er vermutete, dass er bei seiner Flucht Hals über Kopf versehentlich gegen Yukis verletztes Knie gestoßen war. Yuki schwieg aber darüber.

Überhaupt verhielt er sich heute ungewohnt wortkarg seinem Schüler gegenüber. Der Grund war natürlich, dass Yuki ebenso wenig wie Kei wusste, wie er ihm begegnen sollte. Ihm war bewusst, dass merkwürdige Umstände zu den Ereignissen der letzten Nacht geführt hatten und Kei sich zwar nicht dagegen gewehrt, sich aber auch nicht wohl gefühlt hatte. Yuki wusste, dass sich Kei nicht verzeihen würde, diese Nähe zugelassen zu haben. Und auch, dass es ein einmaliges Ereignis bleiben würde, so sehr er sich auch wünschte, sich in diesem Punkt zu irren.
 

Was wollte tatsächlich? Er selbst? Kei versuchte krampfhaft, die Ataris und Yukis von sich zu schütteln, die in Engelchen- und Teufelchenkostümen auf seinen Schultern saßen und ihm immer wieder „Tu es!“ – „Tu es nicht!“ ins Ohr flüsterten.

Was würde es für ihn bedeuten, wenn er seine Ausbildung abbrach… Er würde wieder als ganz gewöhnlicher Mensch leben. So lange leben wie ein gewöhnlicher Mensch und als alter Mann sterben. Wie ihm wohl weißes Haar stehen würde…?

Er würde die WG verlassen. Robin würde er freilassen, keine Kratz- und Beisskämpfe mehr, keine zerbissene Habseligkeiten. Sicher wäre ihm Robin dankbar, wieder ein ganz normales Fuchsleben in Wäldern und auf Feldern führen zu können. Obwohl ihm das garantierte Frühstück wahrscheinlich ein wenig fehlen würde. Und die Flöhe vermisste er sicher auch nicht sonderlich.

Kei würde ab nächstem Semester studieren. Einen Berufswunsch hatte er zwar noch immer ebenso wenig wie eine Idee, welches Studienfach er belegen sollte, aber studieren würde er wohl. Jedenfalls besser als für den Rest seiner Tage als Clown im Fairy Tales-Park aufzutreten. Obwohl Lan in der Rittershow und Ryami als Seiltänzerin schon einen ziemlich coolen Eindruck gemacht hatten.

In ein paar Jahren würde er dann seinen Lebensunterhalt alleine bestreiten können. Er würde eine Familie gründen, heiraten… möglicherweise…

Er würde Yuki, Ryu und Kiku verlassen. Gemeinsamkeiten hatten sie, abgesehen von ihrem Dasein als Zalei, nicht. Vielleicht würde er sich hin und wieder noch mit Yuki treffen, immerhin hatten Sie seit Wochen und Monaten jeden Tag mit einander verbracht und waren Freunde geworden – Freunde, über das ‚oder doch mehr?‘ bestand kein Diskussionsbedarf. Aber dass Yuki verletzt sein würde, war ihm nur allzu bewusst. So wie es jetzt war, konnte ihr Verhältnis kaum bleiben. Ryu und Kiku würde er vermutlich nie wieder sehen.

All diese Gedanken gingen Kei durch den Kopf, während er in seinem Tee rührte, dessen Temperatur sich langsam der eines Eiswürfels anglich.
 

„Warum heulst du denn in deinen Tee?“ holte Kikus Stimme ihn endlich aus seinen Gedanken.

Kei antwortete nicht. Er sah sie nur verwundert an und überlegte angestrengt, seit wann sie dort saß. Als er sich seinen Tee – vor etwa zwei Stunden – aus der Küche geholt und sich ins Wohnzimmer gesessen hatte, war er noch allein gewesen. Aber jetzt saß Kiku auf der Couch rechts von ihm, als wären ihre Beine schon seit Stunden eingeschlafen. Andererseits konnte sie noch gar nicht so lange von der Schule zurück sein.

„Ist irgendwas passiert, über das du so grübeln müsstest?“ fragte eine andere, wohl bekannte Stimme von der Couch zu Keis linker Seite. Sie gehörte Taki.

„Hmh.“ Gab Kei zurück, angestrengt, sich seine Überraschung nicht ganz so sehr anmerken zu lassen, und nahm einen Schluck Tee. Kalt.

„Lass dir doch von deiner Sempai helfen.“ Kiku sah ihn ganz ernst an, mit ihren großen, wasserblauen Augen. Kei erwiderte ihren Blick fragend. Meinte sie es ernst? Wollte sie ihm etwa ernsthaft helfen? Ohne sich über ihn lustig zu machen?

„Und wie willst du mir bitte helfen?“ Kei war ganz und gar nicht überzeugt.

Kiku grinste breit. Sie beugte sich zur Seite, bis über die Armlehne der Couch, griff nach etwas, das auf dem Boden dahinter lag und zog es hervor. Dieses etwas schien schwer zu sein, denn Kiku beförderte es in einem Kraftakt im großen Bogen auf ihren Schoß. Dann nahm sie es mit beiden Händen und hielt es Kei stolz unter die Nase. Sein Blick fiel auf ‚Dr. Legrands großes Lexikon der Säugetiere aus aller Welt ‘.

Schweigen.

Kiku wollte ihm tatsächlich helfen…. Oder?

„Als meine große Schwester Zalei geworden ist, hat sie auch wochenlang Bücher über Katzen gewälzt. Obwohl sie das eigentlich gar nicht nötig hatte. Unsere Familie hat schon immer Katzen gehalten.“ Lächelte Taki. „Aber dafür ist Ryami jetzt wirklich eine tolle Katzenexpertin und kann sich in Auroras Körper ganz genauso bewegen wie eine Katze. Niemand käme auf die Idee, dass in dem Körper ein Mensch steckt.“

„Genau. Und aus Kei machen wir jetzt einen richtigen Fuchs.“ Schloss Kiku.

Sie stand auf, tänzelte in kleinen Schritten um den Wohnzimmertisch und sank direkt neben Kei auf die Couch. Taki tat es ihr gleich. Das schwere Lexikon legte Kiku auf ihre Knie und fing an zu blättern. Fast als hätte sie die Seiten nicht zum ersten Mal gesucht, fand Sie den ‚Vulpes vulpes‘, den Rotfuchs.

Kei wusste nicht ganz, was sie sich erhoffte, aber wenn es sein völlig verdutztes Gesicht war, wurde sie nicht enttäuscht. Er wartete immer darauf, dass der Mann mit dem Mikrofon hinter der Tür hervortrat und ihm zeigte, wo die Kamera versteckt war. Ausgerechnet Kiku, die ihn vom ersten Tag an immer nur aufgezogen hatte, saß gerade neben ihm und wollte ihm Nachhilfe geben.

Und sie meinte es ernst. Fünf Seiten des Tierlexikons befassten sich mit Füchsen. Fünf Seiten, die Kei, Taki und Kiku Absatz für Absatz durchgingen. Etwa beim vierten Absatz auf Seite zwei – eine Ausführung über das Jagdverhalten – holte Kiku dann Robin als Anschauungsmaterial. Mit einem Kugelschreiber als Beute führte ihnen Robin eindrucksvoll den Sprung vor, mit dem sich ein Fuchs auf eine Maus stürzte. Er beschrieb haargenau den Bogen, der in Dr. Legrands Buch abgebildet war.

Fast drei Stunden saßen sie neben einander im Wohnzimmer, in das Lexikon vertieft. Danach zogen Sie um in Keis Zimmer, wo er sich noch detailliertere Informationen im Internet suchen wollte. Auf diesen fünf Seiten hatte Dr. Legrand noch längst nicht sein ganzes Wissen unterbringen können, wie sich herausstellte.

„Aha! Füchse lassen also die Überreste ihrer Beute einfach liegen und verfaulen. Deswegen stinkt ein Fuchsbau immer so… Kein Wunder, dass Robins Ecke immer aussieht als hätte eine Bombe eingeschlagen.“

„Da siehst du´s. Du hast ihn immer ganz zu Unrecht geschimpft.“ Nickte Kiku.

„Na, das lassen wir mal dahingestellt. Aber zumindest versteh ich jetzt ein bisschen, warum er auf seinen Saustall besteht.“

„Den anderen verstehen lernen ist der beste Schritt, sich ihm anzunähern und sein Freund zu werden. Das hat meine Schwester auch immer gesagt. Aurora und sie verbindet eine enge Freundschaft und tiefes Verständnis.“

„Klingt als wäre deine Schwester eine gute Zalei.“

„Das ist sie. Eine der Besten, und wahrscheinlich die mit der besten Bindung zu ihrem Carn.“

„Ich hab sie letzte Woche übrigens gesehen, im Fairy Tales Park. Bei der Eisrevue im Schloss der Schneekönigin, dann beim Ballett im Feenwald und am Abend euch beide bei der Parade. Ihr habt ja ganz schön was drauf als Showgirls.“ Staunte Kei.

„Danke.“ Hauchte Taki, etwas verlegen.

„Ach was. Du hast doch eh nur die knappen Outfits bewundert, gib´s zu.“ Mischte sich Kiku lachend ein.

„Stimmt, die waren auch nicht zu verachten… Aber in erster Linie war ich total sprachlos, wie perfekt da jede Bewegung saß, auch nach so einem Vorstellungs-Marathon. Ich will gar nicht wissen wie lange ihr immer trainieren müsst.“

„Das sagt Kiku auch immer. Aber das Training macht mir Spaß, deswegen tu ich es gern.“

„Apropos ‚Training‘: weitermachen!“ rief Kiku zur Ordnung.

Als die Sonne sich den Dächern der gegenüberliegenden Häuserzeile näherte, war Kei nicht nur zu einem Fuchsexperten geworden, sondern Kiku und er auch Freunde. Zumindest war Kei nach diesem Nachmittag zu der Erkenntnis gekommen, dass Kiku tatsächlich so süß sein konnte wie ihr Lächeln auf diesem Foto… wenn sie nur wollte.

Kiku und Taki standen auf. Sie wollten sich in Kikus Zimmer zurückziehen. Mit Kei nebenan hatten sie noch nicht genug Gelegenheit gehabt, über die neusten Gerüchte, Trends und Skandale zu diskutieren. Damit würden sie vermutlich den restlichen Abend verbringen.

„Danke für eure Hilfe. Das war echt nett von euch.“

„Gern geschehen.“ Lächlte Kiku. “Hauptsache, du denkst nie wieder so laut drüber nach, uns zu verlassen.“

„Wie…? – Hat Yuki etwa was gesagt…?“

„Nein, nur dein Tee.“ Grinste Kiku, schloss die Tür hinter sich und ließ Kei mit seiner Verwunderung allein.

Tatsächlich war er ja gar nicht allein. Robin lag unter dem Schreibtisch und kaute auf dem Riemen von Keis Rucksack herum. Kei machte einen Schritt auf ihn zu und kniete sich vor den Schreibtisch hin. Eine ganze Weile betrachtete er Robin einfach nur, ohne ein Wort zu sagen.

Er beobachtete die Art wie Robin den Kopf leicht schief legte, mit jedem Biss ein bisschen schiefer. Wie er dabei die Augen zusammenkniff und wieder öffnete. Das Goldbraun seiner Iris, das die Pupillenschlitze säumte. Wie seine Pfote sich auf den Rucksack legte und die Zehen spreizte, in dem Moment, als Robin seinen Ellenbogen streckte. Wie Robins rotes Fell im Licht der untergehenden Sonne die Farbe wechselte, als sich sein Schulterblatt darunter bewegte.

Das war Kei vorher nie bewusst aufgefallen. Er hatte Robin immer nur gesehen als ‚Fuchs‘, aber sich nie Gedanken gemacht, was für ein wunderschönes Geschöpf so ein Fuchs eigentlich war.
 

Kei würde Zalei werden. Er konnte nicht genau sagen, wann er diesen Entschluss gefasst hatte, aber gefasst hatte er ihn. Er würde bei Yuki, Kiku und Ryu bleiben, sich mit Robin anfreunden, seine Ausbildung beenden und ein Zalei werden.

Aber was Atari anging, quälte ihn dennoch sein schlechtes Gewissen.
 

Weitgehend hatte sich sein mieses Gefühl verflüchtigt. Lan rechnete jedoch nach wie vor mit einer bösen Überraschung, wenn er im Ratsgebäude ankommen würde. Es dämmerte bereits, als ihn sein Weg durch das unheimliche Waldstück hinaus aus der Stadt führte. Onyx führte er locker am Zügel neben sich her. Das Zwielicht und das Blutrot, mit dem die Sonne langsam versank, tauchten Laub, Geäst und Steine in eine schaurige Stimmung. Schreie von Vögeln, Raubtieren und anderen exotischen Tieren begleiteten Lan auf seinem Weg. Immer lauter wurden sie, je mehr er sich dem abgelegenen Sitz des Rates näherte.

Lan hatte die Mauer und den Vorgarten hinter sich gelassen und das alte Gebäude durch das große, schwere Tor betreten. Schon in der Eingangshalle endete sein Weg. Im Halbdunkel der Eingangshalle erwarteten ihn Adoy, mit seiner Schildkröte auf dem Arm, und Ryami Hisui, neben der ihre schwarze Katze Aurora saß. Zahlreiche Kerzen und Fackeln erhellten den Raum, konnten jedoch die Schatten auf ihren Gesichtern nicht vollständig vertreiben. Vor allem die Augen des alten Meisters lagen im Dunkeln, sodass Lan den Glanz in ihnen erst sehen konnte, als er schon fast direkt vor Adoy stand. Die letzten Sonnenstrahlen, die durch die hohen Fenster drangen, tauchten die Halle in weiches Rot.

Lan war nicht überrascht, dass Adoy ihn schon in der Halle abfing. Dennoch gab er sich alle Mühe, so zu wirken.

„Ihr seid hier? Wurde denn die Sitzung abgesagt?“

„Nicht abgesagt sie wurde. Jedoch eine wichtige Angelegenheit müsst ihr erledigen, sehr wichtig. Nur Zalei von hohem Rang erledigen sie können.“

„Was könnte denn so wichtig sein, dass nur zwei Zalei vom 2. und 3. Rang es erledigen könnten? Noch dazu, wo doch eine Vollversammlung ansteht?“

„In den kleinen Saal ihr mir folgt.“ Diktierte Meister Adoy und wandte sich zur Treppe zentral am Ende der Eingangshalle, die in den ersten Stock führte. Der kleine Saal wurde seinem Namen kaum gerecht. Besonders klein war er nicht, jedoch nur etwa halb so groß wie der große Sitzungssaal, in dem der Rat tagte. Der kleine Saal wurde vor allem für Besprechungen mit einer geringeren Zahl von Teilnehmern oder für inoffizielle Gespräche genutzt.

Meister Adoy schritt voran und nahm im großen Sessel Platz, der sich in der kreisrunden Bestuhlung gegenüber der Eingangstür befand. Lan und Ryami folgten ihm und schlossen die Tür hinter sich.

„Weißt du um was es geht?“ flüsterte Lan Ryami zu.

„Er hat mir auch nichts gesagt.“

Ryami setzte sich in den Sessel zu Meister Adoys linker Seite. Lan blieb gleich hinter dem Sessel stehen, der sich am nächsten zu Tür befand. Meister Adoy schwieg und sah seine beiden Gegenüber an. Nur mit einem Blick bedeutete er Lan, sich zu setzten, da er erst dann das Wort ergreifen würde. Lan atmete laut aus. Er gehorchte und setzte sich, widerwillig.
 

Der wichtige Auftrag, mit dem Meister Adoy Ryami und Lan betrauen wollte, war schnell erklärt. Im Restaurant ‚San Gabriela‘ würde sich an diesem Abend ein Stadtratsmitglied mit einer unbekannten Person treffen, die vermutlich einer kriminellen Organisation angehörte. Lan und Ryami sollten die beiden belauschen, die beiden Personen, sowie nach Möglichkeit die ‚Ware‘ fotografieren und so das Treffen dokumentieren. Der Auftrag stammte wohl von einem konkurrierenden Stadtratsmitglied, vermutete Lan. Im nächsten Jahr standen die Kommunalwahlen an, sodass jeder bestrebt war, die Leichen im Keller seiner Konkurrenten zu entdecken. Wo aber die Schwierigkeit lag, die den Einsatz zweier der hochrangigsten Zalei erforderte, wusste er nicht. Meister Adoy beantwortete Lans Nachfrage auch nicht. Er solle sich lieber freuen, so einen ‚leichten‘ Auftrag erledigen zu dürfen, wenn er ihn dafür hielt.

Im Vorgarten wartete Onyx ruhig auf die Rückkehr seines Herren. Nach einer kurzen Begrüßung schwang sich Lan auf den Rücken seines Pferdes. Ryami nahm Aurora auf den Arm und saß hinter ihm auf. Langsam trabte Onyx die Wege entlang zum Tor, durch das sie das Anwesen des Rates verließen. Etwa nach zehn Minuten hatten sie den kleinen Wald hinter sich gelassen und befanden sich auf ihrem Weg über schmale Straßen zum Restaurant ‚San Gabriela‘. Entlang der großen Landstraße hätten sie das Restaurant zwar auf viel schnellerem und bequemerem Weg erreicht, jedoch konnten sie sich hier unauffälliger bewegen. Die wenigen Passanten starrten sie ohnehin schon verwundert genug an.

„Was denkst du über diesen Auftrag?“ fragte Ryami schließlich, um das Schweigen zu beenden, in dem sie sich seit ihrem Aufbruch befunden hatten.

Lan war in Gedanken versunken. Er überlegte, wieso Adoy ausgerechnet ihnen beiden diesen Auftrag überlassen hatte. Seit dieser Geschichte vor zwei Jahren hatte Adoy kein bedingungsloses Vertrauen mehr in seinen ehemaligen Schüler. Er konnte jedoch nicht leugnen, dass er einer der Besten war. Deswegen konnte er auf Lans Hilfe nicht verzichten und ihn nicht ‚verbannen‘ wie er es mit unliebsamen Zalei schon früher getan hatte. Mit Ryami verhielt sich das ganz anders. Sie war schon immer ein Liebling von Adoy gewesen und hatte ihm noch nie Grund gegeben, ihr böse zu sein. Adoy verließ sich auf sie. Wollte Adoy etwa mit ihrer Hilfe Lans Loyalität auf die Probe stellen? Lan kannte Ryami schon lange und verstand sich sehr gut mit ihr. Aber er konnte nicht sagen, ob sie einen solchen Auftrag von Adoy nicht dennoch ohne Zögern angenommen hätte.

„Ich glaube, dass hinter dem Auftrag mehr steckt als nur eine Beschattung.“

„Das denke ich auch. Meister Adoy verheimlicht uns irgendwas.“ Nickte Ryami zu Lans Erstaunen. Er hatte nicht damit gerechnet, dass sie an Adoys Wort zweifeln würde. Ryami hatte jedoch auch keine Idee, was tatsächlich auf sie zukommen könnte. Beide einigten sich darauf, in jedem Fall die Augen offen zu halten und vorsichtig zu sein. Zumindest sollten sie darauf gefasst sein, dass nicht alles nach Plan verlaufen würde.
 

Als sie in die Straße einbogen, in deren Mitte sich das ‚San Gabriela‘ befand, stiegen Lan und Ryami ab. Onyx‘ Hufe hallten zwischen den Häusern laut wider, sodass Lan ihn ganz langsam führte. Beim Restaurant angekommen, bedeutete Lan Onyx, hinten am Ende der Einfahrt zu warten. Er selbst schlich mit Ryami einmal um das Gebäude herum, um sich umzusehen. Das Restaurant war geschlossen. Die Türen waren verschlossen, am Eingang ebenso wie der Hinterausgang in der Küche. Es brannte nur im hinteren Teil des Restaurants Licht, der von der Straße aus nicht einsehbar war. Hier saßen die beiden Personen an einem Tisch und unterhielten sich. Ryami und Lan konnten zwei Stimmen hören, jedoch von außen nicht verstehen was sie sagten. Fotografieren konnten sie ihre Zielpersonen ebenfalls nicht von außen, es sei denn sie hätten sich unmittelbar vor die verglaste Front gestellt. Da sie sich aber nicht entdecken lassen durften, schied diese Möglichkeit aus.

Hinten in der Küche war ein Fenster an der Rückseite des Gebäudes gekippt. Das war vermutlich die einzige Stelle, an der ein Einbruch möglich war. Lan führte Onyx unter das Fenster und stieg auf seinen Rücken. Bevor die Mission offiziell begann, steckten sich Lan und Ryami kleine Hörer ins Ohr und brachten kleine Mikrofone an ihren Kragen an. Nachdem sie sich vergewissert hatten, dass die Geräte funktionierten, reichte Ryami Lan ihre Katze auf Onyx‘ Rücken. Lan hob sie hoch, sodass Aurora am oberen Rand des Fensters durch den Schlitz ins Innere der Küche schlüpfen konnte. Dort landeten ihre Katzenpfoten sicher und leise auf dem Tresen unter dem Fenster. Ein prüfender Blick, dann griff Lan nach Ryamis Oberarm, die im nächsten Moment schon leblos in seinen Arm sank. Er hob sie auf Onyx und legte sie über dessen Hals, sodass sie nicht herunterfallen konnte.

Aurora öffnete inzwischen geschickt das Fenster. Lan kletterte hinein. Es war stockdunkel in der Küche. Nur indirekt drang etwas Licht von den Straßenlaternen hinter das Haus und durch die Fenster. Unter der Tür ganz links, die von der Küche ins Restaurant führte, blitzte ein schmaler Streifen Licht. Die beiden Personen mussten fast direkt vor der Tür sitzen. Vorsichtig und auf Zehenspitzen schlich Lan dort hin. Ein kleines Fenster in der Tür erlaubte dem Küchenpersonal einen Blick auf die Gäste. Lan wagte einen Blick und musste leider feststellen, dass die beiden Personen, zwei Männer, nur etwa drei bis vier Meter von der Tür entfernt Platz genommen hatten. Er konnte also unmöglich unbemerkt durch die Tür ins Restaurant gelangen.

Mit dem Rücken zu ihm saß der Mann mittleren Alters, der wohl das Stadtratsmitglied war. Er hatte lichtes, graues Haar und trug einen schwarzen Anzug. Der Mann ihm gegenüber war deutlich jünger, vermutlich Mitte 20. Er hatte schwarzes Haar, das er im Nacken zu einem kleinen Zopf gebunden hatte. Sein rechtes Auge war blind.

„Denkst du, wir könnten die Tür weit genug öffnen, dass Aurora durch passt?“ hörte er Ryamis Stimme leise in seinem Ohr. Offenbar war sie wieder in ihren Körper zurückgekehrt, um mit ihm sprechen zu können.

„Nein, der eine sitzt direkt gegenüber von der Tür. Er würde sogar sehen, wenn sich nur die Klinke bewegt. Das scheidet aus. Außerdem könnte Aurora keine Fotos machen.“ Flüsterte Lan zurück.

„Alternative?“

„Ich schau mich um.“

Daraufhin entfernte sich Lan wieder von der Tür und schlich einmal im Kreis durch die Küche, immer gefolgt von Aurora. In der Mitte befand sich eine hufeisenförmige Kochinsel, deren Öffnung zur Rückseite des Gebäudes zeigte. Eine Tür hinten im Gebäude gab den Blick in den Lagerraum frei. Ganz rechts führte eine Tür zur Personaltoilette. Das war vielleicht der einzige Weg ins Restaurant, denn sie wies zur Vorderseite des Gebäudes hin und Lan wusste von einem früheren Restaurantbesuch, dass sich die Gästetoiletten ebenfalls auf dieser Seite des Gebäudes befanden. Vielleicht gab es eine Verbindung. Die Tür war verschlossen, sodass Lan zunächst sein Einbrechergeschick mit einem verbogenen Draht beweisen musste. Nach ein paar kurzen Umdrehungen mit dem Draht sprang die Tür sofort auf und Lan trat ein. Ein Blick nach links und rechts brachte eine erste Enttäuschung. Kein zweiter Eingang und damit auch kein möglicher Weg zu den Gästetoiletten. Dann blickte Lan jedoch nach oben. Sehr schön. Die Wand war nicht bis ganz nach oben gemauert.

Er hob Aurora auf seine Schulter, stieg auf den Toilettendeckel, den Spülkasten und zog sich mit beiden Armen hoch. Aurora sprang gleich auf die Mauer. Etwa fünfzig Zentimeter waren frei bis zur Decke. Lan schwang sich über die Wand und kletterte auf der anderen Seite beinahe völlig lautlos wieder hinunter. Aurora landete sicher auf seiner Schulter. Einen Moment hielt Lan noch inne und vergewisserte sich, dass er ganz allein war. Dann trat er aus der Kabine, an den Waschbecken vorbei und verließ die Toilette schließlich.

„Das war die Damentoilette, du Spanner.“ Hörte er durch den Ohrhörer.

„Sorry. Aber du weißt ja selber, dass das noch eine meiner wirklich kleinen Sünden ist.“

Ryamis großes Talent war es, extrem schnell zwischen dem Körper ihres Carn und ihres eigenen hin und her wechseln zu können. Es war nicht selbstverständlich, dass ein Carn sich das gefallen ließ, vor allem wenn der Zalei die ganze Zeit über immer wieder hin und her tauschte. Das machte Ryami zu einer sehr großen Hilfe bei Missionen dieser Art. Sie konnte im Restaurant selbst helfen, und gleichzeitig draußen Wache stehen.
 

Auf leisen Sohlen schlich Lan den kurzen Gang entlang, der ins eigentliche Restaurant führte. An dessen Ende ging er vorsichtshalber gleich in die Knie. Das ‚San Gabriela‘ war leer, bis auf den Tisch auf der anderen Seite, an dem die beiden Herren saßen. Aber Lan war sich nicht sicher, ob man ihn nicht durch die verglaste Front von der Straße aus sehen konnte. Auf den Tisch seiner Zielpersonen hatte er keinen direkten Blick. Die L-förmige Theke befand sich dazwischen. Da sich der besagte Tisch jedoch genau am Fuß des Ls befand, konnte Lan sich wunderbar hinter der Theke verstecken und von dort aus, zwischen den darauf stehenden Flaschen hindurch, seine Beweisfotos aufnehmen.

Ohne sich wieder zu erheben, huschte er die etwa zwei- drei Meter bis hinter die Theke. Aurora folgte ihm. Zunächst wagte Lan noch nicht, über den Tresen zu blicken. Er belauschte die beiden Männer nur und versuchte sich auftragsgemäß so viel wie möglich zu merken. Aurora neben ihm, beziehungsweise Ryami in deren Körper, tat es ihm gleich.

„Haben Sie mit der Baubehörde gesprochen wegen der geplanten Erweiterung von Trakt 2 unserer Anlage?“ fragte der Mann, der mit dem Rücken zur Eingangstür saß.

„Nun ja… Das ist nicht so einfach. Der Bebauungsplan sieht keine so großen Gebäude vor. Er müsste zuerst geändert werden, und das geht wiederum erst, wenn der Flächennutzungsplan angepasst wurde.“ Stammelte der andere Mann, vermutlich das Stadtratsmitglied, wegen dem Lan hier war, hörbar nervös.

„Dann passen Sie ihn bitte an. Wir müssen die Deckenhöhe der Halle in Trakt 2 auf zehn Meter erhöhen, wenn wir wie geplant unsere neuen Maschinen aufbauen wollen.“

„Könnten sie dann nicht die darüber liegenden Etagen in einen anderen Trakt verlegen? Ein Bebauungsplan ist nicht so einfach zu ändern. Nächstes Jahr sind Wahlen. So einen merkwürdigen Antrag meinerseits würde die Opposition sofort…“

„Wir brauchen die Messinstrumente nach wie vor über der Halle, ebenso die Auswertungsabteilung. Es müssten also alle Stockwerke um etwa fünf Meter nach oben weichen. Die Miss hat schon alle Varianten durchgespielt und ist zum Schluss gekommen, das sei die kostengünstigste.“

‚Miss?‘ Lan schreckte zusammen. Diesen Decknamen gab sich die Chefin von K.R.O.S.S.. Also gehörte der jüngere Mann zu dieser Organisation. Die Wortfetzen über den geplanten Umbau, die Lan aufgeschnappt hatte, passen ebenfalls auf das Zentrum, das K.R.O.S.S. ein paar Kilometer außerhalb der Stadt errichtet hatte. Warum immer wieder K.R.O.S.S.? Hatten die denn überall ihre Finger mit im Spiel?

„Ich werde sehen was ich tun kann. Auf Ihre Wahlkampfunterstützung kann ich nicht verzichten.“ Resignierte der Ältere schließlich.

„Ganz recht.“ Lan hörte förmlich das Grinsen in der Stimme des anderen. „Dann wäre da noch etwas. Wie sieht es mit der Fragebogenaktion aus?“

„Äh…“ versuchte der Ältere, etwas Zeit zum Überlegen zu gewinnen. „Fragebogen?“

„Wir hatten Sie gefragt, ob es möglich wäre, einen Fragebogen an den örtlichen Schulen zu verteilen. Die Schüler sollten einige Fragen zu parapsychologischen Erfahrungen beantworten. Völlig anonym, versteht sich.“

Jetzt riskierte Lan doch einen Blick. Ganz langsam schob er sich so weit hoch, dass er gerade zwischen zwei Flaschen hindurch auf die beiden Männer sehen konnte. Das Gesicht des linken kannte er von Wahlkampfplakaten. Den anderen hatte er noch nie gesehen. Nun erkannte Lan, dass vor den beiden zahlreiche Skizzen, Tabellen und Schriftstücke auf dem Tisch ausgebreitet lagen. Das also war die ‚Ware‘, die er fotografieren sollte.

„Nun ja. Das ist nun wirklich sehr kompliziert.“ Stammelte der Stadtrat.

Vorsichtig, um ja kein noch so kleines Geräusch zu verursachen, zog Lan die Kamera aus seiner Jackentasche. Wie in Zeitlupe hob er sie bis vor sein Gesicht, visierte die beiden Männer an. Mist, die Flaschen standen zu dicht. Einer von beiden Männern war immer verdeckt, egal wie er die Kamera hielt.

„Was ist so kompliziert?“

„Na ja, das Kultusministerium muss die Aktion genehmigen. Und da sehe ich schwarz. Sie werden Fragen stellen.“

Lan griff nach einer der Flaschen und schob sie so vorsichtig zur Seite, als könne sie jederzeit in tausend Scherben zerspringen. Dann konnte er endlich einige Fotos von dem Stadtratsmitglied zusammen mit dem jungen Mann von K.R.O.S.S. aufnehmen. Damit war Teil eins des Auftrags erfolgreich erledigt.

„Hast du die beiden?“ flüsterte Ryami in seinem Ohr. „Dann nichts wie raus da.“

„Noch nicht. Die Pläne will ich auch noch knipsen. Bis jetzt haben sie uns noch nicht bemerkt.“

Als hätte Lan mit dieser Aussage das Unglück heraufbeschworen. Er hatte die Kamera gerade wieder in seiner Jackentasche verstaut und die Flasche an ihren angestammten Platz geschoben – wegen dem Abdruck im Staub wollte er sie lieber zurückstellen – da geschah das Unglück.

„Was das Kultusministerium dazu sagt, ist ihr Problem. Ich finde es ja ohnehin einen feinen Zug von der Miss, die Behörden vorab zu informieren. – Ach ja. Sind die Getränke eigentlich nur zur Zierde oder wollen Sie Ihrem Gast kein Glas anbieten?“

„Oh, äh… Das Restaurant gehört meinem Cousin. Er hat bestimmt nichts dagegen, wenn wir uns eine Flasche nehmen.“

Lan hörte, wie einer der Stühle zurückgeschoben wurde und kurz darauf Schritte, die auf die Theke zukamen. Er ging wieder in die Knie, drückte sich so nah an die Rückseite der Theke wie er konnte. Leider war dort kein leerer Schrank oder eine Nische, in der er sich hätte verstecken können. In diesem Moment hoffte er einfach nur, dass sich der Mann zwei Gläser und eine Flasche von oben nehmen und sich wieder setzen würde. Leider wurde er enttäuscht.

„Warten Sie einen Moment.“ Rief der Stadtrat vom Tisch aus. Also war es der junge Mann von K.R.O.S.S., der aufgestanden war. Nun erhob sich jedoch auch der andere und kam näher.

„Die Flaschen da oben lässt mein Cousin immer draußen stehen, weil die Etiketten schön sind. Die Weine schmecken jedoch ganz furchtbar. Warten Sie einen Moment, ich hole eine Flasche aus dem Schrank.“

Der Mann von K.R.O.S.S. blieb vor der Theke stehen. Der andere jedoch wollte wohl um den unteren Balken vom L herum, hinter die Theke gehen. In diesem Fall hätte er Lan sofort entdeckt. Ihm blieb also keine andere Wahl, als sein Versteck hinter der Theke so schnell wie möglich zu verlassen. Auch auf die Gefahr hin, dass der Mann von K.R.O.S.S. ihn womöglich sehen würde.

Zum Glück beobachtete der aber wohl den Älteren, als er seinen Weg hinter die Theke nahm. Lan konnte unbemerkt wieder in den kleinen Gang verschwinden, der zu den Toiletten führte. Dort atmete er erleichtert durch, während er schon das Klimpern von Flaschen hinter sich hörte. Aurora folgte ihm auf leisen Pfoten.

„Moment! Was war das da hinten?“ rief der Mann von K.R.O.S.S. erschrocken aus.

„Was denn?“

„Keine Ahnung. Was kleines, dunkles mit Fell… Eine Ratte vielleicht?“

„Eine Ratte? Das kann nicht sein. Mein Cousin hat mir Stein und Bein geschworen, nach der letzten Inspektion…“

„Entweder eine Ratte, oder ein ungebetener Gast.“ Stellte der Jüngere fest.

Lan hörte nicht nur Schritte, die auf ihn zukamen, sondern auch ein leise knackendes Geräusch, das er vor allem aus Actionfilmen kannte. Hatte der Mann eine Waffe?

Vorsichtig riskierte er einen Blick um die Ecke. Negative Nachricht: er hatte tatsächlich eine Pistole gezogen und hielt sie auf die Decke gerichtet, als er sich langsam der Stelle näherte, an der er die ‚Ratte‘ gesehen hatte. Positive Nachricht: beide Männer kamen hinter der Theke durch auf ihn zu. Wenn sie also noch auf der kurzen Seite des Ls waren, versperrte eine Reihe Hängeschränke den Blick auf Lan. Diesen Moment nutzte er und sprang blitzschnell an der offenen Seite der Theke vorbei hinter den langen Scheitel des Ls. Hier presste er sich mit angehaltenem Atem so fest an die Wand hinter sich, als die beiden Männer hinter ihm Richtung Toiletten gingen.

„Da war bestimmt nichts. Sie müssen sich geirrt haben.“ Versicherte der Ältere.

„Nein, ich bin ganz sicher.“ Stellte der Jüngere fest und war offenbar entschlossen, der Sache auf den Grund zu gehen. Mit erhobener Waffe wagte er sich langsam hinter dem Tresen vor, zum Gang hinüber, der zu den Toiletten führte. Vielleicht war er auch zum Schluss gekommen, dass – was auch immer er gesehen hatte – von dort gekommen war.

‚Such du ruhig.‘ dachte Lan bei sich.

Er tastete sich vorsichtig an der langen Seite der Theke entlang, bis zum Tisch vor, an dem die beiden Männer gesessen hatten. Aurora folgte ihm bis zum Ende der Theke, wagte sich jedoch lieber nicht weiter vor. Lan sah sich ein letztes Mal nach den beiden Männern um. Beide suchten wohl noch jede Fließe in den Toilettenräumen einzeln ab. Dann gab Lan den Schutz des Tresens auf und schlich direkt zum Tisch. Blitzschnell breitete er die über einander liegenden Blätter aus, fotografierte jedes einzelne von ihnen und schob sie sofort wieder über einander, ohne auch nur eine Skizze bewusst betrachtet zu haben. Perfektes Timing, denn gerade als er die Kamera wieder in seine Jackentasche gesteckt hatte, hörte er die Stimmen der beiden Männer, die sich wieder dem eigentlichen Restaurant näherten.

Mit einer Handbewegung bedeutete er Aurora, zu ihm zu kommen. Sie sah sich kurz um und sprang dann in seinen Arm. Im selben Moment, in dem die beiden Männer wieder aus dem Gang um die Ecke traten, verschwanden Lan und Aurora durch die Tür in die Küche.

„Ich habe Ihnen ja gesagt, mein Cousin hat nach der letzten Inspektion extra Fallen aufgestellt. Er hat mir versichert, es gäbe hier keine Ratten mehr.“

‚Klack‘ fiel die Tür ins Schloss.

„Da!“ rief der Mann von K.R.O.S.S. aus und rannte sofort um die Theke herum, an ihrem Tisch vorbei in die Küche. In einer raschen Bewegung schlug er auf den Lichtschalter neben der Tür. Seine Augen, beziehungsweise sein linkes Auge war von der plötzlichen Helligkeit geblendet, sodass er zunächst nur undeutlich erkannte, wie irgendjemand auf das geöffnete Fenster hinten zulief. Aurora sprang in einem Satz vom Boden hindurch und landete auf Onyx‘ Rücken.

„Bleib stehen oder ich schieße!“ rief der Mann von K.R.O.S.S., als Lan ohne sich umzusehen ebenfalls zum Fenster rannte. Die Warnung des Mannes kam allerdings ohnehin zu spät, um ein wirklicher Anreiz sein zu können. Ein paar Kugeln hatten schon rechts und links von Lan in die Küchenschränke eingeschlagen. Er konnte also sicher sein, dass er auch nicht unverletzt bleiben würde, wenn er stehenblieb. Also sprang er, stieß sich mit dem rechten Fuß noch einmal am Tresen ab, der unter dem Fenster verlief und dann durch das Fenster ins Freie. Leider klappte seine Punktlandung auf Onyx‘ Rücken nicht so perfekt wie er es geplant hatte. Genau in dem Moment, als er zum Sprung angesetzt hatte, hatte ihn eine Kugel in die rechte Schulter getroffen.

„Alles klar bei dir?“ fragte Ryami besorgt.

„Alles klar. Nichts wie weg.“ Nickte Lan knapp und zog an Onyx‘ Zügeln. Er fühlte wie das Blut warm seinen Rücken und seine Brust herunterlief. Der Schmerz ließ ihn kaum atmen, aber er musste um jeden Preis weg hier. Lan lenkte Onyx die Einfahrt entlang, hinaus auf die offene Straße.

Hinter sich hörte er wie sein Verfolger ebenfalls durch das Fenster gesprungen war. Seine Schritte brachten den kiesigen Boden zum Knirschen. Dann fiel wieder ein Schuss. Zum Glück verfehlte er sein Ziel. Lan fragte sich ohnehin wie es dem Mann mit nur einem Auge möglich gewesen war, ihn zu treffen. Dann bog Onyx auch schon um die Ecke und verschwand zunächst aus der Schusslinie. Der Mann rannte zwar die Einfahrt hinunter und schoss noch ein paarmal hinter ihnen her, traf jedoch nicht mehr. Bald hatten sie sich auch so weit entfernt, dass sie sicher sein konnten, keine Kugel mehr abzubekommen.

„Ich habe die Polizei gerufen! Sie sind in ein paar Minuten hier!“ rief das Stadtratsmitglied dem anderen zu.

„Die Polizei?! Wie dämlich sind Sie eigentlich?“ rief der andere wütend zurück.

Zwei Straßen weiter ließ die erste Anspannung nach. Lan war sicher, den Mann abgehängt zu haben. Sie hatten denselben Weg durch kleine, verwinkelte Straßen zurück genommen, auf dem sie gekommen waren. Hier würde ihnen der Mann von K.R.O.S.S. kaum folgen. Entfernt hörten sie das Lalülala der herannahenden Polizeiwagen, die der ältere Mann gerufen hatte.

So wie die Anspannung nachließ, so wuchs allerdings der Schmerz in Lans Schulter. Das Atmen fiel ihm merklich schwerer und er spürte nun auch wie sein Hemd vor warmem Blut an seinem Rücken und seiner Brust klebte. Er zog ein wenig an Onyx‘ Zügeln, um dessen Schritt etwas zu bremsen. Womöglich würde er das Bewusstsein verlieren und dann vom Pferd fallen.

Das Martinshorn der Polizeiwagen wurde lauter.

Ryami drehte sich fragend zu ihm um. Erst jetzt bemerkte sie den schmerzverzerrten Ausdruck auf Lans Gesicht. Sofort wusste sie was los war und lenkte Onyx in eine kleine Gasse, wo sie ihn zum Stehen brachte. Ryami stieg ab und half auch Lan vom Pferd. Er hielt sich die Schulter und sackte sofort kraftlos auf dem Boden zusammen. Unter seiner Jacke erkannte Ryami die dunklen Blutspuren auf seinem Hemd.

„Warum hast du denn nichts gesagt? Ich hab doch noch gefragt, ob… Oh, Mann…“

Vorsichtig schälte sie ihn aus seiner Jacke, um einen Blick auf die Schusswunde zu werfen.

„Das wird schon wieder. War nicht das erste Mal…“ versuchte er zu lächeln.

„Du musst sofort ins Krankenhaus.“

„Wenn du inzwischen die Kamera zu Adoy bringst.“ Lan hielt ihr die Kamera hin, die er aus seiner Jackentasche gezogen hatte. Sie baumelte an der Armschlinge direkt vor ihrem Gesicht wie das Pendel eines Hypnotiseurs.

„Der Meister wird verstehen, dass wir ihn etwas warten lassen.“

„Nicht, wenn es um mich geht.“ Grinste Lan gequält und streckte sich zu Onyx. Das Pferd kam gehorsam näher und senkte seinen Kopf zu ihm. Lan hielt ihm die Schlaufe der Kamera hin und Onyx nahm sie mit dem Maul auf.

„Bring das bitte zu Adoy.“ Onyx rührte sich zunächst nicht vom Fleck.

„Mach schon!“ Mit aller Anstrengung streckte sich Lan hoch und schlug ihm zweimal auf die Flanken. Das war das Zeichen für Onyx, zum Rat zu laufen. Er schnaubte zwar missmutig, lief jedoch sofort los. Er ließ sich auch nicht von Ryami aufhalten.

„Na toll. Und wie soll ich dich jetzt ins Krankenhaus bringen?“

„Gar nicht.“ Beantwortete eine dunkle Stimme hinter ihr die Frage.

Erschrocken fuhr Ryami herum und blickte direkt in die Mündung einer Pistole. Der Mann von K.R.O.S.S. hatte sie tatsächlich gefunden. Ryamis Augen waren vor Schreck geweitet. Ihre Lippen zitterten, unfähig ein Wort zu sprechen. Würde er jetzt die Kamera haben wollen? Was, wenn sie sie ihm nicht geben konnten?

„Schnapp dir Aurora und hau ab.“ Flüsterte Lan ihr zu.

Ryami konnte nicht antworten. Wie angewurzelt blieb sie hocken, zwischen Lan und dem Mann von K.R.O.S.S.. Für sie war ganz klar, dass sie Lan nicht zurücklassen würde, und nicht nur, weil sie sich nicht bewegen konnte. Lan war seit Jahren ein guter Freund. Seine jetzige Verletzung war schon sehr schwer, da würde er diese Begegnung mit dem Mann von K.R.O.S.S. sicher nicht überleben.

„Was wollen Sie von uns? Uns über Ihr kleines Treffen zum Schweigen bringen?“ fragte Lan mutig.

„Nein, das Treffen ist mir egal. Dem Herrn Stadtrat wird das vielleicht nicht passen, aber von mir aus könnt ihr eurer Wissen behalten... oder auch an die Lokalpresse verkaufen.“ Grinste er und spannte den Hahn seiner Pistole.

„Was willst du dann von uns?“

„Nur dein Leben, Lan Sekiei.“

Im nächsten Moment fielen vier Schüsse. Der erste verfehlte sein Ziel und hinterließ ein schwarzes Loch auf dem Straßenpflaster. Der zweite traf Lans Schulter. Die Wucht der Kugel warf ihn beinahe nach hinten um, er konnte sich jedoch fangen und fiel vor Schmerz gekrümmt vorne über. Seine Haarsträhnen berührten beinahe den Boden vor ihm. Lans Hand krallte sich in die Schulter, als könnte er den Schmerz mit ihr herausreißen.

Wo die beiden anderen Schüsse einschlugen, konnte Lan zunächst nicht sehen. Er fühlte keinen neuen Schmerz, also mussten sie ihn verfehlt haben. Einen Moment herrschte Stille. Er hörte jedoch die Sirenen der Polizeiwagen, die sich offenbar sehr schnell der Stelle näherten, wo die Schüsse gefallen waren. Der Mann von K.R.O.S.S. fluchte laut, machte dann aber auf dem Absatz kehrt und lief so schnell er konnte davon.

In der Überzeugung, dass der Mann weg war, hob Lan langsam den Kopf. Sofort weiteten sich seine Augen vor Entsetzen.

„Nein!“ rief er und machte, so weit es seine Verletzung zuließ, einen Satz nach vorne. Die Kugeln, die für ihn bestimmt waren, hatten Ryami genau in die Brust getroffen. Offenbar hatte sie sich schützend vor ihn gestellt. Vielleicht in der Hoffnung, der Mann würde nur auf Lan schießen, den er zuvor als sein Ziel benannt hatte. Vielleicht aber auch tatsächlich, um die Kugeln abzufangen.

Lan erschien der Augenblick wie eine Ewigkeit, als Ryami die Arme kraftlos sinken ließ, den Kopf in den Nacken legte und langsam nach hinten fiel. Ihr langes, schwarzes Haar folgte ihrer Bewegung wie ein seidener Schleier. Ein stechender Schmerz breitete sich in Lans Körper aus und ließ ihn kaum atmen, als er Ryami mit beiden Armen auffing. Tränen sammelten sich in seinen Augen.

„Wa-... Warum hast du das getan? Warum?“

Ryamis sonst ohnehin recht blasse Haut schien im fahlen Licht der Laternen schneeweiß. Die dichten, schwarzen Wimpernkränze um ihre Augen zuckten entkräftet, als sie Lan ansehen wollte.

„Warum?... Er wollte doch nur… mich.“ Flüsterte Lan erstickt. Träne um Träne fand ihren Weg über seine Wangen.

„Meister Adoy weiß,… dass du wieder… er weiß nicht was oder warum… Aber du planst etwas, das weiß er...“ Ryami wandte all ihre Kraft auf, um sprechen zu können. „Du hast recht… Du hattest schon damals recht…“

„Ryami… was erzählst du denn da?…“ Lan konnte sich keinen rechten Reim darauf machen, was Ryami ihm erzählen wollte. Sie hatte doch immer treu auf Adoys Seite gestanden… oder?

Zögerlich hob sie ihre Hand und tastete im Nichts. Das Bild verschwamm langsam vor ihren Augen. Lan fing ihre Hand auf und hielt sie ganz fest. Ryami versuchte, seinen Händedruck zu erwidern.

„Lass dich… nicht einschüchtern, mach bitte weiter… Ich wünschte, ich könnte dir noch helfen…“

Lan fühlte, wie die Kraft langsam aus ihrer Hand wich.

„Es tut mir so leid, Aurora…“ eine Träne stahl sich aus Ryamis Augenwinkel. Sie schloss die Augen ganz langsam, als ginge ihr erst nach und nach die Kraft aus, sie geöffnet zu halten.

„Ryami! Hey! Sprich mit mir. Bitte! Red weiter!“ flehte Lan verzweifelt.

„Bitte kümmer dich um Taki… Sag ihr, dass ich sie lieb…“ hauchte Ryami mit letzter Kraft. Ihre Lippen bewegten sich noch, als schon kein Ton mehr über sie kam.

Für einige Minuten legte sich absolutes Schweigen über sie. Nur Lans ersticktes Schluchzen störte hin und wieder die Stille. Die Polizeiwagen waren inzwischen angekommen und hatten ihr Martinshorn ausgeschaltet. Hinter ihnen parkte sogar ein Krankenwagen.

Ryami würde er jedoch nicht mehr helfen können. Jede Kraft wich mit einem Mal aus ihrem Körper. Ihre Hand rutschte aus Lans Griff und sank leblos in ihren Schoß. Im selben Moment hörte Lan neben sich ein leises ‚Miah‘ und wie Auroras kleiner Körper auf das Straßenpflaster sank.
 


 

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Hallo und vielen, vielen Dank fürs Lesen! *verbeug*
 

Irgendwie hab ich das Gefühl, dass die Kapitel immer länger werden... ^^° Aber vermutlich hat da keiner was dagegen.

Wie ihr sicher festgestellt habt, nähern wir uns in Hühnertapperln dem großen Finale. Ryamis Tod war zwar von Anfang an geplant, aber irgendwie tut sie mir doch leid. Ich hab sie aus einer ganz alten Fantasy-Geschichte geklaut, genau wie auch Lan, Aurora und Lans Schüler. In der alten Geschichte war die Szene genau umgekehrt. Lan hat Ryami vor einem Fluch bewahrt und ist dann in ihrem Arm gestorben (nein, sie waren kein Paar, ganz im Gegenteil... XD). Jedenfalls war Ryami einer meiner allerältesten Charas und ich mag sie bis heute sehr gern. *snief*

Im nächsten Kapitel darf sich sich der alte Adoy auf jeden Fall ganz schön warm anziehen... XD

Ach ja. Taoya hab ich´s ja gestern schon angekündigt. Was das Shonen-ai angeht, geb ich mich endgültig geschlagen. ;__; Auf mich hört ja eh keiner mehr... *seufz*
 

Bis (hoffentlich) bald,

eure Pete

In deinen Armen

In deinen Armen
 

Mit dem Juli war plötzlich der Sommer gekommen. Von einem Tag auf den anderen war das Thermometer etwa 20 Grad nach oben geschossen und verharrte seitdem dort. Seit Wochen schon war Kei fast nachtaktiv geworden. Er versuchte, so viel wie möglich von der Affenhitze zu verschlafen. Den Trick hatte er sich von Robin abgeschaut.

Leider ließ sein Nebenjob im Fairy Tales Park diesen Tagesablauf aber nur bedingt zu. An seinen freien Tagen vermied es Kei, das Haus - und damit den Ventilator - zu verlassen. Da er freitags und samstags aber erst ab 15:00 Uhr im Park arbeitete, und bis in die kühlen Abendstunden, konnte er sich damit trösten, dass ein paar Stunden nach Dienstbeginn Besserung eintreten würde. Montag und Mittwoch dagegen musste Kei bis in die heißesten Stunden des Nachmittags aushalten.

Die Parkleitung hatte auch reagiert, und die Angestellten mit Sommerkostümen ausgestattet. Zu Keis Erstaunen gab es dort tatsächlich unterschiedliche Garnituren fär jede Rolle. Eine für warme und eine für kalte Tage. Da der Park das ganze Jahr über geöffnet war, gab es sogar passende Mäntel und Umhänge für den Winter. So trug Kei nun ein luftiges Zwergenkostüm mit kurzen Hosen aus Leinen.

Außerdem hatte er stillschweigend den Standort seines Süßigkeitenstands um ein paar Meter verlegt, genau in den Schatten einer riesigen Eiche.
 

Überhaupt hatte sich in den letzten Wochen auch über das Wetter hinaus einiges verändert. Es herrschte eine merkwürdig gedrückte Stimmung, nicht nur im Park, sondern auch zu Hause. Genau wusste Kei nicht, was vorgefallen war. Er wusste nur, dass es irgendetwas mit Lan und Ryami zu tun haben musste. Ryu hatte Lan in den letzten Wochen öfter besucht und war jedesmal mit einer Mine zum Fürchten zurückgekommen. Als Kei sich einmal vorsichtig nach ihm erkundigt hatte, hatte Ryu aber nur abgewinkt und gesagt, es renke sich schon wieder alles ein. Trotzdem hatte Kei Lan seit fast einem Monat nicht mehr gesehen, weder zu Hause, noch im Park. Lans Rolle im Ritterturnier hatte Ryu vorübergehend übernommen und Lans Band, die gelegentlich auch im Park auftrat, spielte ohne ihren Gitarristen.

Ebenso hatte Kei Ryami und ihre kleine Schwester Taki seit Wochen nicht mehr gesehen. Die Akrobatiken und Ballette wurden seit Wochen ohne die beiden aufgeführt. Taki kam Kiku auch zu Hause nicht mehr besuchen. Allerdings fiel das Kei erst richtig auf, als Kiku ihre Schulsachen eines Dienstagnachmittags auf dem Esstisch ausbreitete und die Hefteinträge zusammensuchte, die sie ihrer Freundin kopieren wollte. Ihre wasserblauen Augen schimmerten im Licht der Sonne fast gläsern. Sie hielt die Lider halb geschlossen, aber Kei vermutete, dass sich einige Tränen hinter den dichten Wimperkränzen verbargen. Auf seine Nachfrage erfuhr Kei aber nur, dass Kiku nicht mehr wusste als er selbst. Taki sei nicht krank, aber irgendetwas schien mit Ryami zu sein.

Yuki war offensichtlich eingeweiht. Er unterhielt sich häufig sehr ernst mit Ryu, wenn die zwei sich von ihren Schülern unbeobachtet fühlten. Aber diesen gegenüber gab er sich Mühe, sich nichts anmerken zu lassen.

Einmal hatten sich Kei und Kiku sogar verbündet, um Yuki ins Kreuzverhör zu nehmen. Der ließ sich jedoch nicht die geringste Information entlocken.
 

"Kannst du Feierabend machen, Zwerg?" eine wohlbekannte Stimme holte Kei aus seinen Tagträumen. Kiku stand vor ihm, wie immer in letzter Zeit ohne das freche Lächeln, das sie sonst immer aufgesetzt hatte, wenn sie Kei aufzog. Kei hatte ihre Gemeinheiten natürlich nie gemocht, aber das Lächeln vermisste er. Nur Jack, der munter auf Kikus Schulter turnte und mit großen Augen das Geschehen um sie beobachtete, war ganz der Alte.

"Was machst du denn schon wieder hier? Kommst du jetzt jeden Tag in den Park?"

"Ryu hat mir eine Dauerkarte gekauft, damit ich nicht den ganzen Tag allein zu Hause rumsitze. Sonst passiert mir am Ende vielleicht noch so etwas wie einem gewissen Zalei-Schüler, der im Cardinal-"

"Ist ja gut!" unterbrach Kei. "In zehn Minuten kommt mein Vertretungszwerg. Dann können wir gehen."

Diese zehn Minuten verbrachte Kiku etwa zwanzig Meter entfernt auf einem geschwungenen Zaungitter vor einem Blumenbeet sitzend, durch das ein kleiner Bach lief. Jack balancierte einige Meter auf dem Zaun, machte dann kehrt und kam zurück, nur um sein Kunststück gleich zu wiederholen. Aber Kikus Aufmerksamkeit erregte er damit nicht. Ihr Blick war weit in die Ferne gerichtet und sie sprach die ganze Zeit über kein Wort. Nur einmal kam ein leiser Seufzer über ihre Lippen, als sie die Augen niederschlug und ihren Kopf in die Hände stützte.

Heimlich warf Kei immer wieder Blicke hinüber, wenn er gerade keine Kunden bediente. Das Mädchen dort drüben war sehr hübsch, wie seine großen Augen gedankenverloren den Passanten nachsahen, der Wind in seinen dunkelblonden Strähnen spielte und seine schlanken Beine unter dem Rock im Takt einer imaginären Melodie wippten. Unter Kikus aufbrausender Fassade kam diese zurückhaltende, feminine Seite sonst kaum zum Vorschein. Sehr hübsch war das Mädchen, aber Kei erkannte nur ansatzweise die sonst so freche und immer gut gelaunte Kiku in ihm.
 

Nachdem Kei den Süßigkeitenstand seinem Zwergenkollegen übergeben hatte, wollte er Kiku abholen, die noch immer gedankenverloren auf dem Zaun saß. Sie schien ihn erst zu bemerken, als er direkt vor ihr stand. Nicht einmal Jack, der ihn aufgeweckt turnend ankündigen wollte, hatte Kiku aus ihren Gedanken reißen können. Ihren Blick löste Kiku sogar erst dann vom kiesigen Weg vor sich, als Kei sich zu ihr herunter neigte und mit der Hand vor ihren Augen auf und ab winkte.

"Schon fertig?" fragte Kiku geistesabwesend.

Kei atmete laut aus, verschränkte die Arme vor der Brust und setzte sich neben Kiku.

"Du sitzt schon seit fast zwanzig Minuten hier. Nicht aufgefallen?"

"... Nein." Seufzte Kiku leise.

"Willst du... reden?"

Reden war nicht Keis Stärke, wirklich nicht. Aber Kiku saß da wie ein Häufchen Elend und machte sich so viele Sorgen, dass sie Kei damit glatt ansteckte. Inzwischen machte er sich auch Sorgen, allerdings fast mehr um sie als um Lan oder Taki.

„Taki war heute wieder nicht in der Schule.“

„Hmh...“ signalisierte Kei, dass er diese Information wahrgenommen hatte.

„Gestern Abend hab ich noch mit ihr telefoniert. Sie sagte, dass es ihr besser geht. Und dass sie heute wieder in die Schule gehen würde.“

Mit jedem Wort wurde Kikus Stimme ein wenig leiser, bis sie die Worte nur noch kraftlos zu Kei hinüber hauchte. Gleichzeitig schlich sich ein zittriger Unterton ein.

„Hat sie denn gesagt was los ist?“

„Nein...“ Kiku riss ganz plötzlich die Hände hoch und vergrub ihr Gesicht in ihnen. Nicht schnell genug allerdings, um die erste Träne zu verstecken, die einen Weg über ihre Wange fand. Verborgen blieben jedoch die unzähligen nachfolgenden Tränen, deren Existenz Kei nur vermuten konnte.

„Gar nichts hat sie gesagt.“ Flüsterte Kiku schließlich kaum hörbar.

Kei fühlte sich irgendwie deplatziert. Er war noch nie ein guter Zuhörer gewesen, erst recht kein guter Tröster und alles andere als das, was man „einfühlsam“ nannte. Aber dennoch tat ihm Kiku unendlich leid. Er selbst kannte Taki kaum und sogar er hatte ein ganz schlechtes Gefühl. Wie musste es dann erst Kiku gehen, die immerhin Takis beste Freundin war? Er konnte es nur schwer nachvollziehen. Zwar hatte er auch einige Wochen Stillschweigen mit seinem eigenen besten Freund hinter sich. Hatte ihn vermisst und sich immer wieder gefragt, was er falsch gemacht hatte, dass ihr Verhältnis so kaputt gegangen war. Aber im Nachhinein kam Kei diese Sendepause fast lächerlich vor.

Etwas verlegen sah Kei sich nach allen Seiten um. Nur um sicherzugehen, dass sie nicht beobachtet wurden. Eine ebenso begründete Sorge wie vergebliche Liebesmüh, denn in seinem Zwergengewand fiel Kei ohnehin auf.

„Seit der fünften Klasse sind wir beste Freundinnen gewesen. Wir haben einander immer alles erzählt. Wir haben einander immer geholfen. Warum will sie mir nicht sagen, was los ist?“ schluchzte Kiku heiser.

Kei wusste beim besten Willen nicht was er dazu sagen sollte. Also hielt er lieber den Mund. Hilflos beobachtete er, wie sich Kikus Schultern im Takt ihres Schluchzens hoben und senkten.

„Es tut mir echt weh, dass ich ihr nicht helfen kann...“

Ja, ganz ähnlich ging es Kei gerade auch. Kiku tat ihm so leid, aber er wusste nicht, was er in diesem Moment für sie hütte tun können. Also war er eben einfach nur da.

Einige Augenblicke vergingen, die Kei wie eine Ewigkeit vorkamen. Kiku weinte Träne um Träne, die sie mit den Handballen auf ihren Wangen verstrich, immer versucht, Kei möglichst wenig von ihrem verweinten Gesicht zu zeigen. Gedrückte Stimmung. Sogar Jack turnte nicht mehr lustig herum, sondern saß mit sorgenvoll gesenktem Blick auf der Wiese hinter dem Zaun.

Irgendwann fasste sich Kei dann ein Herz, atmete einmal tief durch und streckte seinen Arm langsam zu Kiku hinüber. Fast wie in Zeitlupe. Seine Hand strich nur mit leicht mit den Fingerknöcheln kurz über die ihm zugewandte Schulter, ein Stück weit ihren Oberarm hinab. Kei kam sich vor, als würde er an einer verbotenen Grenze rühren. Doch Kiku reagierte gar nicht auf seine Berührung.

Erneut suchte seine Hand ihre Schulter, verweilte nun einen Moment. Zunächst wieder keine Reaktion. Unverändertes Schluchzen. Doch dann krümmte sich Kiku mehr, sie senkte den Kopf beinahe bis auf die Knie. Ihr Gesicht verwand für einen Moment vollständig zwischen ihren Fingern und hinter den dunkelblonden Haarsträhnen.

Kei zögerte, war schon drauf und dran, seine Hand wieder zurückzuziehen, und die Szene stumm und starr auszusitzen. Dann überlegte er sich jedoch anders und strich ganz sanft, fast ohne sie tatsächlich zu berühren, von Kikus Schulter über den Rücken bis zu ihrem Nacken.

Ohne Vorwarnung fuhr Kiku herum. Ihre Hände suchten seine Brust, ihre Finger krallten sich dort haltsuchend in den Stoff seines Hemds. Die fransigen Strähnen folgten geschmeidig der Bewegung ihres Kopfes, als sie diesen gegen Keis Schulter warf. Statt zwischen ihren Fingern vergrub sie Ihr verweintes Gesicht nun dort. Kei fühlte mit jedem Schluchzen, jedem leisen Seufzen warm ihren Atem auf seiner Brust.

Einen Moment war er wie versteinert. Als seine Starre sich etwas löste, legte er zögerlich die Arme um Kiku. Erst war ihm diese Umarmung sehr unangenehm. Immerhin hielt er hier das Mädchen im Arm, das in den letzten Wochen und Monaten kaum eine Gelegenheit ausgelassen hatte, um ihn zu ärgern. Aber wenn er sich das Bild von vor zehn Minuten in Erinnerung rief, dieses tief traurige, zerbrechliche Mädchen, das leise seufzend auf dem Zaun saß, dann wollte er ihm gerne eine Stütze sein.
 

Zimmer 84 b) näherte sich ein Mann mit festen, großen Schritten. Tapp-Tapp. Ganz anders als das emsige Klackern der Schwester auf ihren weißen Schlappen, die das Zimmer vor weniger als einer viertel Stunde verlassen hatte.

Ebenso kraftvoll wie der Mann einen Fuß vor den anderen setzte, schob auch sein linker Arm die Tür auf. Hätte er den Knauf nicht festgehalten, hätte sein Pendant auf der Innenseite mit Leichtigkeit einen Abdruck auf der Wand hinterlassen können.

„Was tust du denn hier?!“ rief der Mann erstaunt ins Zimmer, noch ehe er sich die Mühe machte, dessen gegenwärtigem Bewohner einen guten Morgen zu wünschen.

Doch der reagierte ohnehin nicht. Völlig regungslos saß er auf dem Bett, den Kopf kraftlos in das Kissen auf der schräg gestellte Matratze gestützt und den Blick zum Fenster gewandt. Ein apathisches Blinzeln ließ vermuten, dass er seinen Gast bemerkt hatte. Darüber hinaus war ihm jedoch keine Reaktion zu entlocken.

Der Besucher trat ein und ließ die Tür los, die kurz darauf zuschwang. Er blieb direkt vor dem Bett stehen und musterte seinen Gegenüber.

Er war sehr blass geworden, viel blasser noch als früher. Völlig reglos lag er da, die Arme ruhten leblos neben dem Körper auf der Matratze. Die hellen Strähnen fielen wirr über sein Gesicht. Ein verklärter Blick sah zwischen ihnen hindurch aus dem Fenster. Zumindest wollte er den anderen glauben machen, er blicke aus dem Fenster.

Leise spielte das Radio neben dem Bett Musik. Das Essen hatte er nicht angerührt.

„Ich dachte, ich hör nicht recht, als mir am Empfang gesagt wurde, du wärst noch da.“ Keine Reaktion.

„Was tust du denn noch hier?“ Keine Reaktion, wie sehr der Besucher auch die Stimme erhob.

„Lan!“ wollte der Mann ihn endlich zur Ordnung rufen.

Nun doch eine kleine Reaktion. Ein Blinzeln. Er hatte seinen Namen verstanden. Aber aus seiner Lähmung erwachte er deshalb noch lange nicht.

Etwa eine Minute verging ohne, dass sich einer der beiden gerührt hätte. Der Mann beobachtete Lan und spielte dabei in Gedanken wohl verschiedene Versuche durch, ihm eine Reaktion zu entlocken. Währenddessen versuchte Lan weiterhin, die Fensterscheibe mit seinen Blicken zu durchbohren.

Schließlich sank der Mann nieder und setzte sich auf den Rand der Matratze.

„Eigentlich wollte ich nach meiner Ankunft sofort zu Adoy. Aber der Rat tagt heute nicht.“

Noch immer keine Antwort von Lan. Er beobachtete wohl einen Spatz, der zwischen zwei Bäumen im Innenhof hin und her flatterte.

„ Dir ist hoffentlich klar, dass Adoy deine Abwesenheit genutzt hat, um ein paar Beschlüsse im Rat durchzuboxen, die du vorher blockiert hast. Du scheinst ihn ganz schön geärgert zu haben.“

Hin und her. Nun hatte sich sogar noch ein zweiter Spatz eingefunden, der sich dem pendelnden Geflatter des ersten anschloss.

„Meine Söhne waren auch nicht zu Hause. Also bin ich eben gleich zu dir gekommen... Ach so! Nein, ich habe einen kleinen Umweg über Loires Praxis gemacht.“

Der Mann stand auf und kam einen Schritt näher an die Stirnseite des Krankenbetts. Von oben herab warf er Lan einen langen Blick zu, ehe er weitersprach.

„Loire hat mich gebeten, dir was auszurichten.“

Schließlich verloren die beiden Spatzen Land Aufmerksamkeit doch an den Mann. Zuerst wanderten nur Lans Pupillen ganz langsam vom Fenster über den Fensterrahmen, die Vorhänge und die Zimmerwand bis zu dem Mann neben seinem Bett. Dann erst drehte Lan auch wie in Zeitlupe den Kopf und wandte sich seinem Gast zu. Und noch ehe Lan seinen Gegenüber richtig ansehen konnte, musste er schon erschrocken die Augen wieder zukneifen.

Ganz unvermittelt hob der Mann die Hand und verpasste Lan eine Ohrfeige, die sich gewaschen hatte. Lan wurde aus seinem Kissen gehoben und sein Oberkörper durch die Wucht des Schlags so weit herumgedreht, dass er nun sogar an seinem Gegenüber vorbei an die Wand hinter dem Bett sah. Erst einige Augenblicke nachdem das „Klatsch“ schon verhallt war, breitete sich der pulsierende Schmerz in Lans Wange aus.

Der Schmerz löste die Starre, in der Lan zunächst verharrt war. Er richtete sich auf und sah den Mann fragend an, während er mit den Fingerspitzen der linken Hand über seine Wange strich. Gleichzeitig hielt er sich mit der rechten die Brust, in der sich mit stechendem Schmerz seine Schusswunde meldete.

„Er hat auch irgendwas auf Französisch gemurmelt, was ich nicht verstanden hab.“ Lehnte sich der Mann grinsend zu Lan herunter. „Es klang jedenfalls nicht sehr freundlich.“

„Das denke ich mir schon.“ Flüsterte Lan mit einem Rest Gleichgültigkeit in der der Stimme. Er senkte den Blick auf das Laken vor ihm und atmete laut aus.

„Bist du jetzt endlich wach?“

„... Glaub schon. Ich kann mir aber nicht vorstellen, dass Pierre genauso fest zugeschlagen hat.“

„Das war der Ausgleich dafür, dass Pierre mindestens zwei Ringe trägt.“

Im selben Moment, in dem sich der Mann wieder ans Bett setzte, wurde sein Ausdruck schlagartig ernst. Erneut musterte er Lan, doch diesmal erwiderte dieser seinen Blick endlich.

„Also, können wir uns jetzt mal ernsthaft unterhalten?“
 

Etwa eine halbe Stunde später machten sich Kei und Kiku auf den Weg zum Verwaltungsgebäude des Fairy Tales-Park. Es war inzwischen fast 16:00 Uhr und Keis Schicht damit schon seit fast einer Stunde beendet. Sobald er sein Kostüm zurückgegeben hatte, würde er seinen wohlverdienten Feierabend antreten.

Am Verwaltungsgebäude wurden die beiden schon erwartet. Yuki und Ryu hatten sich auch noch nicht umgezogen. Yuki trug heute das Kostüm eines Soldaten aus dem Märchenpalast. Anders als Kei, der die Rolle des Zwerges offenbar dauerhaft verliehen bekommen hatte, wechselten Yuki und Ryu häufig die Rollen. Je nachdem, wo Verstärkung gebraucht war. Ryu war heute ein böser Zauberer. Den schwarzen Umhang hatte er allerdings abgenommen und über seinen Arm gelegt, den spitzen Zauberhut hielt er in der Hand. Dennoch verriet ihn der schwarze Rock mit den kleinen silbernen Sternchen sofort.

„Wehe, wenn du auch nur ein Sterbenswörtchen darüber verlierst!“ flüsterte Kiku Kei zu, bevor sie in Hörweite ihrer Lehrer kamen.

„Bestimmt nicht.“ Gab Kei zurück. Nichts lag ihm ferner als irgendwem zu erzählen, dass er über eine halbe Stunde Kiku im Arm gehalten hatte. Nicht, dass es ihm jemand geglaubt hätte.
 

Nach weiteren eineinhalb Stunden kamen die vier schließlich zu Hause an. Wie immer in den letzten Tagen und Wochen lag auch während der 45-minütigen Bahnfahrt und dem anschließenden Fußweg eine gedrückte Stimmung auf ihnen. Es wurde kaum gesprochen. Doch diesmal war nicht nur das Geheimnis von Ryu und Yuki schuld am bedrückten Schweigen, sondern auch das von Kei und Kiku. Denn wo die beiden sonst versucht hätten, auf Teufel komm raus noch ein Mindestmaß von Konversation zu erzwingen, schwiegen sie sich nun auch verlegen an. Nur Robin störte immer wieder die Ruhe, indem er in Keis Schuh krallte und biss.

Sie bogen gerade in die Straße ein, in deren Mitte ihr Haus stand. Da blieb Kei wie vom Blitz getroffen stehen.

Ein Tier mit goldbraunem, dunkel geflecktem Fell kam blitzschnell auf sie zugerannt, das Kei erst als Leopard erkannte, nachdem der erste Schreck nachgelassen hatte. Seine riesigen Tatzen stießen sich bei jedem Schritt kraftvoll vom Asphalt ab. Die Bewegung seiner starken Muskeln zeichnete sich deutlich ab unter den verschiedenen Brauntönen des Fells, das im Sonnenlicht seidig schimmerte. Nicht nur das gefährliche Funkeln in den goldenen Augen, sondern auch das gedämpfte Knurren des Tiers ließ Kei ängstlich erstarren. Aber nicht nur ihn. Robin, der ohne seine Leine sicher die Flucht ergriffen hätte, versteckte sich hinter Keis Beinen. Auch Ryu und Kiku waren stehengeblieben. Kiku klammerte sich erschrocken an Ryus Arm. Dennoch konnte keiner von ihnen den Blick abwenden.

Allein Yuki ging nicht nur todesmutig weiter, sondern beschleunigte seinen Schritt sogar noch. Völlig unbeeindruckt ging er der riesigen Raubkatze entgegen.

Etwa zwei Meter vor ihm stieß sich das Tier dann unvermittelt kraftvoll vom Boden ab, sprang durch die Luft und landete mit seinen gigantischen Vordertatzen direkt auf Yukis Schultern. Die Wucht warf Yuki natürlich nach hinten um. Unsanft setzte er sich auf den Allerwertesten. Doch das genügte dem Leoparden noch nicht. Er drückte auch Yukis Oberkörper noch nach hinten auf den Boden und hielt ihn mit den Pfoten unten. Seinen riesigen Kopf senkte er nun auf auf Yukis Gesicht zu. Kei sah die blanken Zähne aufblitzen.

„Du musst ihm helfen!“ schrie seine innere Stimme panisch. Doch Kei war starr vor Schreck, unfähig, auch nur einen Schritt nach vorne zu machen.

Yuki versuchte mit beiden Händen, den Leopard von sich zu schieben. Vergeblich. Das Tier war viel zu stark. Auch der Versuch, sich zur Seite wegzurollen, ging schief. Der Leopard hielt Yuki mit seinem Gewicht am Boden fest.

Nun öffnete das Tier sein Maul und gab ein Geräusch von sich, das Kei nicht wirklich als Knurren deuten konnte. Eher wie ein knurrendes Miauen, wenn man es als solchen bezeichnen wollte. Dann senkte der Leopard den Kopf wieder zu Yuki hinunter. Kei, der sich nun endlich doch aus seiner Starre lösen konnte, setzte schon an, zu Yuki und dem Leopard hinüberzulaufen. Doch da erkannte er, dass er die Situation bisher falsch eingeschätzt hatte.

Der Leopard schleckte Yuki einmal voller Liebe quer über das Gesicht. Yuki legte ihm daraufhin die rechte Hand genau auf die Nase und schob seinen Kopf von sich. Gleichzeitig fuhr er sich mit dem linken Handrücken über die Wange.

„Igitt! Ich hab dir tausendmal gesagt, dass du das lassen sollst!“

„Er hat dich eben vermisst.“ Lachte ein Mann, einige Meter von ihnen entfernt, den Kei erst jetzt bemerkte. Der Mann kam aus Richtung ihres Hauses auf sie zu. Scheinbar hatte er dort gestanden, bis sein Leopard ihre Heimkehr bemerkt hatte und losgerannt war.

„Ich freu mich ja auch.“ Gab Yuki nach und streichelte dem Tier über den Kopf, den Nacken und so weit den Rumpf entlang wie es die Umklammerung des Tiers zuließ.

„Das reicht jetzt, Lancelot!“

Der Mann griff nach dem breiten Lederhalsband des Leoparden und befreite Yuki. Kaum zu glauben, doch das widerstrebende Zerren der Raubkatze hatte keine Chance gegen den Zug des Mannes. Die muskulösen Arme hielt er sicher mit täglichem Leoparden-Training in Form. Auch nachdem er Yuki befreit hatte, musste er den Leopard noch festhalten. Mehrmals versuchte der, sich wieder loszureißen und zerrte in Yukis Richtung.

Yuki stand inzwischen auf und klopfte sich den Dreck von der Hose. Dann ging er auf den Mann zu. Einen Moment blieb er schweigend vor ihm stehen. Die beiden beäugten einander.

Doch dann legte Yuki freudig den Arm um ihn.

„Schön, dich widerzusehen, Papa.“ Lächelte er.

„Find ich auch.“ Erwiderte der Mann die Umarmung mit einem Arm, während er mit dem anderen weiterhin das Halsband der Raubkatze festhielt.

Dabei hatte Kei ein wenig den Eindruck, im Ausdruck des Leoparden, Lancelot, nun Eifersucht zu erkennen.

Als der Mann seinen Sohn ausließ, wandte er sich den anderen zu.

„Was ist mit dir, Ryu? Freust du dich nicht auch, deinen alten Vater wiederzusehen? Krieg ich von dir keine Umarmung?“ grinste er.

Kei drehte sich zu Ryu um. Stimmt, daran hatte er noch gar nicht gedacht. Der Mann war nicht nur Yukis, sondern auch Ryus Vater. Aber gleichzeitig fiel Kei wieder ein, dass Yuki ihm vom schlechten Verhältnis zwischen seinem Vater und Ryu erzählt hatte.
 

Ryu machte keine Anstalten, auf seinen Vater zuzugehen. Er hatte die Arme vor der Brust verschränkt und sah ihn mit festem Blick an, die Brauen tief ins Gesicht gezogen.

„Du fändest eine Umarmung von mir sicher nicht weniger befremdlich als ich dein plötzliches Auftauchen. Was willst du hier?“

„Nun, das ist mein Haus. Ich wohne hier.“

„Ach ja? Ich dachte, die Bude steht seit mindestens zehn Jahren leer. Zumindest könnte es so lange her sein, dass ich dich das letztemal hier gesehen habe.“

„Gehen wir doch bitte rein.“ Mischte sich Yuki in den Schlagabtausch ein. „Wir müssen nicht die ganze Nachbarschaft unterhalten, oder?“
 

Gesagt, getan.

Nachdem alle ihre Schuhe und Taschen abgelegt hatten und alle Carn versorgt waren, versammelte sich die ganze Gruppe wieder im Wohnzimmer. Lancelot hatte Yukis Vater inzwischen in den Garten geführt, wo er nun unter der Bank auf der Terrasse ausgestreckt lag und im Schatten döste.

„Also, ihr kennt euch ja noch nicht.“ Ergriff Yuki lächelnd das Wort, nachdem sich erneut Schweigen auszubreiten drohte. Er sah Kei an, der sich neben Kiku auf der Couch vor dem Fenster niedergelassen hatte. „Das ist Ryus und mein Vater, Taro Natsukori.“

„Freut mich, Sie kennenzulernen.“ Nickte Kei dem Mann auf der Couch zu seiner rechten höflich zu, auf der auch Yuki Platz genommen hatte.

Nun hatte Kei endlich auch die Gelegenheit, sich Herrn Natsukori genauer anzusehen. Er sah ein wenig aus wie die Bad Boys aus alten Filmen. Langes, unordentliches Haar, das er im Nacken zusammengebunden hatte, ein Dreitagebart und verschlissene Kleidung. Dennoch aber eine gepflegte Art von ungepflegt Sein. Durch sein Gesicht zogen sich ein paar tiefe Falten, die mehr von Charakter als von Alter zeugten. Ryu hätte es ihm sicher übel genommen, hätte er diesen Gedanken laut ausgesprochen, aber Kei fiel sofort eine große Ähnlichkeit auf. Die schmalen Augen mit diesem entschlossenen Blitzen, die stark hervortretenden FingerknÃchel, und auch die Art wie Herr Natsukori leicht das Kinn abhob, bevor er den Kopf drehte. Von Yuki erkannte Kei dagegen eher wenig in seinem Vater. Aber sie hatten das gleiche herzliche Lächeln, wie er feststellte.

„Das ist Kei Chiharu, mein Schüler.“ Erklärte Yuki schließlich auch seinem Vater.

„So so, du bist das also.“ Grinste er. „Es ist mir auch eine außerordentliche Freude, dich kennenzulernen.“

Kei verstand nicht ganz warum dieses Treffen Herrn Natsukori so außerordentlich freute. Seine Worte waren ihm unheimlich, besonders in Kombination mit dem langen, abschätzenden Blick , den er ihm zuwarf.

„Sie hatten recht. Die Kraft der Zalei ist wirklich sehr stark bei dir. Das erklärt einiges...“ schloss er endlich, während er sich in der Couch zurücklehnte.

„Wer hatte recht? Und was erklärt das?“ fragte Kei verwirrt.

„Ach, den Rat meine ich.“

„Was hat das denn mit dem Rat zu tun...?“ diese Antwort verwirrte Kei mehr als sie ihm erklärte.

„Nichts. Zumindest nichts, was dich bekümmern müsste.“

„Und damit soll ich mich jetzt zufrieden geben?“ Kei verschränkte die Arme vor der Brust.

„Du gefällst mir!“ lachte Herr Natsukori. „Lass dich nicht ärgern. Du solltest dich einfach nur darauf konzentrieren, ein guter Zalei zu werden. Der Rest kann dir im Moment egal sein.“

Kei sah ein, dass er Herrn Natsukori keine weiteren Antworten entlocken konnte. Noch eine Gemeinsamkeit mit Ryu. Also bohrte er auch nicht weiter nach.

„Und warum bist du jetzt wirklich hier? Du kannst mir nicht erzählen, dass du plötzlich deinen Sinn für Familie entdeckt hast.“ ergriff Ryu das Wort. Ryu saß auf der Couch zu Keis linker Seite und damit so weit weg von seinem Vater wie möglich.

„Das weißt du doch. Oder willst du es unbedingt aus meinem Mund hören?“

„Allerdings will ich das. Es ist wegen Lan, oder? Aber vor zwei Jahren hast du es auch nicht für nötig gehalten, uns zu helfen. Warum also jetzt plötzlich doch?“

„Das habe ich dir schon damals erklärt, Ryu. Und über das Thema unterhalten wir uns lieber später unter vier Augen.“

Ryu wusste, dass er mit „diesem Thema“ - was auch immer es sein mochte - die beiden Zalei-Schüler nur verunsicherte. Es war ein Problem, das Kiku und Kei nichts anging, vielleicht auch Yuki nicht. Also sprach er nicht weiter, atmete einmal tief durch und ließ es zunächst dabei bewenden.
 

So unterhielten sie sich den restlichen Abend über verschiedene un-ernstere Themen. Herr Natsukori erzählte von seiner Reise. Er war zusammen mit Lancelot die letzten Jahre in der ganzen Welt herumgereist. Meistens hatte er sich dabei verschiedenen Wanderzirkussen angeschlossen, um unauffälliger reisen zu können. Wenn sich gerade kein Zirkus finden ließ, war er jedoch auch gelegentlich auf eigene Faust unterwegs. Er konnte so manche lustige Geschichte erzählen. So war zum Beispiel einmal bei einer Schifffahrt Lancelot irgendwie aus seiner Kajüte entwischt und war durch das halbe Schiff gestreunt auf der Suche nach seinem Herren. Dabei verirrte er sich in die Kombüse und erleichterte den Koch, der sich für nur einen Augenblick umgedreht hatte, um ein saftiges Steak, das er gerade auf dem Tresen zubereiten wollte. Als der Koch sich nun ein neues Steak holte, es wieder auf den Tresen legte und sich kurz umdrehte, seine Gewürze zu holen, da schlich sich Lancelot noch einmal an den Tresen und holte sich das zweite Steak. Er musste an die fünf Steaks verdrückt haben, als Herr Natsukori ihn schließlich fand, erzählte er. Denn zum Abendessen hatte er nicht mehr den kleinesten Hunger.

Herr Natsukori hielt nichts davon, seinen Leoparden anzuketten oder einzusperren. Ein Zalei sollte den idealen Mittelweg finden und sich nicht über seinen Carn stellen, betonte er. Viel mehr als um schamanische Kunststückchen gehe es beim Zusammenspiel von Zalei und Carn um das Verständnis für die Natur und ein harmonisches Leben mit ihr. Er gönnte Lancelot dieselbe Freiheit, die er auch für sich beanspruchte. Dazu gehörte auch die freie Entscheidung, ob das Tier ihm folgen wollte oder nicht.

Bis Yuki vor etwas mehr als zwei Jahren seine Ausbildung zum Zalei abgeschlossen hatte, hatte er seinen Vater begleitet. Denn Yuki war von seinem Vater selbst als Zalei ausgebildet worden.

Ryu dagegen hatte schon immer wenig Kontakt mit seinem Vater gehabt. Wahrscheinlich hatte er deshalb im Gegensatz zu Yuki eine sehr schlechte Meinung von seinem Vater, fühlte sich von ihm vernachlässigt. Aber Kei hatte in diesem Gespräch keineswegs den Eindruck, dass Herr Natsukori einen seiner Söhne bevorzugte oder vernachlässigte. Natürlich war schon die Ausgangsposition der beiden ganz verschieden. Yuki freute sich sehr über das Wiedersehen mit seinem Vater, während Ryu ihn eher zur Tür hinaus wünschte. Dennoch versuchte Herr Natsukori unermüdlich, auch Ryu ins Gespräch einzubeziehen.

Da fiel Kei ein, dass Yuki ihm ja schon vor einer Weile vom schlechten Verhältnis der beiden erzählt hatte und auch, dass es keinen bestimmten Grund dafür gab. Sie hätten einander einfach schon immer gerne gestritten.

Dennoch war es irgendwie ein schöner Abend. Kei erfuhr einige lustige Anekdoten aus Yukis Kinderzeit, vor allem seiner ersten Zeit als Zalei. Yuki hatte offenbar ziemlich lange gebraucht, sich mit Minuit zu verständigen. Immer wieder hatte die Fledermaus versucht, einfach wegzufliegen. Yuki hatte sie jede Nacht mit Taschenlampe und Schmetterlingsnetz wieder einfangen müssen, weil er sie nicht in einen Vogelkäfig sperren wollte. Und mehr als nur ein paarmal war Minuit beim Körpertausch irgendwo heruntergesprungen, weil sie nicht verstehen wollte, dass ein menschlicher Körper nicht fliegen konnte. Herr Natsukori erzählte, dass er sogar zweimal beim Sozialdienst vorgeladen wurde wegen Verdacht auf Kindesmisshandlung, weil sein Sohn so oft mit Blessuren in der Schule erschienen war, die er nicht ausreichend erklären konnte.

Nach dem Abendessen - Ryu hatte freiwillig das Kochen übernommen, nur um sich ein paar Minuten davonstehlen zu können - griff sich Kei seinen Carn und ging in sein Zimmer.

Herr Natsukori verabschiedete sich bis morgen. Er würde nicht im Haus bei ihnen bleiben, sondern in der separaten Wohnung, die im hinteren Teil des Grundstücks direkt an das Haus grenzte. Während seinen Reisen stand die Wohnung leer, wenn Herr Natsukori in der Stadt war, gehörte sie ihm. Nun verstand Kei auch, warum Yuki mindestens einmal in der Woche auch in die hintere Wohnung ging und dort aufräumte. Er hatte mehrmals mitbekommen, dass Ryu Yuki deshalb aufzog und ihn darauf hinwies, dass es verlorene Liebesmüh sei. Aber Yuki hatte sich nicht beirren lassen.
 

Kei dachte noch über Herrn Natsukoris Worte nach, als er schon im Bett lag und auf das Sandmännchen wartete. Nicht nur die lustigen Geschichten, sondern auch was er in Bezug auf sein Talent und den Rat gesagt hatte. Aber alles, worüber er sich Gedanken machen sollte, war seine Ausbildung zum Zalei. Und er solle sich nicht verwirren lassen.

Das war ja im Moment auch schon schwierig genug. Seit Kikus Nachhilfestunde hatten er und Robin sich einander zwar ein bisschen angenähert, aber von einer Aussöhnung konnte da noch lange keine Rede sein. Als Kei Robin aus dem Gehege abgeholt hatte, in dem der Fuchs untergebracht war, während Kei arbeitete, hatte er ihn schon wieder mit einem Hieb begrüßt. Seitdem hatten sie den Fahrt und den Heimweg mit ihren üblichen Rangeleien verbracht. Kei verstand Robin zwar immer besser und bemühte sich auch sehr, sich mit ihm zu vertragen. Aber dennoch konnte er das ständige Knurren, Kratzen und Beißen nicht einfach auf sich sitzen lassen.

So galten seine letzten Gedanken vor dem Einschlafen vermutlich auch Robin. Zumindest erklärte das die Ereignisse der Nacht.

Es war wohl kurz nach vier, als Kei wach wurde. Er war noch halb im Land der Träume und wollte es auch eigentlich gar nicht verlassen. Er gähnte und wollte sich in der gleichen Bewegung auf die andere Seite drehen. Da merkte er, dass er gar nicht auf der Seite lag, sondern auf dem Bauch. Eine höchst ungewohnte Pose, denn Kei schlief niemals auf den Bauch. Außerdem lag sein Kopf auf den verschränkten Armen... Moment... Jetzt riss er doch die Augen auf und den Kopf in die Höhe.

Aus dieser Perspektive hatte er sein Zimmer auch selten gesehen. Den Teppich, der im blassen Licht der Straßenlaterne vor dem Fenster dunkelgrau erschien, die Umrisse seines Schreibtischs links neben ihm und dahinter, am anderen Ende des Zimmers, sein Bett. Sein Bett, in dem er selbst wie ein Stein schlief. Mit einem Mal war er hellwach.

Wenn Kei inzwischen eines gelernt hatte, dann schnell in seinen eigenen Körper zurückzukehren. Noch bevor Robin in seinem Körper aufwachte, hatte er diesen schon wieder übernommen. Robin schlief ganz ruhig in seinem Körbchen weiter, als wäre nichts passiert. Und Kei atmete in seinem eigenen Bett erleichtert auf.

Kiku und Ryu wussten zum Glück nur von dem einen Mal im Cardinal. Tatsächlich war es Kei aber bestimmt schon zehnmal passiert, dass er ganz aus Versehen mit Robin die Körper getauscht hatte. Die ersten Wochen hatte er sich so abgemüht, überhaupt einen Trancezustand zu erreichen, der ihm das Verlassen seines Körpers erlaubte, und nun fiel ihm der Körpertausch so leicht, dass er ihn gelegentlich ganz unwillkürlich vollbrachte. Meistens war die Situation glimpflich ausgegangen, nachdem Yuki ihm kaum von der Seite wich. Und inzwischen hatte Kei wie gesagt gelernt, den Körpertausch alleine und blitzschnell wieder rückgängig zu machen. Aber Kiku würde ihn auf ewig damit aufziehen, wenn sie davon erfahren würde. Sie machte sich ja immer noch bei jeder Gelegenheit über den Unfall im Cardinal lustig.
 

Kei atmete laut aus, drehte sich im Bett um und wollte schon weiterschlafen, als er von draußen gedämpft Stimmen hörte. Was sie sagten, konnte er nicht verstehen, aber er erkannte sie als Ryu und Herrn Natsukori. Offenbar setzten die beiden nun wie angekündigt ihr Gespräch unter vier Augen fort.

Kei zögerte einen Moment. Dann siegte aber doch seine Neugier und er stand auf. Auf Zehenspitzen schlich er zur Tür und öffnete sie einen kleinen Spalt. Im Gang draußen brannte kein Licht. Die beiden Stimmen drangen von unten herauf. Kei vermutete, dass Ryu und sein Vater am Treppenabsatz direkt vor der Haustür standen. Herr Natsukori war anscheinend gerade im Begriff zu gehen. Auch der Inhalt ihres Gesprächs deutete mehr auf das Ende als den Anfang eines Gesprächs hin. Sie gaben sich Mühe, ganz leise zu sprechen, aber einige Wortfetzen schnappte Kei dennoch auf.

Herr Natsukori hatte offenbar vor, morgen beim Rat vorzusprechen. Über das, was er dort vorbringen wollte, hatte er Ryu scheinbar schon im Verlauf ihres Gesprächs informiert. Ryu teilte ganz offensichtlich nicht in jedem Detail die Ansichten seines Vaters. Kei hätte zu gerne mehr erfahren, doch Herr Natsukori verwies Ryu nur auf das zuvor Gesagte, ohne dieses zu wiederholen.

„Im Prinzip bin ich mir sogar sehr sicher, dass es zu einem Bruch kommen wird. Adoy wird mir mit Sicherheit nicht mehr Gehör schenken als damals, als ich das Land verlassen habe.“ Weissagte Herr Natsukori.

„Du kannst ja auch nicht einfach in den großen Rat platzen und den besten Zalei des Landes an den Kopf werfen, sie wären alle Dilettanten. Ein kleines bisschen größenwahnsinnig bist du schon.“

„Das hatte mit Dilettantismus oder Größenwahn überhaupt nichts zu tun! Es ging mir nur um eine kleine Kurskorrektur, nichts weiter.“

„Ach, nennt man das jetzt so?“

Keis Neugier wuchs. Und so auch sein Wagemut. Er schob die Tür ganz langsam, um ja kein Quietschen zu verursachen, noch ein Stückchen weiter auf. Keis Zimmer befand sich fast direkt gegenüber der Wendeltreppe, an deren Ende zu linker Hand die Haustür lag. Von der obersten Stufe aus sollte er also einen kleinen Blick auf Ryu und Herrn Natsukori erhaschen können. Auf allen Vieren tastete er sich im Dunkeln langsam und zögerlich vor. Nur etwa zwei Meter, dann hatte er schon die oberste Stufe erreicht. Vorsichtig setzte er ganz langsam die Hand auf deren Kante und schob sich ein kleines Stück vor, bis er aus dem Augenwinkel die Haustür sehen konnte und gleichzeitig noch vom Geländer verborgen blieb. Herr Natsukori hatte die Hand schon auf die Klinge gelegt und war im Gehen begriffen. Ryu stand ein Stück vor ihm, vermutlich direkt vor der Tür, die ins Esszimmer führte. Kei blieb er damit vollends verborgen.

„Für mich klang es eben noch so als wären wir einer Meinung. Ich schätze, du widersprichst mir nur noch aus Prinzip.“ Kei hörte förmlich das Grinsen in Herrn Natsukoris Stimme, auch wenn ihm dessen Gesicht hinter dem Handlauf halb verborgen blieb.

„Aus Prinzip und mit voller Leidenschaft.“

„Wir unterhalten uns einfach morgen weiter, wenn ich vom Rat zurückkomme. Wir sollten dann auch unbedingt mit La-...“

Mehr hörte Kei nicht mehr. Nicht, dass Herr Natsukori seinen Satz beendet, oder er ihn gar entdeckt hätte. Viel schlimmer noch!

Urplötzlich legte sich eine Hand auf Keis Mund, ein Arm umgriff gleichzeitig seine Schultern und zog ihn von der Treppe weg. Kei erschreckte sich zu Tode. Sein Herz schien für einen kurzen Moment das Schlagen zu vergessen, hämmerte dann jedoch doppelt und dreimal so schnell, als wolle es die verpassten Takte wieder nachholen. Der Schreck war ihm in die Glieder gefahren. Arme und Beine gehorchten ihm nicht mehr und konnten sich so auch nicht gegen den Zug nach hinten wehren.

Der Arm, der sich um seine Brust gelegt hatte, ließ ihn nach hinten überfallen. Etwas umständlich setzte sich Kei auf den Allerwertesten. Doch damit begnügte sich der Arm noch nicht. Er zog weiter bis Kei mit dem Rücken gegen etwas stieß, das er erst als menschlichen Körper identifizieren konnte, als er dessen Atem fühlte. Der Arm hielt ihn ganz fest gegen diesen Körper gepresst. Während die Hand ihm noch immer den Mund zuhielt. Kei wagte nicht, sich zu bewegen.

„So so. Du lauschst also. Dabei gehören brave Kinder um diese Zeit doch ins Bett.“ Flüsterte Yukis Stimme in Keis Ohr.

Kaum, dass Kei die Stimme erkannt hatte, kehrte das Leben in seinen Körper zurück. Innerlich atmete er erleichtert auf. Ein Kribbeln, ähnlich wie das, das er sonst kannte, wenn sein Fuß eingeschlafen war. Nur dass er dieses Kribbeln in allen Gliedern spürte. Kurz darauf fand Kei endlich genug Kraft, um eine Hand zu heben und die von Yuki mit sanftem Druck von seinem Mund zu nehmen. Aber um sich völlig aus Yukis Umarmung zu befreien genügte seine wiederkehrende Kraft noch nicht.

„Also, mit „brave Kinder“ fühle ich mich nicht angesprochen. Das solltest du wissen.“ Flüsterte Kei zurück. „Außerdem bist du ja auch hier.“

„Ich bin schon groß.“ Zwinkerte Yuki Kei zu, ohne dass dieser sein Zwinkern hätte sehen können, in einer Position, in der er mit dem Rücken zu Yukis Brust saß. Sehr wohl nahm Kei aber den sanften Hauch von Yukis Atem an seinem Ohr wahr.

Yuki lockerte seinen Griff um Keis Schultern und ließ seinen Arm heruntergleiten, ein Stück weit nur. Seine Hand verharrte einen Moment auf Keis Brust. Er lächelte.

„Dein Herz klopft wie wild. Hab ich dich denn so erschreckt?“ wieder dieser warme Hauch an Keis Ohr.

„Ich bin fast gestorben vor Schreck!“ antwortete Kei schnell.

Tatsächlich konnte er sich aber selbst nicht erklären, warum sein Herz auch jetzt immer noch so heftig schlug. Er saß nun schon seit einer Weile ruhig da und der Schreck hatte längst nachgelassen. Dennoch hatte er den Eindruck, dass sein Puls nach kurzer Erholung wieder schneller wurde. Außerdem legte sich, nachdem er wahrscheinlich für den Moment des Schreckens kreidebleich geworden war, nun eine leichte Röte auf seine Wangen. Zum Glück unsichtbar in dieser Dunkelheit, dennoch konnte Kei das Glühen seiner Wangen richtiggehend fühlen.

Etwa zehn Stunden mochte es her sein, da hatte Kei gerade auf dem Zaun im Fairy Tales-Park gesessen, mit Kiku. Ihr Kopf an seine Schulter gelegt, ihre schlanken Finger haltsuchend in sein Hemd vergraben. Er hatte seine Arme um sie gelegt und sie tröstend festgehalten. Und nun war Kei es, der im Arm gehalten wurde.

Umarmen oder umarmt Werden. Kei hatte nicht gedacht, dass es so einen großen Unterschied machen würde. Aber das machte es in diesem Moment tatsächlich. War er eher derjenige, der dem anderen eine Stütze bot? Oder lieber derjenige, der sich in diese Stütze fallen lassen konnte?

Sich einfach fallen lassen? Kei schloss für einen Moment die Augen. Fallen lassen gegen Yukis Körper, den er mit jedem seiner Atemzüge mal stärker, mal schwächer an seinem Rücken fühlte. Yukis Arm, der sanft um seine Schulter lag und ihn dennoch fest hielt. Seine Hand mit den langen, schlanken Fingern, die er völlig vergessen hatte loszulassen, als er sie von seinem Mund genommen hatte. Und schließlich Yukis Atem, den er warm an seiner Schläfe spürte.

Vielleicht lag der große Unterschied für Kei auch nur darin, dass der Unterschied zwischen Yuki auf der einen, und Kiku auf der anderen Seite so groß war.

Wenn er die Wahl hatte, Kiku in den Arm zu nehmen, oder von Yuki in den Arm genommen zu werden, dann glaubte Kei doch, sich entscheiden zu können. Und seine Wahl entsetzte ihn selbst dabei fast am meisten.

„So-sollten wir nicht lieber verschwinden, bevor Ryu raufkommt?“ flüsterte er schließlich heiser.

Kei konnte nicht ausmachen, wie weit die Abschiedsszene im Erdgeschoss fortgeschritten war und ob Ryu bald hochkommen würde. Er konnte Ryus und Herrn Natsukoris Stimmen nicht mehr wahrnehmen. Sein Herz hämmerte einfach viel zu laut und übertönte alles andere. Alles bis auf das ruhige, gleichmäßige Atmen von Yuki, das er direkt neben seinem Ohr hörte.

Wie dankbar war Kei doch für die Dunkelheit! Das Rot auf seinen Wangen hätte sicher jede Tomate vor Neid erblassen lassen.

Nicht auszudenken, wenn Ryu jetzt das Licht im Treppenhaus einschalten würde, wenn er raufkommen und auf dem Treppenabsatz ihn und Yuki in dieser Pose vorfinden würde.

Kei wollte am liebsten ganz schnell verschwinden und sich in sein Bett zurückverkriechen. Aber er schaffte es einfach nicht, sich aus Yukis Umarmung zu befreien. Schon wieder. Das letztemal hatte dieser Zwiespalt zu einer unfreiwilligen Übernachtung in Yukis Bett geführt. Noch schlimmer, sogar in Yukis Armen. Der bloße Gedanke daran trieb Kei die Gänsehaut auf die Unterarme.

Doch selbst wenn er es schaffen würde, sich zu befreien und in sein Bett zu flüchten, könnte er dann überhaupt noch schlafen?

„Würdest du mich loslassen, damit wir verschwinden können?“ flüsterte Kei erneut, noch heiserer als zuvor. Doch ein kaum hörbares „Mmh-hmh.“ war alles, was Yuki darauf antworteten wollte.
 

***

Hallo nach langer Zeit! ^^
 

Vielen, vielen Dank, dass ihr immer noch mitlest. Ich kann mich nur immer wieder entschuldigen, dass es so langsam voran geht. ;__;

Dieses Kapitel war eine schwere Geburt. Sonst fällt es mir eigentlich immer recht leicht, die Seiten zu füllen. (Das Problem ist eher, mich erstmal überhaupt dran zu setzen XD). Aber diesmal hab ich wirklich gekämpft. Von den bevorstehenden Ereignissen wollte nicht noch nicht zu viel anreissen, gleichzeitig aber auch die Spannung halten. Das ist gar nicht so leicht. ^^°

Dafür geht´s jetzt im nächsten Kapitel endlich in die nächste Phase. *Hände reib*

Ich bin hoch motiviert! Es kann sich also nur um Jahre handeln, bis es weitergeht. XD (Scherz)
 

Bis bald (ich hoffe ihr bleibt dabei),

Eure Petey

Vielleicht...

Vielleicht
 

Kei lag hellwach in seinem Bett, genau wie er befürchtet hatte. Doch wenigstens waren er und Yuki unentdeckt geblieben.

Die Bettdecke hatte Kei fast bis ans Fußende seines Bettes geworfen. Ihm war so heiß. Die Sommerhitze schien auch nachts gar nicht abzukühlen. Sogar seine Wangen glühten. Kei schob es auf die warme Julinacht, dass ihm so warm war. Obwohl ihm selbst der wahre Grund sehr wohl bewusst war. Er wollte es nicht wahrhaben.

Sein Shirt roch sogar irgendwie nach Yuki. Die paar Minuten hatten ausgereicht, dass der Stoff den Geruch aufnahm. Oder bemerkte Kei einfach auch die geringste Spur von Yukis Geruch?

Wo Yuki ihn berührt hatte, spürte auch jetzt noch ein heißes Kribbeln. Vor allem an der Schulter, den ganzen Rücken hinab, am Ohr, wo der sanfte Hauch von Yukis Atem ihn gestreift hatte, und an der Brust, wo Yukis Hand verweilt hatte, um seinen Herzschlag zu fühlen. Auch der hatte nicht wesentlich nachgelassen. Sein Herz raste noch immer wie verrückt.

Kei drehte sich auf die andere Seite. Dann nach einem Augenblick wieder zurück. Dann auf den Rücken. Doch wieder zur Seite. Egal wie er es versuchte zu drehen oder zu wenden. Er konnte nicht einschlafen.

Warum nur?

Diesen Nachmittag hatte er Kiku im Arm gehalten, fast eine halbe Stunde lang. Sie hatte sich haltsuchend in seine Arme geworfen, ihre Finger sich in sein Hemd gekrallt, er hatte sie an sich gedrückt. Und am Abend hatte er tief und fest geschlafen, bis er durch den Unfall wach geworden war.

Nun hatte ihn Yuki umarmt, bestimmt nicht länger als zehn Minuten. Auch wenn es Kei selbst wie eine Ewigkeit vorgekommen war. Und doch konnte er kein Auge mehr zumachen.
 

Irgendwie ging auch diese Nacht vorbei und es wurde Donnerstag. Heute hatten Kei und Yuki frei. Kiku war schon zur Schule aufgebrochen, als Kei gegen halb zehn in die Küche kam. Yuki hatte die Carn versorgt und kam gerade aus dem Stall hinter dem Haus zurück. Ryu trank seine zweite Tasse Kaffee und aß ein paar Kekse dazu, bevor er zu Pierres Praxis aufbrechen würde. Ebenfalls zu Gast war Yukis und Ryus Vater. Er saß am Esstisch Ryu gegenüber, ebenfalls über einer Tasse Kaffee, und versuchte Ryu zu überzeugen, statt den Keksen doch lieber vernünftig zu frühstücken. Doch Ryu ignorierte ihn ebenso gekonnt wie bei dem netten Gespräch am Vorabend im Wohnzimmer. Irgendwann hatten auch Yuki, Kiku und sogar Kei vergeblich versucht, Ryu ein vernünftiges Frühstück anzugewöhnen. Aber Ryu konnte oder wollte so früh morgens noch nichts Gescheites essen, da war er stur.

Ein oder zwei Stunden hatte Kei doch noch schlafen können. Doch die hatten auch nicht mehr verhindern können, dass sich tief dunkle Schatten unter seine Augen legten. Bevor Kei herzlich gähnend in die Küche kam, eilte ihm Robin vom Hunger getrieben voraus. Kei füllte Futter in Robins Napf und setzte sich zu den anderen an den Tisch. Herr Natsukori schenkte Kaffee in eine noch unbenützte Tasse und hielt sie ihm grinsend hin.

„Du siehst aus, als könntest du einen brauchen.“

„Danke, kann ich wirklich.“ Seufzte Kei und nahm die Tasse gerne an. Eigentlich trank er selten Kaffee. Aber heute war ihm alles recht, was ihn irgendwie wacher machen würde.

„Du scheinst ja eine anstrengende Nacht hinter dir zu haben.“ Lachte Herr Natsukori.

„Ähm… Nein, nicht anstrengend. Aber zu warm zum schlafen. Ich habe ja das Zimmer auf der Südostseite. Das heizt sich ganz schön auf. Und außerdem war bestimmt Vollmond.“

Nachdem Yuki sich die Hände gewaschen hatte, setzte auch er sich zu ihnen. Ein paar Minuten frühstückten die Vier noch zusammen. Dann verabschiedete sich zuerst Ryu, der sich nun auf den Weg zu seinem Praktikums- und Aushilfsjob bei Pierre machte.

Kurz darauf verließ auch Herr Natsukori das Haus, Lancelot an seiner Seite. Wie er es Ryu letzte Nacht angekündigt hatte, wollte er beim Zalei-Rat vorsprechen.

So blieben nur Kei und Yuki in verlegenem Schweigen zurück. Viel mehr als „Soll ich dir nochmal nachschenken?“ oder „Kannst du mir bitte das Brot reichen?“ wurde nicht gesprochen. Sie wagten auch kaum, den anderen direkt anzusehen. So fiel Kei auch gar nicht auf, dass Yuki nicht viel wacher aussah als er selbst.

Um die peinliche Situation zu verkürzen, kippte Kei schließlich seinen Rest Kaffee hinunter und stand auf. Unter dem Vorwand, mit Robin Gassi zu gehen, verließ er das Zimmer. Kurz darauf kam er noch einmal zurück, weil er Robin vergessen hatte.
 

Der Rat der Zalei kam auch diesen Vormittag nicht vollzählig zusammen. Die Sessel der zwölf Mitglieder des Rats waren im großen Sitzungssaal kreisförmig angeordnet. Verglich man diesen mit einem Ziffernblatt, so fehlten seit Wochen die Elf und die Eins. Die Sessel links und rechts von Meister Adoy waren auch heute leer.

Der Nachfolger für Ryami, die zu Adoys rechter Seite gesessen hatte, würde erst in einigen Wochen gewählt werden. Und Lan, für gewöhnlich zu Adoys Linker, war noch nicht wieder in der Verfassung, an Sitzungen des Rats teilzunehmen.

So wurde Herr Natsukori also von zehn Ratsmitgliedern erwartet, als er in den großen Sitzungssaal eintrat. Der Saal war wie die Bestuhlung kreisrund. In seiner Mitte prangte ein ebenso rundes Ornament aus Marmor auf dem Boden. Die Wände waren fast ringsum verglast. Man sah direkt in den Innenhof des Ratsgebäudes, wo sich ein gepflasterter Weg durch einen prächtigen Garten zog. Sogar ein kleiner Bach schlängelte sich zwischen den Beeten hindurch. Auf hohen Bäumen saßen exotische Vögel, zwischen Sträuchern und Stauden trieben sich verschiedenste Tiere umher. Alles Carn von Ratsmitgliedern oder Beschäftigen des Ratsgebäudes, die die Aktivitäten der Zalei im ganzen Land überwachten und lenkten.

Herr Natsukori trat in die Mitte des Saals, dem Vorsitzenden Meister Adoy zugewandt. Lancelot setzte sich an seiner Seite nieder.

„Sehr erstaunt wir waren, als wir gehört haben, dass von deiner Reise zurück du bist.“

„Was ist daran so erstaunlich? Ich hatte nie vor, das Land für immer zu verlassen. Dass ich angesichts der aktuellen Entwicklungen zurückkomme, ist doch logisch. Oder, Adoy?“

Meister Adoy war sichtlich verärgert über diese respektlose Anrede von Herrn Natsukori. Er war der Vorsitzende des Rates der Zalei, wurde jedesmal mit großer Mehrheit wiedergewählt, und er war der älteste Zalei des Landes. Er hatte so viele kommen und gehen sehen, so viele Umbrüche, Reformen und neue Denkansätze. Und dafür erwartete er Respekt. Natürlich waren nicht alle der Entscheidungen, die er in all den Jahren getroffen hatte, überall auf Gegenliebe gestoßen. Dennoch erwartete er, respektvoll mit dem Titel „Meister“ angesprochen zu werden. Nur zwei Zalei wagten es, diese Anrede wegzulassen. Das waren Lan und Herr Natsukori. Lan sah er es meist nach. Denn der war schließlich sein eigener Schüler gewesen und er hatte aufgrund dessen ein etwas vertrauteres Verhältnis zu ihm. Doch dass Herr Natsukori den gewünschten Respekt missen ließ, weil er diesen Respekt tatsächlich nicht hatte, das wusste Meister Adoy ganz genau. Am meisten ärgerte ihn daran, dass Herr Natsukori fast das Recht hatte, auf gleicher Augenhöhe mit ihm zu sprechen. Denn dieser Herr Natsukori war der einzige Zalei, der demselben Rang angehörte wie Meister Adoy selbst. Der einzige, dessen Kraft genauso groß war.

„Aktuelle Entwicklungen du sagst?“ schluckte Meister Adoy seinen Ärger hinunter.

„Du weißt, dass ich immer gegen die Aufträge war, die du deine Zalei ausführen lässt. Aber diesmal kann ich nicht mehr wegsehen. Ryami Hisui ist gestorben. Lan Sekiei wurde angeschossen. Das geht eindeutig zu weit.“

„Ich sehr bedauere. Ryami und Lan habe ich immer geliebt wie eigene Kinder. Was passiert ist, tut mir sehr leid. Dennoch brauchen wir die Aufträge.“

„Du meinst, die Bezahlung dafür.“

„Auch das, ja. Ich nicht leugne. Wir koordinieren die Aktivitäten der Zalei im ganzen Land. Wir helfen und unterstützen sie, bieten ihnen eine Heimat und eine Arbeit, wenn sie keine haben. Aber das alles kostet Geld. Der Vergnügungspark, die Zirkusse, die Veranstaltungen, auch diesen Zufluchtsort hier, die Gehälter aller Zalei, die dort arbeiten, das alles finanziert sich nicht von alleine. Wenn wir also die Möglichkeit haben, mit unseren Fähigkeiten als Zalei ein wenig Geld zu verdienen, warum sollten wir sie nicht nutzen? Vergiss nicht, dass nicht jeder Zalei das Glück hat, auch einem normalen Beruf nachgehen können.“

„Ein Zalei zu sein ist eine ehrwürdige, alte schamanische Tradition. Sie sollte nicht für Profitstreben missbraucht werden.“

„Profitstreben? Keineswegs um Gewinne es uns geht! Wir machen keine Gewinne, ganz im Gegenteil. Wir sind jeden Monat froh, wenn unsere Einnahmen die Kosten annähernd decken können.“

Herr Natsukori schüttelte ungläubig den Kopf. Meister Adoy würde er keine anders lautende Aussage entlocken können.

„Gut, nehmen wir kurz an, das würde stimmen. Aber warum dann solch gefährliche Missionen? Hier eine junge Frau getötet und ein junger Mann schwer verletzt worden. Der Rat, oder du als dessen Vorsitzender, sucht diese Missionen aus. Warum lässt du zu, dass so etwas passiert?“

Bei dieser Frage verschwieg Herr Natsukori ganz bewusst was er von Lan erfahren hatte. Lan hatte ihm natürlich erzählt, dass der Mann von K.R.O.S.S. ihn als sein Ziel benannt hatte. Mit Sicherheit hätte er eine solche Äußerung nie machen dürfen.

Nicht nur, dass der Mann ganz offensichtlich gewusst hatte, dass sie beschattet wurden, er wusste auch von wem. Und diesen jemanden wollte er beseitigen. Da lag der Verdacht nahe, dass der Mann von K.R.O.S.S. entweder erfahren hatte, wer ihn beschatten würde und beschlossen hatte, diesen jemanden zu beseitigen, oder dass der Mann von K.R.O.S.S. umgekehrt dafür gesorgt hatte, dass derjenige, den er beseitigen wollte, ihn beschatten würde. Beides wäre aber nur über den Auftraggeber möglich, also über den Rat. Oder aber, diesen Gedanken wollten Lan und Herr Natsukori selbst gar nicht zu Ende denken, der Rat hätte den Mann von K.R.O.S.S. selbst angewiesen, ihn zu beseitigen. Aber das traute dem alten Adoy eigentlich keiner von beiden zu. Insbesondere hätte Adoy nie Ryami in solche Gefahr gebracht, die schon immer sein ganz besonderer Liebling gewesen war.

„Das nicht meine Absicht. Wie gefährlich der Auftrag tatsächlich war, wusste ich nicht. Angefangen hat alles mit Aufträgen wie… einer kleinen Artistik auf dem Kindergeburtstag der kleinen Tochter des Bürgermeisters. Erst im Lauf der Zeit wurden die Aufträge mehr und gefährlicher. Gleichzeitig wurde aber auch die Bezahlung besser. Und das Geld brauchen wir, wie gerade ich schon erläutert habe.“

Meister Adoy nickte, sichtlich zufrieden mit seiner Argumentation.

„Warum dann diese Organisation? Wenn die ganze Verwaltung, Führung, und so weiter so viel mehr kosten als sie eintragen, warum unterhält man sie dann weiter? Gut, Arbeit und Unterkunft brauchen wir, das sehe ich ein. Aber der Vergnügungspark beispielsweise trägt sich selbst. Er braucht den Rat nicht.“

„Der Rat kümmert sich nicht nur um die Einrichtungen, wie du weißt.“

„Es gab diese Zalei-Tradition schon immer. Aber es hat früher auch sehr gut ohne einen Rat funktioniert, der jede Verantwortung und Kontrolle an sich gerissen hat.“

„Kennst du denn die alten Zeiten? Lass mich dir erzählen.“

Meister Adoys Miene verfinsterte sich zunehmend. Jeder Satz von Herrn Natsukori reizte ihn mehr. Dennoch wurde er nicht müde, ihm die Tätigkeit und das Erfordernis eines kontrollierenden Rates nahezubringen.

„Viele Zalei haben früher ihre Kraft missbraucht, um Macht über andere Menschen auszuüben. Sie haben die Kraft ihrer Carn benutzt, um Angst und Schrecken zu verbreiten. So haben sie Geld und Gut erpresst. Wenn neue Zalei ausgewählt wurden, spielte charakterliche Eignung keine Rolle, ebenso wenig die Eignung der Carn. Und die Ausbildung bestand meist nur aus Irrlehren und einer Anleitung, die Erpressungen weiterzuführen. In dieser Zeit waren Zalei verhasst und gefürchtet. Ein Kontrollorgan ist unbedingt nötig, damit diese chaotischen Zustände sich nicht wiederholen.“

Herr Natsukori merkte, dass Meister Adoys Geduld langsam zu Ende ging. Sein Ausdruck hatte sich verfinstert. Seine Brauen waren tief ins Gesicht gezogen, die Augen zu schmalen, funkelnden Schlitzen. In seiner Schläfe traten einige Adern deutlich hervor, die von seiner Wut zeugten.

Nicht weniger gereizt war jedoch Herr Natsukori.

„Nicht aber, wenn diesem Kontrollorgan seine Selbsterhaltung und sein Einfluss am meisten am Herzen liegen. Dem Rat geht es doch schon lange nicht mehr um die Pflege einer alten schamanischen Tradition!“

Nach diesem Schlagabtausch senkte sich für einige Augenblicke Schweigen im Saal. Herr Natsukori und Meister Adoy funkelten einander wuterfüllt an. Die übrigen Ratsmitglieder hatten sich die ganze Zeit ängstlich zurückgehalten und taten dies auch weiterhin.

Allen war klar, dass es keine Einigung geben würde. Sowohl Meister Adoy, als auch Herr Natsukori hatten ihre Gründe dargelegt und vertraten ihre Position mit absoluter Bestimmtheit. Keiner von beiden würde sich auch nur ein Stück auf den anderen zubewegen. Vereinbar waren ihre Ziele ohnehin nicht.

Während Meister Adoy vor allem danach strebte, die Ordnung bei der Ausbildung, dem täglichen Leben, der Versorgung und des Gebrauchs der Kräfte seiner Zalei zu wahren und zu kontrollieren, ging es Herrn Natsukori vor allem um den elementarsten Kern der ganzen Tradition, das Leben mit und in der Natur. Konträr und absolut unvereinbar. So war Meister Adoys Vorschlag der einzig konsequente Schritt.

„Einigen wir werden uns nie können. Deshalb bitte ich dich zu gehen, Taro Natsukori.“

„In Ordnung. Ich wollte dich sowieso bitten, gehen zu dürfen.“ Nickte Herr Natsukori.

„Sie wollen doch nicht wirklich einen Bruch?!“ Nun mischte sich doch ein Ratsmitglied ein. Mika Takano, der zwei Plätze entfernt zu Meister Adoys linker Seite saß. Ein junger, gut gekleideter Mann aus besserem Hause mit etwas längerem, ordentlich frisiertem Haar. Er war empört. „Meister Adoy, Sie wollen Herrn Natsukori ausschließen?... Herr Natsukori, Sie wollen dem Rat kündigen? – Das geht doch nicht!“

„Natürlich geht das.“ Herr Natsukori wandte sich an Mika, die Hände in die Hüften gestützt. „Der Rat ist der Meinung, eine Zusammenarbeit mit mir sei nicht möglich. Diese Meinung teile ich und möchte mich ein für allemal dem Einfluss des Rats entziehen. So einfach ist das.“

„Wir werden dich aus unserer Kartei entfernen und fühlen uns für dich nicht mehr verantwortlich. Dafür erwarten wir von dir, dass du dich aus unserem Einflussbereich gänzlich zurückziehst. Vielleicht möchtest du ja deine Reisen fortsetzen.“ Schlug Meister Adoy vor.

Und dann war es passiert. Genau wie Herr Natsukori vorausgesagt hatte, hatte er mit dem Rat gebrochen und der Rat mit ihm. Die vom Rat aufgestellten Regeln galten nicht mehr für ihn, dafür auch nicht mehr seine Angebote. Tatsächlich bedeutete das keine große Umstellung für ihn. Diese Angebote, sei es Arbeits-, Wohnungs- oder finanzielle Gelegenheiten, hatte er noch nicht in Anspruch genommen. An die Regelungen hatte er sich schon lange nicht mehr gehalten.

Dennoch war dieser endgültige Schlussstrich unter die Zusammenarbeit mit dem Zalei-Rat ein einschneidendes Erlebnis für beide Seiten. Das war allen Anwesenden bewusst, als sich Herr Natsukori für immer verabschiedete und Lancelot an seinem breiten Lederhalsband nach draußen führte. Er war nicht der erste Zalei, der sich vom Rat getrennt oder den der Rat ausgestoßen hatte. Aber er war der erste verstoßene Zalei mit diesem Rang, dieser Position und diesem Einfluss. Die Tragweite dieser Trennung konnte dennoch noch niemand von ihnen abschätzen.
 

Aus dem geplanten kurzen Gang ums Haus war doch ein ausgedehnter Spaziergang geworden. Ohne dass er es geplant hätte, hatten Keis Füße ihn bis ans Ende der Straße, dann die nächste Straße hinunter bis zu einem kleinen Wäldchen getragen. Dieses Waldstückchen hatten er und Robin durchquert und waren dann auf der anderen Seite des Blocks wieder zurück gewandert. Zuerst war Robin, wie immer, wenig begeistert gewesen, als Kei ihm die Leine anlegte. Aber dann genoss er seinen Auslauf, vor allem in dem Waldstück. So weit es die Leine erlaubte, tobte er hinter einigen Insekten her und erforschte das Unterholz. Nur einmal suchte er wieder Streit mit Kei, als dieser ihm aus einer dichten Hecke zurück auf den Weg zog. Nachdem Kei seine Hand schnell genug wegziehen konnte, floss diesmal kein Blut.

Den Spaziergang nutzte Kei, um seine Gedanken ein wenig zu ordnen. Ob er erfolgreich damit war, konnte er allerdings selbst nicht so genau sagen. Er fühlte sich weder besser, noch schlechter als vorher. Ihm war weder ein Licht aufgegangen, noch ein Weg aufgezeigt worden. Zumindest glaubte Kei aber nun, die Ursache seines Problems in eine einzige Frage fokussieren zu können.

Es war schon nach Mittag, als Kei und Robin endlich nach Hause kamen. Robins erster Weg war quer durch das Esszimmer in die Küche und schnurstracks zu seinem Fressnapf. So ein ausgedehnter Spaziergang machte hungrig und von den Insekten, die er gejagt hatte, hatte er kaum eines erwischt. Also gab Kei seinem Fuchs das Mittagessen, das er verlangte, und stellte den Napf an den Futterplatz hinter der Terrassentür. Wo er schon da war, überlegte sich Kei, er könnte ja auch in den Garten gehen, statt sich wieder in sein Zimmer zu verkriechen. Er setzte sich auf einen der Terrassenstühle und starrte in den Garten. In der Mitte des Gartens stand ein großer Apfelbaum, auf dem Jack leidenschaftlich gern herumturnte. In Höhe von etwa eineinhalb Metern teilte sich der Stamm in zwei dicke Hauptäste auf, die sich dann noch weiter verzweigten. Ideal zum Klettern, nicht nur für Jack. Auch Kiku stieg oft auf den Apfelbaum, meistens wenn sie versuchte, ihren Carn wieder einzufangen. Jack gehorchte zwar meistens ganz gut, aber nicht wenn er abends wieder ins Haus kommen sollte. Falls Yuki und Ryu auch schon als Kinder hier gelebt hatten, waren sie bestimmt auch oft auf den Baum geklettert. Zumindest hätte er selbst sicher oft auf dem Baum gespielt, dachte Kei. In ihrer Grundschulzeit hatten Kei und Atari sogar einmal versucht, ein Baumhaus zu bauen. Wahrscheinlich hatten sie in irgendeinem Film ein Baumhaus gesehen und sich eingebildet, sie könnten es nachbauen. Mit zusammengeschnorrten Brettern aller Art und Größe waren sie zu einem alten Baum in der Nähe vom Spielplatz am Ende der Straße losgezogen. Nach zwei Tagen der Bauarbeiten war das Unternehmen auch schon gescheitert. Voller Eifer war Kei auf dem Baum herumgestiegen, hatte Brett an Brett gelegt und gehämmert, bis er irgendwann zu übermütig geworden war. Ein falscher Griff und er rutschte ab. Kei konnte sich auch heute noch gut erinnern, dass ihm der Schmerz für einige Augenblicke die Luft abgeschnürt hatte. Er war direkt auf dem Rücken gelandet, zum Glück in einer Wiese. Außer blauen Flecken und Schürfwunden war ihm nichts passiert. Aber der Schreck saß tief genug, um das Baumhaus-Projekt abzublasen. Nicht nur bei Kei, sondern auch bei seinem besten Freund. Atari hatte ihm Jahre später einmal erzählt, er hätte eine Heidenangst um ihn gehabt, als er im ersten Moment leichenblass vor Schreck und ganz reglos unten am Boden liegen geblieben war.

Nachdem Robin sein Mittagessen verputzt hatte, nutzte er die Gelegenheit und sprang durch die offenstehende Terrassentür ebenfalls hinaus in den Garten. Dort setzte er sein Toben von vorhin fort, diesmal allerdings nicht eingeschränkt durch eine Leine.
 

Kei beobachtete Robin gedankenverloren, als Kiku nach Hause kam. Sie hatte noch ihre Straßenschuhe an, als sie zu ihm auf die Terrasse kam. Sie sah aus, als hatte sie bis eben noch geweint. Ihre Augen waren rot und ihre Lider leicht geschwollen. Ihre Wangen waren leicht gerötet. Aber ihr Gesicht war fast ausdruckslos. Sie gab sich offensichtlich große Mühe, gefasst zu bleiben.

„Was ist denn passiert?“ fragte Kei besorgt.

Eigentlich wollte Kiku nicht wieder weinen, vor allem nicht schon wieder vor Kei. Aber noch während sie in Gedanken nach einer Formulierung suchte, um ihm ganz nüchtern zu erklären, was passiert war, traten schon die ersten Tränen in ihre Augen. Kaum dass eine von ihnen den Weg über ihre Wangen gefunden hatte, folgten die weiteren schier unaufhaltbar. Sie versuchte noch, mit beiden Händen ihre Wangen von den Tränen zu befreien. Doch die waren weit in der Überzahl. So gab Kiku auch bald ganz auf und schluchzte ohne Zurückhaltung.

Kei stand auf und kam auf sie zu. Eine Hand legte er sanft auf ihre Schulter, um ihr zu zeigen, dass er für sie da war. Dann wiederholte er seine Frage, etwas heiser.

„Ich war… Taki war heute wieder nicht in der Schule… Also hab ich sie zu Hause besucht.“ Begann Kiku mit zittriger Stimme. „Sie sah ganz furchtbar aus… Ganz blass, schwarze Augenringe, abgemagert, unfrisiert, in schlampigen Klamotten… So hab ich sie noch nie gesehen.“

Wie schon gestern im Park wusste Kei einfach nicht was er sagen sollte, um Kiku zu trösten. Vor allem glaubte er auch nicht, dass Kiku überhaupt einfach zu trösten war, wenn ihre beste Freundin so schlimm aussah.

„Hat sie dir wenigstens erzählt was los ist?“ erkundigte sich Kei vorsichtig.

Kiku nickte knapp, während zwei weitere Tränen sich ihren Weg über Kikus Wange bahnten, bis zu ihrem Kinn, von wo aus sie auf ihre Schuhe herabtropften. Einen Moment schwieg Kiku. Sie überlegte wohl, ob sie es Kei überhaupt erzählen sollte. Aber dann sprach sie mit von Tränen erstickter Stimme weiter.

„Sie hat gesagt, sie will mit Zalei nichts mehr zu tun haben. Sie will mit mir nichts mehr zu tun haben.“

„Was? Aber warum denn?“

Kei war nun doch fassungslos. Taki und Kiku waren doch schon seit Jahren beste Freundinnen gewesen. Zu seiner Schulzeit hatte er im Pausenhof nie eine von ihnen ohne die andere gesehen. Taki kannte doch Zalei und hatte nie ein Problem damit gehabt. Und war sie nicht sogar sehr stolz auf ihre Schwester, die eine so gute Zalei war?

Aber Kiku erklärte ihm nichts weiter. Sie war völlig aufgelöst. Sie weinte Träne um Träne, schluchzte bis sie kaum noch Luft bekam.

Kei zögerte einen Moment. Aber dann wiederholte er doch seine Geste von gestern. Er legte ganz vorsichtig seine Arme um Kiku und drückte sie sanft an sich. Kiku ließ es geschehen. Sie stützte ihren Kopf auf Keis Schulter und weinte einfach weiter, ohne sich beruhigen zu können. Einen Moment verharrten beide in dieser Pose. Ein wenig unangenehm war Kei diese Umarmung immer noch. Obwohl Kei gerade bei seinem langen Grübeln beim Spazierengehen bewusst geworden war, dass es dafür keinen Grund gab. Er wollte Kiku ja nur trösten, eine Freundin. Kiku war eine Freundin, auch wenn sie ihn bislang meistens nur geärgert hatte. Aber sie hatte ihm immerhin mit Robin geholfen, was sehr nett von ihr war, und sie hatte ausgerechnet ihm ihr Herz ausgeschüttet.

„Ihr wart doch seit Jahren sehr gut befreundet. Ich weiß ja nicht was passiert ist, aber Taki wird doch so eine Freundschaft nicht einfach wegwerfen wegen nichts und wieder nichts.“ Flüsterte Kei tröstend und verlegen gleichermaßen.

Doch seine Worte konnten Kiku nicht beruhigen. Ihre Schultern zuckten mit jedem Schluchzen unermüdlich. Ihre Hände versuchten noch immer vergeblich, einige der Tränen aus ihrem Gesicht zu wischen. Nach kurzem Zögern strich Kei langsam mit einer Hand über Kikus Rücken. Auf und ab, in der Hoffnung, mit dieser Geste Kiku ein wenig beruhigen zu können.

„Wahrscheinlich ist irgendwas Schlimmes passiert, wegen dem Taki jetzt eine schlechte Meinung von Zalei hat. Sie hat also nichts gegen dich, sondern gegen Zalei. Wenn das so ist, wird sie sich mit der Zeit bestimmt auch wieder fangen und mit dir befreundet bleiben wollen. Bis dahin kannst du ihr eigentlich nur zeigen, dass du für sie da bist und auf sie wartest.“

Kei hatte keine Ahnung, ob Kiku diese Worte irgendwie weiterhelfen würden oder ob sie sie trösten könnten. Er wusste auch immer noch nicht, was wirklich passiert war, vor allem nicht warum Taki plötzlich nichts mehr mit Zalei zu tun haben wollte. Kiku machte auch nicht den Eindruck als ob sie es ihm erzählen wollte. Aber dennoch schien Kei mit seinem Tipp genau ins Schwarze zu treffen. Langsam wurde Kikus Schluchzen ruhiger, die Tränen kamen nur noch vereinzelt hervor, bevor sie nach einer Weile verebbten. Kiku löste sich auch vorsichtig aus Keis Umarmung. Sie hielt den Blick gesenkt, um ihm ihr verweintes Gesicht nicht zeigen zu müssen.

„Danke für… alles.“ Hauchte Kiku mit zittriger, heiserer Stimme. Dann drehte sie sich um und tappte mit schweren Schritten zurück ins Haus. Für den restlichen Nachmittag würde sie sich in ihrem Zimmer verkriechen.

Kei blieb noch einen Moment ratlos stehen und sah auf die Terrassentür, hinter der Kiku verschwunden war. Er hatte noch immer nicht die geringste Ahnung was vor sich ging. Aber Hauptsache, Kiku ging es ein kleines bisschen besser. Selbst wenn er ihr keine große Hilfe sein konnte, war es doch oft erleichternd, einmal offen auszusprechen, was einen bedrückte.

Kei atmete tief durch, als er sich wieder in den Terrassenstuhl sinken ließ. Er ließ sich mit dem Rücken gegen die Lehne fallen, stützte den Kopf auf sie und starrte in den Himmel. Freundliches Hellblau, befleckt mit ein paar weißen Wölkchen, die einzeln vorbeizogen. Die Umrisse einiger Vögel zeichneten sich vom Blau des Himmels ab.
 

„Das war sehr nett von dir. Ich wusste gar nicht, dass du mit Kiku so ein gutes Verhältnis hast.“

Kei erschrak, schon wieder. Und schon wieder war es Yukis Stimme, die ihn zusammenzucken ließ. Kei fuhr herum. Yuki hielt den Eimer in der Hand, in dem Ryu sonst Sleipnir sein Futter brachte. Offensichtlich war er gerade im Stall hinter dem Haus gewesen. Das bedeutete, er hatte höchst wahrscheinlich die Szene eben genau sehen können.

Kei wusste nicht warum, aber dass Yuki sie gesehen hatte, war ihm sehr unangenehm. Noch viel unangenehmer als die bloße Tatsache, dass er Kiku umarmt hatte. Um Yukis Blick auszuweichen, drehte er sich zu Robin um, der hinter dem Apfelbaum einen Schmetterling jagte.

„Sie tut mir leid. Ich hatte ja auch bis vor kurzem stillschweigenden Krieg mit meinem besten Freund. Ich kann ein bisschen nachfühlen, wie schlecht es ihr geht.“

„Ach so...“ War Yukis ganzer Kommentar dazu. Er versuchte zu lächeln, als er die vier Stufen vom Garten auf die Terrasse hochstieg. Neben der Tür stellte er den leeren Eimer ab und wandte sich wieder Kei zu. Einen Moment zögerte er, bevor er weitersprach. „Du warst vorhin lange weg. Ich dachte mir, dass du vielleicht noch zu Atari-kun gegangen bist.“

„Nein, ich war nicht bei Atari.“ Nun wanderte Keis Blick doch wieder von Robin direkt zu Yuki. Er wunderte sich, wie Yuki auf diese Idee kam. Sicher, er hatte in letzter Zeit wieder öfter etwas mit Atari unternommen. Aber täglich sah er ihn nicht und er war auch nicht immer bei Atari, wenn er länger unterwegs war. Aber woher dieser Gedanke kam, konnte er Yukis Ausdruck nicht entnehmen. Er sah ihn ganz unverwandt an, ein leichtes Lächeln angedeutet.

„Eifersüchtig?“ wagte Kei einen Vorstoß, den er sofort wieder bereute. Kaum ausgesprochen, hätte er sich für seine große Klappe am liebsten geohrfeigt. Er kannte doch die Antwort. Und das war genau die Antwort, die er eben nicht hören wollte. Warum musste sein vorlautes Mundwerk dennoch danach fragen?

„Natürlich.“ Flüsterte Yuki. Diesmal war er es, der verlegen den Blick auf den Boden senkte.

Schweigen. Dasselbe verlegene Schweigen, vor dem Kei nach dem Frühstück geflüchtet war. Auf seine Weise trat er auch jetzt die Flucht an, als er seinen Blick wieder Robin zuwandte.

Yuki dagegen wollte die Fronten endlich klären. Er war sich seiner Gefühle für Kei gewiss, aber wie Kei von ihm dachte, wusste er beim besten Willen nicht. Kei hatte sich nicht gegen seine Umarmung gewehrt, auch nicht gegen den Kuss. Aber erwidert hatte er sie auch nicht. Er wich ihm aus, vermied jede klare Aussage oder Geste. Yuki wusste nicht, ob Kei in ihm einen Freund sah, seinen Zalei-Lehrer. Ob er vielleicht seine Annäherungen nur erduldete, weil er ihn nicht verletzen wollte, oder vielleicht sogar weil er glaubte, sich als sein Schüler unterordnen zu müssen.

Yuki wagte einen Schritt nach vorne, im wahrsten Sinne des Wortes. Er kam zu Kei herüber, der ganz konzentriert in die andere Richtung sah. Obwohl er nun direkt vor ihm stand, wich Kei seinem Blick noch immer aus. Also ging Yuki vor ihm in die Knie, legte seine Unterarme verschränkt auf Keis Knie. Kei blieb wie versteinert sitzen. Erneut reagierte er in keiner Weise auf diese Berührung durch Yuki.

„Kei…?“ flehte Yuki förmlich um dessen Aufmerksamkeit.

Wieder fühlte Kei dieses heiße Kribbeln auf seinen Knien, dort wo Yukis Arme lagen. Die Art wie er heiser seinen Namen ausgesprochen hatte, verursachte ein ähnliches Kribbeln in seinem Bauch. Nur einen Moment, aber dafür sehr intensiv.

„Du wehrst dich nicht gegen eine Umarmung von mir. Aber du erwiderst sie auch nicht.“

Kei versuchte weiter, Yukis Blick auszuweichen. Er hatte das Gefühl, immer wenn sich ihre Blicke trafen, würde das Glühen auf seinen Wangen neu angefacht, das Rot auf ihnen intensiver. Und so wanderten Keis Augen über die Terrassenfließen, die Blumenbete vor dem Nachbarszaun, Robin, der hinter Insekten herjagte.

„Wir sind Freunde und du bist mein Zalei-Schüler. Das soll auch so bleiben. Unser Verhältnis soll nicht belastet werden mit unausgesprochenen Gefühlen.“ Erklärte Yuki sicher nicht weniger verlegen.

„Das will ich auch nicht. Du bist mir in den letzten Monaten ein sehr guter Freund geworden und…“ Begann Kei zuerst mit unsicherem Unterton in der Stimme. Doch dann brach er seinen Satz ab, als er doch zur Überzeugung kam, er würde damit zu viel einräumen.

„Und…?“ Hakte Yuki vorsichtig nach.

„Und… das ist… schön.“ Ergab der Satz überhaupt Sinn? Kei fragte es sich selbst. Das Glühen auf seinen Wangen war inzwischen noch heißer geworden. Wenn der Rotschleier nun entsprechend dunkel geworden war, würde Kei sich am liebsten vor aller Welt verkriechen. Was musste er Yuki nur für einen Eindruck vermitteln?

„Und darüber hinaus?“

Schweigen.

„Kannst du dir darüber hinaus mehr vorstellen?... Ich will dich weder zu irgendwas drängen, noch dich überreden oder so. Wirklich, ich möchte nur wissen woran ich bin.“ Beteuerte Yuki.

Natürlich, er mochte Kei, mehr als man einen Freund mochte, und vermutlich mehr als Kei ihn mochte. Irgendwo hoffte er, dass ihn irgendwann mehr mit Kei verbinden würde als Freundschaft. Aber in erster Linie war es Kei selbst, der ihm wichtig war. Und wenn Kei nicht mehr als Freundschaft wollte, dann sollte es auch nicht mehr als Freundschaft sein. Am wichtigsten war ihm, in Keis Nähe bleiben zu können und ein positives Verhältnis mit ihm zu behalten. Wenn Kei nicht mehr wollte, dann als Freund. „Also… Ja? Nein? Vielleicht?“

„Na gut…“ Kei atmete tief durch und schlug dabei kurz die Augen nieder. Doch dann fasste er sich ein Herz und sah Yuki direkt an. Diese Rubine von Augen, gesäumt von dunklen Wimpernkränzen, fachten das zart glühende Rot auf Keis Wangen fast noch weiter an. Doch diesmal wich Kei seinem Blick nicht mehr aus. Yuki wollte wissen woran er war. Aber das wollte Kei doch auch. Dieses ständige Hin und Her, die falschen oder enttäuschten Hoffnungen drohten langsam wirklich, ihre Freundschaft zu belasten. Yuki war ihm inzwischen tatsächlich sehr wichtig geworden, wenn auch anscheinend nicht so wichtig wie er ihm geworden war. Er war ein sehr guter Freund, ein… sehr, sehr guter Freund, außerdem sein Lehrer. Er brauchte ihn, so oder so. Yuki hatte eine ehrliche Antwort verdient. Abgesehen davon, wollte Kei nach dem ständigen Auf und Ab seiner Gefühle auch selbst Klarheit. Vielleicht hoffe Kei, sich seiner Gefühle selbst bewusst zu werden, sobald er diese laut aussprach. Und so nahm er seinen ganzen Mut zusammen.

„Also, ich werde möglicherweise darüber nachdenken,… unter Umständen irgendwann… ein „Vielleicht“ in Erwägung zu ziehen…“

„Wirklich?“ Yuki strahlte ihn förmlich an.

Ja, angesichts dieses Lächelns würde er es vielleicht doch in Erwägung ziehen, dachte Kei bei sich. Bisher hatte Kei es nie so gesehen, wahrscheinlich weil er sich selbst diesen Gedanken verboten hatte, aber Yuki sah eigentlich echt gut aus. Diese schlanken Hände, die noch immer auf seinen Knien lagen, die zarte helle Haut seines feinen Gesichts, das von schneeweißen Strähnen gesäumt war, die dichten Wimpern, seine Lippen, die sich leicht öffnend und spitzend mit einem sanften Lächeln Worte formten.

„Allein, dass du es nicht völlig ausschließt, macht mich schon glücklich.“

Kei fühlte die Röte erneut aufsteigen. Trotz allen guten Vorsätzen konnte er schließlich doch nicht anders, als den Blick wieder abwenden.
 

Etwa zur gleichen Zeit hallte das Theme irgendeines kitschigen, französischen Films durch Pierres Praxis, das der als Klingelton auf seinem Handy eingestellt hatte. Ryu hatte Pierre bestimmt schon zehnmal nach dem Titel des Films gefragt, ihn sich jedoch nie merken können. Inzwischen fragte er auch gar nicht mehr, weil Pierre ihn daraufhin jedesmal zu einem DVD-Abend einladen wollte, um besagten Film anzuschauen. Für kitschige Liebesfilme war Ryu allerdings wenig zu begeistern, vor allem wenn er diesen noch nicht einmal in der Gesellschaft eines hübschen Mädchens ansehen konnte.

„Allô?“ nahm Pierre ab.

Ryu sortierte weiter die Patientenkartei, während er unauffällig lauschte. Pierres Reaktion ließ vermuten, dass er mit dem Rat sprach. Nachdem Ryu wusste, dass sein Vater bereits dort gewesen sein musste, war er umso neugieriger. Leider verstand er kein Wort desjenigen am anderen Ende der Leitung. Und Pierres Part alleine war wenig aufschlussreich.

„Ah oui, isch weiß, dass Taro ´ier ist… Was? Non, das wusste isch nischt. Mir ´at er gestern nischts gesagt… Oui… Oui, natürlisch… Isch denke, das wird dafür – d´accord, nischt am Telefon, isch verste´e… Ok, bis gleisch.“

Pierre legte auf und atmete laut aus, während er in einer geschmeidigen Bewegung sein langes Haar hinter die Schultern warf.

„Du musst zum Rat?“ versuchte Ryu, mehr Informationen aus Pierre herauszubekommen.

„Oui, es geht um deinen Vater. Isch ge´e davon aus, dass du das weißt.“ Lächelte er.

„Hat er was angestellt?“

„Das weiß isch nosch nischt. Meister Adoy will mit mir persönlisch spreschen, keine Ahnung worum es geht.“ Zuckte er mit den Schultern.

Pierre schritt an Ryu vorbei zum Schrank, in den er seinen Kittel hängte. Bevor er die Praxis verließ und sich auf den Weg zum Rat machte, erlaubte er auch Ryu für heute seine Arbeit zu beenden. Die Sprechstunde war für heute ohnehin vorbei und erfahrungsgemäß würde Pierre von einem Besuch beim Rat sicher nicht vor Abend zurückkommen. Ryu würde also noch die Kartei zu Ende sortieren und dann den Heimweg antreten. Gerne hätte er noch auf Pierres Rückkehr gewartet, um ihn dann auszuhorchen, aber ihm war bewusst, dass er nicht so lange in der Praxis bleiben konnte.

Zumindest würde er zu Hause vielleicht die Version seines Vaters erfahren.
 

***

Hallo!
 

Vielen, vielen Dank fürs Lesen! ^___^

Hui, jetzt kommt wirklich Schwung in die Geschichte. Da scheint Kei ja endlich mal Farbe bekennen zu wollen… Und während er immer noch mit sich ringt, gerät er ganz unwillkürlich zwischen die Fronten. Dieser Streit von Rat und Herrn Natsukori scheint etwas höhere Wellen zu schlagen als vermutet. Wenn das mal gutgeht… .__.

Würde mich sehr freuen, wenn ihr dabei bleibt, um es herauszufinden. ^^
 

Bis bald ,

Petey

Partner und Verbündete

Partner und Verbündete
 

Zwei Tage waren vergangen seit Kei sich Yuki gegenüber zu einem entschiedenen „Vielleicht“ durchgerungen hatte. Seitdem hatte es Phasen gegeben, in denen Kei zu seiner Aussage stand, ebenso aber auch Phasen, in denen er sich dafür selbst hätte ohrfeigen können.

Es gab Phasen, in denen er es am liebsten sofort auf einen Versuch hätte ankommen lassen. Erst gestern im Fairy Tales Park, als Yuki ihn am Ende ihrer Schicht am Süßigkeitenstand abgeholt hatte, diesmal als Feenprinz mit schimmernden Flügeln, silbernem Gewand, das mit filigranen Blütenranken bestickt war, und sanft über die Schultern fallenden weißen Strähnen, dazu das süßeste Lächeln der Welt. Das tägliche Feuerwerk vor dem Ende des Tags im Park war schon fast vorbei gewesen, die letzten Raketen hatten sich bunt in den silbernen Knöpfen auf Yukis Hemd gespiegelt. Yuki hatte in diesem Moment so verflucht gut ausgesehen und Kei so herzlich begrüßt, dass der fast schon schwach geworden wäre.

Andererseits gab es aber genauso viele Phasen, in denen Kei sich mehr als Freundschaft mit Yuki in tausend Jahren, und selbst wenn sie die letzten Menschen auf der Welt wären, nicht vorstellen konnte. In einer dieser Phasen befand sich Kei im Moment, als er mit Robin spazieren ging. Dabei hatte eigentlich alles mit einer Phase des ersten Typs angefangen.

Es war Sonntagnachmittag. Nach dem Essen hatte Yuki Kei eine Lehrstunde in Sachen „Zalei“ verpasst. Es war der letzte Tag im Juli und damit Zeit für den monatlichen Bericht an den Rat. Bei dieser Gelegenheit ging Yuki gerne alle Punkte durch, die sie schon behandelt hatten oder holte nach was vergessen wurde. Lehrer und Schüler hatten auf der Terrasse gesessen und bei Eiskaffee ihren Unterricht gehalten. In Keis Kopf hatte noch das Bild vom Feenprinzen-Yuki von gestern herumgeschwirrt. Und er hatte gefunden, dass Yuki auch heute nicht viel uncharmanter war. Sein Blick hatte auf Yukis Lippen gehaftet, die irgendwas über Schamanismus und Geschichte von Zalei erzählt hatten, was Kei aus purer Langweile nur in groben Zügen erfasst hatte.

Als Kei später zu seinem Spaziergang mit Robin aufgebrochen war, bei dem er sich in diesem Moment noch befand, dachte er zuerst auch noch an diese Lippen. Diese schön geschwungenen Lippen, die sich zartrosa von Yukis blasser Haut abhoben. Ganz unwillkürlich erinnerte sich Kei an ihren Kuss damals im Garten. Weich waren diese Lippen, weich, warm und sanft. Wenn Kei ehrlich war, hatte ihm der Kuss durchaus gefallen. Wenn da also doch mehr wäre als nur Freundschaft, wenn es nicht bei einem unschuldigen Kuss geblieben wäre... Was, wenn Yukis Hand nicht nur seinen Nacken festgehalten hätte, damit Kei sich nicht aus ihrem Kuss davonstehlen konnte, wenn sie seinen Nacken, den Rücken hinunter geglitten wäre… Oder wenn Keis Hände nicht leblos vor Schreck neben seinem Körper gehangen hätten…

„Nein!“ schrie alles in Kei auf, als er den Gedanken zu Ende führte. „Mehr als Freundschaft“ bedeutete auch „mehr als nur ein Kuss“, aber das konnte und wollte sich Kei absolut nicht vorstellen. Selbst wenn er noch einräumen konnte, Yuki vielleicht doch sehr gern zu haben, sehnte er sich doch auf keinen Fall nach mehr körperlicher Nähe. Der bloße Gedanke trieb ihm schon die Gänsehaut auf die Unterarme.

Etwa seit zwanzig Minuten waren Kei und Robin unterwegs. Zeit die unbemerkt verflogen war, während Kei seinen Gedanken nachgehangen hatte. Nach einer Tour durch einige verwinkelte Straßen und Gassen setzten sie ihren Spaziergang nun entlang der Landstraße fort. Robin lief so weit voraus wie es die Leine erlaubte. Gerne wollte er sogar noch weiter, weshalb er nicht nur mit aller Kraft zog und zerrte, sondern sich auch gelegentlich umdrehte und verärgert in die Leine biss.

Er riss Kei unvermittelt aus seinen Gedanken, als ein erneuter kräftiger Biss schließlich die Leine durchtrennte. Robin riss sich los, nutzte seine Chance und rannte davon. Alles Rufen und Fluchen von Kei konnte ihn nicht zurückhalten. Und obwohl Kei fast augenblicklich losgesprintet war, konnte er den flinken Fuchs natürlich nicht einholen. Robin hatte bestimmt schon fünfzig Meter zwischen sie gebracht, als er den Fußweg verließ und zwischen den daneben parkenden Autos verschwand.

„Bleib weg von der Straße!“ schrie Kei ebenso verzweifelt wie vergeblich, während er den Abstand zu seinem Carn rennend etwas verkleinerte.

Umsonst, denn nur einen Augenblick später tauchte Robin auf der anderen Seite des parkenden Autos wieder auf, unter dem er verschwunden war. Dabei hatte er großes Glück. Das zunächst letzte Auto war nur wenige Sekunden vorher an der Stelle vorbeigerast. Die nachfolgenden Fahrzeuge wurden gerade von einer roten Ampel etwa zweihundert Meter hinter Kei aufgehalten. Doch zum Aufatmen war das kein Grund. Sobald die Ampel umschalten würde, würden die Autos mit fünfzig km/h auf den Fuchs zurasen. Und der hatte in aller Seelenruhe sogar schon die rechte der beiden Fahrspuren überquert. Er saß nun mitten auf der linken Spur und schnupperte neugierig am Asphalt, während Kei ihn unermüdlich rief.

„Robin! Komm her! Du kriegst auch ein Riesensteak! Robin!“ Alle Leckerbissen dieser Welt versprach er Robin, wenn dieser nur von der Straße wegkommen würde. Doch der Fuchs ließ sich vom Geschrei seines Zalei überhaupt nicht aus der Ruhe bringen.

Noch immer war Kei bestimmt gute zehn Meter von Robin entfernt, als die Motoren hinter ihm aufheulten.

„Oh nein!“ war alles, an das Kei noch denken konnte.

Die Ampel ließ eine Lawine von Kraftfahrzeugen frei. Natürlich konnte keiner der Fahrer den kleinen Fuchs über zweihundert Meter vor sich sehen. Natürlich beschleunigten alle bis zur maximal erlaubten Geschwindigkeit. Und natürlich würde keiner von ihnen den Fuchs rechtzeitig sehen, um bremsen oder ausweichen zu können.

Kei starb tausend Tode. In Gedanken sah er schon das Ende seines Fuchses. Ein paar Tränen der Verzweiflung sammelten sich in seinem Augenwinkel. Diese ließen das Bild von Robin, der sich nun ganz erstaunt von den lauten Geräuschen langsam umdrehte, leicht verschwimmen. Robin war vor Schreck erstarrt. Leicht geduckt, mit zurückgelegten Ohren und gesträubtem Fell war er auf der Straße wie versteinert.

„Robin, du blödes Miestvieh!“ verfluchte Kei seinen Carn in Gedanken ebenso wie sich selbst „Wir sind doch Partner! Wie soll ich denn ohne dich...?!“

Plötzlich war Kei wie paralysiert. Als hätte ihn ein Blitz getroffen. Ganz unvermittelt und ohne Grund fiel er im Lauf vorn über. Sein Knie schlug auf das Straßenpflaster, kurz darauf fingen seine Hände den Sturz ein wenig ab, bevor auch sein Kopf den Boden traf. Völlig regungslos und ohne Bewusstsein blieb Kei liegen wie er gefallen war.

Im selben Moment brausten die Autos auch schon an der Stelle vorbei. Keines von ihnen verringerte seine Geschwindigkeit nennenswert. Der erste Fahrer auf der linken Spur ging wohl kurz vom Gaspedal, hupte laut und lang. Aber bremsten konnte und wollte er nicht für den Fuchs.

Ein Glück, dass der im allerletzten Moment aus seiner Starre erwacht war. Gerade noch rechtzeitig war er auf den schmalen Grünstreifen zwischen den Fahrbahnen gehechtet.

Die ganze Grünphase und damit bis zum Ende der Lawine verharrte Robin ängstlich, aber still auf dem Grünstreifen in der Mitte der Straße. Noch stiller war Kei. Sogar als Robin hinter dem letzten Auto die Straße überquerte, blieb sein Zalei bewusstlos auf dem Gehsteig liegen. Erst als Robin erneut unter ein parkendes Auto geschlüpft und damit vorerst in Sicherheit war, kehrte in Kei das Leben zurück.

Er rang nach Luft, sei es wegen seinem Sprint oder der Aufregung. Kei schnappte nach Luft als sei er dem Erstickungstod nah. Sein Herz raste wie verrückt. Mit geschlossenen Lidern blieb er liegen, schwer atmend und zitternd am ganzen Körper. Erst nach einigen Augenblicken, normalisierte sich langsam sein Puls und er wagte es, sich zu bewegen. Jetzt fühlte er auch erst pochend den Schmerz auf seiner Wange, seinen Handballen und dem Knie. Mit zitternden Armen stützte sich Kei vom Boden ab und setzte sich auf. Der Schreck saß ihm noch immer in allen Gliedern. Einen kurzen Blick warf er zu den parkenden Autos, unter denen Robin sein musste. Offenbar hatte sich der Fuchs ängstlich verkrochen, denn Kei konnte ihn nicht sehen, nicht einmal das Funkeln seiner Augen in der Dunkelheit unter den Wägen.

„Hast du ein Glück, dass ich wenigstens den Körpertausch schon kann.“ Dachte er bei sich.

Dann besah Kei seine Hände. Schürfwunden, die fast so groß waren wie Keis Handflächen, zeugten davon wie diese seinen Sturz abgefangen hatten. Sie brannten wie Feuer, vor allem als Kei mit einem Taschentuch versuchte, seine Hände vom gröbsten Straßendreck und Blutspuren zu befreien. Dann prüfte Kei mit den Fingerspitzen die Wunde auf seiner Wange. Anscheinend ebenfalls eine Schürfwunde, doch weit weniger blutend als die auf seinen Händen. Das Knie musste er sich wohl aufgeschlagen haben. Obwohl die Jeans unversehrt war, zeichnete sich ein deutlicher Blutfleck auf ihr ab. Aber darüber hinaus hatte Kei den Sturz heil überstanden. Er atmete laut aus.

Der Spaziergang war damit beendet. Sobald er Robin eingefangen hatte, würde er nach Hause gehen, sich verarzten und den restlichen Nachmittag auf der Couch verbringen.

Kei stand auf, indem er sich mit der Faust auf dem Knie abstützte. Noch immer hatte Kei nicht die volle Kontrolle über seinen Körper zurückerlangt. Seine Glieder zitterten immer noch ein wenig und seine Knie schienen ganz weich. Bevor er sich mit unsicheren Schritten in Robins Richtung in Bewegung setzte, klopfte er sich den Dreck von der Kleidung.

Zu seiner Überraschung musste Kei nur einen Schritt auf Robin zu machen. Der Fuchs sah nun mit großen Augen zwischen zwei parkenden Autos hindurch zu ihm herüber. Er schien wie Kei noch immer vor Schreck zu zittern.

Einen Moment verharrte Kei. Er starrte Robin an, Robin starrte ihn an. Für einen Augenblick hielten beide Blickkontakt, wagten aber keine Regung.

Dann ging Kei langsam in die Knie, streckte Die Hand aus.

„Komm her, Robin!“

Und Robin kam. Tatsächlich. Mit dem ersten Schritt gab er zögerlich den Schutz der parkenden Autos auf, ließ diese schließlich hinter sich und eilte in großen Sprüngen zu seinem Zalei. Kei empfing ihn mit offenen Armen. Er lobte Robin wortreich und streichelte über sein seidiges Fell. Jetzt fühlte er wie tief der Schreck bei Robin tatsächlich saß. Der kleine Fuchs zitterte auch jetzt noch wie Espenlaub.
 

Nachdem die Leine ihr tragisches Ende gefunden hatte, musste Robin wohl oder übel auf dem Arm zurück nach Hause. Er hasste es sonst, herumgetragen zu werden wie ein Schoßhündchen. Ein stolzer Fuchs wie Robin wollte auf seinen eigenen Pfoten stehen und seinen eigenen Weg gehen. Diesmal ließ er sich den Transport aber anfangs sogar gefallen.

Kei trug ihn auf dem linken Arm liegend, mit der linken Hand hielt er unauffällig das Halsband fest. Mit der rechten Hand streichelte er immer wieder beruhigend über Robins Kopf und Rücken. Langsam ließ so das Zittern nach und der alte Robin erwachte wieder. Und so wollte Robin nach ein paarhundert Metern wieder selbst laufen. Er zappelte herum und wollte sich aus Keis Griff befreien.

Kei blieb stehen. „Das geht nicht. Die Leine ist hinüber. Und ein solches Abenteuer reicht mir.“

Doch Robin gab nicht auf. Er wandte sich hin und her und versuchte, sein Halsband von Keis Hand zu befreien.

„Hör auf damit! Du kannst jetzt nicht frei laufen.“

Nun verstärkte Robin seine Anstrengungen. Dabei strampelte er mit den Hinterbeinen und traf unglücklich Keis Handfläche, auf der sich sofort die Wunden mit neuem Schmerz meldeten.

„Autsch!“ kniff Kei die Augen zusammen. Er blieb stehen. „Na schön. Dann mach doch was du willst!“

Er setzte den Fuchs langsam neben sich auf den Boden. Abwartend sah Kei ihn an. Er wartete förmlich darauf, dass Robin davon sprang. Doch er wartete umsonst. Robin blieb einfach neben ihm stehen. Der Fuchs sah nach links, und nach rechts, schnupperte ein bisschen am Boden, aber lief nicht weg. Als Kei seinen Weg immer noch nicht fortgesetzt hatte, geschah nun das Wunder. Robin drehte sich zu seinem Zalei um, er warf Kei einen prüfenden Blick zu. Und als er feststellte, dass sein Zalei immer noch stehen blieb, setzte sich Robin einfach hin.

„Was? Was geht denn jetzt ab?“ Kei war fassungslos. Sein Robin, dieses wilde Raubtier, mit dem er in den letzten Wochen und Monaten nur Ärger gehabt hatte, saß gerade bei Fuß neben ihm. Ganz ohne Leine und Kommando.

„Ist das eine neue Taktik? Oder willst du dich jetzt ernsthaft mit mir vertragen?“ fragte Kei skeptisch.

Was es auch war, Robin spielte seine Rolle als Schoßhund sehr gut. Sowie Kei einen Schritt nach vorne machte, erhob sich auch der Fuchs und folgte ihm. Den ganzen Weg zurück wich Robin nicht von Keis Seite. Kein Schmetterling, kein Fahrrad und keine Passanten konnten ihn ablenken.

Seite an Seite passierten Kei und Robin schließlich auch das Tor vor der Einfahrt ihres Hauses. Und so blieb Kei nur noch eines zu sagen, als er die Klingel drückte.

„Danke, Robin! Du bist sehr brav.“
 

„Willkommen zurück… Oh Gott!“ öffnete Yuki die Tür.

„Kei reicht auch. So förmlich brauchst du gar nicht sein.“ Grinste Kei verlegen.

„Wieso bist du verletzt. Was ist passiert?“

Yuki trat zur Seite und gab den Weg in den Hausgang frei. Robin folgte auch jetzt seinem Herrn artig über die Türschwelle. Danach trennte er sich aber von ihm. Der Fuchs lief direkt weiter durch das Esszimmer in die Küche, wo er seine Zunge sofort in eine Wasserschüssel hängte.

Nachdem Kei seine Schuhe ausgezogen hatte und bevor er ins Esszimmer weiterging, blieb er kurz vor dem Garderobenspiegel stehen.

„Ups.“ Dachte er bei sich. Den Kratzer auf seiner Wange hatte er unterschätzt. Er blutete zwar so gut wie gar nicht, war aber dennoch eine ordentliche Schramme. Eine leichte Schürfwunde zwar nur, aber dafür eine lange, die echt wüst aussah.

Als Kei laut ausatmend auf einen der Stühle im Esszimmer sank, hatte Yuki schon den Verbandskasten geholt und erwartete ihn.

„Danke, ich mach das schon…“

„Ach ja? Wie willst du bitte jeweils mit einer Hand deine andere Hand verbinden?“ grinste Yuki, als er Kei das Fläschchen mit Jod aus der Hand nahm.

„Aber zumindest das da kann ich selber.“ Kei deutete auf seine Wange.

„Macht nichts.“ Lächelte Yuki und bereitete das Verbandszeug vor.

Dann griff er nach Keis Kinn und manövrierte dessen Gesicht so hin, dass er die verletzte Wange behandeln konnte. Natürlich war Kei die ganze Behandlung höchst unangenehm. Auch abseits der Wunde hatte sich ein zarter Rotschleier auf seine Wangen gelegt. Sein Blick streifte im ganzen Zimmer umher, so weit es ihm möglich war, ohne den Kopf zu drehen. Nur hin und wieder sah er prüfend zu Yuki, wandte den Blick jedoch sofort wieder ab. Kei war inzwischen zur Ansicht gekommen, dass Yukis Augen irgendwie magisch sein mussten. Wenn er nicht aufpasste, konnte er sich völlig in ihnen verlieren. Und vor allem so ein konzentrierter Blick wie Yuki ihn jetzt im Moment auf seine Wange gerichtet hatte, die er mit einem Wattebausch abtupfte, war extrem gefährlich.

„Ich kann das wirklich alleine…“ flüsterte Kei resignierend.

„Weiß ich. Aber das lass ich mir doch nicht nehmen.“ Zwinkerte Yuki, wurde dann aber ernst. „Und jetzt erzähl mir mal was passiert ist.“

„Robin hat seine Leine durchgebissen und ist abgehauen. Ich bin ihm nach, gestolpert und hingefallen. Nichts Schlimmes. “ Zuckte Kei mit den Schultern. Dass seine Spaziergänge allein der Vergangenheit angehören würden, wenn Yuki das wirkliche Geschehen kannte, war Kei klar. Deshalb verschwieg er sowohl Robins Ausflug auf die Straße, als auch seinen Körpertausch.

„Aha. Und du konntest dich nicht abfangen, sondern bist aufs Gesicht gefallen…“

„Ich konnte mich doch abfangen. Was meinst du warum meine Hände so aussehen?“

„So so. Ist Robin auch was passiert?“

„Nö, der ist ja nur weggelaufen, nicht gefallen. Gib´s auf. Heute verstrick ich mich nicht in Widersprüche.“ Lachte Kei.

„Na schön.“ Lächelte Yuki zurück. „Aber wenn wirklich mal was passiert, sag mir bitte bescheid. Ich will dich nicht ausspionieren, sondern dir helfen.“

Nachdem er etwas Salbe auf Keis Schürfwunde verteilt hatte, legte Yuki ein Pflaster darüber und strich es mit sanfter Bewegung fest. Das war wohl mitunter die unangenehmste Phase der Behandlung. Denn Kei wusste ganz genau, dass Yuki ihm nicht zufällig mit den Fingern über die Wange strich, weit über die verletzte Stelle hinaus.

Keis Hände waren auch bald verarztet. Das Knie versorgte aber dann selbst. Da seine Hände zu diesem Zeitpunkt schon in Salbe und Verband gehüllt waren, gestaltete sich das etwas schwieriger als ursprünglich geplant. Aber noch mehr Berührungen von Yuki konnte Kei nicht mehr mit seinem Gewissen vereinbaren.

Schließlich räumte Kei den Verbandskasten wieder auf, ging ins Wohnzimmer und ließ sich in die Couch fallen. Yuki sah seinem Schüler noch eine Weile nach. So wurde er Zeuge des zweiten Wunders an diesem Tag. Kaum, dass Kei sich gesetzt und nach der Fernbedienung gegriffen hatte, betrat auch Robin das Wohnzimmer. Der Fuchs streifte einmal um den Wohnzimmertisch, setzte sich dann kurz vor die Couch, auf der Kei saß und blickte seinen Zalei an.

„Na? Brauchst du auch ne Pause?“ lächelte Kei.

Robin stand auf, duckte sich kurz und sprang dann auf die Couch. Kei traute seinen Augen nicht. Um Robins ungewöhnlich gute Stimmung nicht zu gefährden, sparte er sich aber jeden Kommentar. Doch das Wunder ging noch weiter. Erst legte Robin ganz vorsichtig und zögernd eine Pfote auf Keis Bein. Prüfend sah er zu Kei auf. Als Kei ihn daraufhin anlächelte und ihm sanft über den Kopf streichelte, kam Robin schließlich ganz auf seinen Schoß. Er drehte sich einmal im Kreis, rollte sich zusammen und legte sich auf Keis Schoß. Kei streichelte sein neues Schoßtier und kraulte es.

„Wer ist das und wo hast du Robin gelassen?“ lächelte Yuki. Kei konnte ihm ansehen, wie er sich freute, dass sein Schüler sich endlich mit seinem Carn vertrug.

„Hmh… Robin ist wohl überfahren worden.“ Flüsterte Kei kaum hörbar.
 

Den restlichen Nachmittag verbrachte Kei vor dem Fernseher und Robin auf seinem Schoß. Kei zappte zwischen uninteressanten Dokus, Boulevard-Magazinen und Serien hin und her, während er Robin streichelte, der auf seinem Schoß ein Nickerchen hielt.

Am frühen Abend dann wurde Robin von der Türklingel geweckt. Er hob den Kopf, gähnte herzhaft und streckte seine Vorderpfoten. Aufstehen wollte er aber noch nicht. Kei dagegen war schon drauf und dran, Robin von seinem Schoß zu heben und zur Tür zu gehen. Doch dann hörte er, dass Ryu von oben gekommen war und die Aufgabe schon übernommen hatte. Trotzdem nahm Kei das Klingeln als Anlass, den Fernseher auszuschalten. Erholt hatte er sich, die Zeit konnte er sinnvoller nutzen und außerdem lief ohnehin und Unsinn.

Aus dem Gang hörte Kei inzwischen zwei bekannte Stimmen. Die eine gehörte Ryu, der die Tür geöffnet hatte. Die andere Stimme hatte er schon längere Zeit nicht mehr gehört und konnte sie zuerst nicht recht zuordnen. Die Frage nach ihrem Besitzer löste sich jedoch selbst, als Ryu und der Gast ins Wohnzimmer kamen. Ryu folgte ein junger Mann mit zerzaustem Haar, schwarzem Band-Shirt, einer abgetragenen Jeans und Lederarmband, den Kei nun als niemand anderen erkannte als Lan. Er lächelte. Und es schien ihm gut zu gehen, wenn er auch etwas blass aussah und… hatte er etwa abgenommen? Nein, so gut konnte es ihm doch nicht gehen.

„Oh. Sorry, Kei. Ich wusste nicht, dass du hier bist. Wir wollten nicht stören.“ Fing Ryu an.

„Nein, nein. Ihr stört nicht. Ich wollte sowieso gerade nach oben gehen.“ Winkte Kei ab. „Schön dich mal wieder zu sehen, Lan!“

„Hi. Ja, ich hab euch auch schon vermisst. Ryu hat mir erzählt, dass du dir Sorgen gemacht hast. Das brauchst du nicht. Mir geht´s gut.“ Nickte Lan und gab sich Mühe, überzeugend herzlich zu lächeln. Gar nicht schlecht gelang es ihm. Hätte Kei nicht schon zuvor den Eindruck gewonnen, dass es ihm eben nicht gut ging, hätte er es ihm sicher abgenommen.

Ryu verschwand noch einmal kurz zur Terrassentür hinaus, um seinem Vater bescheid zu sagen, dass Lan da war. Die drei wollten anscheinend wegen Herrn Natsukoris Besuch beim Rat sprechen. Worum es genau ging, erfuhr Kei wieder einmal nicht. Bis Herr Natsukori kommen würde, nutzte er die Chance aber, ein bisschen mit Lan und Ryu zu sprechen.

Zuerst redeten die drei eigentlich nur über belanglose Themen, das Wetter, die geplante Steuerreform, Anekdoten aus ihrem Leben als Zalei, geplante neue Rollen für den Park... Es schien alles ganz so wie immer. Aber irgendwie wurde Kei das Gefühl nicht los, dass Ryu und Lan ganz bewusst darauf achteten, dass kein tiefgründiges Gespräch zu Stande kam. Doch da wollte Kei nicht mitspielen.

„Schön, dass es dir wieder besser geht, Lan. Aber ganz wiederhergestellt kannst du ja noch nicht sein, wenn du noch nicht wieder das Ritterturnier reiten kannst, oder?“ stellte Kei seine Gegenüber auf die Probe.

Die Antwort waren zunächst nur ganz verblüffte Gesichter und ein langes Schweigen. Dann aber senkte Lan den Blick auf den Tisch, schloss die Augen und lächelte.

„Du bist gut, Kei. Das war echt gut kombiniert.“ Räumte Lan ein. „Du hast recht, ganz fit bin ich noch nicht wieder.“

„Lan…“ Ryu warf ihm einen langen Blick zu, der zu sagen schien ‚verrate ihm bloß nicht zu viel‘.

„Schon gut, er kann es ruhig wissen… Ich bin vor ein paar Wochen ziemlich übel stürzt, als Onyx und ich einen neuen Stunt für die Show versucht haben. Aber das wird wieder.“

„War Ryami Hisui etwa auch an dem Stunt beteiligt?“ setzte Kei sein Spiel fort.

Diesmal bereute er seinen Vorstoß allerdings, kaum dass er seine Frage beendet hatte. Keine überraschten Blicke, die er erntete, sondern tiefes Erschüttern. Die Reaktion der anderen auf seine Frage war fast der Reaktion auf einen Überfall würdig. Kei kam sich vor als wäre er mit gezückter Waffe in die Schalterhalle einer Bank gestürmt und hätte einen der Angestellten erschossen. Die Blicke der Umstehenden in der Bank hätten nicht viel schockierter sein können.

Ein dicker Kloß steckte in Lans Hals. Erst einige Augenblicke später konnte er ihn herunterschlucken, blinzelte schnell das Entsetzen aus seinen Augen und war doch nicht gefasst genug, ruhig zu antworten. Ryu hielt den Blick gesenkt und mied den Augenkontakt mit Kei ebenso wie jede noch so kleine verräterische Geste, als Lan zu sprechen begann.

„Auch das war ein guter Schluss.“ Lan atmete laut aus. „Sei vorsichtig, wem gegenüber du solche Schlüsse äußerst, Kei. Zu viel Wissen kann Probleme machen… und zu viele Fragen auch.“

Kei wusste nicht recht, ob er diese Antwort für ein ‚Ja‘ oder ein ‚Nein‘ nehmen sollte. Ebenso konnte er nicht abschätzen, ob seine Sorge um Ryami nun begründet war oder nicht.

Irgendwie ahnte er aber, dass Lan mit seinem Rat aus eigener Erfahrung sprach. Eine schmerzliche Erfahrung wohl, seinem Ausdruck nach zu urteilen. Bis Herr Natsukori eintraf wurde das Gespräch deshalb wieder mit oberflächlichen Themen geführt, hauptsächlich über das Wetter.

Schließlich erweiterte Herr Natuskori die Runde und Kei verabschiedete sich, um nach oben zu gehen, wobei Robin es ihm auch diesmal gleichtat. Da folgte Lan ihm ins Esszimmer und nahm ihn dort kurz zur Seite.

„Du bist echt ein schlaues Kerlchen, Kei. Pass auf, dass das keiner rauskriegt.“

„Was ist denn wirklich passiert? Das mit dem Reitunfall nehm ich dir nicht ab.“

Lan atmete laut aus und sah sich unauffällig nach Ryu und dessen Vater um, die gerade mit einem kleinen Streit beschäftig zu sein schienen. Als er sich unbeobachtet fühlte, lehnte er sich ein Stück weit zu Kei herunter. Nur ein paar Zentimeter, bis ein stechender Schmerz ihn zum Verharren zwang.

„Ich erwarte nicht, dass du mir glaubst. Aber unsere Verletzungen, oder auch die Aufträge vom Rat, sollen nicht deine Sorge sein.“

„Woher…?“

„Ryu hat mir gepetzt, dass du dir deine Gedanken machst… Im Moment solltest du dich nur auf deine Ausbildung konzentrieren. Alles andere erfährst du früh genug. Werde ein guter Zalei.“

„Wie soll ich mir denn keine Gedanken machen, wenn spätestens alle zwei Wochen einer meiner Freunde mit irgendwelchen Blessuren nach Hause kommt? Findest du das nicht etwas viel verlangt? Selbstverständlich mache ich mir Sorgen. Und selbstverständlich stelle ich Fragen!“

Lan schwieg einen Moment. Er senkte den Blick auf den Boden, so dass ihm einige seiner struwweligen Strähnen ins Gesicht fielen. Einige Augenblicke vergingen, ohne dass ein Wort gesprochen wurde. Dann richtete Lan seinen Blick aus einem Blinzeln heraus wieder auf Kei. Ein angedeutetes Lächeln umspielte seine Lippen.

„Es ist nicht so, dass ich dich nicht verstehen würde. Aber pass bitte auf, wem du deine Fragen stellst… und erwarte keine Antwort.“

Lan klopfte Kei freundschaftlich auf die Schulter und wandte sich um.

„An wen soll ich mich denn halten?“

„Natürlich an deinen Lehrer. Dein Lehrer steht auf jeden Fall hinter dir.“ Grinste Lan frech, als er wieder im Wohnzimmer verschwand und Kei mit einem großen unsichtbaren Fragezeichen über dem Kopf zurückließ.
 

„Was ist denn mit dem passiert?“ fragte Lan besorgt, als er ins Wohnzimmer zurückkehrte.

„Du meinst seine Blessuren? Yuki sagt, er sei ‚hingefallen‘. Ich gehe davon aus, dass das so ungefähr deine Art von ‚hinfallen‘ sein könnte.“ Erklärte Ryu mit strengem Blick.

„Nicht doch. Ich meinte Robin. Seit wann ist der so brav?“

„Das macht dir mehr Sorgen als Keis Verletzungen?“ lachte Ryu.

„Pfft! Keis Verletzungen sind nur Kratzer, das sieht man. Aber wenn bekannt wird, dass Keis letzte Schwachstelle ausgeräumt ist, sind meine Sorgen berechtigt.“ Seufzte Lan.

„Schon ok.“ Mischte sich nun auch Herr Natsukori ein. „Yuki manipuliert die Berichte. Der Rat dürfte kaum wissen wie gut Kei wirklich ist.“

Nach einem kurzen Blick ins Esszimmer, bei dem sich Herr Natsukori versicherte, dass Kei nach oben gegangen war, setzte er sich auf die Couch unter dem Fenster. Ryu und Lan nahmen kurz darauf auf den beiden anderen Couchen Platz. Zunächst berichtete Herr Natsukori von seiner Vorsprache beim Rat. Er erzählte von Adoys Argumenten und dass es zum endgültigen Bruch zwischen dem Rat und ihm selbst gekommen war. Die beiden jungen Männer waren nicht überrascht. Vielmehr waren sie schon vor dem Treffen davon ausgegangen, dass es den Bruch geben würde. Auch Adoys Gründe kannte Lan schon aus zahlreichen früheren Diskussionen. Interessanter war daher für alle die Frage nach ihrem weiteren Vorgehen.

„Der alte Adoy wird sich von seiner Position keinen Millimeter entfernen. Der Rat hat seine sicheren Einnahmequellen aus den Parks, Zirkussen und Aufträgen. Das scheint ihm mittlerweile wichtiger zu sein als die Pflege irgendeiner schamanischen Tradition oder das Leben mit der Natur.“ Fasste Herr Natsukori zusammen.

„Dass eine gewisse Aufsicht nötig ist, leuchtet wohl jedem von uns ein. In der Zeit vor dem Rat gab es viel Missbrauch von und durch Zalei, der sich nicht wiederholen darf. Aber dem Rat geht es mehr um seine Selbsterhaltung und Profitstreben als das Wohl der Zalei, die er repräsentiert. Adoy sieht das allerdings nicht so.“ Pflichtete Lan bei.

„Das heißt, wir werden den Rat nicht zur Vernunft bringen können.“ Schlussfolgerte Ryu schließlich.

„So ist es leider. Deshalb bleibt uns nur eine Möglichkeit, wir werden den Rat absetzen.“

In fast grotesker Ruhe sprach Herr Natsukori diese Worte aus, als wäre ihm die Größe seines Vorhabens nicht genau bewusst. Immerhin war er gerade dabei, zwei junge Männer zu einer Revolution aufzurufen. Wohl wissend, zu welchen Mitteln der Rat fähig war. Doch die jungen Männer stimmten sofort zu, vor allem Lan, der die Macht des Rates bereits mehrfach am eigenen Leib hatte spüren müssen.

„Ich bin der Meinung, dass die Zalei einen Rat in dieser Form nicht brauchen. Er ist zu mächtig geworden und steht nicht hinter ihnen. So lange es gegen den Rat geht, bin ich dabei.“ Sprach die Verbitterung aus Lans Mund.

Doch Ryu äußerte Bedenken: „Allerdings dürfte es schwierig werden für uns alleine, den Rat abzusägen. Dafür dürftet nicht einmal ihr genug Einfluss haben, Herr Zaleirat und Herr Zalei des höchsten Rangs.“

„Das ist wahr. Unser erster Schritt sollte sein, mehr Zalei für unsere Sache zu gewinnen. Und der erste Schritt hierfür sollte sein, ein bisschen Informationspolitik zu betreiben. Jeder Zalei sollte erfahren, was der Rat hinter seinem Rücken so alles treibt.“ Schlug Herr Natsukori vor.

„Ich denke, es gibt so einige schmutzige Geheimnisse des Rates, die ich mit Freuden aufdecken würde. Adoy hat mehr als nur eine Leiche im Keller.“

Lan verschränkte die Arme vor der Brust. Selbst seit mehreren Jahren Mitglied des Zaleirates hatte er natürlich nicht nur Kenntnis von vielen internen Details, sondern auch Zugang zu alten Unterlagen, geheimen Akten und Plänen. Nachdem es ihm außerdem an jedem Respekt vor verschlossenen Türen, Schränken oder Siegeln fehlte, verschaffte er sich auch darüber hinaus gerne jederzeit Zugang zu den restlichen Unterlagen, die auch den Ratsmitgliedern unbekannt bleiben sollten. Er hatte schon jetzt genug Stoff für zehn Ausgaben einer neuen Untergrundzeitung für Zalei. Ab nächster Woche würde er auch wieder an den Ratssitzungen teilnehmen, damit ihm der Stoff nicht ausgeht.

„Ich habe gehofft, dass Monsieur uns helfen könnte, solche Informationen an die Zalei zu verbreiten. Wenn er in der Praxis unsere Werke unterm Tisch verteilen könnte, wäre das eine große Hilfe. Aber das wird der sture Bock nicht machen.“ Seufzte Lan.

„Garantiert nicht. Ich hab mehrmals versucht, mit ihm zu reden. Aber sobald dein Name fällt, bricht er jedes Gespräch ab. Außerdem bin ich mit gar nicht so sicher, wie ich Pierre einschätzen soll.“

„Warum?“

„Na ja, er verrät uns nicht. Aber er zeigt auch kein sonderliches Interesse, wenn ich beiläufig irgendeine Bemerkung gegen den Rat fallen lasse. Außerdem hat Meister Adoy ihn kurz nach deinem Besuch angerufen und ihn in den Rat bestellt. Was er von ihm wollte, hab ich allerdings nicht gehört.“

„Schade, aber das kann man wohl nicht ändern.“ Überlegte Herr Natsukori. „Auf jeden Fall solltest du mal ein paar nette Geschichten zusammenschreiben. Die nächsten Tage werde ich ein paar alte Freunde besuchen und sehen, ob ich ein paar Mitstreiter gewinnen kann. Wir bleiben in Kontakt und überlegen dann unsere nächsten Schritte.“

Lan versprach, sich noch heute an den PC zu setzen und seine ersten Enthüllungsgeschichten zu schreiben. Allerdings nahm er Ryu das Versprechen ab, für ihn den Lektor zu spielen. Nachdem Lan die Schule so wenig wie möglich besucht und so schnell wie möglich abgebrochen hatte, war es um seine schriftstellerischen Fähigkeiten nicht allzu gut bestellt.

Die gedruckten Informationsblätter würden sie dann an Zalei im Freizeitpark, dem Zirkus und anderen Einrichtungen der Zalei verteilen. Außerdem sagte Ryu zu, sich über einen möglichen Internetauftritt ihres revolutionären Trios zu informieren. Damit endete das erste verschwörerische Treffen auch schon.
 

Nur kurz nach seinem Gespräch mit Herrn Natsukori hatte Meister Adoy Pierre zu sich gerufen. Zwei Tage später empfing er an diesem Abend erneut den Tierarzt in einem der Besprechungsräume im Ratsgebäude.

Pierre hat seine Kobra Antoinette auf den Schultern bis hierher getragen, ihren langen Körper haltsuchend um seine Arme geschlungen. Selbstverständlich hatten die beiden auf ihrem Weg die Blicke aller Passanten auf sich gezogen. Aber als geborene Diva hatte Pierre diese Aufmerksamkeit nur genossen. Im Besprechungsraum angekommen hob er Antoinette von seinen Schultern und legte sie auf einem der Tische ab, von wo aus sie sich in eleganten Windungen ein Schlafplätzchen suchte.

Meister Adoy hatte schon im Sessel gegenüber der Eingangstür thronend auf Pierre gewartet. Dieser warf nun in einer geschmeidigen Bewegung sein blondes Haar hinter die Schultern und trat auf den Sessel dem Ratsvorsitzenden gegenüber zu.

„Entschuldigen Sie bitte meine Verspätung, Meister.“ setzte er sich lächelnd und schlug die Beine über einander.

„Deine Verspätung ich entschuldige. Nachdem nie du pünktlich bist, ich habe nichts anderes erwartet.“

Pierre lächelte etwas verlegen und hob die Schultern als wäre er sich keiner Schuld bewusst.

„Bei unserem letzten Treffen ich dir erzählte, dass Taro, Lan und Ryu verbünden sich werden gegen den Rat, um zu zerstören unsere Führung der Zalei. Dass in Chaos stürzen sie unser System, dürfen wir nicht zulassen. Die Folgen wären Angst und Missbrauch wie früher ich bereits sie gesehen.“

„Das verste’e isch. Isch ste’e treu ‘inter eusch und dem Rat, Meister. Ihr könnt misch um jeden Dienst bitten. Wie ihr wisst, befindet sisch Ryu fast jeden Tag in meiner Praxis und isch be’alte ihn im Auge.“

Pierre betonte auch diesen Teil besonders. Er mochte Ryu, sehr sogar. Aber noch wichtiger als Ryu war ihm, die Ordnung im System der Zalei aufrecht zu erhalten. Pierre wusste von den Zeiten als Zalei nicht von einem zentralen Rat überwacht worden sind. Zum Zalei wurde wahllos ausgebildet, wer von einem Zalei ausgesucht worden war. Charakterliche Eignung oder die Eignung des Carn spielten keine Rolle. Die Ausbildung selbst erfolgte ohne Regeln und Ziel. Irrlehren wurden verbreitet und wichtige Informationen verschwiegen. Zalei wurden von „gewöhnlichen“ Menschen ausgenutzt oder missbrauchten umgekehrt die Kraft ihrer Carn, um Einfluss zu nehmen auf „gewöhnliche“ Menschen. Dieses Szenario durfte sich nicht wiederholen.

„Für deine Treue danke ich dir, Pierre. Ryu im Auge du behältst. Aber nur ein gefahrloser Junge er ist im Vergleich zu Taro und Lan. Beobachte ihn, aber lass ihn gewähren, was er auch tut . Er wird aufgeben, sobald alleine er ist.“

„Meister?“ fragte Pierre in Erwartung von Meister Adoys Plan.

„Lan ich habe als Schüler großgezogen und im Rat aufgenommen, damit unter Kontrolle ich ihn halten kann. Jedoch er sich auch unter meinen Augen sich über mich hinwegsetzt. Die Zeit sich seiner zu entledigen ist wohl bald gekommen. Sehr schade. Große Macht hat er, aber zu gefährlich, wenn er nicht kontrolliert werden kann.“

„Ihr wollt Lan umbr-?“

„Nein, das noch nicht. Ihr habt früher großen Streit gehabt, ich weiß. Du würdest ihn beseitigen, sobald ich dich darum bitte. Zeit aber noch nicht reif dafür. Er wurde immer mit großer Stimmenzahl in den Rat gewählt und hat viele Fürsprecher. Zu gefährlich, ihn jetzt zu töten. Sonst wir bringen seine Fürsprecher nur gegen uns auf und erleichtern Taro seine Arbeit. Zuerst Lans Ruf wir zerstören, dann sein Leben. “

„Das klingt als ’ättet ihr einen Plan…“

„Selbstverständlich. Lan überlass mir. Taro wird morgen aufbrechen zu einigen alten Freunden. Ein Zugticket er hat für 10:30 Uhr. Bitte sorg dafür, dass seinen Zug er verpasst.“

„Also soll isch Taro…?“

Meister Adoy nickte mit eiskaltem Blick.

„Wie ihr wünscht, Meister.“ Pierre senkte den Blick in einer angedeuteten Verbeugung.

„Ein Zalei den höchsten Rangs ist Taro, wie ich selbst. Aber sicher ich bin, dass trotzdem du es mit ihm aufnehmen kannst.“

„Euer Wunsch ist mir Befehl. Überlasst Taro nur mir. Verratet mir nur eines, Meister. Wo’er in aller Welt wisst ihr davon? Was Taro, Lan und Ryu vor ‘aben oder welschen Zug Taro nehmen wird?“

Doch die Antwort blieb Meister Adoy schuldig. Ein kaltes Grinsen bedeutete Pierre, dass der Meister dieses Geheimnis noch nicht lüften würde.
 

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Hallo! ^_^
 

Danke fürs Lesen! *freu*

Na, was meint ihr? Woher hat Meister Adoy die ganzen Insider-Infos? Noch nehme ich Wetten an, wer der Verräter ist. XD

Ich hoffe, dass ich das nächste Kapitel wieder schneller fertig habe. ^^°
 

Bis bald,

Pete

Täuschung und Enthüllung

Kapitel 15 – Täuschung und Enthüllung
 

Herr Natsukori war ein ebenso spontaner wie ungeduldiger Mensch. Er hasste es, seine übernächsten oder überübernächsten Schritte zu überlegen. Eigentlich war es sogar fast zu viel verlangt, überhaupt nur über den nächsten Schritt nachzudenken.

So hatte er auch noch keinen Plan ersonnen, wie er seinen Leoparden Lancelot in den Zug schmuggeln würde, als er schon das Bahnhofsgebäude betreten hatte. Letztendlich würde es wohl auf seine übliche Methode hinauslaufen: einfach ausprobieren und abwarten was passiert. Für weitere Überlegungen in dieser Richtung war es ohnehin schon fast zu spät. In weniger als fünf Minuten würde der Zug abfahren. Eine freundliche Durchsage ermahnte die Fahrgäste eben dieses Zugs zur Eile, woraufhin auch Herr Natsukori seinen Schritt ein wenig beschleunigte.

Er würde einen alten Freund im Süden des Landes besuchen. Ein Zalei, den er noch aus seinen Jugendtagen kannte und der schon vor einigen Jahren wegen einem Streit mit dem Rat verbannt worden war. Seitdem lebte er abgeschieden mit seiner Familie und seinem Carn in einer kleinen Waldhütte. Ob sich dieser Freund ihm anschließen würde, konnte Herr Natsukori nicht sagen. Auf einen Versuch wollte er es aber wenigstens ankommen lassen.
 

Diesen Gedanken hatte Herr Natsukori noch nicht zu Ende gedacht, als er am Ende des Gangs mit den Schließfächern um die Ecke bog und somit die große Bahnhofshalle betrat. Kurz wanderte sein Blick über die Bahnsteige und Anzeigetafeln, dann entdeckte er auch schon seinen Zug. Der Schaffner am Ende des Gleises sah kontrollierend auf die Uhr.

Gerade wollte Herr Natsukori sich Lancelots Leine sicherheitshalber einmal mehr ums Handgelenk wickeln, und seine Gehgeschwindigkeit noch etwas erhöhen, um den Zug nicht zu verpassen. Doch genau in diesem Moment trat ein Mann mit langem, blondem Haar aus dem Schatten eines Tabakstands und schnitt Herrn Natsukori den Weg ab.

„Pardon. Isch fürschte, isch kann disch den Zug nischt nehmen lassen.“ Lächelte Pierre.

„Sehr schade. Nun, ich hoffe, du wirst mir wenigstens das Ticket bezahlen. Oder soll ich die Rechnung gleich direkt an Adoy schicken? Es war ganz schön teuer.“ gab Herr Natsukori kühl zurück.

„Du scheinst gar nicht überrascht, misch zu se‘en…“

Herr Natsukori blieb die Antwort schuldig. Ein angedeutetes Grinsen musste Pierre stattdessen genügen. Einen Moment musterten die beiden Männer einander schweigend, während sie die Blicke aller Passanten und Wartenden auf sich zogen. Nicht ganz unschuldig waren hieran sicher der stattliche Leopard an ihrer Seite sowie die schwarze Kobra über Pierres Schultern. Herrn Natsukoris Zug fuhr inzwischen ab.

„Wollen wir uns vielleicht ein Plätzchen suchen, wo wir uns ungestört ‚unterhalten‘ können?“ schlug Herr Natsukori schließlich vor.

Pierre trat zur Seite und deutete mit der Rechten die Richtung zum Ausgang an. „Après vous.“
 

Einige Wochen waren vergangen seit Robins Ausflug auf die Landstraße. Keis Kratzer waren lange verheilt und auch Robin hatte seinen Schock überwunden. Was jedoch fortbestand, war das Band, das Kei und sein Carn an diesem Nachmittag geknüpft hatten. Anscheinend hatte dieses lebensgefährliche Abenteuer endlich echte Partner aus den beiden Streithähnen gemacht. Robin hatte wohl endlich verstanden, dass Kei es nicht böse mit ihm meinte, wenn er ihn domestizieren wollte. Und Kei hingegen respektierte nun mehr Robins Willen und gestand ihm mehr Freiheiten zu, nachdem er wusste, dass sein Carn zu ihm zurückkommen würde. Kurz: sie waren endlich auf dem richtigen Weg, Zalei und Carn zu werden.

Das erforderte natürlich nicht nur die längst überfällige Aussöhnung, sondern auch regelmäßiges Training. Unter den wachsamen Augen seines Lehrers übte Kei jeden Tag. Seit fast einer halben Stunde saß Kei im Gras, die Lider geschlossen und ohne Bewegung. Robin tobte inzwischen kreuz und quer durch den Garten, vermutlich hinter einigen Schmetterlingen her. Yuki beobachtete die Szene von der Terrasse aus, über ein Buch hinweg.

Ruhig und gleichmäßig atmete Kei tief ein und aus. Robins Knurren und Toben hörte er ebenso wie das Zwitschern der Vögel und das Summen der Bienen an den Blumenstöcken nur ganz gedämpft, als wären sie meterweit von ihm entfernt. Und sie schienen sich immer weiter zu entfernen, je länger Kei dort saß, in sich ruhend. Schließlich hatte er den Trancezustand erreicht, nach dem er gestrebt hatte. Das Zwitschern und Summen wurde wieder lauter. Nur Robins Knurren nicht. Der Fuchs saß nun ganz still, die Lider geschlossen, genau wie sein Zalei. Ganz langsam öffnete er die Augen. Es hatte funktioniert. Kei hatte den Körpertausch geschafft.

Gut, so weit war das nichts Neues. Er beherrschte den Körpertausch schon seit einiger Zeit – wenn auch nicht perfekt. Er brauchte immer noch viel zu lange, um sich in Trance zu versetzen. Was er aber an diesem Nachmittag vor allem trainieren wollte, war Robins Rolle.

Kei wollte seinem Carn endlich beibringen, während dem Körpertausch ruhig zu bleiben. Bisher war Robin jedes Mal erschrocken, verängstigt oder wütend gewesen, wenn er in Keis Körper gesteckt hatte. Egal wie Kei ihn vorab auf den Körpertausch vorbereiten wollte. Robin fing jedes Mal an zu toben. Erst in den letzten Tagen war er ruhiger geworden. Gestern hatte er sich sogar fast nicht vom Fleck bewegt. Er war im Gras sitzen geblieben und hatte neugierig um sich geschaut bis Kei den Körpertausch rückgängig gemacht hatte. Noch einige Wochen Übung, dann würde er Robin vielleicht auch beibringen können, sich ganz ruhig hinzulegen und sich schlafend zu stellen. Na ja, Kei gestand sich selbst ein, dass das eine sehr optimistische Hoffnung war.

Langsam tastete er sich in Fuchsform an seinen eigenen menschlichen Körper heran. Robin sah ihn aus dessen Augen an. Kei war sich sicher, dass Robin inzwischen verstanden hatte, was beim Körpertausch passierte. Robin musterte ihn, ohne Regung. Nur seine Augen bewegten sich neugierig. Kei setzte sich ihm gegenüber hin. Einige Minuten saßen beide regungslos da, starrten einander an. Als Kei das Gefühl hatte, Robin lange genug geärgert zu haben, löste er den Körpertausch.

Kurz darauf tätschelte er seinen Fuchs auf den Kopf und lobte ihn wortreich und mit einem Leckerbissen, den er aus seiner Hosentasche hervorzauberte.

Kaum hatte er seine Belohnung verschlungen, jagte Robin auch schon hinter den nächsten Mücken her. Kei sah ihm einen Moment lächelnd nach. Dann fiel ihm Yuki wieder ein, der ihnen die ganze Zeit zugesehen haben musste. Laut ausatmend stützte sich Kei vom Gras ab und ging zur Terrasse hinüber. Yukis Blick folgte ihm, nur Yukis Blick. Ansonsten schien sein Lehrer sich weder aus seiner Lesehaltung, noch von seinem Buch lösen zu wollen.

„Hast du das gesehen?“ fragte Kei stolz auf sich selbst.

„Nicht schlecht.“ Lobte Yuki ihn so halbherzig wie möglich. Ein deutlich gelangweilter Unterton schwang in seinen Worten mit.

„Was denn? Das war doch toll! Ich kann den Körpertausch ganz allein. Und Robin hat mitgespielt!“

„Nicht schlecht.“ Wiederholte Yuki in derselben Tonlage.

„Du findest also nicht, dass ich Fortschritte mache?“ langsam war Kei etwas beleidigt.

„Doch, doch. Du erreichst den Trancezustand allein, kannst Körper hin und her tauschen und Robin benimmt sich besser. Aber werde nicht übermütig. Das allein macht noch keinen Zalei aus dir.“

Yuki klappte sein Buch zu und stand auf. Er drehte sich um und schritt an Kei vorbei, ohne diesen auch nur eines Blickes zu würdigen. Kei verstand die Welt nicht mehr. War Yuki nicht unheimlich stolz auf ihn gewesen, als er den Körpertausch zum ersten Mal geschafft hatte? Damals hatte Yuki ihm sogar noch helfen müssen, sich in Trance zu versetzen. Und zu zweit hatten sie Robin festhalten müssen. Jetzt, immerhin nur fünf Monate später, brauchte Kei keine Hilfe mehr, aber trotzdem bekam er kein Wort der Anerkennung von seinem Lehrer. Dabei hatte er sich erhofft, dass Yuki ihm auf die Schulter klopfen und sagen würde ‚Gut gemacht‘ oder ‚das war toll‘, wenn er zu ihm auf die Terrasse kommen würde. Weit gefehlt. Kei war ebenso enttäuscht wie wütend.

„Kommst du? Wir müssen los.“ Yuki hatte sich auf der Schwelle der Terrassentür zu seinem Schüler umgedreht.

„Los? Wohin denn?“

„Du hast es also vergessen… Heute wird Ryamis Nachfolger im Zaleirat gewählt. Beeil dich, sonst können wir nicht mehr abstimmen… Und fang Robin ein.“

Dann verschwand Yuki auch schon im Haus.

Kei hatte es tatsächlich vergessen, zumindest für den Moment. Denn eigentlich wurde er oft genug an die heutige Wahl erinnert, um sie nicht vergessen zu können. Natürlich hingen nicht die Wahlplakate in der ganzen Stadt aus wie vor politischen Wahltagen. Aber die Einrichtungen der Zalei, das Ratsgebäude, der Fairy Tales Park, sogar Pierres Praxis, waren mit Plakaten der Kandidaten geschmückt. Gelegentlich landete sogar ein Faltblatt im Briefkasten. Seit Wochen betrieben die Kandidaten ihren Wahlkampf.

Eigentlich unnötig für Kei. Er war noch kein halbes Jahr lang Zalei und hatte noch immer viel zu wenig Einblick in die Strukturen des Rats, um sich ernsthaft an der Wahl beteiligen zu können. Er kannte sogar nur einen einzigen der Kandidaten. Aber an der Wahl durften und sollten sich alle beteiligen vom Schüler bis zum Ratsvorsitzenden selbst. Also würden Yuki, Kiku und Kei nun ihrer Zalei-Bürgerpflicht nachkommen und einen kleinen Wahlausflug machen. Ryu befand sich schon im Ratsgebäude, wo er auch abstimmen würde. Da Yuki das Ratsgebäude so weit wie möglich mied, würden er und die beiden Schüler ihre Stimme in Pierres Praxis abgeben. Ihre Carn begleiteten sie natürlich auf dem Ausflug.

Warum Ryu im Ratsgebäude war? Nun, Lan hatte ihn heute Morgen dorthin geschleppt. Der hatte sich heute selbst zum Frühstück eingeladen und Ryu danach mitgenommen. Er sagte, er wollte das Wahlergebnis zusammen mit Ryu erfahren. Pierre würde ihn aber achtkantig aus der Praxis werfen, wenn er dort aufkreuzen würde. Also musste er dafür sorgen, dass auch Ryu nicht zu Pierre ging. Kei war sich nicht ganz sicher, ob das nicht die nächste Stufe des kindischen Streits zwischen Lan und Pierre war. Er verkniff sich aber jeden Kommentar.

Dass Lan und Ryu ganz besonders gespannt auf das Wahlergebnis waren, lag daran, dass Ryu als neues Ratsmitglied kandidierte.
 

„Willkommen! We’e, ihr stimmt nischt für Ryu!“

So begrüßte Pierre anscheinend nicht nur Kei, Yuki und Kiku an der Tür seiner Praxis. Das Wartezimmer war komplett in ein Wahlbüro verwandelt worden. An der Anmeldung, wo sonst die Sprechstundenhilfe saß, führte Pierres Schüler Toneriko eine Liste der Wahlberechtigten. Im eigentlichen Warteraum waren drei uneinsehbare Kabinen aufgestellt, in denen die Zalei abstimmten. Es hatte sich eine kleine Warteschlange gebildet, so dass noch ein bisschen Zeit zu plaudern blieb, bevor Kei und die anderen ihre Kreuzchen setzen konnten.

„Du betreibst hier also noch etwas last minute Wahlwerbung für Ryu?“ lachte Yuki.

„Bien sûr!“ Pierre seufte leise „Eigentlisch kann isch nur nischt mehr auf’ören, weil isch die letzten Wochen kaum etwas anderes gemacht ’abe. Und dann ist er noch nischt einmal ’ier.“

„Ich soll ihn entschuldigen. Es tut ihm echt leid, dass er nicht kommen konnte. Die Kandidaten warten wohl alle im Ratsgebäude das Ergebnis ab.“ Log Yuki ohne rot zu werden.

„Ah, du bist nett. Nein, nein. Isch weiß schon, das ist sischer Lans Werk. Pah!“ Pierre verschränkte divenhaft die Arme vor der Brust.

„Warum kandidierst du eigentlich nicht? Du hättest bestimmt keine schlechten Chancen, so als Tierarzt. Ich meine, du kennst dich super mit Tieren aus und dich kennt auch so ziemlich jeder aus der Praxis.“ Versuchte Kei, das Gesprächsthema zu wechseln.

„Quoi?! Ah non alors!“ rief Pierre in einer dramatischen Geste aus. „Nie im Leben werde isch misch freiwillig in einen Sitzungssaal mit Lan setzen. Wir würden uns den ganzen Tag nur streiten und es gäbe keine andere Arbeit mehr im Rat als uns zu trennen.“

„Hört sich aber ziemlich unterhaltsam an.“ Kicherte Kiku.
 

Eine Stunde später hatten alle drei ihre Kreuzchen gesetzt – selbstverständlich für Ryu – und waren wieder zu Hause. Leider gab es bei dieser Zaleiwahl natürlich keine Wahlsendungen, aktuelle Hochrechnungen oder Liveübertragungen aus dem Ratsgebäude. Das Ergebnis würde erst heute Nacht feststehen. Sie würden es also entweder von Ryu erfahren, wenn dieser nach Hause kam, morgen Früh an den Informationstafeln in einem der Zaleieinrichtungen oder über ihre Homepage.

Zunächst hieß es also einfach abwarten.

Yuki wartete im Wohnzimmer ab, immer noch über dasselbe Buch gebeugt wie vorhin. Hätte Kei vorhin darauf geachtet, wäre ihm jetzt aufgefallen, dass Yuki seitdem kaum drei Seiten weitergeblättert hatte. Und auch jetzt unterbrach er seine Lektüre, als sein Schüler sich in die Couch zu seiner rechten fallen ließ.

„Nochmal wegen vorhin.“ Begann Kei.

„Ich höre.“ Yuki gab sich ganz besondere Mühe, möglichst gleichgültig zu klingen.

„Seit ungefähr fünf Monaten bin ich jetzt Zalei, oder?“

„Kommt hin.“ Gab Yuki erneut zweisilbig zurück.

„Findest du nicht, dass ich dafür schon ziemlich gut bin?“ startete Kei ein neuen, verzweifelten Versuch, an sein ersehntes Lob zu kommen.

Yuki schloss kurz die Augen, atmete laut aus und klappte sein Buch zu.

„Kei… Ich sag es dir doch immer wieder. Du bist gut und du bist auf dem richtigen Weg. Arbeite weiter an dir, dann wirst du mal ein sehr guter Zalei.“

Ja, genau das sagte Yuki ihm wirklich immer wieder. Er solle an sich arbeiten. Er sei auf dem richtigen Weg. Was Kei in diesem Moment aber interessierte war, wo er denn auf diesem richtigen Weg gerade stand. Wo stand er, gemessen an der Länge von diesem richtigen Weg? Oder im Vergleich mit anderen Schülern? Er hatte den Vergleich zu Kiku, aber mehr nicht. Kiku war schon länger Zaleischülerin als er. Sie konnte den Körpertausch auch allein, erreichte die Trance aber nicht so schnell und Jack war kein bisschen ruhiger als Robin. Dafür interessierte sich Kiku mehr für die Geschichte der Zalei, den Aufbau des Rats, Theorie eben. In diesem Punkt war sie Kei weit voraus, der das Buch von Lan bisher nur kapitelweise überflogen hatte.

„Was glaubst du wann ich ein Zalei sein werde?“ fragte Kei schließlich provozierend.

„Wenn du so weit bist, bist du so weit. Warum hast du es denn nur so verflucht eilig?“

„Es interessiert mich eben! Ich will nicht ewig ein Schüler sein.“

„Du meinst, du willst nicht ewig MEIN Schüler sein, oder?“ fragte Yuki ebenso provozierend zurück.

„Das hab ich gar nicht gesagt!“ Kei war reingefallen. Er wusste es selbst. Egal wie er auf Yukis Frage geantwortet hätte, jede mögliche Antwort hätte ihm die Schamesröte auf die Wangen getrieben. So natürlich auch diese. Auch wenn Yuki sich in der gegenwärtigen Situation nicht wirklich wohl fühlte, so zauberte Keis Reaktion doch für einen Augenblick ein flüchtiges Lächeln auf seine Lippen.

„Ok, Scherz beiseite.“

Yuki seufzte leise, während er sich nach vorne beugte und sein Buch auf den Tisch legte. Einen Moment verharrte er in dieser Position, musterte seinen Schüler. Kei dagegen hatte sich gegen die Rückenlehne fallen lassen. Er fühlte sich ganz klein, als er mit glühenden Wangen den Blick seines Lehrers erwiderte.

Kei hatte die Arme vor der Brust verschränkt. Er wippte ungeduldig mit dem Fuß, während er abwartete, dass Yuki seinen Satz wieder aufnehmen würde. Keis Haltung war ganz und gar die eines trotzigen Kindes. Ihm gefiel ganz und gar nicht, wie kalt Yuki heute zu ihm war.
 

Doch eine Weile länger musste Kei noch warten. Das Telefon klingelte. Kiku nahm zwar im Esszimmer ab, reichte Yuki den Hörer jedoch kurz darauf. Ein Anruf aus dem Rat. Zunächst dachte Kei kurz, das Wahlergebnis stünde schon fest. Aber nachdem die Wahllokale noch nicht einmal geschlossen hatten, fiel ihm praktisch im selben Moment ein, dass das Ergebnis noch nicht bekannt sein konnte. Nein, es war nur einer dieser mysteriösen Aufträge. Yuki sollte noch diesen Abend irgendetwas für den Rat erledigen. Es eilte anscheinend sehr. Zwar sagte Yuki höflich wie eh und je zu, drückte unmittelbar nach dem Gespräch jedoch seinen Missmut aus, indem er den Hörer laut ausatmend auf das Sofa zu seiner linken schleuderte. Er war sichtlich genervt.

„Sorry, ich muss heute nochmal weg. In einer halben Stunde schon.“

„Hab ich mitbekommen.“ Kei gab seine Trotzkindhaltung noch nicht auf.

„Hör zu, Kei… Reden wir morgen. Ich muss gleich weg und das will ich nicht zwischen Tür und Angel mit dir klären.“ Yuki strich sich einige seiner schneeweißen Haarsträhnen aus dem Gesicht.

Kei konnte aus seinem Gesicht ablesen, dass Yuki den Auftrag nicht nur vorschob, um das Gespräch zu beenden. Yuki hasste die Aufträge vom Rat, nahm sie aber dennoch sehr ernst. Er bereitete sich auf sie vor und ging immer überpünktlich los. Allein schon die Kurzfristigkeit des Anrufs ärgerte ihn maßlos.

Aber Kei war einfach zu stur, um sich bis morgen vertrösten zu lassen. Außerdem hatte er noch immer nicht die geringste Ahnung von den Aufträgen des Rats und konnte sich somit sowieso kein Bild davon machen, was im Moment in Yuki vorging.

„Warum warten? Sag mir doch einfach, dass ich gut bin. Dann bin ich schon zufrieden.“

Yuki seufzte resignierend. „Na schön! Also, du bist gut. Du bist sogar sehr gut. Und eigentlich finde ich es total erschreckend wie gut du bist!“

Kein überlegte einen Moment, ob Yuki ihn jetzt auf den Arm nahm.

„Es gibt nur eine Handvoll Zalei, die nach einem Monat den Körpertausch allein schaffen. Bei noch weniger ist es kein Zufall. Und sich nach fünf Monaten mit dem Carn als Partner einspielen ist unglaublich, vor allem weil du schon verhältnismäßig alt warst, als du die Ausbildung begonnen hast. Ich glaube, wirklich nur Lan war noch schneller als du.“

Langsam beschlich Kei doch die Ahnung, dass Yuki nicht scherzte. Er bekam sein Lob. Sogar eine viel größere Packung als er erwartet hatte. Er war mehr als nur gut. Yuki schien ehrlich beeindruckt zu sein. Trotzdem konnte sich Kei nicht erklären, warum Yuki dann so traurig aussah, als er diese Worte sprach.

„Warum sagst du mir das dann nie? … Moment, in den Berichten stand aber doch immer, dass ich unkonzentriert bin… ungeschickt… faul…“

Kei grübelte einen Moment. Natürlich fehlte ihm noch die nötige Sicherheit im Umgang mit Robin oder seiner Trance. Aber wenn Yuki von seinen Fähigkeiten so begeistert war, dann hätte er ihm doch wenigstens die Note zwei geben können, statt einer Drei Minus. Er konnte ihm ja nicht ewig den Unfall im Cardinal vorhalten.

„Das… stimmt…“ gab Yuki kaum hörbar zu. Er hatte den Blick gesenkt. „Die Berichte sind absichtlich schlechter geschrieben.“

„WAS?!“ Kei sprang auf. Er war unglaublich wütend. Keine Worte irgendeiner ihm bekannten Sprache hätten beschreiben können, wie wütend er in diesem Moment auf Yuki war.

„Lass es mich erklären, Kei.“ Bat Yuki mit ruhiger, fast heiserer Stimme.

„Was willst du mir da noch erklären? Du lässt mich glauben, ich sei eine Drei Minus und bist insgeheim ganz beeindruckt wie gut ich bin? Das ist so... so…“

„Ich weiß, ich versteh dich ja. Bitte setz dich wieder hin, dann erkläre ich dir warum ich es getan hab.“

„Kein Bedarf!“

Kei drehte sich um. Mit geballten Fäusten stampfte er aus dem Wohnzimmer, durch das Esszimmer, in den Hausgang, die Treppe hinauf und in sein Zimmer. Dort angekommen knallte er mit aller Kraft die Tür hinter sich zu. Am liebsten hätte er die Tür noch einmal geöffnet und sie noch einmal zugeknallt, weil ein Knall allein gar nicht das volle Maß seiner Wut ausdrücken konnte.

Yuki saß dagegen im Wohnzimmer wie im Regen stehen gelassen. Er kratzte sich am Hinterkopf, sah kurz auf die Uhr. Er musste los, musste Kei so zurücklassen.

‚So ein Mist. Noch schlechter hätte das Timing nicht sein können.‘ dachte er bei sich.

Er seufzte und stand auf, indem er sich mit beiden Händen von der Couch abdrückte.

„War das eben Kei?“ fragte Kiku schüchtern, die Yuki im Esszimmer abpasste.

„Scheint so. Ein Trampeltier wäre mir in diesem Haushalt neu.“

„Habt ihr etwa gestritten?“

„Nein… Nein, eigentlich nicht wirklich. Das war nur ein Schlagabtausch. Der Streit folgt vermutlich später.“

„Und wegen was werdet ihr streiten? Kann ich vermitteln?“

„Nein, danke. Das müssen wir allein klären.“ Yuki atmete aus. „Ich muss euch leider allein lassen. Habt bitte ein Auge auf einander, also sobald Kei sich beruhigt hat. Wenn irgendwas ist, ruft bitte sofort Ryu an.“

„Alles klar.“ Lächelte Kiku.
 

Ryu wartete mit den anderen Kandidaten – acht waren angetreten – und den aktuellen Ratsmitgliedern bei einem dürftigen Buffet im kleinen Sitzungssaal. Im großen Sitzungssaal, wo der Rat für gewöhnlich tagte, fand heute die Wahl statt. Hin und wieder verschwand einer der Anwesenden und kehrte kurz darauf mit neuen Informationen über die Abstimmung oder dem aktuellen Zwischenstand zurück. Zum Beispiel ‚Herr Tanaka hat gerade für Sakura abgestimmt, bestimmt stimmt seine Tochter genauso‘ und dann wurde wieder weiter gewartet.

Ryu hatte weder das Gefühl, dass hier gerade eine hochbrisante Wahl stattfand, die immerhin auch für ihre kleine Verschwörergruppe von Interesse war, noch empfand er die anderen Kandidaten als Konkurrenten. Es war mehr wie ein geselliges Beisammensein, eine kleine Betriebsfeier oder ähnliches. Er unterhielt sich sogar ganz ausgezeichnet mit einer Kandidatin namens Sakura, einer jungen Frau aus dem Norden, der er heute zum ersten Mal begegnet war. Sie studierte wie er Tiermedizin, war ihm aber schon ein paar Semester voraus. Außer mit Sakura sprach er an diesem Nachmittag und Abend vor allem mit Lan.

Es war Lans Idee gewesen, Ryu als Kandidaten aufzustellen. Ryu selbst hatte sich zwar auch kurz mit dem Gedanken gefasst, ihn jedoch schnell wieder verworfen. Er war sicher gewesen, keine Chance zu haben. Dank Lans und Pierres Wahlwerbung – unabhängig von einander natürlich – hatte er nun aber tatsächlich eine.

„Quatsch! Das liegt nicht an unserer Werbung, sondern an deiner Kompetenz. Du darfst mich aber natürlich trotzdem gern mal auf ein Bierchen einladen.“ Lachte Lan.

„Verkaufst du etwa schon das Fell des Bären, bevor du ihn erlegt hast?“

Mika Takano, ein Ratsmitglied, kam genau im falschen Moment vorbei und bekam Lans letzte Worte mit. Mika war ein junger Mann aus besseren Verhältnissen. Sogar heute trug er eine gute Hose mit Bügelfalte und ein bis oben hin zugeknöpftes Hemd, wie übrigens bei jeder Ratssitzung. So viel Ordnung war für Lan ebenso ein rotes Tuch wie Lans ungeordnetes Musikerleben eines für Mika war.

„Ach, Mika. Du kriegst wie immer alles in den falschen Hals. Wundert mich eigentlich, dass du überhaupt noch was in den Hals kriegst, so wie du ihn dir abschnürst.“

„Nicht jeder steht eben darauf, irgendetwas in den Hals zu kriegen… oder irgendwo anders rein.“

„Was soll das denn schon wieder heißen?!“

„Du solltest deine Affinität zu Ryu Fuyutaka nicht so offen zur Schau stellen.“

„Geht’s noch? Nur damit du’s weißt: ich würde niemals irgendwas mit einem Mann anfangen, was auch nur annähernd in diese Richtung gehen würde. Und falls ich doch irgendwas mit einem Mann anfangen würde – was frühestens dann passiert, wenn die Hölle zufriert – dann wäre das sicher nicht mit Ryu. Und falls es jemals doch zu irgendetwas in dieser Richtung kommen sollte – was niemals passieren wird – dann wäre ICH oben.“

„Wenn du es sagst.“

„Darauf kannst du Gift nehmen!“

„Bitte keinen Streit… Und wenn’s unbedingt sein muss, dann bitte wenigstens etwas leiser, bei solchen Themen.“ Ermahnte Ryu seine beiden gegenüber.

„Nein, kein Streit.“ Nickte Mika förmlich. „Ich wollte dir nur sagen, dass ich es nicht gut heißen kann, wie parteiisch du bist, Lan. Als Ratsmitglied solltest du dich neutral verhalten. Jeder der aufgestellten Kandidaten könnte unser zukünftiger Kollege werden, nicht nur Ryu.“

Mika machte auf dem Absatz kehrt und gesellte sich zu einer Ratskollegin mit rotblondem Haar, die am anderen Ende des Saals stand. Ganz demonstrativ suchte er die größtmögliche Entfernung zu Lan.

„Hast du mit Takano etwa auch eine Fehde? Du musst dir wohl überall Feinde machen, oder?“ seufzte Ryu. „Du bist unmöglich.“

„Hab ich nicht!“ abwehrend hob Lan die Hände. „Wir mögen einander nicht, das stimmt. Aber das heißt nicht, dass wir nicht zusammenarbeiten können. Mika und ich haben zusammen dieses Infobuch über Zalei geschrieben. Es war zwar streckenweise ein harter Kampf mit schweren Verlusten auf beiden Seiten, aber das Ergebnis kann sich sehen lassen. Es kann auch sehr produktiv sein, immer ein kritisches Auge auf einander zu haben.“ Nickte Lan.
 

Während im großen Sitzungssaal noch die letzten Stimmen abgegeben wurden und sich die Ratsmitglieder und die acht Kandidaten im kleinen Sitzungssaal die Wartezeit vertrieben, hatte sich Meister Adoy in sein privates Büro im ersten Stock zurückgezogen. Das Treiben in den Sälen war ihm zu hektisch, zu laut, zu undurchsichtig, zu viele Menschen auf einem Haufen. Seine Schildkröte Schnappi und er hatten in ihrem langen Leben die Ruhe zu schätzen gelernt. Ruhe und Beständigkeit. Die Wahl, Spekulationen um deren Ausgang, Buffets und Plaudereien interessierten ihn nicht. Er würde das Ergebnis sowieso als einer der Ersten erfahren, Eile war also nicht geboten. Lieber genoss er die Ruhe in seinem Büro, während er ein paar der letzten Ratsbeschlüsse und der nächsten Vorlagen durchging.

In seiner Ruhe wurde Meister Adoy gestört, als sich die Sonne schon langsam dem Horizont näherte und die Auszählung der Stimmen begonnen hatte. Ein junger Mann mit pechschwarzem Haar, das er im Nacken zu einem kleinen Zopf gebunden hatte, trat ein. Sein rechtes Auge war blind.

„Guten Abend, Meister. So fleißig bei der Arbeit?“

„Was zum-?! Was du tust hier? Ich dir doch mehrfach gesagt habe, dass du dich hier nicht blicken lassen sollst. Ich will nicht, dass man mich mit K.R.O.S.S. in Verbindung bringt.“

Unbeeindruckt ging der junge Mann in Meister Adoys Büro auf und ab, sah sich um.

„Keine Sorge, Meister. Sie sind mich gleich wieder los. Und niemand hat mich gesehen.“

„Eher ich glaube, du hast nicht gesehen, wie man dich gesehen hat. Durch dein scharfes Auge du dich nicht verdient gemacht bisher hast.“

„Nehmen Sie mir etwa immer noch übel, dass ich danebengeschossen habe? Wenn Sie möchten, korrigiere ich mein Versehen, aber so weit ich mich erinnere, wollten Sie, dass ich zunächst nichts in diese Richtung unternehme. – Die Miss bat mich, Ihnen etwas mitzuteilen. Deshalb bin ich hier. Sie wissen ja, Sie haben uns um Informationen gebeten. Sie bitten, wir liefern.“ Zwinkerte der Mann mit seinem sehenden Auge.

Noch immer setzte der Mann von K.R.O.S.S. seinen Gang durch das Büro fort. Er schien jedoch viel mehr beeindruckt von den Tierbildern an den Wänden und den Figuren auf den Regalen als von den herumliegenden Akten. Dennoch unterbrach Meister Adoy seine aktuelle Arbeit, um die Aktendeckel zu schließen und Papiere umzudrehen, damit der andere sie nicht lesen konnte. Meister Adoy benutzte K.R.O.S.S. als günstige Informationsquelle, umgekehrt wollte er diesen keinesfalls als solche dienen.

„In Ordnung. Was hat deine Miss für mich?“

Nun blieb der junge Mann endlich stehen, direkt vor Meister Adoys Schreibtisch. Mit den Fingerspitzen stützte er sich auf dem Holz ab.

„Herr Natsukori, Herr Sekiei und Herr Fuyutaka haben inzwischen ihre Informationsaktion auf das Internet ausgedehnt. Sie unterhalten nun eine Homepage, die seit etwa einer Woche online ist.“

„Das ich längst weiß, du Dummkopf! Ich war es, der dir und deiner Miss davon hat erzählt. Hast du vergessen das?“

„Sachte, sachte. Das ist nicht der Grund, warum die Miss mich geschickt hat. Ich dachte nur, das wäre eine hübsche Einleitung.“

„Zeitverschwendung Einleitungen sind. Komm zum Punkt! Nur dafür wirst du bezahlt.“‘

„Na gut. Sie sind der Boss, Meister.“ Der junge Mann zuckte unschuldig mit den Schultern, bevor er nach einer kleinen dramaturgischen Pause weitersprach. „Es gibt da einen Jungen namens Chiharu, wohl ein Schüler oder ein Novize?“

„Schüler er sein, Kei Chiharu.“

„Gut. Also, in Bezug auf diesen Chiharu soll ich Ihnen ausrichten, dass sein Lehrer die Leistungsberichte nicht ganz ehrlich ausfüllt. Genau genommen sogar überhaupt nicht ehrlich. Dieser Schüler dürfte ein bisschen besser sein als sein Lehrer Sie wissen lässt.“

„Sein Lehrer Yuki Natsukori ist.“

„Na so was. Derselbe Nachname?“ spielte der junge Mann von K.R.O.S.S. Überraschung.

„Also tatsächlich die ganze Familie hintergeht den Rat. Die Berichte er wirklich fälscht. Ich diese Vermutung bereits hatte. Gut, dann ich ihn vorladen werde… Beide.“

Der junge Mann strich mit den Fingerspitzen über das Holz von Meister Adoys schweren Schreibtisch und folgte so der Tischplatte bis zu deren Ende. Dort wandte er sich zur Tür um und ließ die Finger schließlich sinken.

„Das ist alles für heute. Ich verabschiede mich, Meister.“

„Auf Wiedersehen. Bestell einen schönen Gruß der Miss und meinen Dank.“

Der junge Mann verwand ohne ein weiteres Wort.

Meister Adoy erhob sich und trat zum Fenster. Ihm war jetzt nicht mehr nach Beschlüssen oder Vorlagen. Er schnaubte vor Wut. Natürlich hatte er daran gedacht, dass Yuki der Sohn von Taro war, wie auch Ryu übrigens. Er hatte keinem von ihnen je gänzlich vertraut. Aber er musste wohl zugeben, dass er Yuki unterschätzt hatte. Diesen blassen jungen Mann mit dem herzlichen Lächeln und der zurückhaltenden Art, der zu jedem Auftrag sofort ‚jawohl und danke‘ sagte. Meister Adoy hatte von den beiden Brüdern eher Ryu für den Rebellen gehalten. Yuki, den eher unauffälligen, kleinen Bruder, hatte er wohl irgendwie aus den Augen verloren. Aber nun gut, die Berichte zu manipulieren war keine Rebellentat, auf die Meister Adoy nicht reagierten konnte. Yuki und Kei würden schon sehen was sie davon hatten.
 

„Na toll…“ seufzte Ryu, als er sein Handy in seine Hosentasche schob.

„Das war Yuki, oder? Ist was passiert?“ erkundigte sich Lan neben ihm.

Zum Telefonieren hatte Ryu den kleinen Sitzungssaal verlassen und war hinaus in den Hof gegangen. Lan hatte er aber mit einer Geste gebeten, ihm zu folgen. Diese Gelegenheit nutzte dieser gerne, um sich eine Zigarette anzuzünden. Vorhin hatte Lan schon versucht, Ryu anzustiften, bei der nächsten Sitzung das Rauchverbot im Ratsgebäude abzuschaffen. Vergeblich natürlich.

„Kei weiß, dass seine Berichte manipuliert waren und ist stinksauer.“

„Ich hab euch gleich gesagt, dass es so kommen wird.“ Lachte Lan und nahm einen Zug.

„Außerdem hat Meister Adoy Yuki gerade wegkommandiert. Kei und Kiku sind jetzt alleine.“

„Willst du nach Hause?“

„Nein, ein paar Stündchen müssten sie‘s allein aushalten. Yuki sagt, er ist nicht lange weg.“

Ryu seufzte erneut.

„Und?“ Lan sah ihn erwartungsvoll an.

„Und was?“

„Und was noch? Das ist doch nicht das einzige, was dir Sorgen macht, oder?“

„Kei erreicht die Trance alleine, kann den Körpertausch in beide Richtungen und Robin benimmt sich langsam wie ein Haustier.“

„Das würde mir mehr Sorgen machen als dass er und Kiku allein sind.“

„Wie war es bei dir? Du hast doch auch schon nach zehn Monaten die Prüfung gemacht, oder?“

Lan zog lange an seiner Zigarette und überlegte.

„Acht Monate waren es. Ich hab die Prüfung gerade so geschafft, Adoy hat mich durchgewunken. Und gute zwei Monate später wurde ich dann Stammgast im Krankenhaus.“

Ryu sah Lan einen Moment schweigend an. Der zog inzwischen ein letztes Mal an seiner Zigarette, bevor er die Kippe auf den Boden fallen ließ und sie austrat.

„Ja, gern.“ Antwortete Lan auf eine nicht gestellte Frage.

„Was?“

„Du wolltest mich doch gerade fragen, ob ich nachher mit Kei rede, weil er Yuki und dich vermutlich nicht sehen will. Also: ja, gern.“

„Das wollte ich eigentlich nicht sagen. Aber danke trotzdem.“

„Ach ja. Auf unserer Homepage haben wir heute Morgen eine sehr interessante Nachricht bekommen. Darüber wollte ich noch mit dir unter vier Augen reden.“ Wechselte Lan das Thema.

„Du meinst die von K.R.O.S.S., dass sie von unserer Info-Aktion wissen? Hab ich gesehen. – Wir sollten langsam wieder rein gehen.“

Da wandte Ryu sich auch schon um und zog die schwere Tür auf, die den Hof von der Halle trennte. Lan wollte schon ansetzen, Ryu für diesen plötzlichen Abtritt zu schimpfen. Doch sobald er ihm in die Halle gefolgt war, fielen ihm die neugierigen Blicke einiger anwesender Ratsmitglieder auf, allen voran natürlich Mika. So schrieb er es Ryus Aufmerksamkeit und Vorsichtigkeit zu, dass er das Gespräch so plötzlich beendet hatte, als die Sprache auf K.R.O.S.S. gekommen war.

Vor allem weigerte sich Lan auf diese Weise daran zu glauben, dass Ryu absichtlich dieses Thema mied. Von irgendwem musste K.R.O.S.S. schließlich all ihre Information erhalten haben, und diesen Gedanken zu Ende zu denken, wollte Lan nur zu gerne vermeiden.
 

****
 

Hallo zusammen!
 

Erinnert sich noch jemand an mich? Ich kann mich gar nicht oft genug entschuldigen, dass es so ewiglang nicht mehr weiterging mit „Snowdrops and Chocolate“. Es tut mir wirklich leid.
 

Aber dafür melde ich mich jetzt mit einer guten Nachricht zurück. Die Geschichte ist inzwischen so gut wie abgeschlossen (nicht mit diesem Kapitel, versteht sich XD). In diesem Moment schreibe ich gerade am großen Finale. Das heißt: ihr bekommt jetzt regelmäßig Updates, ohne wenn und aber.

Außerdem dürfte es von jetzt an wesentlich weniger Logikfehler oder offene Fragen geben, da alle noch folgenden Kapitel mehrmals kontrolliert und überarbeitet wurden.
 

Einigen ist vielleicht auch aufgefallen, dass ich die Geschichte inzwischen offiziell in die Kategorie „Shonen-ai“ einsortiert hab. Aber wer mich kennt, wird wissen, dass sich alles brav oberhalb der Gürtellinie abspielen wird. Ich könnte im Leben keinen Schweinkram schreiben, selbst wenn ich wollte… (Und ich will jetzt keine Vorschläge hören, was für Schweinkram man alles über der Gürtellinie anstellen könnte, klaro? XD)
 

Abschließend wünsche ich viel Spaß mit der weiteren Geschichte! Ich würde mich sehr freuen, wenn ihr dabei bleibt. ^^

Rückzieher und Rückschlag

Kapitel 16 – Rückzieher und Rückschlag
 

„SPINNT IHR JETZT KOMPLETT?!“

Nicht nur die anwesenden Zalei, sondern auch ihre Carn fuhren vor Schreck zusammen. Ein Vogel flatterte ängstlich aufgescheucht unter der Decke herum. Sogar die alte Schildkröte Schnappi hatte vor lauter Schreck die Augen geöffnet.

In letzter Zeit waren Worte dieser Lautstärke, vor allem Worte, die jeden Respekt missen ließen, eher selten im großen Sitzungssaal ertönt. In der letzten Zeit nämlich, in der Lan nicht an den Ratssitzungen teilgenommen hatte. Doch mit gewohnter Stimmgewalt bewies er seine inzwischen völlige Genesung von seiner Schussverletzung.

„Einen anderen Ton sollst du dir angewöhnen, Lan! Ich dir habe tausendmal gesagt.“ befahl der Vorsitzende Meister Adoy mit ruhigem, aber durchaus starkem Ton.

Ryu teilte zwar Lans Geisteshaltung, nicht jedoch sein Temperament. Und so konnte er seine Zweifel deutlich geschliffener formulieren.

„Meister. Sie möchten Kei Chiharu ernsthaft für die nächste Prüfung anmelden? Das ist unsinnig. Er wurde erst sieben Monate lang ausgebildet. Keine Chance, dass er die Prüfung jetzt schon bestehen könnte.“

„Oh, doch. Das sehr wohl ich denke.“ widersprach Meister Adoy.

Von Suzumaru, seinem Informaten von K.R.O.S.S., hatte Meister Adoy erfahren, dass Yuki die Ausbildungsberichte für Kei absichtlich falsch ausgefüllt hatte. Er hatte den Rat glauben lassen, Kei könne kaum das Wort ‚Zalei´ freihändig buchstabieren, dabei beherrschte der sogar schon lange den Körpertausch fast perfekt. Meister Adoy hatte Yuki noch am selben Abend zu sich bestellt und ihm sein Fehlverhalten in einem wortreichen und blumigen Gespräch bewusst gemacht. Yuki war daraufhin gezwungen gewesen, die Berichte fortan nicht nur korrekt und direkt an Meister Adoy persönlich adressiert zu schreiben, sondern Meister Adoy hatte es sich darüber hinaus nicht nehmen lassen, Keis Fortschritte stichprobenartig selbst zu kontrollieren. Etwa acht Wochen lang hatte er Keis Ausbildung auf diese Weise verfolgt und war zum Schluss gekommen, er sei reif, ein richtiger Zalei zu werden.

„Selbst wenn Kei die Prüfung unter einem sehr gnädigen Prüferauge bestehen sollte, dann wäre er trotzdem viel zu früh auf sich gestellt. Er hat einfach für zu kurze Zeit in der Welt der Zalei und mit seinem Carn zusammen gelebt, um seine Kräfte richtig verstehen zu können. Kei ist ein Hitzkopf. Es ist zu früh, glauben Sie mir.“ versuchte Ryu zu erklären.

„Sieben Monate!“ wiederholte Lan mit nun etwas gemäßigterer Stimme. „Das ist verrückt! Keiner kann die Prüfung nach sieben Monaten schaffen. Ich habe acht Monate gebraucht und das war schon total verrückt!“

„Du hast also vor allem Angst, dass er deinen Rekord bricht. Du willst nicht, dass er dich vom Thron stößt, ist es das? Ganz schön arrogant.“ funkelte Mika Takano in Lans Richtung.

„Was soll der Quatsch denn jetzt wieder heißen? Ich sage nur: Wenn einer weiß, dass eine zu frühe Prüfung nur schadet, dann ja wohl ich!“ verteidigte sich Lan umgehend.

Seit mit Ryu ein sehr guter Freund und Verbündeter von Lan in den Zaleirat gewählt worden war, hatte sich Lans Verhältnis mit Mika zusehends verschlechtert. Die beiden hatten noch nie besonders viel für einander übrig gehabt, aber nun hatte Mika zunehmend den Eindruck gewonnen, dass Lan und Ryu mehr oder weniger gegen den Rat arbeiteten. Immer wieder waren in den letzten Wochen Beschlüsse von den beiden totargumentiert, zerpflückt oder blockiert worden. Ganz zu schweigen von den üblen Vorwürfen gegen den Rat, die beide auf ihrer offen-geheimen Homepage immer wieder äußerten.

„Meister Adoy hat sich selbst vor Ort von Kei Chiharus Wissensstand überzeugt. Wenn er zum Schluss kommt, der Junge ist so weit, dann vertraue ich seinem Urteil.“ Entgegnete Mika.

„Du bist so ein feiger Mi…“

„Keine Beleidigungen ich dulde, Lan, oder du verlassen den Saal!“

„Oh toll! Wenn nur einer mal den Arsch in der Hose hat, sich einem total irrsinnigen Beschluss entgegen zu stellen, wird der sofort rausgeschmissen. Was ist das hier denn nur für ein berechnender, hinterlistiger, feiger Sauhaufen von Arschkriechern?!“

„Lan! Ausgeschlossen von der Verhandlung du bist! Hinaus!“ Meister Adoy hatte alle Mühe, an sich zu halten. Seine Hand zitterte vor Wut, als er mit dem Finger zur Tür deutete.

Ryu hatte die Hand vors Gesicht geschlagen. So sehr er innerlich geneigt war, Lan zuzustimmen, so sehr verfluchte er gleichzeitig dessen Temperament. Nicht nur, dass sich die übrigen Ratsmitglieder nun allein schon wegen seiner Beleidigungen nicht mehr auf seine Seite schlagen würden, vor allem war durch Lans Ausschluss nun auch noch eine der wenigen Gegenstimmen verloren.

So fiel das Abstimmungsergebnis nicht besonders überraschend aus. Mit neun zu zwei Stimmen wurde beschlossen, Kei Chiharu für die Zalei-Prüfung anzumelden, die in der kommenden Woche abgehalten werden würde. Kei sollte also das neue Jahr bereits als richtiger Zalei begrüßen.
 

Als Ryu nach Ende der Sitzung das Ratsgebäude verließ, traf er Lan vor dem Tor wieder. Lans Ausdruck zufolge hatte er sich inzwischen nicht wirklich abgeregt. Dafür hatte er mindestens eine Schachtel Zigaretten geraucht, während er auf Ryu gewartet hatte, wie ein kurzer Blick auf das Pflaster zu seinen Füßen verriet. Unzählige ausgetretene Zigarettenstummel hoben sich vom leicht verschneiten Grund ab.

„Sag es nicht!“ winkte Lan gleich von vornherein ab.

„Doch. Lan, so geht das nicht! Du hast das Glück, direkt im Rat zu sitzen, an der Quelle! Du könntest wirklich etwas bewegen, wenn du mal auf Überzeugung statt Konfrontation setzen würdest. Mit solchen Aktionen machst du alles nur noch schlimmer.“

Lan atmete laut aus und senkte den Blick schuldbewusst auf den Boden. Er wusste es ja selbst, eigentlich. Aber er hatte Adoys Idee als so wahnsinnig empfunden, dass er den Beschluss einfach nur um jeden Preis verhindern wollte. Taktisches Kalkül war noch nie seine Stärke gewesen. Den Part hatten immer andere Figuren spielen müssen, während er selbst dafür mutig an vorderster Front gekämpft hatte.

„Ich kann Taro nicht erreichen. Schon seit Wochen nicht. Er hat sich auch nicht mehr gemeldet, obwohl er anrufen wollte, sobald er bei seinem alten Kumpel ist.“ fiel Lan plötzlich ein.

„Na und? Der Kerl hat sich mein halbes Leben nie gemeldet. Ich frag mich, wie du das überhaupt erwarten konntest.“ zuckte Ryu gleichgültig mit den Schultern und wandte sich zum Gehen.
 

Ryu fiel nun die Aufgabe zu, Kei und Yuki vom Beschluss des Zaleirats in Kenntnis zu setzen. Schon als Kei die Tür geöffnet hatte, hatte ihn eine böse Vorahnung überkommen.

Aber erst nach einem Abendessen in gedrückter Stimmung und angespanntem Schweigen rückte Ryu schließlich mit der Neuigkeit heraus.

„Nächste Woche… So bald schon…“ überlegte Yuki laut.

Kei wusste nicht wirklich, was er dazu sagen sollte. Eigentlich freute er sich ein bisschen. Er hatte immerhin ehrgeizig an sich gearbeitet, um ein richtiger Zalei zu werden. Und in den letzten Wochen hatte er sich gefreut, dass seine Fortschritte endlich anerkannt worden waren. Yuki hatte zuvor stets mit Lob gegeizt. Kei hatte nicht vergessen, wie sauer er gewesen war, als er von Yukis gefälschten Berichten erfahren hatte. Yuki hatte ihm zwar zu erklären versucht, dass er es getan hatte, um Kei zu schützen. Aber wirklich verziehen hatte Kei ihm trotzdem nicht. In den letzten Wochen war ihr Verhältnis sehr angespannt gewesen und Kei hatte sich deshalb oft zu seinem besten Freund Atari zurückgezogen.

Wenn er seine Ausbildung abschloss, würde Kei auch seinen Lehrer Yuki verlassen können. Obwohl beide Freunde geworden waren – Freunde, nicht mehr, aber auch nicht weniger – schien Kei diese Aussicht nach ihrem Streit gar nicht so unangenehm. Er fühlte sich durch die Ausbildung fast wie an Yuki gefesselt.

Trotzdem war Keis Haltung zur Prüfung zwiespältig. Die drei sorgenvollen Gesichter um ihn drückten auch seine anfängliche Freude. Lan hatte ihm einmal von seiner Prüfung und der Zeit danach erzählt, dass es zu früh gewesen war, und auf welche Probleme er deshalb gestoßen war. Er hatte Yuki verteidigt. Aber auch das hatte Keis Ehrgeiz nicht geschmälert, oder seinen Groll gegen Yuki.

Nun aber waren Yuki, Ryu und Kiku ernsthaft besorgt. Kei konnte nicht wirklich verstehen warum, oder was ihn erwartete. Er spürte allerdings, dass ihre Sorge echt war.
 

Später an diesem Abend hing Kei in seinem Zimmer seinen Gedanken nach, während Robin neben ihm zusammengerollt auf dem Bett schlief. Kei streichelte ihm geistesabwesend übers Fell und jonglierte gleichzeitig mit Gedanken. Noch immer hatte er keine eindeutige Meinung zu seiner Prüfung gefunden. Dass er sie antreten würde, war beschlossene Sache. Kei war nur unschlüssig, ob er sich freuen, Angst haben, sich vorbereiten oder was auch immer tun sollte.

Ein Klopfen riss ihn aus seinen Gedanken, kurz bevor Yuki eintrat und die Tür hinter sich zuschob.

„Was gibt´s?“ drehte Kei sich zu ihm um.

„Wir sollten uns unterhalten.“ Antwortete Yuki mit ruhigem Ton.

Kei bedeutete ihm mit einem knappen Nicken, dass er zu einer Aussprache bereit war. Daraufhin legte sich für einen Moment ein angedeutetes Lächeln auf Yukis Lippen, das sich jedoch sofort wieder verflüchtigte. Yuki setzte sich auf Keis Schreibtischstuhl, den er so in die Raummitte rollte, dass er Kei direkt gegenüber saß.

„Ich merke, dass du immer noch wütend bist wegen der Berichte.“ Begann er schließlich mit gesenktem Blick.

„Du hast mich monatelang angelogen und mir erzählt, ich wäre nicht gut. Das hat schon ganz schön an meinem Ego gekratzt. Ganz zu schweigen davon, dass ich dir vertraut hab.“

„Deswegen habe ich mich ja auch immer wieder bei dir entschuldigt. Glaub mir bitte, dass ich es für dich getan habe. Es ist nicht gut, die Prüfung zu früh abzulegen. Du hast gehört, was Lan deswegen passiert ist. Vor sieben Monaten hast du noch nicht einmal gewusst, was ein Zalei überhaupt ist, und ab nächster Woche sollst du alle Verantwortung allein tragen. Das geht viel zu schnell.“

„Wenn aber doch der Rat der Meinung ist, dass ich gut genug bin…?“

„Deine Fähigkeiten mögen gut genug sein. Aber es geht nicht nur allein darum, den Körpertausch zu beherrschen. Du und Robin müsst euch in der Welt zurechtfinden, du musst deine Fähigkeiten richtig einschätzen können und fest im Sattel sitzen, wenn… mal irgendwas nicht optimal läuft. Es kann dir sonst das Genick brechen.“

„Also findest du, dass ich noch zu unreif bin, um ein richtiger Zalei zu werden?“ schmollte Kei.

„Nein! Ich halte dich nicht für unreif,… etwas impulsiv vielleicht, aber nicht unreif.“ Musste Yuki doch für einen kurzen Augenblick ein bisschen grinsen. „Ich habe einfach Angst um dich, weil ich finde, diese Verantwortung, die der Rat dir auferlegen will, ist noch zu groß, als dass du sie ganz alleine stemmen könntest.“

Yuki sprach sehr leise und langsam, wählte jedes Wort mit Bedacht. Er hatte sich vornüber gelehnt und stützte sich mit den Unterarmen auf den Knien ab. Während er sprach, hielt er den Kopf und den Blick gesenkt, als ob er seine Fingerspitzen beobachtete, die nervös mit einander spielten. Allein aus seiner Haltung und dem unsicheren Klang seiner Stimme konnte Kei lesen wie groß Yukis Sorge um ihn war. Das konnte ihn nicht kalt lassen.

„Was bleibt mir denn übrig? Angemeldet bin ich ja schon, es gibt kein Zurück.“ Seufzte Kei und gab sich geschlagen.

Nun hob Yuki den Kopf und sah Kei mit festem Blick an.

Yuki wusste noch einen Ausweg, auch wenn er selbst die Konsequenzen fürchtete. Yuki liebte Kei noch immer, vielleicht sogar noch mehr als früher. Er hatte es genossen, Kei immer in seiner Nähe haben zu können. Dabei hatte ihn auch nie gestört, dass seine Gefühle einseitig blieben. Allein Keis Anwesenheit hatte Yuki in den letzten Monaten glücklich gemacht.

Aber gerade weil er Kei liebte, nahm er lieber in Kauf, ihn zu verlieren, als dass er ihn ins offene Messer laufen ließ.

„Fall durch. Brich die Ausbildung ab.“
 

Etwa zur selben Zeit hatte sich Mika Takanos Wut auf Lan längst wieder gelegt. Da Lan regelmäßig über die Strenge schlug und sich dabei für gewöhnlich nicht des erlesensten Vokabulars bediente, hatte Mika schon vor Längerem gelernt, Beleidigungen an sich abprallen zu lassen. Gerade in den Wochen und Monaten, in denen sie gemeinsam an ihrem Buch gearbeitet hatten, war er nicht selten Zielscheibe von Lans verbalen Schießübungen geworden. Mittlerweile ließ er sich nur noch mäßig provozieren oder ärgern.

Mika hatte das Ratsgebäude noch nicht verlassen. Bis in die Abendstunden hatte er in seinem Büro Nacharbeiten zu den heutigen Beschlüssen erledigt. Es war schon fast nachtdunkel, als er den letzten Ordner zuklappte und an seinen angestammten Platz im dritten Regal des zweiten Schranks von rechts neben der Tür stellte. Dann streckte er sich gähnend durch und ließ sich anschließend wieder in seinen Sessel fallen. Mikas Carn, ein prächtiger Falke namens Zaza, thronte derweil auf einer Stange, die dem Schreibtisch gegenüber lag, und putzte sein Gefieder.

Mika überlegte kurz, ob er nach Hause gehen sollte. Dann siegte aber doch seine Neugier und er wollte noch einen ganz kurzen Blick auf die Rebellenhomepage von Lan, Taro und Ryu werfen. Seit einer Weile war das eine lästige Angewohnheit geworden. Aber Mika würde Lan gegenüber natürlich niemals zugeben, seine Seite zu besuchen.

Tatsächlich gab es einen Artikel von vor ein paar Tagen, den Mika noch nicht gelesen hatte. Das holte er nun nach. Entsetzt weiteten sich seine Augen. Nun ja, er war bisher davon ausgegangen, dass über die Homepage nur Lügen verbreitet würden. Meister Adoy hatte die meisten Vorwürfe sogar im Rat selbst entschieden von sich gewiesen, einige sogar mit Gegenbeweisen. Mika hatte keinen Anlass, einem chaotischen Rocker, den er ohnehin nicht leiden konnte, mehr zu glauben als dem angesehenen Meisterzalei mit exzellentem Ruf, Wissen und Können. Wenn aber nun doch die eine oder andere Anschuldigung wahr sein sollte…

Mika gab sich gern ratskonform und stets korrekt. Aber er war nicht dumm. Dass er nicht zum offenen Kampf blies, wenn er eine andere Meinung vertrat, bedeutete ja nicht, dass er alles einfach hinnahm. Lan hatte es wegen seines Ausschlusses natürlich nicht erfahren, aber Mika hatte gegen Keis Prüfung gestimmt.

Der Artikel auf Mikas Monitor erklärte, Meister Adoy habe sich im vergangenen Jahr vom Vorstandschef einer Baufirma bezahlen lassen, damit ein Zalei in seinem Auftrag die Baustelle eines Konkurrenten sabotierte. Zwei Bauarbeiter wurden verletzt, einer von ihnen schwer. Ein Drahtseil, das deutliche Bissspuren aufwies, soll Meister Adoy seitdem im Archiv unter Verschluss halten. Die Autoren hatten durch einen Brief des besagten Bauunternehmers von der Sache erfahren.

Sollte das wahr sein, wäre es natürlich ein ausgewachsener Skandal!

Zwar wusste Mika, dass Meister Adoy gelegentlich bezahlte Aufträge für die Zalei annahm, aber es durfte sich dabei keinesfalls um illegale, sittenwidrige oder unzumutbare Tätigkeiten handeln. Auch wenn in der Regel mit allen Beteiligten – Auftraggeber, Meister Adoy und den ausführenden Zalei – absolutes Stillschweigen vereinbart wurde, durfte so etwas nicht passieren. Das Schweigen sollte doch vor allem dem Schutz ihrer schamanischen Tradition und der Integration in die Gesellschaft dienen. An einen derartigen Missbrauch wollte Mika nicht glauben.

Nun war Mika in der glücklichen Position, sich ganz einfach Klarheit verschaffen zu können. Sein Schlüssel für das Ratsgebäude sperrte auch im Schloss des Archivs. Meister Adoy hatte dort zwar einen persönlichen Schrank, in dem Mika das betreffende Stück Drahtseil vermutete, jedoch kannte er durch die Verkettung einiger Zufälle die Zahlenkombination dafür.

Kurzentschlossen machte sich Mika also auf den Weg in den Keller, wo sich das Archiv befand. Zaza würde inzwischen im Büro auf seinen Zalei warten.

Unbeobachtet in den Keller zu gelangen, den Schrank im Halbdunkel zu finden und mit der richtigen Kombination zu öffnen, glückte Mika erstaunlich einfach. Nicht so einfach war es allerdings, im schwachen Licht einer einsamen Glühbirne den Großteil des Schrankinhalts identifizieren zu können. Mika fand allerlei Schriftstücke sowie Gegenstände aller Art, die er oftmals erst auf den zweiten Blick, oft auch gar nicht, zuordnen konnte. Nach einigen Minuten des Suchens fiel Mika ein silbern aufblitzender Gegenstand auf, der unter einem dunklen Stofffetzen hervorlugte. Er griff danach und beförderte in der Tat ein Stück Drahtseil zu Tage. Das eine Ende war völlig ausgefranst. Die einzelnen Drähte, die zu einer Kordel gedreht waren, waren auf verschiedener Höhe abgerissen und standen in bizarren Formen in alle Richtungen ab. Noch Zentimeter darunter waren zahlreiche Einkerbungen, Kratzer und kleine Runde Einstiche in das Metall zu sehen. Es erforderte nicht viel Phantasie, die Beschädigungen als Bissspuren zu erkennen.

Mika stand da wie versteinert. Bis zuletzt war er fest davon ausgegangen, dass er rein gar nichts finden würde, am allerwenigsten ein angebissenes Drahtseil. Aber nun hielt er den Beweis in der Hand. Dieser Teil des Artikels war korrekt. Der Rest auch? Hatte Lan etwa die ganze Zeit über recht gehabt, was Meister Adoy anging? Was sollte Mika nun nur tun?

Minuten später erwachte Mika langsam aus seiner Starre. Er griff nach dem Handy in seiner Westentasche, öffnete das Telefonbuch und suchte Lans Nummer. Seine Hand zitterte etwas, als er auf `Wählen` drückte. Kein Empfang.

Ein Wort schoss Mika in den Sinn, das er gerne laut ausgerufen hätte, wäre er Lan gewesen. Da er aber Mika war, begnügte er sich mit einem missbilligenden Schnauben.

Das Drahtseil noch in der Hand verließ Mika das Archiv und erklomm die Treppe ins Erdgeschoss. In einer Nische der Eingangshalle versuchte er sein Glück erneut. Das Handy wählte an. Erst nach langem Klingeln nahm Lan ab. Mika konnte ihn kaum verstehen. Lan trieb sich vermutlich gerade in irgendeinem dieser furchtbaren Clubs herum. Seine Stimme ging in einer Flut von Beats und Bässen unter. Mika beschränkte sich leicht angesäuert auf ein „Ruf mich sofort zurück, wenn du reden kannst!“ und legte auf, noch bevor Lan antworten konnte.

Sofort durchsuchte Mika sein Telefonbuch erneut. Irgendwann, vor einigen Jahren hatte Taro Natsukori ihm einmal seine Nummer gegeben. Hoffentlich hatte er sie noch gespeichert. Und hoffentlich hatte sich die Nummer nicht geändert. Zumindest Mikas erste Hoffnung bewahrheitete sich. Er wählte an. Nummer nicht vergeben. Wieder dieses Wort in seinen Gedanken…

Nun konnte er also nur auf Lans Rückruf warten. Mika atmete tief durch und rief sich selbst zur Ordnung. Er würde jetzt in sein Büro gehen, Zaza holen, nach Hause gehen und so bald wie möglich mit Lan sprechen. Kein Grund zur Panik. Um sich selbst zu demonstrieren wie wenig panisch er war, steckte er sein Handy gleichgültig wieder ein.

Trotzdem klammerte er sich aber immer noch an das Drahtseil, das Corpus delicti, als er die breiten Stufen in der Eingangshalle hinaufstieg, dem linken Gang folgte bis zur Biegung nach rechts und dann eine kleinere Treppe in den zweiten Stock nahm. Er betrat gerade den Gang, in dessen Mitte sich sein Büro befand, als sein Handy sich piepsend meldete.

„Gott sei Dank!“ dachte Mika bei sich und lernte eine ganz neue Seite an sich kennen, als er Lans Stimme - immer noch, aber nun deutlich leiser als zuvor begleitet von Rockmusik - am anderen Ende wie den reinsten Engelschor wahrnahm.

„Was ist denn passiert, dass du mich unbedingt sprechen willst?“ wunderte sich Lan.

„Euer Artikel… Das Drahtseil…“

„Was ist damit?“

„Na ja, das… äh… halte ich gerade in der Hand.“ Mika musste fast lachen ob dieser skurrilen Situation.

„WAS?! Du… Moment, du hast das Ding gefunden?“

„Ja. Es sieht wirklich aus wie abgekaut.“

„Wo bist du jetzt, im Rat? Ich komm sofort!“

„OK, ich warte in meinem Bür-…“

Mika erstarrte erneut zur Salzsäule. Direkt vor seinem Büro wurde er erwartet. Meister Adoy stand dort wie ein Portier und blickte ihm mit einem freundlichen, aber eiskalten Lächeln entgegen. Auf seinem Arm hielt er Zaza, das Lederband an dessen Fuß fest in der Hand. Der Falke hatte seine Federn aufgeplustert, die Flügel gespreizt und ließ einen lauten Schrei los. Auch ihm war nicht entgangen, dass diese Situation nichts Gutes bedeutete.

„Mika, Mika… Ein guter Kerl du immer warst. Doch Neugier ist ein Laster.“ Beinahe mitleidig schüttelte Meister Adoy den Kopf.

Mika stand wie angewurzelt, seine Lippen bewegten sich, über sie kam jedoch kein Laut. Als hätte jemand ein Bleigewicht daran gehängt, sank sein Arm langsam herab, in dessen Hand er das Handy hielt.

„Mika?! Was ist los? Hey, rede mit mir!“ brüllte Lan regelrecht in sein Telefon.

„A-Adoy…“ hauchte Mika kraftlos, wenige Augenblicke bevor sein Handy aus seinem Griff schlüpfte, den mit Einmal alle Kraft verlassen hatte. Laut fiel es auf den marmorierten Fußboden. Ungehört von Dritten.

Es war spät geworden. Das Ratsgebäude war verlassen bis auf Mika, den Workaholic, und Meister Adoy, der praktisch im Ratsgebäude wohnte. So konnte auch niemand den herzzerreißenden Schrei des Falken Zaza hören oder sein verzweifeltes Flügelschlagen sehen, kurz bevor ihm Meister Adoy mit schneller Hand und lautem KRACK den Hals umdrehte. Und es konnte auch niemand sehen, wie nur einen Wimpernschlag später Mika Takano leblos zusammenbrach.
 

Eine gute Stunde später verständigte der alte Meister Adoy die Polizei. Der Meister habe laute Stimmen auf dem Gang gehört und dann zwei Personen im heftigen Streit vorgefunden. Als die Beamten eintrafen, fanden sie zunächst an der beschriebenen Stelle die beiden toten Körper von Mika Takano und seinem Falken. Lauten Stimmen folgend ertappten sie kurz darauf im Büro des Meisters den mutmaßlichen Mörder beim Versuch, den einzigen Zeugen umzubringen.

Der leicht alkoholisierte, tobende und bereits polizeibekannte Lan Sekiei wurde trotz heftiger Gegenwehr durch drei Polizisten überwältigt und vorläufig festgenommen.

Später würde man feststellen, dass Takano bis kurz vor seinem Tod mit ausgerechnet dieser Person telefoniert hatte, mit der es wenige Stunden zuvor zum Streit gekommen war. Zudem war Sekiei an diesem Abend überstürzt von einem Club aufgebrochen, weil „er sich um diesen Takano kümmern müsse“, wie mehrere Zeugen aussagen würden.

Abschied oder Neuanfang

Kapitel 17 – Abschied oder Neuanfang
 

Kei erinnerte sich noch gut an diesen Tag vor sieben Monaten, an dem ihn Yuki schon einmal zum Ratsgebäude gebracht hatte, um ihn dem Rat vorzustellen. Damals sollte der Rat beurteilen, ob Kei geeignet war, als Zalei ausgebildet zu werden. Heute, gute sieben Monate später, begleitete Yuki seinen Schüler erneut zum Ratsgebäude. Heute würde der Rat in einer Prüfung entscheiden, ob Kei fortan in die Reihen der vollwertigen Zalei aufgenommen würde. Sollte Kei die Prüfung bestehen, würde noch an diesem Abend das schamanische Ritual durchgeführt, das ihn für immer mit seinem Carn verband. Nach diesem Ritual würde es kein Zurück mehr für ihn geben.

Allein beim Gedanken daran, schlug Keis Herz noch einen Takt schneller. Wie bei seinem ersten Besuch im Rat war er auch heute sehr aufgeregt. Fast ohne es selbst zu bemerken, kaute Kei auf seiner Unterlippe herum, während seine Finger nervös mit dem Saum seiner Jacke spielten.

Yuki neben ihm lächelte amüsiert. Er konnte sich nicht helfen, aber Kei so aufgeregt zu sehen, war irgendwie niedlich. Schon bei ihrem ersten Besuch beim Rat war ihm das aufgefallen. Damals hatte er Kei zum ersten Mal so nervös erlebt, wo er doch bei den Abschlussprüfungen in der Schule so souverän gewirkt hatte wie kaum ein anderer.

„Keine Panik. Denk einfach an das, was du in der letzten Woche gelernt hast, dann wird’s schon schief gehen.“ klopfte Yuki seinem Schüler beruhigend auf die Schulter.

„Ich hoffe, dir ist bewusst, dass das ganz schön zweideutig war.“ erwiderte Kei kein bisschen beruhigt.
 

Nur eine gute Woche war Kei nach der Anmeldung durch den Rat geblieben, um sich auf seine Prüfung vorzubereiten. Tatsächlich war seine Vorbereitungszeit noch ungewöhnlicher verlaufen als die sieben Monate seiner Ausbildung davor. So wie Kei nämlich sieben Monate lang mit einem Ehrgeiz, der seines gleichen suchte, versucht hatte, möglichst schnell möglichst viel zu lernen, so hatte er die letzte Woche über versucht, möglichst viel zu verlernen. Er hatte sich Tricks überlegt, wie er am besten seine Konzentration stören oder wie er Robin verärgern konnte. Vor allem letzteres tat ihm in der Seele weh, wo er doch gerade erst begonnen hatte, sich mit seinem Carn anzufreunden.

Aber nach mehreren ungewöhnlich offenen Gesprächen mit Yuki hatte Kei sich überzeugen lassen, dass er noch nicht so weit war und dass es derzeit besser für ihn war, die Prüfung nicht zu bestehen.

„Wenn ich noch jetzt absichtlich durchfallen soll, warum hast du denn dann überhaupt gefragt, ob ich dein Schüler werden will?“ hatte Kei sich einmal gewundert.

„Versteh mich nicht falsch. Zalei zu sein ist nichts Schlechtes. Es ist sogar eine ganz wunderbare, uralte schamanische Tradition. Aber dieser Schamanismus kann gefährlich sein, wenn du nicht gut genug vorbereitet bist. Und außerdem ist der Zeitpunkt nicht besonders günstig, solange die Probleme mit dem Rat nicht geklärt sind.“

Auf Yukis Bitten hatten sie ihren Plan vor allen, sogar vor Ryu und Kiku, vorsichtshalber noch geheim gehalten. Warum wusste Kei eigentlich selbst nicht so genau. Aber es war schon amüsant gewesen, ihre Reaktionen auf Keis offensichtliche Rückschritte zu beobachten.

„Ich warte in der Halle auf dich. Viel Glück!“ verabschiedete sich Yuki, als sie das Eingangstor erreicht hatten.

„Danke! Drück mir die Daumen.“

Kei atmete noch einmal tief durch, bevor er das Ratsgebäude betrat. Sein Carn Robin folgte ihm an der Leine. Zu Keis – in diesem Fall tatsächlich – Freude, war der seit einer kleinen Rangelei heute Morgen so wütend, dass er sich nur höchst widerwillig an der Leine hinter seinem Herren herziehen ließ. Das musste einfach den perfekten ersten Eindruck auf die Prüfer machen, dachte Kei bei sich. Dennoch war er unheimlich aufgeregt.

Die fünf Prüfer, die aus den Reihen des Zaleirates gewählt worden waren, erwarteten Kei im großen Sitzungssaal. Die Bestuhlung war extra für die Prüfung entfernt worden, so dass der große Raum fast komplett leer gewesen wäre, wäre nicht der lange Tisch vor den hohen Fenstern gewesen, an dem die Prüfer saßen. Kei kam sich sehr verloren vor, als Meister Adoy ihm mit einer Geste bedeutete, in die Mitte des riesigen Raumes zu treten.

Zu Beginn der Prüfung stellte Meister Adoy, heute als Vorsitzender der Prüfungskommission, kurz die anderen Prüfer vor. Kei hörte ihre Namen, konnte seine Gedanken jedoch nicht genug zusammenhalten, um sich auch nur einen von ihnen zu merken. Er erkannte nur, dass er keinen der Prüfer kannte. Nun, kein Wunder. Ryu wurde nicht als Prüfer zugelassen, da sein Bruder der Ausbilder und er selbst somit befangen war. Und Lan war zurzeit nicht verfügbar, mehr hatte man Kei nicht gesagt. Nicht einmal, als Ryu vor einigen Tagen Onyx mit in Sleipnirs Stall gebracht hatte, um sich vorübergehend um ihn zu kümmern.

Nach der Vorstellung der Prüfer erklärte Meister Adoy den Ablauf der Prüfung. Auch hier hörte Kei nur mit einem halben Ohr zu, tatsächlich unabsichtlich, aber letztendlich auch nicht zu seinem Nachteil, wenn er durchfallen wollte.
 

Als er seine Ausführungen geschlossen hatte, forderte Meister Adoy Kei auf, seinen Carn von der Leine zu lassen. Kei zuckte kurz mit den Schultern und gehorchte. Hier wurde der Rat gleich Zeuge von einem selten schlechten Verhältnis zwischen Zalei und Carn. Zunächst einmal hatte Robin auch die letzten Minuten nicht aufgehört, an der Leine zu zerren und hielt sich so weit wie eben diese es erlaubte von Kei fern. Als Kei nun auf ihn zukam, sträubte er sofort sein Fell, knurrte ihn an und schnappte sogar nach seiner Hand, sobald diese nach dem Halsband griff.

Einige Prüfer seufzten kaum hörbar und machten sich Notizen. Auch Meister Adoy selbst sah unzufrieden aus, allerdings im selben Maß verwundert. Er selbst hatte Keis Fortschritte in den letzten Monaten kontrolliert und war sicher gewesen, dass der junge Mann bereit für die Prüfung war. Umso verärgerter war er nun, als Robin wie ein wütendes rotes Fellknäuel durch den Saal tobte, kaum dass Kei ihn von der Leine gelassen hatte. Der Fuchs ließ sich von seinem Zalei nicht stören. Gut, Kei wiederholte auch absichtlich möglichst hilflos „Robin, komm doch mal her“, statt ihn mit klaren Anweisungen zu rufen. So war es kein Wunder, dass jeder Vogel hinter den Fenstern seine Aufmerksamkeit stärker erregte als sein Zalei. Wieder notierten die Prüfer ihre Beobachtungen mit verständnislosem Kopfschütteln.

„Wie wär’s, wenn du uns den Körpertausch zeigst?“ schlug einer der Prüfer schließlich vor, als Robin auch nach fast zehn Minuten keine Anstalten machte, auf seinen Zalei zuzugehen.

Kei nickte, er atmete laut aus. Dann setzte er sich auf den Boden, schloss die Augen und tat so, als würde er sich konzentrieren. In Wirklichkeit zählte er in Gedanken bis hundert und zurück oder überlegte zu welchen Aktionen von Robin die kratzenden, klirrenden und klappernden Geräusche wohl gehören mochten, die er hörte. Selbstverständlich erreichte Kei auf diese Weise auch nach mehreren Minuten keinen Trancezustand.
 

Doch so einfach wollte es ihm Meister Adoy nicht machen. Nach einigen Minuten spürte Kei förmlich den kritischen Blick, mit dem der Meister ihn musterte. Er blinzelte mit einem Auge zu den Prüfern hinüber.

„Du uns willst nicht ernsthaft erzählen, dass keine Trance du erreichst, oder?“ Kei glaubte fast, einen leicht drohenden Unterton in Meister Adoys Worten wahrnehmen zu können.

„Äh, sorry. Ich bin total nervös und so. Bestimmt klappt’s gleich.“ lachte Kei verlegen.

Yuki hatte ihm gleich gesagt, dass es nicht so einfach funktionieren würde. Wenn er sich ZU dumm anstellte, würden die Prüfer sofort bemerken, dass er absichtlich durch die Prüfung fallen wollte. Die Kunst war also, schlecht zu sein, ohne offensichtlich schlecht sein zu wollen. Also eine Strategieänderung.

Erneut atmete Kei tief durch. Um dem Rat ganz deutlich zu demonstrieren, dass er jetzt ernst machen würde, demonstrierte er mit beiden Armen in großen Gesten wie er ein- und ausatmete, ruderte ein bisschen herum wie bei sportlichen Lockerungsübungen und dehnte sich schließlich auch noch zu beiden Seiten. Diesmal musste er es ernsthaft versuchen.

Was dem Rat bei Keis Übungen verborgen blieb, waren die Reißnägel, die er in den fließenden Bewegungen unauffällig in seinen Hosentaschen und seinen Schuhen verschwinden ließ. So freuten sich die Prüfer zunächst, dass Kei wenige Augenblicke später tatsächlich den Körpertausch geschafft hatte. Jedoch schlugen sie nur kurz drauf erneut die Hände über den Köpfen zusammen, als Robin – nun in Keis Körper – wie von der Tarantel gestochen in heller Panik durch den Saal tobte und brüllte. Kei selbst – in Robins Köper – saß ganz ruhig neben dem Fenster und grinste innerlich über seinen gelungenen Plan. Ein paar Minuten wütete Robin ohne Anstalten sich überhaupt jemals wieder zu beruhigen. Schließlich forderte einer der Prüfer Kei resignierend auf, den Körpertausch wieder rückgängig zu machen.

Eigentlich war schon zu diesem Zeitpunkt allen Prüfern klar, dass sie Kei auch mit dem größten Wohlwollen und mit zehn zugedrückten Augen nicht bestehen lassen konnten. Dennoch zogen sie die Prüfung bis zum bitteren Ende durch.

Kei sollte ihnen noch Robins Gehorsam demonstrieren, einige Fragen zu Füchsen und zur Tradition der Zalei beantworten. Bei den Theoriefragen antwortete Kei sogar ernsthaft, jedoch hatte er gerade über Zalei so wenig gelesen, dass er kaum eine Frage korrekt beantworten konnte. Das Buch war einfach zu langweilig gewesen. Durch sein Wissen über Füchse rettete er sich unterm Strich noch auf eine Fünf. Aber durchgefallen war er in jedem Fall. Die Prüfer mussten sich nicht einmal beraten, bevor sie Kei dieses Ergebnis mitteilten.

„Oh nein! Was soll ich denn jetzt machen? Kann ich die Prüfung noch wiederholen?“ erkundigte Kei sich mit leidendem Ausdruck und hätte sich selbst fast den Oscar dafür verliehen.

„Üb weiter. In einigen Monaten kannst du die Prüfung sicher noch einmal ablegen. Oder in einigen Jahren.“ erklärte eine Prüferin mit gnädigem Lächeln.

Noch einmal fast zehn Minuten vergingen, in denen Kei alle Mühe hatte, Robin wieder einzufangen und ihm die Leine anzulegen. Wieder entging er dabei nur knapp den Zähnen seines Fuchses. Die Prüfer, die ihn immer noch beobachteten, schüttelten erneut ungläubig den Kopf. Was hatte sich der Meister nur dabei gedacht, diesen Jungen zur Prüfung zuzulassen?

Kei verbeugte sich schließlich noch einmal entschuldigend, bevor er den Saal verließ. „Klick“ fiel die Tür hinter ihm ins Schloss und „Rumps“ gleichzeitig ein riesiger Stein von seinem Herzen. Das war besser schlecht gelaufen als er erwartet hatte. Was für ein Glück!
 

Kei atmete erleichtert auf und machte sich auf den Weg in die Eingangshalle. Kaum dass Yuki ihn erblickte, kam er schon auf ihn zu. Mit besorgtem Ausdruck fragte er sofort „Und?“.

„Ich bin so was von durchgefallen, durchgefallener geht’s gar nicht.“ zwinkerte Kei.

„Bin ich erleichtert!“ lächelte Yuki.

Für einen kurzen Moment fürchtete Kei schon, dass er ihm gleich um den Hals fallen würde. Doch Yuki lächelte einfach nur erleichtert. Mit einem Mal wich der sorgenvolle Ausdruck aus seinem Gesicht, der sich dort festgesetzt hatte, seit Meister Adoy die Lüge mit den Berichten bemerkt hatte. Zum ersten Mal seit Wochen sah Kei wieder das entspannte Lächeln auf Yukis Gesicht, das ihn schon früher so angesteckt hatte. Und auch jetzt konnte er nicht anders, als es zu erwidern.

Gleichzeitig kam Kei die Situation aber auch zu skurril vor. Lehrer und Schüler freuten sich beide über eine verpatzte Prüfung.

„Wie…“ begann Kei nun doch etwas kleinlaut „Wie geht es denn jetzt weiter? Ist meine Ausbildung jetzt gescheitert? Kann ich überhaupt noch Zalei werden? Oder… bildest du mich noch aus?“

Tatsächlich hatte Kei bisher noch nicht wirklich darüber nachgedacht. In den letzten Tagen war für ihn das Top-Thema nur die Prüfung gewesen, die seine gesamte Aufmerksamkeit beansprucht hatte. Er hatte nur sehr vage einzelne Gedanken an das Danach vergeudet. Erst jetzt, wo der Moment gekommen war, fiel Kei auf, dass er vor einem großen Fragezeichen stand. Und erst jetzt wurden ihm seine Optionen überhaupt bewusst.
 

Nachdem er von Yukis Lüge in den Berichten erfahren hatte, war Kei unheimlich wütend auf ihn gewesen. Er hatte das Band zwischen Schüler und Lehrer als eine Fessel empfunden, die ihn gegen seinen Willen an Yuki band. Damals hatte er sich einen Vorwand gewünscht, sich von Yuki trennen zu können, ein- für allemal.

Nach ihrer Aussprache und dem gemeinsamen Antitraining hatten sie sich aber wieder angenähert. Kei hatte Yuki wieder als den lieben Kerl erlebt, für den er ihn von Anfang an gehalten hatte. Und deshalb hatte ihm auch ihre Fessel nichts mehr ausgemacht. Vor allem glaubte Kei ihm inzwischen, dass Yuki den Betrug für ihn begangen hatte. Überhaupt war Kei immer wieder überrascht gewesen, was Yuki alles für ihn tat, seien es kleine Gesten wie ein Tausch im Haushaltsplan oder riskante Lügen gegenüber dem Rat.

In diesem Moment hatte Kei die Möglichkeit, die Ausbildung abzubrechen. Er konnte nun wählen, ob er wieder ein normales Leben führen, aus der gemeinsamen WG ausziehen, Robin seine Freiheit zurückgeben und Yuki nie wieder sehen würde. Aber eigentlich…

Yuki lächelte mild. Nicht mehr das grenzenlos erleichterte, fröhliche Lächeln von eben, sondern eher ein Lächeln, das über andere Gefühlsregungen hinwegtäuschen sollte. Kei kannte seinen Lehrer inzwischen gut genug, um das zu erkennen.

„Die Prüfung hast du nicht bestanden und das Ritual noch nicht durchgeführt. Es ist wie ich dir gesagt habe, solange du das Ritual noch nicht hinter dir hast, kannst du die Ausbildung jederzeit abbrechen. Die Wahl liegt bei dir.“

„Dann könnte ich mich also auch entscheiden, weiter ein Zalei zu bleiben?“

„Das könntest du auch.”

„Und…“ Kei zögerte einem Moment und sprach dann ganz leise weiter. „Würdest du dann mein Lehrer bleiben?“

Eine sanfte Röte hatte sich auf Keis Wangen gelegt, als er seine Frage zu Ende formuliert hatte und Yuki nun mit schüchternem, erwartungsvollem Blick von unten herauf ansah. Zu Keis Überraschung hatte Yuki wohl keineswegs mit dieser Frage gerechnet. Sein Lächeln wich mit einem Mal einem Ausdruck purer Überraschung. Kaum dass Yuki den Hintergrund von Keis Frage begriffen hatte, kehrte sein Lächeln aber umso fröhlicher und erleichterter zurück als zuvor.

„Und wenn du zehntausendmal durch die Prüfung fällst!“

Dann passierte es schließlich doch. Jetzt konnte Yuki sich nicht mehr zurückhalten und legte die Arme um Kei. Kei spürte Yukis Hand auf seinem Schulterblatt, die ihn sanft zu Yuki zog und ihn an seine Brust drückte. Die Finger seiner anderen Hand gruben sich zwischen Keis rote Strähnen, als sie über seinen Hinterkopf strichen.

Kei wehrte sich nicht. Sein Kopf ruhte an Yukis Schulter, während ein paar von Yukis Haarsträhnen seine Wange kitzelten, und er Yukis Duft genoss. Dieser Duft, den er so lange gemieden hatte, von dem ihm erst jetzt auffiel, dass er ihn vermisst hatte. Yuki hielt ihn ganz fest, aber vorsichtig zugleich, fast als würde Kei zerbrechen, wenn er ihn zu fest drückte. Zum ersten Mal hatte Kei bei dieser Umarmung das Gefühl, dass Yuki ihn festhalten konnte, aber auch bereit war, ihn wieder loszulassen, wenn dieser das verlangte. Vielleicht hatte er deshalb auch zum ersten Mal nicht das Bedürfnis zu fliehen.

Zur Überraschung beider erwiderte Kei schließlich wie selbstverständlich Yukis Umarmung. Zunächst noch etwas zögerlich legten sich seine Arme um Yukis Taille, hielten ihn dann aber ganz fest. Kei hatte die Augen geschlossen und sich erlaubt, für einen Moment Yukis Nähe zu genießen. Einige Minuten vergingen, die beiden nur wie wenige Augenblicke vorkamen.

„Es tut mir leid, Kei. Ich hab dich schon wieder angelogen.“ flüsterte Yuki schließlich heiser.

„Was?“ Kei riss die Augen auf und überlegte schon, ob er sich jetzt doch aus der Umarmung freikämpfen sollte.

„Du bist schon viel zu sehr mit Robin verbunden, als dass du die Ausbildung jetzt noch abbrechen könntest. Auch wenn du die Prüfung und das Ritual noch nicht förmlich hinter dir hast, bist du schon lange ein echter Zalei. Du kannst nicht mehr zurück.“

Kei drückte sich so weit von Yuki ab, dass er ihm in die Augen sehen konnte. Yukis Blick bestätigte, dass er die Wahrheit gesagt hatte.

„Aber… Warum hast du dann gelogen?“

„Weil ich wollte, dass du dich selbst dafür entscheidest. Ich wollte, dass du deine Entscheidung bewusst und frei treffen kannst, ohne dich irgendwas oder irgendwem verpflichtet zu fühlen.“

Kei überlegte einen Moment.

„Hast du etwa immer noch nicht kapiert, dass du dir nur Ärger einhandelst mit deinen Schutzlügen?“

„Ab jetzt lüg ich dich nicht mehr an.“

„Versprochen?“

„Versprochen.“
 

Wer war nur auf die außerordentlich dumme Idee gekommen, ausgerechnet ihn zum Babysitter zu erwählen? Diese Frage stellte Pierre sich einmal mehr, als er nach einem neuerlichen Rumpeln aus dem Nebenzimmer einmal mehr „Sacrebleu! Könnt ihr nischt mal fünf Minuten Ruhe geben?!“ ausrief.

Sowohl seine Praxis als auch seine Wohnung hatten die beiden Jungs in den letzten Tagen in einen Abenteuerspielplatz verwandelt. Sie tobten, lärmten, dachten sich Streiche für Pierre und alle Besucher aus und spielten mit so ziemlich allem, mit dem sie nicht spielen sollten. Pierre hatte es aufgegeben, nach den Jungs zu sehen oder mit ihnen zu schimpfen. Auf ihn hörte sowieso niemand mehr. Ceersh hatte innerhalb weniger Stunden ausgetestet wie weit er bei Pierre gehen konnte und Pierres eigener Schüler Toneriko ließ sich von seinem neuen Freund nur zu gerne anstiften.

Wer war nur auf die außerordentlich dumme Idee gekommen, ausrechnet ihn zum Babysitter zu erwählen? Ach ja, Ryu war es. Nachdem Lan verhaftet worden war, hatte dieser zunächst Ryu gebeten, auf seinen Schüler Ceersh aufzupassen. Da Ryu wie der Rest der WG aber wegen ihrer Arbeit und Keis Prüfungsvorbereitung nicht ausreichend Zeit für den Jungen hatte, bat der wiederum Pierre, ihn für ein paar Tage bei sich aufzunehmen. Der Junge lebte zwar natürlich bei seinen Eltern, aber ein ausgebildeter Zalei musste trotzdem immer ein Auge auf ihn haben. Ceersh war kaum älter als Toneriko und die beiden würden sich schon anfreunden und sich beschäftigen, hatte Ryu gesagt.

Ja ja, großartig hatten sie sich angefreundet, und großartig beschäftigten sie sich! Würde Pierre Lan nicht ohnehin schon hassen, würde er spätestens jetzt damit anfangen für das, was er ihm hier antat.

Etwa zehn Minuten waren seit dem letzten Rumpeln vergangen. In diesen zehn Minuten hatte absolute Stille geherrscht. Kein neues Rumpeln, keine Stimmen, nicht einmal das Schreien von Ceershs Kakadu, der nun wirklich kaum je seinen Schnabel hielt. Pierre seufzte. So sehr hatte er sich in den letzten Tagen Ruhe gewünscht, aber nun war sie ihm doch unheimlich. Vielleicht war doch etwas passiert, vielleicht hatten sich die Jungen verletzt. Einmal gedacht, setzte sich dieser Gedanke in Pierres Kopf fest und zwang ihn schließlich, seine Arbeit zu unterbrechen.

„Zut alors… ces gamins….“ murmelte er kaum verständlich vor sich hin, als er sein Büro verließ und ins Wartezimmer seiner Praxis hinüberging, wo er die beiden Jungs vermutete. Er fand den Raum leer vor.

„Toneriko, Ceersh? Wo seid ihr?“

„Hier.“ hörte Pierre kleinlaut Tonerikos Stimme von nebenan. Er seufzte erneut und öffnete die Tür zum Behandlungszimmer 1.

„Isch ‘abe eusch dosch gesagt, die Be’handlungszimmer sind tabu! Überall liegen ‘ier Medikamente und Spritzen rum.“

„Ja ja, sorry. Wir wollten uns nur das Skelett zum Spielen holen.“ Ceersh hob unschuldig die Schultern.

Pierre drehte sich um. Die Jungen hatten versucht, an ein paar Modelle zu kommen, die auf einem Schrank standen. Dafür hatten sie sich eine Räuberleiter aus Stühlen und Kisten gebaut, die eingestürzt war, daher das Rumpeln. Einer der Stühle hatte ein gebrochenes Bein, daher wohl das schuldbewusste Schweigen.

Sofort wies er die Jungs an, das Chaos zu beseitigen. Damit nicht noch mehr zu Bruch ging, half er ihnen dabei. Unermüdlich stieß Pierre dabei ein paar Flüche aus. Toneriko zuckte zusammen. Er konnte sich nicht erinnern, seinen Lehrer je mit so schlechter Laune erlebt zu haben wie in den letzten Tagen. Ceersh dagegen war sichtlich unbeeindruckt.

„Auf Französisch klingen sogar Schimpfwörter noch elegant.“ lachte er. „Wenn Lan mal rumschreit, hört sich das ganz anders an.“

„Pfft! Das glaube isch dir. Lan ist ungehobelt, ‘at keine Manieren, kennt seine Grenzen nischt… Er ist ein Anarchist! Und du bist auf dem besten Wege, ein Mistkerl zu werden wie er.“

„Was ist ein Anadingsbums?“ wunderte sich Ceersh, dem es sichtlich nichts ausmachte, mit Lan verglichen zu werden.

„Das ist einer, der keine Gesetze kennt. Einer, der alle Regeln abschaffen will.“

„Aber Lan sagt, die Regeln vom Rat sind schlecht.“

„Sagt er das?!“

Nun ließ Pierre die Kiste einfach fallen, die er eben getragen hatte. Ihr Inhalt bestand zum Glück nur aus Verbandszeug, so dass es nicht noch mehr Scherben gab. Seine Wut hatte ihren Höhepunkt erreicht. Pierre wusste von Lans Ansichten und dass er gegen den Rat arbeitete, so dass ihn Ceershs bloße Aussage kaum überraschen konnte. Regelrecht schockiert war Pierre aber von der Tatsache, dass Lan seinen Schüler in die Sache hineingezogen hatte. Sogar von Lan hatte er genug Verstand erwartet, einen 12-jährigen Jungen von solch ketzerischen Äußerungen zu verschonen.

„Lass misch dir mal eine Geschichte erzählen. Wenn du möchtest, kannst du sie auch Lan später einmal erzählen, wenn er dir noch einmal sagt, dass die Regeln vom Rat schlescht sind, oui?“

Pierre setzte sich auf einen der noch heilen Stühle und schlug die Beine übereinander, während er seinen blonden Zopf hinter die Schultern warf. Die beiden Jungen setzten sich auf den Boden und lauschten gespannt.

„Es war einmal ein Junge namens Alain. Alain war damals jünger als ihr, er ging zur Schule, hatte Freunde, er hatte Eltern, die ihn liebten und einen kleinen Bruder. Eines Tages kam ein Mann in die Stadt, den Alain noch nie gese’en hatte, ein Landstreischer. Der Mann trug einen langen Mantel mit Flicken, er ‘atte eine Zahnlücke, durch die er pfiff, und eine lange Narbe auf der Wange. Auf seiner Schulter saß ein präschtiger Uhu. Alain war so fasziniert von dem Vogel, dass er den Mann immer wieder besuchte, obwohl seine Eltern ihn gewarnt hatten. Der Mann war ein Zalei, aber Alain, der noch nie von Zalei ge’ört ‘atte, erzählte er, er sei ein Zauberer.

Alain war fasziniert von den Geschischten des Mannes. Er erzählte Alain davon, dass er seinen Geist in den Vogel versetzen und über das ganze Land fliegen könne. Er sei so frei, dass er sein Leben lang dursch die Welt wanderte. Nach einigen Wochen ‘atte er Alain so weit in seinen Bann gezogen, dass auch er diesen „Zauber“ lernen wollte. Und der Mann ‘alf Alain dabei, nachdem er ihm das Verspreschen abgenommen hatte, sein Schüler zu werden. Er gab dem Jungen etwas zu trinken, das ihn etwa zwei Tage lang betäubte. Die Dosis war zu ‘och für ein Kind gewesen.

Als Alain wieder zu sisch kam, war er in einer Stadt, die er nicht kannte. Während er geschlafen ‘atte, war der Landstreischer mit ihm weitergezogen. Alains Familie war inzwischen krank vor Sorge. Neben Alain lag ein kleines Tier, ebenfalls betäubt. Es war ein Mauswiesel, Alains Carn. Alain lernte nischt viel von seinem Lehrer. Er braschte ihm den Körpertausch bei, erst später lernte Alain wie er diesen Körpertausch alleine rückgängig machen konnte.

Vor allem zeigte der Landstreischer Alain, wie er in Gestalt seines Wiesels durch Ritzen, gekippte Fenster oder Spalten in Gemäuer schlüpfen konnte, wo die Menschen ihre Schätze versteckten und wie man diese unbemerkt stahl. Ja, der Mann war ein Einbrescher, ein Dieb und ein Betrüger.

Alain lernte nischts über die Tradition der Zalei oder was Schamanismus über’aupt war. Niemand erzählte ihm, dass er sich auf Leben und Tod mit seinem Carn verband. Weder er, noch sein Carn wurden jemals ordentlisch untersuscht oder geprüft. Es gab damals keinen Rat, der über Alains Ausbildung wachte oder ihn vor dem Landstreischer beschützte. Der Mann nutzte den Jungen nach allen Regeln der Kunst aus und be’andelte ihn sehr schlescht.“

Pierre unterbrach seine Geschichte für einen Moment. Er räusperte sich und strich sich ein paar Haarsträhnen aus dem Gesicht, die sich aus seinem Zopf gelöst hatten. Die Augen der Jungen hafteten an seinen Lippen, gespannt auf die Fortsetzung. Bevor Pierre jedoch weitersprach, atmete er einmal tief durch, räusperte sich erneut und dennoch lag eine ungewohnte Heiserkeit in seiner Stimme.

„Nur wenige Monate später starb das Wiesel, und Alain mit ihm. Ein Mauswiesel wird nicht sehr alt. Schon als Alain es fand, war es ungewöhnlisch alt. ‘ätte es damals einen Rat gegeben, dann ‘ätte er nie zugelassen, dass Alain sisch mit diesem Tier verband. Und der Landstreischer ‘ätte sisch nischt einfach wieder auf die Reise und die Susche nach einem neuen Schüler machen können.“

Wieder hatte sich eine unheimliche Stille in der Praxis ausgebreitet. Diesmal saß sogar Ceersh kleinlaut, aber mit großen Augen ruhig auf dem Fußboden. Toneriko verdrückte sogar eine Träne. Pierre selbst hatte den Blick auf den Boden gesenkt, sein langer Pony verdeckte sein Gesicht und er schwieg. Ein paar Augenblicke verstrichen.

Dann stand Pierre auf, wandte sich zur Tür und sprach über die Schulter zu den Jungen, bevor er in sein Büro zurückkehrte.

„Wir brauchen Regeln. Wenn Lan das nicht versteht, erzähl ihm diese Geschichte… Und räumt jetzt den Be’andlungsraum auf, s’il vous plaît.“
 

An diesem Abend feierte die Zalei-WG Keis Durchfallen. Kei und Yuki hatten auf dem Heimweg einige Leckerbissen eingekauft, sowohl für die menschlichen als auch für ihre tierischen Mitbewohner. So ging das Abendessen nahtlos in eine ausgelassene Feier über. Die Stimmung in der WG war an diesem Abend so gut wie seit einer guten Woche nicht mehr.

Mit ein paar Stücken feinsten Filetsteaks versuchte Kei, sich Robins Gunst wieder zu erkämpfen. Nach der letzten Woche, in der er seinen Carn mit allen Mitteln gegen sich bringen musste, entschuldigte er sich nun wort- und bestechungsreich bei seinem Fuchs. Robin verzieh ihm, nachdem er sich gierig auf das Fleisch gestürzt hatte, immerhin so weit, dass er sich wieder anfassen ließ.

Als Keis Aufmerksamkeit ganz unwillkürlich von seinem Carn und zu seinem Lehrer abschweifte, erkannte er, dass dieser wie von einer schweren Last befreit schien. Seit ihrem Besuch im Rat hatte fast durchgehend ein erleichtertes Lächeln auf Yukis Lippen gelegen. Kei wusste nicht so recht, ob der Grund dafür sein Misserfolg bei der Prüfung war oder die Tatsache, dass er trotzdem bei Yuki bleiben würde. Letztendlich war es wohl beides.

Kiku schien an diesem Abend einen kleinen Wettstreit mit ihrem Carn, dem Äffchen Jack, zu bestreiten, wer die albernsten Streiche und Grimassen auf Lager hatte. Einen humorvolleren Menschen als Kiku hatte Kei selten getroffen. Er freute sich, dass sie diesen Sinn für Humor wiedergefunden hatte, seit sie sich mit ihrer besten Freundin Taki wieder annäherte. Seit einigen Wochen ging es Taki wieder gut genug, um regelmäßig zur Schule zu kommen, und seitdem hatte sich auch Kikus Gemütszustand zusehends verbessert.

Allein Ryu schien an diesem Abend kaum weniger bedrückt als an den Abenden davor. Gut, Kei hatte nicht ernsthaft damit gerechnet, einen erleichterten Jubelschrei von Ryu zu hören. Das hätte seinem Charakter wohl derart widersprochen, dass es eher Anlass zur Sorge geboten hätte. Dennoch war Kei nicht davon ausgegangen, dass Ryu gar keine Spur von Erleichterung zeigen würde. Er hatte die Brauen tief ins Gesicht gezogen und hing schweren Gedanken nach, wie immer in der letzten Zeit. Jede Nachfrage, ob alles in Ordnung sei, winkte er aber mit „Ja ja, alles ok.“ ab. Das bestätigte allerdings nur noch mehr Keis Eindruck, dass Ryu irgendwelche Geheimnisse vor dem Rest der WG hatte. Yuki schien mehr zu wissen, da er als einziger demonstrativ keine Notiz von Ryus Laune nahm. Kei würde Yuki später darauf ansprechen, nahm er sich vor. Immerhin hatte Yuki ihm vorhin versprochen, ihn nicht mehr zu belügen.
 

Keis Gedanken wurden unterbrochen, als es an der Tür klingelte.

„Noch ein Partygast?“ wunderte sich Kiku und hopste zur Tür.

Keiner von ihnen erwartete Besuch und so warteten und lauschten alle gespannt auf die Stimmen im Hausgang, die das Geheimnis um ihren abendlichen Gast enthüllen würden.

„Hallooo!“ hörten sie schließlich Kikus Stimme in überraschter Freude rufen. „Lange nicht gesehen! Komm doch rein!“

Es folgte ein Gemurmel von Kiku und ihrem Gast, das zu leise war, um eine Stimme oder den Inhalt des Gesprächs zu erahnen. Nur dass die zweite Stimme einem Mann gehörte, konnte Kei erkennen. Nur wenige Augenblicke später trat ihr Gast ohnehin ein und gab das Geheimnis seiner Identität preis. Es war Lan.

Ryu sprang förmlich von seinem Stuhl auf und kam auf ihn zu. Er griff mit beiden Händen nach Lans Schultern als müsse er ihn festhalten. Und dieser Gedanke schien gar nicht so abwegig, dachte Kei bei sich. Lan sah gar nicht gut aus. Er war blass. Ein paar Wochen nach der tragischen Geschichte mit Takis Schwester Ryami hatte Kei schon einmal einen mitgenommenen Lan gesehen. Auch wenn Lan sich diesmal ebenso wie damals jede Mühe gab, ganz normal zu wirken, gelang es ihm doch nicht, irgendjemanden zu täuschen. Sein Gesicht war fast schneeweiß und stand im stärksten Kontrast zu den tiefdunklen Ringen unter seinen Augen. Er schien noch schmaler geworden zu sein, stand unsicher auf den Beinen.

„Lan! Was um Himmels Willen ist denn passiert!?“ rief Kei schockiert.

„Nichts, nichts. Keine Sorge, mir geht’s gut.“ zwang er sich zu einem Lächeln.

„Setz dich erstmal und iss was.“ schlug Ryu vor.

Lan wehrte sich nicht, als Ryu ihn zu einem der freien Stühle lenkte und ihn auf diesen drückte. Auch eine Tasse heißen Kaffee nahm er gern an. Essen wollte er aber nichts, er habe keinen Appetit.

„Du bist durch die Prüfung gefallen, nehm ich an?“ erkundigte sich Lan und gratulierte mit einem augenzwinkernden Lächeln, als Kei zustimmend nickte.
 

Eine ganze Weile herrschte danach Schweigen. Kei konnte die Gedanken der anderen fast spüren. Ryu, Lan und Yuki schienen genau zu wissen, was passiert war. Und sie schienen darüber sprechen zu wollen, konnten es aber nicht in Gegenwart von Kiku und ihm. Die beiden Schüler waren wie immer die ahnungslosen, die von den vollwertigen Zalei außen vor gelassen wurden. Doch dieses Spielchen wollte Kei nicht mehr mitspielen.

„Wollt ihr jetzt noch lange Theater spielen oder erzählt ihr uns langsam mal was los ist? Kiku und ich sind keine kleinen Kinder. Wir denken uns sowieso unseren Teil.“ fragte Kei provozierend.

„Das ist nicht so leicht. Sei froh, dass wir euch davon verschonen.“ wollte Yuki ihn beschwichtigen.

„Nichts da! Du hast mir gerade vorhin noch versprochen, mich nicht mehr anzulügen, oder?“ Kei warf seinem Lehrer einen langen, intensiven Blick zu. Yuki verstand, dass er es ernst meinte, und signalisierte seine Aufgabe durch ein angedeutetes Nicken, das niemand außer Kei wahrnahm. Spätestens wenn sie allein waren, würde er Kei einweihen.

„Was Yuki sagt, stimmt. Ihr solltet euer Leben genießen, solange ihr von diesem ganzen Sumpf keine Ahnung habt. Der Ernst des Lebens holt euch früh genug ein.“ sprachen Trauer und Verbitterung gleichermaßen aus Ryus Mund.

Doch Kei gab sich damit nicht zufrieden. Er beschränkte sich jedoch auf einen missbilligenden Blick in Ryus Richtung. Auf Widerworte verzichtete er, da er von Yuki später sowieso die Wahrheit erfahren würde, dachte er. Außerdem konnte er gegen Ryus Dickschädel ohnehin nicht ankommen. Der einzige, der Ryu hin und wieder Paroli bieten konnte, war Lan. Und zu aller Überraschung tat er das auch.

„Ein Ratsmitglied wurde vor neun Tagen ermordet, weil er von illegalen Geschäften des Rats erfahren hat. Den Mord wollte man mir in die Schuhe schieben. Aber weil es – natürlich – keine Beweise gibt, mussten sich mich laufen lassen. Ich komme geradewegs aus dem Gefängnis.“

„Lan!?“ Ryu fuhr wütend herum.

„Ja?“ antwortete Lan unnatürlich ruhig und nahm einen Schluck Kaffee.

„Bist du irre? Wir wollten die Schüler da raushalten.“

Lan setzte seine Tasse ab. „Wozu sollte das wohl gut sein? Ihr hattet Glück, dass Yuki Kei noch überreden konnte, die Prüfung zu versauen. Aber eigentlich hättet ihr es gar nicht so weit kommen lassen müssen, wenn ihr ihm gleich die Wahrheit gesagt hättet.“

„Was für eine Wahrheit?“ mischte sich nun auch Kei ein.

„Dass der Zalei-Rat seit geraumer Zeit seine Macht missbraucht. Um die Pflege einer schamanischen Tradition geht es Adoy schon lange nicht mehr, nur noch um seine Macht, um Geld und Kontrolle.“

„Das… Ist das wahr? Und ihr wusstet das…?“

„Papa, Ryu und Lan versuchen seit einer ganzen Weile, dagegen etwas zu tun.“ nickte Yuki.

Kei konnte seine Gedanken nicht recht ordnen. Gut, Yuki hatte ihm gegenüber schon einmal angedeutet, dass nicht alles eitel Sonnenschein war in ihrer Zalei-Gesellschaft. Aber die wahren Ausmaße des ganzen hatte Kei sich nicht vorstellen können. Gegen Ryus Willen erzählten Lan und Yuki ihm und Kiku nun endlich die Wahrheit.

Er erfuhr, dass Meister Adoy längst nicht mehr nur ein Hüter einer alten Tradition war. Den Zalei ein Zuhause, Arbeitsplätze und einen Platz in der Gesellschaft zu bieten, war nur ein Teil seiner Ziele. Daneben strebte er durch die Kraft der Zalei aber auch nach Geld und Macht. Kei erfuhr nun auch, was es mit den mysteriösen Aufträgen auf sich hatte, die die Zalei gelegentlich für den Rat ausführten. Für Geld ließ Meister Adoy seine Zalei alle möglichen Dienste und Botengänge erfüllen, legale wie illegale, harmlose wie gefährliche. Sogar die Wahrheit über Ryami Hisuis Tod erfuhr Kei nun endlich. Im Raum stand sogar der Verdacht, dass Meister Adoy Kontakte zur Organisation K.R.O.S.S. unterhielt, die für ihre Forschung auf dem Gebiet des Übersinnlichen und illegalen Machenschaften berüchtigt war.

Im Lauf des Gesprächs wurde Kei immer kleinlauter. Er hatte keineswegs mit diesen Ausmaßen der ganzen Affäre gerechnet. Jetzt verstand er endlich, wovor Yuki die ganze Zeit versucht hatte, ihn zu schützen.

„Und wie geht es jetzt weiter? Kann ich irgendwie helfen oder so?“ fragte Kei schließlich zögernd, nachdem Lan und Yuki ihre Ausführungen beendet hatten.

„Nein, du brauchst nichts tun.“ wehrte Lan ab. „Du weißt jetzt Bescheid, das ist schon genug. In die Gefahrenzone solltet ihr euch lieber nicht begeben.“

Kei war zwar dankbar für Lans Worte und atmete innerlich auf. Aber irgendwo ahnte er schon, dass es dabei nicht bleiben würde. Es entsprach nicht seinem Wesen, ewig wegzuschauen oder Missstände einfach zu ignorieren.

„Das Problem ist, dass ich von Taro seit Wochen nichts gehört habe.“ Lan sah Yuki und Ryu abwechselnd an. „Hat er sich bei euch gemeldet?“

„Nein. Ich wusste nicht, dass ihr keinen Kontakt mehr habt. Seit wann…?“ Yuki war die Sorge ins Gesicht geschrieben.

„Der Kerl hat sich noch nie gemeldet. Ein paar Wochen ohne Nachricht sind bei dem kein Grund zur Sorge.“ gab Ryu verächtlich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. Aus dem schlechten Verhältnis zu seinem Vater machte Ryu keinen Hehl.

„Aber in so einer Zeit IST es ein Grund zur Sorge!“ erwiderte Yuki sofort, berührt von Ryus Kälte. Es folgte eine der zahlreichen Streitereien der Brüder in Bezug auf ihren gemeinsamen Vater.

Lan war von Ryus forscher Antwort sichtlich getroffen. Er senkte den Blick auf den Boden und schien einen Moment zu überlegen. Unruhig spielten seine Finger mit dem Ring an seiner linken Hand, während er unter dem Tisch mit dem Fuß wippte. Die Brüder, die durch ihren eigenen Streit abgelenkt waren, bemerkten Lans besorgte Reaktion nicht, aber Kei sehr wohl. Bevor er jedoch nachhaken konnte, schob Lan seinen Stuhl zurück und stand auf.

„Eigentlich wollte ich nur Onyx abholen. Ich hab euch den Abend genug versaut, sorry. Ich hoffe, ihr könnt trotzdem noch ein bisschen feiern.“ verabschiedete sich Lan überstürzt. Wieder lag dieses falsche Lächeln auf den Lippen, das seine Gegenüber über seinen wahren Gemütszustand hinweg täuschen sollte.

Nach den jüngsten Enthüllungen war an Feiern natürlich nicht mehr zu denken.
 

****

Hallo!
 

Wow... Seit drei Wochen gibt es hier jetzt schon herrlich regelmäßig neue Kapitel. Ist das nicht schön? ^^°

Mit dem nächsten Kapitel nehmen wir dann schon deutlich Schwung auf für den Anstieg der Spannungskurve zum großen Finale hin. Ich muss zwar noch bisschen "nachbearbeiten", aber im Endeffekt werden es wohl insgesamt 30 Kapitel werden.
 

Vielen Dank an dieser Stelle an alle, die SaC noch verfolgen! ^_^ *freu*

Heiß und kalt

Kapitel 18 – Heiß und kalt
 

Seinen ersten Besuch im neuen Jahr machte Kei bei Atari. Der Fairy Tales Park hatte seit der Woche vor Weihnachten geschlossen, so dass er nun etwas mehr Freizeit hatte, die er mit seinem ehemaligen und vielleicht-wieder besten Freund verbringen konnte.

Wie in den guten alten Zeiten endete der Nachmittag entgegen aller guten Vorsätze doch wieder vor der Spielekonsole. Schon zu ihrer Schulzeit hatten Kei und Atari sich oft vorgenommen, ihre Zeit sinnvoller zu verbringen, aber schon damals waren sie früher oder später doch wieder vor der Kiste gelandet. So also auch heute.

Robin, mit dem sich Kei inzwischen wieder versöhnt hatte, kannte das Prozedere nach mehreren Besuchen bei Atari auch schon. Er ließ sich fast ohne Beschwerden in einer Ecke von Ataris Zimmer nieder, rollte sich in seinen Schweif und döste vor sich hin, während er Kei und Atari mit einem halben Auge beobachtete.

„Wie ist eigentlich deine Zaleidingsbums-Prüfung gelaufen?“ fiel Atari schließlich ein.

Nachdem Kei ihm gegenüber selten ein Wort über das „Zaleidingsbums“ verlor, hatte er zunächst nicht mehr daran gedacht. Kei wusste, dass Atari von Zalei nicht viel hielt und mied das Thema deshalb meistens.

„Ich bin durchgefallen, absichtlich.“ lachte er.

„Wirklich? Du bist also kein Zalei?“ hakte Atari ungläubig nach. Er erinnerte sich noch zu gut an Keis anfängliche Begeisterung, als dass er ihm jetzt abgenommen hätte, dass das er einfach aufgegeben hatte. Und Keis schuldbewusstes Zögern bestätigte seinen Verdacht.

„Erzähl schon!“ Atari stieß seinem Freund mit dem Ellenbogen in die Seite.

„Na ja… Ich bin noch kein vollwertiger Zalei, aber ich kann… ich will auch nicht mehr zurück. Ich bleibe trotzdem Yukis Schüler.“ gab Kei schließlich zu. Er sah sich aus dem Augenwinkel nach Ataris Reaktion um, während er im Videospiel gerade gegen eine Mauer fuhr.

Atari ließ sich Zeit für eine Antwort. Zunächst mimte er volle Konzentration auf ihr Spiel, während er mit seinen Gedanken jonglierte und nach den richtigen Worten suchte.

„Hast du gar nichts dazu zu sagen?“

Schließlich wurde Kei die Spannung zu groß. Atari atmete laut aus. Er antwortete, ohne den Blick vom Fernseher zu wenden.

„Was soll ich sagen. Du weißt, dass ich nicht begeistert bin von der Idee. Du machst dein Leben von so einem Vieh abhängig.“

Ja, Kei wusste es. Aber trotzdem tat ihm die ablehnende Haltung seines besten Freundes irgendwie weh.

„Aber es ist deine Entscheidung.“ Atari drehte sich nun endlich doch zu Kei um. „Ich habe dir gesagt, ich bin für dich da, egal was passiert. Und dazu steh ich. Wenn irgendwas los ist, dann komm jederzeit zu mir. Ok?“

Kei nickte knapp, nachdem die Worte in seinem Hals stecken geblieben waren. Mit dieser Reaktion hatte er nicht gerechnet.
 

„Taki, Taki!“

Die eben Gerufene fuhr mit großen Augen herum, als sie die aufgeregte Stimme ihrer besten Freundin hörte, und blickte in eine Wand aus Pink. Erst als Kiku den Kleiderbügel etwas senkte, gab die pinke Bluse den Blick auf ihr strahlendes Gesicht frei. Ganz offensichtlich genoss Kiku den ersten Einkaufsbummel mit ihrer Freundin seit Wochen und Monaten sehr.

„Für dich…?“ wunderte sich Taki.

„Nein. Für dich! Du bist so hübsch in Pink. So was kannst nur du anziehen.“ lachte Kiku.

Taki streifte geistesabwesend über einen Ärmel als wolle sie den Stoff prüfen. Es war eine einfach geschnittene Bluse mit einem aufwendigen Blumenmuster in verschiedenen Pink-, Violett- und Rosatönen. Insgesamt jedoch sehr knallig.

„So was Buntes würde ich aber nicht anziehen, Kiku.“

„Ich weiß, leider. Aber dir stehen knallige Farben so gut. Du solltest nicht immer rumlaufen wie so ein Mauerblümchen.“ schmollte Kiku und sah mitleidig auf Takis dunkelgraues Strickkleid.

„Aber ich bin Artistin und fast jeden Abend knallbunt angezogen und geschminkt. Ich genieße es, tagsüber ein Mauerblümchen zu sein. Und außerdem…“

Taki sprach nicht weiter, als sich ihre schlanken Finger fester um den Ärmel der Bluse schlossen. Gleichzeitig wanderte ihr Blick wie in Zeitlupe auf den Boden.

„Außerdem…?“ wiederholte Kiku heiser und konnte sich die Antwort eigentlich schon selbst geben.

„Außerdem ist mir zurzeit nicht nach knalligen Farben. Du weißt schon…“

Ihr Blick haftete weiterhin auf dem Boden, Taki stand ganz still. Nur ihre Finger regten sich ein wenig, als sie den Stoff freigaben. Stille hatte sich über die Mädchen gelegt. Kiku nickte genauso stumm und hängte den Kleiderbügel über die nächstbeste Stange. Einen Moment verharrten beide Freundinnen noch in gedrücktem Schweigen.

Selbstverständlich wusste Kiku, wovon Taki sprach. Vor wenigen Monaten erst war Takis geliebte ältere Schwester Ryami ums Leben gekommen. Wochenlang hatte sich Taki daraufhin völlig gehen lassen und nicht die Kraft gefunden, auch nur das Haus zu verlassen. Dass Kiku sie heute zu einem Einkaufsbummel überreden konnte, grenzte fast an ein Wunder.

Doch beide Mädchen gaben sich alle erdenkliche Mühe, den Tag so zu genießen, wie sie ihre gemeinsame Zeit genossen hatten vor Ryamis Tod. Ganz verhindern konnten sie nicht, dass die dunklen Gedanken sie immer wieder einholten. Aber Taki lernte in den letzten Wochen, sie zurück zu kämpfen, so wie Kiku lernte wie sie ihrer Freundin eine Stütze sein konnte, indem sie einfach nur für sie da war. Wie leid Kiku ihre beste Freundin tat, sprachen nur ihre großen wasserblauen Augen aus. Hilflos und verlegen wanderten sie über Takis Silhouette als wollte ihr Blick sie tröstend streicheln.

Taki gab den Zalei die Schuld am Tod ihrer Schwester. So hatte sie sich auch vor Kiku zunächst völlig zurückgezogen. Kiku wusste nicht, ob Taki ihre Meinung inzwischen geändert hatte. Geändert hatte sie aber zumindest ihr Verhalten ihr gegenüber. Taki betrachtete Kiku immer noch – oder wieder – als ihre beste Freundin. Und auch mit Kikus Äffchen Jack ging sie um wie eh und eh. Vor ihrem Aufbruch in die Stadt hatte sie ihn sogar gekrault und ihn „süß“ genannt.

Schließlich löste sich Taki aus ihrer Starre. Sie seufzte leise und strich einige ihrer Haarsträhnen hinter ihr Ohr. Als sie Kiku wieder direkt ansah, schien sich ein angedeutetes Lächeln auf ihre Lippen gelegt zu haben.

„Wollen wir schauen, ob es die Bluse auch in Gelb gibt? Das würde dir gut stehen.“

„Waaas? Nie im Leben zieh ich irgendwas mit Blümchenmuster an!“ protestierte Kiku sofort.
 

Zwar war Lan aus der Haft entlassen worden und aus Mangel an Beweisen war nicht einmal eine Anklage gegen ihn erhoben worden. Aber dennoch war er gebrandmarkt als der vermeintliche Mörder von Mika Takano. Auch wenn es ihm niemand ins Gesicht sagte, so wusste Lan doch genau, was die anderen Zalei hinter seinem Rücken tuschelten. Er war derjenige, der sich bei jeder Gelegenheit mit Mika gestritten hatte. Und er war an diesem Abend im Ratsgebäude gewesen, um sich mit Mika zu treffen. Wenn man den Gerüchten traute, war Lan sein Mörder.

Nun hatte Lan nicht nur mit der Trauer um Mika zu kämpfen, den er trotz aller Streitigkeiten immer als Freund betrachtet hatte, sondern auch mit der Ächtung durch die anderen Zalei und die anderen Ratsmitglieder. Vor allem der Tierarzt Pierre beteuerte immer wieder „Isch wusste immer, dass er gefährlisch ist. Aber dass er so weit ge’en würde, ah non! Lan, ce salaud.“.

Lans Stand und sein Einfluss hatten erheblich gelitten. Immer noch war Lan der Zalei, der nach Meister Adoy und Taro Natsukori über die größte Kraft verfügte. Niemand hatte schneller als er die Ausbildung absolviert und die Prüfung abgelegt. Seit Jahren saß er im Zaleirat und vertrat dort entschlossen seine Meinung. Er war einer der geachtetsten, einflussreichsten Zalei des Landes gewesen. Aber mit seinem Ruf schwand nun auch seine Geltung.

Mehr als einmal hatte eine Argumentationskette in den Sitzungen des Rates mit einer Aussage geendet wie „Wenn wir dir widersprechen, bringst du uns dann auch um?“. Vorwürfe dieser Art waren wie Lanzenstiche direkt in Lans Herz. Tatsächlich war er meist nicht in der Lage, irgendetwas darauf zu erwidern. Einerseits aus Trauer um Mika, andererseits aber auch tatsächlich aus Schuldgefühl. Er war nicht Mikas Mörder, aber dennoch gab er sich einen Teil der Schuld an dessen Tod, nachdem er nicht schnell genug gewesen war, um ihm zu helfen. Wäre Ryu nicht gewesen, hätte ihre Sache keinen Fürsprecher mehr im Rat gehabt. Allerdings besaß Ryu bei weitem nicht den Einfluss, den Lan gehabt hatte.

Meister Adoys Plan, Lan mundtot zu machen, war also aufgegangen. Der alte Meister konnte sich ein Grinsen kaum verkneifen, als er den jungen Mann geknickt, blass und stumm in seinem Ratssessel kauern sah.
 

Wenn Meister Adoy glaubte, dass Lan nun aufgegeben hatte, irrte er sich jedoch. Auch um Mikas Willen war Lan fester entschlossen denn je, dem alten Meisterzalei das Handwerk zu legen. Inzwischen scheute er auch nicht mehr das Risiko, direkt in das Büro des alten Meisters einzubrechen. Lan hatte sich in den letzten Wochen mehrmals Zutritt verschafft, Unterlagen gesichtet und kopiert. Leider war bis dahin aber noch kein atemberaubender Fund darunter gewesen. Für diesen Nachmittag hatte er im Kalender des Meisters aber eine Notiz gefunden, die sein Interesse geweckt hatte. „17:30 Uhr, Frl. O.“ lautete sie.

Die Ratssitzung war bis 16:00 Uhr angesetzt. Da Lan sich wie in der letzten Zeit üblich zurückhielt und somit keine langen Debatten entstehen konnten, wurde sie sogar überpünktlich geschlossen. Während die meisten Ratsmitglieder plauderten oder sich noch zum Kaffee verabredeten, verließ Lan den Sitzungssaal allein, den Blick auf den Boden gesenkt. Ryu holte ihn in der Halle draußen ein, wollte ihn auch noch zu einem Kaffee überreden. Doch Lan winkte ab, gab sich erschöpft von den neuerlichen Vorwürfen gegen ihn, und sagte, er wolle einfach nach Hause.

„So geht das nicht weiter. Sieh zu, dass du wieder auf die Beine kommst. Wir brauchen dich. Die Zalei brauchen dich.“ Ryu legte eine Hand auf Lans Schulter und schüttelte ihn, als wolle er ihn wachrütteln. Tatsächlich warf er Lan, dem die Strapazen der letzten Zeit an jedem Zentimeter seines Körpers anzusehen waren, fast damit um.

„Lan, ernsthaft. Reiß dich zusammen.“

Nach einem kurzen Wortwechsel war Lan Ryu losgeworden. Die meisten anderen Zalei hatten das Ratsgebäude verlassen. Auch Lan war mit gesenktem Blick durch den Vorgarten geschlichen, durch das große Tor, den Weg entlang, der in die Stadt führte. Doch als er sich unbeobachtet gefühlt hatte, hatte er den Weg verlassen und war durch ein kleines Waldstück zurück zum Ratsgebäude geschlichen. Als er über die Mauer kletterte, bemerkte Lan erstmals, dass Ryu recht hatte. Er hatte sich wirklich zu sehr gehen lassen. Seine Muskeln begannen schon von dieser kleinen Anstrengung zu zittern. Gut, ab morgen würde er darauf achten, wieder vernünftig zu essen, genug zu schlafen und sich vielleicht sogar etwas zu bewegen.

Es war etwa zwanzig nach vier, als Lan unbemerkt wieder ins Ratsgebäude gelangte. Er hatte also noch etwas über eine Stunde Zeit, um sich unbemerkt in Adoys Büro zu schleichen. Leider war der alte Meister nämlich so misstrauisch, dass er für sich ein Büro beansprucht hatte, in dem er nicht belauscht werden konnte. Sein Büro lag am Ende des Ganges. Es gab keine Nebenzimmer, durch deren Wände man seine Gespräche mit anhören hätte können. Eine sehr schwere, massive Holztür führte direkt vom Gang in sein Büro, auch hier keine Chance für Lauscher, selbst wenn sie ihr Ohr direkt gegen das Holz pressten. Das Büro befand sich im zweiten Stock, weshalb er auch von Lauschern vor den Fenstern sicher war. Wenn Lan also wissen wollte, was es mit dem Termin des alten Meisters auf sich hatte, so musste er direkt in das Büro selbst gelangen.

Das Problem war nur, dass der Meister sein Büro so selten wie möglich verließ. Und selbst wenn er selbst gerade nicht dort war, ließ er meistens seine Schildkröte Schnappi zurück. Einerseits war das Tier nun so schlau, dass Lan ihm zutraute, ihn zu verraten. Andererseits war Meister Adoy eben ein Meisterzalei und Lan konnte nie sicher sein, ob er es mit Schnappi oder Adoy selbst zu tun hatte.

Kurz nach fünf verließ der alte Meister aber zu Lans Glück sein Büro und trug dabei seine Schildkröte auf dem Arm.

Für den Meister unsichtbar schlüpfte Lan blitzschnell durch die schwere Tür, bevor diese ins Schloss fiel. Nach einem kurzen Blick in alle Richtungen versteckte er sich in einem Schrank, der hinter der Tür stand. Neben ein paar kleineren Schachteln hing in diesem nur der Mantel des Meisters, so dass Lan noch genug Platz fand. Er hatte den Schlüssel abgezogen, damit er durch das Schlüsselloch ins Rauminnere sehen konnte, wenn er sich hinkniete. Zugegeben, bequem war es definitiv nicht und Lans Knie brannten schon nach wenigen Minuten, so dass er hoffte, Adoy und sein Besuch würden sich kurz fassen. Alternativ hätte er sich auch hinter den schweren Vorhängen verstecken können. Aber dort würde er entdeckt werden, sobald einer der Anwesenden auf die Idee kam, aus dem Fenster zu sehen. Außerdem könnte er von dort aus nicht ungesehen in den Raum lugen.

Nach wenigen Minuten kehrte Adoy in sein Büro zurück und nahm an dem schweren Schreibtisch Platz. Sein Besuch war pünktlich. Genau um 17:30 Uhr klopfte es und die Tür wurde nach einem knappen „Herein!“ geöffnet.
 

Zwei Personen traten ein, eine Frau und ein junger Mann. Lan konnte sie zunächst nur von hinten sehen, doch schon Adoys Begrüßung „Guten Abend, Miss. Eine Freude, sie dürfen zu begrüßen.“ verriet Lan die Identität der Frau. Letzte Zweifel wichen, als sie und ihr Begleiter auf zwei Stühlen vor dem Schreibtisch Platz nahmen und sich in Adoys Büro umsahen. Lan kannte sie beide. Und beider Anblick war wie ein Schlag in die Magengrube für ihn.

Die Frau mit dem lockigen Haar war Miss Obscura. Keine andere Miss als die, die die Organisation K.R.O.S.S. leitete. Lan hatte sie gesehen, als er in ihr Büro eingebrochen war, um einen Brief zu stehlen.

Damals hatte Adoy Ryami und ihn beauftragt, zu beobachten wie ein Bote der Miss einen Brief übergab. Sie sollten später nur berichten, ob die Übergabe stattgefunden hatte. Da Lan dies nicht ausgereicht hatte, hatte er sich den Brief geholt. Gesprochen hatte er bis dahin nur mit Ryu und Taro darüber. Tatsächlich war der Inhalt des Briefs hoch brisant gewesen und der Auslöser für ihre konspirative Runde.

Denn dieser Brief war von Adoy selbst verfasst worden. Er enthielt die Zusage, K.R.O.S.S. bei der Erforschung der Zalei-Fähigkeiten zu unterstützen. Wie diese Forschungen oder die Unterstützung aussahen, blieb allerdings unerwähnt. Aus dem Brief ging auch nicht genau hervor, ob K.R.O.S.S. diese Forschungen im Auftrag des Rats betrieben, oder ob sie dabei lediglich mit dem Rat zusammenarbeiteten. Die Szene, die sich Lan hier in Adoys Büro bot, deutete eher auf Ersteres hin. Fest stand auf jeden Fall, dass beide Organisationen gemeinsame Sache machten. Genau deshalb hatte der Auftrag ausdrücklich gelautet, nicht den Inhalt des Briefes zu erlangen. Pech, dass Lan einfach zu neugierig gewesen war.

Der junge Mann in Meister Adoys Büro war derselbe, den Lan im Restaurant ‚San Gabriela‘ bei einem Treffen mit einem Stadtratsmitglied beschattet hatte. Es war der junge Mann, der Ryami erschossen hatte.

Lan musste sich mit der Hand an der Seite des Schrankes abstützen, um nicht umzukippen. Für einen Moment war mit dem Schreck die ganze Kraft aus seinem Körper gewichen. Aber nachdem er ein paarmal ruhig und tief durchgeatmet hatte, hatte er sich wieder im Griff.

„Die Miss lässt Ihnen ausrichten, dass K.R.O.S.S. mit seinen Forschungen dank Ihrer Unterstützung beträchtliche Fortschritte gemacht hat.“ Lan hörte förmlich das Lächeln in der Stimme des jungen Mannes. Die Frau nickte zustimmend.

„Das zu hören mich freut. Ihre Informationen auch sehr nützlich waren für uns.“

„Die Miss“ ergriff nun die Frau das Wort „ bittet Sie um eine Versuchsperson. Sie steht kurz vor dem Durchbruch in einer Sache. Sie sagte, Sie würden wissen in welcher.“

‚Moment!‘ erschrak Lan innerlich ‚Diese Frau da ist nicht die Miss?! Aber wer dann?‘

„Natürlich, ich weiß. Eine Person ich werde Ihnen vermitteln. Hat Präferenzen die Miss?“

„Nein, nein. Irgendein Zalei, wer ist völlig egal. Jemand, auf den Sie unter Umständen auch verzichten können. Es wäre sehr schön, wenn Sie die Person schon in den nächsten Tagen vorbei schicken könnten.“

Adoy nickte. Auf seinem Gesicht lag ein eiskaltes Grinsen, das Lan einen Schauer über den Rücken jagte. Die drei unterhielten sich über einen Menschen wie über eine Warensendung. Und Lan konnte sich mit seinem Wissen über K.R.O.S.S. nur zu gut ausmalen, was für ein Schicksal diesen Menschen erwartete. Forschungen von K.R.O.S.S. bedeuteten in der Regel skrupellose Experimente.

Die beiden Besucher bereiteten sich schon aufs Gehen vor. Sie erhoben sich und verabschiedeten sich mit einem Handschlag vom alten Meister. Doch dann signalisierte der junge Mann von K.R.O.S.S. in großer Geste, dass ihm noch etwas eingefallen war.

„Ach ja! Unser Informant hat uns letzte Woche noch eine sehr interessante Neuigkeit zugeflüstert. Dieser Schüler, über den wir vor einer Weile gesprochen haben, dessen Berichte gefälscht waren… Sie erinnern sich?“

„Kei Chiharu.“

„Ja, richtig. Das war sein Name. Nun, er ist durch die Prüfung gefallen, wie ich gehört habe.“

„Das sein richtig. Durchgefallen er ist mit Trompeten und Pauken.“

„Unerwartet, nehme ich an.“

„Allerdings.“

„Dann wird sie bestimmt interessieren, dass er absichtlich durchgefallen ist. Sein Lehrer hat ihn dazu angestiftet, wie wir aus zuverlässiger Quelle erfahren haben. Ach, wie war doch der Name…?“

„Yuki Natsukori.“

„Ja, richtig. Natsukori… Immer wieder Natsukori.“

„In der Tat. Das also dahinter steckt. Natsukori, diese Familie langsam wird lästig.“
 

Ein Informant!

K.R.O.S.S. hat einen Informanten, der ihnen Neuigkeiten aus der WG zukommen ließ. Er hatte ihnen wohl verraten, dass Yukis Berichte gefälscht waren und nun auch, dass Kei absichtlich durchgefallen war. Vielleicht hatte K.R.O.S.S. damals vor sieben Monaten auch durch diesen Informanten überhaupt erst von Keis Ausbildungsbeginn erfahren. Lan wusste von Ryu, dass Kei einen Brief von ihnen erhalten hatte, als er kaum ein paar Tage in die WG eingezogen war.

Von diesem Informanten hatten der Rat und K.R.O.S.S. vermutlich auch von Taros, Ryus und Lans Verschwörung erfahren, noch am selben Tag, an dem sie ihre ersten Artikel auf der Homepage veröffentlicht hatten.

Es gab einen Informanten. Aber wen?

Yuki und Kei würden sich nicht selbst an K.R.O.S.S. und den Rat verraten, immerhin waren sie dafür bestraft worden. Kiku war nur eine Schülerin und hatte wenig Einblick, vor allem auch weil ihr Lehrer Ryu sie aus allem heraushalten wollte. Unwillkürlich fiel Lan sofort Ryus Gleichgültigkeit ein. Er war am Abend von Keis Prüfung als einziger nicht in Feierlaune gewesen. Er hatte mehr als eiskalt reagiert, als Lan ihm gegenüber seine Sorge um Taro erwähnt hatte. Sowohl am Tag der Abstimmung über Keis Prüfung im Rat, als auch am Abend der Prüfung selbst, war Ryu nicht weiter darauf eingegangen. Er schien sogar fast sauer, dass Lan ihn auf den abgebrochenen Kontakt ansprach. War Ryu der Informant?

Ryu war Lans bester Freund und seit Jahren sein Komplize gegen die Missstände im Rat. Allein der Gedanke, dass Ryu ein Verräter sein könnte, zog Lan fast den Boden unter den Füßen weg. Er hatte ihm vertraut wie keinem anderen. Und ausgerechnet jetzt war Taro wie vom Erdboden verschluckt. War Lan nun wieder ganz auf sich allein gestellt, so wie damals vor drei Jahren, als seine erste Rebellion gegen den Rat so katastrophal gescheitert war? Damals hatte er schon einmal einen Freund verloren: Pierre. Würde sich das alles nun wiederholen?
 

Die Sonne war schon lange hinter dem Horizont verschwunden, als Kei nach Hause kam. Nun ja, es war Januar und die Tage hatten erst vor Kurzem begonnen, wieder länger zu werden. Die nächtliche Dunkelheit selbst war also kein Anlass für ein schlechtes Gewissen, wohl aber ein Blick auf die Uhr. Trotzdem hielten sich Keis Schuldgefühle in Grenzen, Yuki musste sich ohnehin schon daran gewöhnt haben, dass seine Besuche bei Atari meistens ausuferten.

Zu Hause angekommen ließ Kei Robin von der Leine, der schon ganz automatisch selbstständig die Stufen in den ersten Stock und in Keis Zimmer hinauflief. Der Fuchs hatte auf dem Heimweg ein bisschen in den Schneeresten herumgetobt, die dem Tauwetter der letzten Tage noch trotzten. Mit etwas Glück war er dadurch müde genug, um die Nacht ruhig in seinem Körbchen zu verbringen, hoffte Kei.

„Bin wieder da!“ rief Kei, erhielt jedoch keine Antwort.

Sonst begrüßte Yuki seinen Schüler immer und erkundigte sich, ob irgendetwas vorgefallen war. Auch nach acht Monaten machte er sich immer noch Sorgen, wenn Kei alleine war, obwohl er sich sichtlich Mühe gab, Kei dadurch nicht einzuschränken. Kei vermutete, dass der Schreck von seinem ungewollten Körpertausch im Cardinal immer noch tief saß. Dabei hatte er sich und Robin inzwischen eigentlich ziemlich gut unter Kontrolle, wie er selbst fand. Ohne sich selbst loben zu wollen… na ja… doch, eigentlich schon, um sich selbst zu loben.

Schwaches Licht drang in einem schmalen Trichter durch die Küche und das Esszimmer bis in den Gang. Als Kei sich umsah, bemerkte er ein flackerndes Licht auf der Terrasse. Kei zuckte mit den Schultern und trat durch das Esszimmer und die Küche an die Terrassentür. Dort draußen erkannte er in einer brennenden Kerze die Lichtquelle. Und er fand seinen Lehrer.

Yuki saß auf einem der Terrassenstühle, eingepackt in seine Winterjacke. Auf seinem Schoß lag ein gefaltetes Handtuch, das er mit beiden Händen hielt. Er lächelte leicht und schien irgendetwas vor sich hin zu sprechen. Kei wunderte sich zunächst über die merkwürdige Szene. Dann bewegte sich jedoch etwas in dem Handtuch und wenig später flatterte Yukis Fledermaus Minuit heraus. Ihr schneeweißer Körper verschwand mit schnellen Flügelschlägen im Dunkel der Nacht.

Kei öffnete die Terrassentür und trat heraus.

„Bin wieder da.“

„Willkommen zurück.“ lächelte Yuki.

„Was machst du denn so spät hier draußen?“

„Minuit muss ein bisschen fliegen.“

Kei zog einen zweiten Stuhl heran und setzte sich. Über Winter hatten sie die Stühle ganz an die Hausmauer geschoben und die Polster im Keller verstaut. Kei hatte sich ohnehin schon gewundert, warum einer der Stühle meistens vorne stand. Yuki musste dieses abendliche Ritual schon seit längerem betreiben.
 

Nach ein paar Minuten erkannte Kei Minuit, die fast aus derselben Richtung auf die zugeflattert kam, in die Sie verschwunden war. Sie landete direkt in dem Handtuch auf Yukis Schoß. Der schlug den Stoff einmal um sie und hielt ihn mit einer Hand auf jeder Seite. Ganz sanft und vorsichtig streichelte er mit den Fingerspitzen den kleinen Körper, der sich unter dem Handtuch bewegte.

„Eigentlich halten Fledermäuse Winterschlaf. Minuit hat sich aber inzwischen so sehr meinem Rhythmus angepasst, dass sie seit einigen Jahren drauf verzichtet.“

„Und das macht ihr nichts aus?“

„Doch, schon ein bisschen. Wenn sie wach ist, muss sie auch fliegen, damit ihre Muskeln stark bleiben. Aber ihr ist es viel zu kalt." lachte Yuki „Deswegen fliegt sie immer nur kleine Runden und muss sich dann aufwärmen.“

„Warum lässt du sie nicht einfach im Haus fliegen?“

„Weil dort zu wenig Platz ist. Sogar der lange Gang im ersten Stock hat keine zehn Meter. So was durchfliegt sie mit zwei Flügelschlägen.“

„Ach so.“

Kei sah auf den kleinen Körper unter dem Handtuch, der sich hin und her bewegte. Minuit lugte kurz aus dem Stoff und sah sich um. Sie beschloss aber wohl, dass sie sich noch nicht genug gewärmt hatte, und zog ihren Kopf wieder zurück. Yuki streichelte sie weiter, als wolle er sie damit schonend warmreiben.

„Ich weiß, es ist kalt. Aber in ein paar Wochen ist wieder Frühling.“ tröstete er seinen Carn.

Dann entschloss sich Minuit nach einem erneuten Probeblick in den Garten doch noch zu einer weiteren Runde. Sie krabbelte aus dem Handtuch, das Yuki nun ein Stückchen hoch hielt, breitete ihre Flügel aus und flatterte davon. Erneut verschwand sie als kleiner weißer Punkt zwischen den Sternen am Nachthimmel. Kei und Yuki sahen ihr beide einen Moment nach. Dann faltete Yuki das Handtuch neu für Minuits Rückkehr und breitete es auf seinen Knien für sie aus.

Auch Yuki war kalt. Kei bemerkte erst jetzt, dass seine Fingerknöchel gerötet waren. Yuki rieb seine Hände gegen einander, hauchte sie an und steckte sie in seine Jackentaschen, bevor er den Blick wieder in den Himmel richtete.

„Hast du keine Handschuhe?“

„Doch, natürlich. Aber das funktioniert nicht mit Handschuhen.“ deutete er auf das Handtuch.

Kei selbst hatte seine Jacke nach seiner Heimkehr noch nicht ausgezogen und ebenfalls bis jetzt seine Hände in den Taschen gehalten. Er hatte gar nicht bemerkt, dass Yuki frieren musste. Wie lange er wohl schon hier draußen saß?

„Gib mir mal deine Hände!“ forderte Kei Yuki schließlich auf. Yuki sah ihn nur fragend an.

„Gib mir deine Hände!“ wiederholte Kei mit einem etwas verlegenen Lächeln. Als Yuki ihm nach der zweiten Aufforderung immer noch nicht gehorchte, griff Kei einfach eigenmächtig nach dessen rechtem Ärmel.

„Was ist denn?“ wunderte sich Yuki, als Kei seinen Arm und seine Hand zu sich zog.

Mit beiden Händen hielt Kei Yukis Hand fest. Yukis Finger waren inzwischen so steif gefroren, dass er sich weder befreien, noch Keis Händedruck erwidern konnte. Keis Hände dagegen waren wohlig warm. Wo sie Yukis Hand berührten, schienen sie die Kältestarre zu lösen. Mit einem angenehmen Kribbeln kehrte die Wärme langsam in Yukis Hand zurück.

„Du bist echt kalt zu mir!“ lachte Kei.

Hätten Yukis Wangen nicht aufgrund der Kälte ohnehin schon einen sanften Rotton angenommen, so wäre es spätestens jetzt passiert. Kei hielt seine Hand. Es war nur eine unverfängliche Geste, um ihn zu wärmen, und es war nicht die intimste Berührung, die die beiden je geteilt hätten. Aber die Berührung ging tatsächlich von Kei aus und das machte sie zu etwas ganz besonderem.

Als Yukis Hand zumindest so weit aufgetaut war, dass er seine Finger wieder bewegen konnte, schloss er diese nach kurzem Zögern um Keis. Kein fester Händedruck, aber fest genug, dass Kei die Botschaft verstand. Das freche Grinsen auf seinem Gesicht wich langsam einem schüchternen Lächeln, als er den Blick auf ihre Hände senkte.

Yuki konnte in Keis Gesichtsausdruck fast haargenau den Augenblick erkennen, in dem ihm bewusst wurde, dass sie gerade Händchen hielten. Doch Kei zog seine Hände nicht zurück, lächelte weiter. Yuki beschloss, mutig sein Glück herauszufordern und löste ganz langsam für einen Moment seine Hand aus Keis, nur um kurz darauf ebenso langsam seine Finger mit denen von Keis linker Hand zu verhaken.

Kei ließ es zu. Mehr noch, seine Hand kam Yukis sogar entgegen. Für einen Moment beobachtete Kei ihre Hände ohne ein Wort, ohne eine Regung. Erst als Yukis Daumen sanft über den seinen fuhr, erwachte er aus seiner Starre und sah auf. Seine grünen Augen trafen Yukis. Jetzt erst fiel Yuki auf, dass sich auf Keis Wangen ebenfalls ein zarter Hauch von Rosa gelegt hatte, der nicht von der Kälte herrührte. Ein sanftes Lächeln legte sich auf seine Lippen, als er mit seiner freien Hand über Keis Wange strich. Keis Haut war kalt von der Kälte und doch gleichzeitig warm, wo sich die Röte auf sie gelegt hatte.

Kei hatte für den Bruchteil einer Sekunde gezögert, ob er die Berührung erlauben sollte. Mit großen Augen hatte er auf Yukis Hand geblickt. Doch als sein Blick zu Yukis Augen zurückkehrte, signalisierte er sein Einverständnis. Yuki zog seine Hand nicht zurück, sondern fuhr langsam ein weiteres und ein weiteres Mal über Keis Wange. Gerade weil seine Hand so steif gefroren war, kam ihm Keis Haut unendlich weich vor. Schließlich legte sich Keis freie rechte Hand über Yukis und umfing sie auf seiner Wange. Wieder spürte Yuki dieses Kribbeln, als sich die Wärme von Keis Hand auf die seine übertrug.
 

Einige Augenblicke vergingen. Keiner von beiden wagte es, sich auch nur einen Millimeter zu bewegen, fast als hätte die kleinste Bewegung den magischen Moment zerstören können. Sie saßen sich gegenüber und hielten ihre Hände, die einen über ihren Knien, die anderen über Keis Wange, und sahen einander in die Augen. Wie eine Ewigkeit kamen ihnen diese wenigen Augenblicke vor. Nur langsam lösten sie sich schließlich doch aus der Starre, in die sie mit beiderseitigem Einverständnis verfallen waren.

Wer den ersten Schritt machte, konnte keiner von beiden später sagen. Irgendwie wanderte Yukis Hand ganz langsam Keis Wange hinunter, über seinen Hals bis hinter seinen Nacken. Gleichzeitig glitt Keis Hand Yukis Arm hinunter und folgte diesem bis sie auf seiner Schulter zum Halten kam. Kei fühlte wie Yukis Hand ihn mit sanftem Druck nach vorne zog. Er gab ohne Widerstand nach. Ein paarmal blinzelte er noch, bevor er schließlich die Augen schloss. Nur kurz darauf konnte er Yukis Atem warm über seinen Lippen fühlen.

In diesem Moment war jeder Gedanke an ein ‚Ja, Nein oder Vielleicht‘ ebenso aus Keis Kopf verschwunden wie die Frage, ob und wie er sich eine Zukunft mit Yuki vorstellen konnte. In diesem Moment zählte für Kei nur der Moment selbst. Er mochte die Berührungen von Yukis Händen, wie er ihn ansah, wie Yuki vorsichtig, aber doch bestimmt die nächsten Schritte machte, seinen Atem auf seiner Haut, das Herzklopfen und Kribbeln in seiner Gegenwart. In diesem Moment hätte Kei Yuki geküsst.

Aber dazu kam es nicht mehr. Nur auf einander konzentriert, hatten sie Minuits Rückkehr überhaupt nicht bemerkt. Erst als die Fledermaus auf dem Handtuch landete, erschrak Yuki und löste sich von Kei. Dadurch wiederum erschrak auch Kei und wich zurück. So schnell war der Moment dahin.

Yuki hatte seine Hände nun doch von Kei zurückgezogen und schlug das Handtuch über Minuit zusammen, um sie zuzudecken.

„Tut mir leid… Das reicht Minuit für heute. Lass uns rein gehen.“ schlug er mit einem verlegenen Lächeln vor und stand auf.

Kei nickte, nun mit glühenden Wangen, und pustete die Kerze aus.

Alte Freunde und neue Feinde

Kapitel 19 – alte Freunde und neue Feinde
 

Der Rat der Zalei bediente sich der Dienste von K.R.O.S.S., einer Organisation, die sich der Aufklärung von übernatürlichen Phänomenen verschrieben hatte und dabei für ihr skrupelloses Vorgehen bekannt war, um die Fähigkeiten der Zalei zu erforschen. Der Rat versorgte K.R.O.S.S. mit Informationen über ihre schamanische Tradition und, wie Lan nun auch erfahren hatte, sogar mit Versuchspersonen. Im Gegenzug erhielt der Rat von K.R.O.S.S. nicht nur deren Forschungsberichte, sondern auch Informationen von einem ‚Informanten‘.

Lan saß auf einer morschen Holzbank und blickte gedankenverloren auf eine Wiese neben der Landstraße, die von letzten Schneeresten bedeckt war. Sein schwarzer Hengst Onyx zog missmutig schnaubend eine Runde nach der anderen über die Wiese und rupfte das längst verdorrte Gras. Die wenigen Passanten staunten über das Tier, wagten jedoch nicht, dessen Herren anzusprechen, der mit finsterer Miene eine Zigarette nach der anderen rauchte.

Bestimmt seit fast einer Stunde saß Lan auf der Bank, ohne sich einen Millimeter zu rühren, während er die ewig selben Gedanken hin und her wälzte. ‚Warum?‘ dachte er immer wieder. ‚Warum arbeitete der Rat mit K.R.O.S.S. zusammen? Was hatte der Rat von der Erforschung der Zalei-Kraft? Und warum beauftragte er ausgerechnet K.R.O.S.S. damit?‘. So lange er sich diese Frage nicht beantworten konnte, wollte alles keinen rechten Sinn machen. Aber Lan fand keine Antwort, die ihm plausibel erschienen wäre.

Am liebsten hätte er Taro oder Ryu gefragt. Die beiden waren die Denker ihrer kleinen Rebellion. Lan war eher der Mann fürs Grobe, für den Fronteinsatz und die Informationsbeschaffung. Doch es waren fast immer Taro und Ryu gewesen, die seine erlangten Informationen ausgewertet hatten.

Aber was, wenn Ryu nun tatsächlich ein Informant war, der für K.R.O.S.S. arbeitete? Konnte Lan es denn riskieren, ihm von dem Gespräch in Adoys Büro zu erzählen? Wenn Ryu für K.R.O.S.S. und damit indirekt für den Rat arbeitete, dann war das doch fast eine Bitte, ihn aus dem Weg zu räumen. Dass weder K.R.O.S.S., noch der Rat zimperlich mit Zalei umgingen, die ihnen zu nahe kamen, hatte Lan schon an Ryami und Mika gesehen. Inzwischen fürchtete Lan sogar, dass Taro ein ähnliches Schicksal ereilt hatte wie die beiden.

Vor drei Jahren hatte Lan sich schon einmal gegen den Rat gestellt. Schon damals hatte er den Verdacht gehabt, dass der Rat ein paar Leichen im Keller hatte. Wie recht er mit dieser Vermutung gehabt hatte, vor allem dass sie sprichwörtlich wahr war, hatte sich Lan aber nicht träumen lassen. Vor drei Jahren war er allein gewesen und nicht besonders weit gekommen, bevor Adoy seinem kleinen, ungeplanten, undurchdachten, übereilten und völlig sinnlosen Feldzug ein Ende gesetzt hatte.

Ausgerechnet Pierres engagiertem Einsatz verdankte Lan, dass Adoys Strafe nicht besonders hart ausgefallen war. Lan hatte nicht nur überlebt, auch sein Ruf war ihm geblieben. Er war sogar in den Rat gewählt worden, wohl damit Adoy ihn im Auge behalten konnte.

Aber Pierres Freundschaft hatte Lan danach verloren. Lan konnte nur mutmaßen, welche Opfer Pierre für ihn gebracht haben musste, um ihm seine Strafe zu ersparen. Der Tierarzt weigerte sich seit drei Jahren beharrlich, ihn zu treffen, oder auch nur mit ihm zu sprechen. Wie oft hatte Lan versucht, sich zu entschuldigen. Doch Pierre hatte klipp und klar gesagt, er wolle nie wieder etwas mit ihm zu tun haben. Nie würde Lan die letzten Worte vergessen, die sie vor drei Jahren miteinander gesprochen hatten. Noch heute lief ihm ein eiskalter Schauer über den Rücken, wenn er daran dachte.

Nun hatte Lan anscheinend in einer zweiten Rebellion einen zweiten guten Freund verloren.

Er atmete eine blaugraue Wolke in den Abendhimmel, als er eine weitere Kippe auf den Boden fallen ließ und sie austrat. Es war kurz nach acht Uhr abends und der Himmel war bereits nachtdunkel. Lan war sicher, er konnte die ganze Nacht auf dieser Bank sitzen und grübeln, zu einem Ergebnis würde er dennoch nicht kommen.

Im Moment wusste er nur eines mit Sicherheit. Adoy hatte K.R.O.S.S. irgendeinen Zalei als Forschungsobjekt zugesagt, und es gab einen Zalei, der sich kürzlich erneut Adoys Zorn zugezogen hatte. Wie Lan den alten Adoy einschätzte, würde er zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen wollen. Nachdem dieser Zalei auch noch ein Freund war, wusste Lan, was er zu tun hatte.
 

Gerade hatte er seine fast vollständig geleerte Zigarettenschachtel in seiner Jackentasche verstaut und stand auf, da bemerkte er erst den Schatten, den eine Person vor ihm im Licht einer Straßenlaterne warf. „Ony-“ hatte er angesetzt, sein Pferd zu rufen, doch er verstummte fast augenblicklich. Lans Blick wanderte langsam zum Besitzer des Schattens. Etwa drei bis vier Meter stand der Mann vor ihm, stumm, die Hände in den Taschen seines Mantels, eine Schlange um seine Schultern gewunden. Wie lange hatte er schon dort gestanden?

„Bonsoir.“

„Pierre…“ flüsterte Lan und versuchte dabei nicht, seine Überraschung zu verbergen. Er stand da wie versteinert, mit vor Schreck geweiteten Augen und sein Herz klopfte mindestens zwei Takte schneller. Lan hatte nie die letzten Worte vergessen, die Pierre vor drei Jahren zu ihm gesprochen hatte.

„Oh. So lange nischt gese’en, aber sofort wiedererkannt.“

Pierre lächelte ein ungewohnt kaltes Lächeln. Ganz langsam trat er näher. Lan kam es fast vor, als bewegte sich der Tierarzt in Zeitlupe. Sogar der Wind schien in Zeitlupe in seinem blonden Haar zu spielen. Eine halbe Ewigkeit schien vergangen, als Pierre schließlich vor Lan stehen blieb und ihn direkt ansah. Wie kalt seine Augen wirkten. Früher war Lan das strahlende Blau wie das des Himmels vorgekommen, heute schien es wie Gletschereis.

„Ich würd gerne sagen ‚Ich freu mich dich zu sehen‘, aber ich fürchte, die Freude wäre einseitig.“

„Meister Adoy weiß, dass du ihn vor’in belauscht ‘ast. Du bist unvorsischtig geworden.“ kam Pierre gleich auf den Punkt.

„…“ Lan hätte nicht gedacht, dass sein Herz noch schneller schlagen konnte. Doch es konnte. Lans Herz raste als wären es die letzten Takte, die es schlagen würde.

„Er bat misch, misch um disch zu kümmern. Seine Geduld ist am Ende, er ‘offt nischt mehr darauf, dass du zur Vernunft kommst.“

„Das hat er gesagt?“

„Oui.“

„Adoy sollte seinen ehemaligen Schüler besser kennen. Er weiß genau, dass ich nie zur Vernunft kommen werde.“

Pierre seufzte leise und fuhr sich durchs Haar.

„Eine Weile ‘abe isch es auch ge’offt. Du weißt, was isch vor drei Jahren für disch getan ‘abe, oui?“

Lan nickte stumm.

„Und du erinnerst disch sischer, was isch dir damals gesagt ‘abe?“

Jetzt passierte es. Lans Herz konnte nicht noch einmal einen weiteren Takt zulegen. Diesmal blieb es einfach stehen. So fühlte es sich zumindest an, bevor er mit erstickter Stimme zu sprechen begann.

„Du hast gesagt, wenn wir uns das nächste Mal sehen, werden wir Feinde sein. Und du wirst mich umbringen.“

Diesmal war es Pierre, der stumm nickte. Er senkte den Blick auf den Boden. Für einen kurzen Moment schien die Kälte aus seinen Augen zu weichen, sogar eine einzelne Träne schien aus dem Eis zu schmelzen. Doch nur für einen kurzen Moment. Als er Lan wieder direkt ansah, war das blaue Eis seiner Augen kalt und hart wie zuvor.

„Isch wollte disch wirklisch nie wieder se’en.“

Einen Augenblick standen sich die beiden jungen Männer noch schweigend gegenüber. Nur der kalte winterliche Wind heulte von Zeit zu Zeit, wenn er in ihre Haare oder Mäntel blies. Sogar Onyx stand inzwischen regungslos und stumm neben seinem Herren.

Ganz ohne ein Wort bedeutete Pierre Lan schließlich, ihm zu einem abgelegeneren Ort zu folgen. Lan senkte den Blick, atmete aus und folgte ihm ebenso wortlos, Onyx an seiner Seite. Er wusste, das Spiel war aus.
 

„Ich bin wieder dahaa!“ rief Kiku das Treppenhaus hinauf. Sie warf ihre Einkaufstüten auf die Stufen, um sich mit beiden Händen aus Mantel und Stiefel befreien zu können. Keine leichte Aufgabe, denn nebenbei musste sie noch Jack auf dem Kopf balancieren, der sein Frauchen auf diese Weise begrüßte.

„Willkommen zurück. Du warst ganz schön lang weg.“ antwortete Kei eher gleichgültig aus dem Esszimmer nebenan, wo er Robin gerade gefüttert hatte. Gleichgültig vor allem deshalb, weil er selbst vor noch nicht allzu langer Zeit von Atari nach Hause gekommen war und sich somit denselben Vorwurf gefallen lassen musste.

„Na ja. Ich musste ausnutzen, dass ich Taki raus schleifen konnte.“

„Ach so. Wie geht es ihr denn?“

„Besser. Ich glaub, sie wird wieder.“ lächelte Kiku ein wenig schüchtern, als sie sich erinnerte wie Kei sie vor einigen Wochen getröstet hatte. Kei erwiderte ihr Lächeln.

„Ähm… Sind Ryu und Yuki auch da?“ wechselte sie schnell das Thema.

„Sind beide oben. Ryu schreibt an irgendwas für die Uni. Und Yuki… also…“ Kei suchte in seinen hintersten Gehirnwindungen nach einer möglichst harmlosen Umschreibung von ‚hat sich seit Stunden in sein Zimmer verkrochen, weil er nicht weiß, wie er sich mir gegenüber verhalten soll, nachdem wir uns vorhin fast geküsst hätten‘. Er fand keine passende Umschreibung.

Die war aber auch nicht nötig, da Kiku schon ihre Tüten aufgehoben hatte und im Gleichschritt mit Jack die Stufen in den ersten Stock hinauf gehopst war, ohne den Rest des Satzes abzuwarten. Den restlichen Abend verbrachte sie damit, ihre neuen Errungenschaften ausführlich zu begutachten, insbesondere in Kombination mit dem aktuellen Inhalt ihres Schranks.
 

Die erste peinliche Begegnung mit Yuki nach ihrem Fastkuss blieb Kei an diesem Abend noch erspart. Zugegeben, sowohl er selbst als auch Yuki vermieden konsequent jede Situation, in der es zu einer zufälligen Begegnung hätte kommen können. Vielleicht auch daher das verständnislose Kopfschütteln von Ryu, als dieser zufällig Kei nach intensiven Blicken nach allen Richtungen blitzschnell vom Badezimmer in sein Schlafzimmer huschen sah.

Kei wusste nicht wirklich, wie er Yuki jetzt begegnen sollte. Er hatte vor einigen Monaten ziemlich deutlich gemacht, dass er sich nicht mehr als Freundschaft mit ihm vorstellen konnte. Einige Wochen später hatte er sich zu einem unentschlossenen ‚vielleicht ja doch‘ hinreißen lassen, und vorhin hätte er ihn beinahe geküsst. Kei war sich immer noch ziemlich sicher, dass er es getan hätte. Und er hätte es nicht einmal bereut. Aber das bedeutete nicht, dass er nicht immer noch eine Gänsehaut bekam beim bloßen Gedanken daran, irgendwann auch weiter zu gehen als bis zu einem unschuldigen Kuss.
 

Am nächsten Morgen, oder besser gesagt Vormittag, denn es war Samstag und die komplette WG hatte verschlafen, hallte nur noch das Echo seiner schweren Gedanken vom Vorabend in Keis Bewusstsein wider. Sogar Yuki beim Frühstück gegenüber zu sitzen, fiel ihm überraschend leicht.

Natürlich sprachen beide das Thema in Gegenwart von Ryu und Kiku nicht an. Vermutlich hätten sie es auch totgeschwiegen, wenn sie allein gewesen wären. Aber Kei war beruhigt, dass nicht der Hauch einer ‚Wir haben ein Geheimnis‘-Stimmung über dem Frühstückstisch lag.

Yuki benahm sich ganz normal. Er trank seinen Milchkaffee wie immer, aß sein Müsli, unterhielt sich, lächelte. Zugegeben, er war vielleicht ein kleines bisschen besser gelaunt als sonst, und wenn sein Blick zufällig Keis traf, wurde sein Lächeln noch etwas intensiver, aber sonst war alles ganz normal.

Normal war in gewisser Weise auch der zarte Ansatz von Eifersucht, als Kei ankündigte, später mit Atari Fußball schauen zu wollen. Ein bisschen fühlte sich Kei schon geschmeichelt von Yukis Eifersucht. Möglicherweise genoss Kei sie sogar ein wenig, und vielleicht provozierte er sie sogar, aber das würde er sich nie eingestehen.

„In Ordnung, aber bleib nicht wieder so lange weg. Bei dir weiß ich nie, ob ich mir Sorgen machen muss oder nicht. Und vergiss nicht, vorher noch ein bisschen mit Robin zu üben.“ ermahnte Yuki.

„Geht klar, Herr Lehrer.“

„Ich hätte heute Lust auf Kino. Will irgendwer mit?“ schmollte Kiku und meinte mit ‚irgendwer‘ natürlich Ryu.

„Ich kann nicht. Bis Montag muss ich eine Arbeit abgeben und bin ziemlich hinterher.“

„Oh Mann! Aber ich will den Film sehen.“

„Was denn für einen?“

„Tonic for a sad soul. Da spielt Juan Pelechuco mit.“

„Klingt nach einem kitschigen Chick-Flick-Movie… Frag doch Yuki, ob er mitkommt.“

„Moment mal! Wieso schlägst du mich vor, wenn’s um Chick-Flick geht?“ protestierte Yuki.

„Gute Idee! Kommst du mit, Yuki? Du hast doch bestimmt nichts Besseres zu tun.“

„Das ist doch kein Grund, um mir Juan-Pelechuco-Chick-Flicks anzuschauen.“

Kei schmunzelte insgeheim ein bisschen. Sein erster Eindruck von Yuki war damals vielleicht auch in diese Richtung gegangen, aber inzwischen wusste Kei sehr gut, dass Yuki nicht der Chick-Flick-Movie-Typ war. Manchmal konnte der erste Eindruck ganz schön trügen. Außerdem hatte Kei den leisen Verdacht, dass Yuki auch nicht auf Sunnyboys mit Perlweißlächeln à la Juan Pelechuco stand. Eher auf… rothaarige Zwerge vielleicht.

„Willst du etwa den ganzen Nachmittag vor Eifersucht brodelnd die Uhrzeiger beobachten, bis Kei endlich von Atari nach Hause kommt?“ stichelte Kiku.

„Was?! D-Das ist total…“

„Ich weiß, ich weiß. ‚Total absurd.‘ Zwischen Kei und Atari läuft schon seit Jahren nichts mehr. Nicht wahr, Kei?“ zwinkerte Kiku.

Kei hatte sich bisher unauffällig im Hintergrund gehalten. Kiku war ihm nun doch ein bisschen zu direkt, ungewollt direkt vermutlich. Kei glaubte nicht, dass Kiku die leiseste Ahnung hatte, was sich in den letzten Tagen und Wochen zwischen ihm und Yuki abspielte. Aber es war ihm mehr als unangenehm, dass ihre Witzeleien den Nagel genau auf den Kopf trafen. Wie sollte er reagieren,… mitspielen? Angriff war wohl die beste Verteidigung.

„Stimmt. Das mit Atari und mir konnte nicht gutgehen. Ich kann einfach nicht mit jemandem zusammen sein, der keine Chick-Flicks mag.“

Irgendwie bekam das Gespräch letztendlich doch noch eine Wendung, die zu einem halbwegs ernsthaften Ergebnis führte. Kei würde wie geplant mit Atari Fußball schauen, Ryu würde seine Arbeit fertigschreiben und Yuki würde Kiku ins Kino begleiten, unter der Voraussetzung, dass sie keine Chick-Flick-Movies anschauten.
 

Bevor Kei aber aufbrach, übte er unter Yukis Aufsicht noch zwei Stunden mit Robin im Garten. Wie so oft saß Yuki auf der Terrasse und beobachtete Kei wortlos über den Rand irgendeines Buches hinweg. So lange es nicht unbedingt nötig war, griff Yuki für gewöhnlich nie in Keis Übungen ein. Minuit wollte ihrem Zalei zunächst folgen, kehrte aber sofort wieder um in die Wohnung, als sie die Kälte draußen spürte. Die kleine Fledermaus hing nun an der Vorhangstange, von wo aus sie das Geschehen verfolgte.

Keis und Robins Training ging sehr gut voran. Seit ihrer verpatzten Prüfung hatten sie große Fortschritte gemacht. Robin konnte sich inzwischen in Keis Körper perfekt schlafend stellen und gehorchte in den meisten Fällen sogar aufs Wort. Seit ein paar Tagen hatte Kei deshalb angefangen, Robin auch andere Kunststücke beizubringen. Stehen und Aufstehen konnte er sogar schon. Abgesehen davon erinnerten Robins Bewegungen in Keis Körper jedoch weiterhin eher an einen Fuchs als einen Menschen. Es war ein Anblick, über den Kei sich königlich amüsieren konnte. Und nichtsdestotrotz lernte Robin erstaunlich schnell. Ein Funke Wahrheit schien also doch in der Redewendung ‚schlau wie ein Fuchs‘ zu stecken.

Vor allem hatte sich Robin vor einer Weile selbst beigebracht, wie er den Körpertausch eigenmächtig und gegen Keis Willen rückgängig machen konnte. Wenn es dem Fuchs zu bunt wurde, signalisierte er so das Ende der Übungsstunde. Yuki hatte nicht schlecht gestaunt, als Robin seine neue Fähigkeit zum ersten Mal demonstriert und Kei ganz kleinlaut „Das war ich nicht“ beteuert hatte. Nicht nur Yukis Schüler konnte ihn mit seinem großen Talent überraschen, sondern auch dessen Carn.
 

Schließlich war die Zeit für Keis Aufbruch gekommen. Er verschwand kurz in der Wohnung und in seinem Zimmer, um seine Sachen zu holen. Als er die Treppen kurz darauf wieder hinabstieg und nach seinem Carn rief, erwartete Yuki ihn schon vor der Haustür, um sich zu verabschieden.

„Viel Spaß beim Fußball.“ lächelte er. Das Lächeln war echt, aber konnte Kei nicht völlig über den letzten eifersüchtigen Beiklang hinwegtäuschen.

„Viel Spaß im Kino.“ lachte Kei, amüsiert von der Vorstellung, dass Kiku Yuki doch noch in ihren Chick-Flick-Movie zerren würde. Wie er Kiku kannte, würde sie nicht so schnell aufgeben.

„Pass auf dich auf.“

Kei hatte schon eine Hand auf die Klinke gelegt. Dieser Satz kam bei jedem Abschied. Kei war fasziniert, wie Yuki den Satz jedes Mal mit derselben Dringlichkeit aussprechen konnte. Auch nach dem tausendsten Mal war er nicht zu einer simplen Floskel verkommen, sondern drückte immer noch echte Sorge aus. Und immer noch schafften es diese einfachen Worte, Kei zu berühren.

Kei schluckte einen Kloß herunter, der gerade dabei war, sich in seinem Hals zu bilden. Er ließ die Türklinke los, drehte sich um und sah Yuki mit entschlossenem Blick direkt in die Augen. Diese Rubine inmitten der dichten Wimpernkränze, die sich von seiner blassen Haut abhoben. In diesem Moment drückten sie weit geöffnet Yukis Überraschung aus.

Bevor Yuki reagieren konnte, stand Kei schon direkt vor ihm. Keis Herz klopfte so stark, dass er fast fürchtete, Yuki könnte es hören. Dann atmete er einmal tief durch und nahm seinen Mut zusammen. Im nächsten Moment stellte er sich auf die Zehenspitzen, lehnte sich ein wenig nach vorne und streifte er den Hauch eines Kusses auf Yukis Wange.

„Du brauchst nicht eifersüchtig auf Atari sein.“

Damit fuhr Kei blitzschnell herum, griff nach der Türklinke und stürzte mit Robin hinaus, bevor Yuki sehen konnte wie sich seine Gesichtsfarbe langsam einer Tomate anglich. Kei rannte die Straße entlang und blieb erst an der nächsten Kreuzung atemlos stehen.

‚Oh. Mein. Gott.‘ dachte er bei sich ‚DAS war echt Chick-Flick der aller kitschigsten Sorte…‘

Yuki stand in diesem Augenblick immer noch wie zur Salzsäule erstarrt im Flur und blickte auf die Haustür als wüsste sie die Antwort auf seine ungestellte Frage: Was war eben passiert?
 

Auch als er etwas über zwei Stunden später mit Kiku das Haus verließ, schien Yuki immer noch etwas neben sich zu stehen. Er hörte kaum zu, als Kiku wie ein Wasserfall auf ihn einredete, ihm von diesem und jenem erzählte, ihrem Einkaufsbummel, Zeitschriften, Gerüchten, Stars,… Yuki nahm kaum jedes fünfte Wort wahr und warf von Zeit zu Zeit geistesabwesend zweisilbige Antworten wie „Aha“, „Sieh an“ oder „Nein, echt?“ ein. Kiku schein das nicht weiter zu kümmern. Sie plapperte munter weiter und schien sogar fast amüsiert, auch wenn sie nur mutmaßen konnte über den Grund für Yukis Lächeln, das er kaum unterdrücken konnte.

Yuki war so tief in Gedanken versunken, dass er gar nicht darüber nachdachte, wohin er lief. Kiku musste ihn mehr als einmal aus dem sicheren Kollisionskurs mit einer Straßenlaterne, einem Schild oder einem Baum lenken. Kein bisschen achtete Yuki auf den Weg, träumte scheinbar einfach vor sich hin und folgte Kiku wie blind, bis ihn schließlich das Motorengeräusch eines dunklen Kombi, der in einer Parklücke nur wenige Meter vor ihnen anhielt, in die Gegenwart zurückholte.

„Äh, Kiku…?“

„Ja?“

„Zum Kino wäre es an der letzten Kreuzung doch links gegangen.“ Mit fragendem Ausdruck drehte er sich zu Kiku um.

„Ja, stimmt. Wir gehen nicht ins Kino.“

Kiku grinste ihn an. Es war nicht Kikus übliches, freundlich freches Grinsen, eher schien sie ihn auszulachen. Erst jetzt wurde Yuki bewusst, dass er gar nicht darauf geachtet hatte, wohin sie ihn die ganze Zeit geführt hatte. Er wollte sich gerade umdrehen und zumindest sehen, wo er jetzt war.

Doch noch bevor er den Kopf drehen konnte, bemerkte er halb hinter sich eine Silhouette, die sich aus der Richtung des dunklen Kombis genähert haben musste. Dann war da auch schon dieser dumpfe Schmerz an seinem Hinterkopf. Das Bild vor seinen Augen schien sich zu drehen, seine Farben und Formen ineinander zu laufen. Nur wenige Wimpernschläge später war es vollständig verschwommen und löste sich schließlich in reines Schwarz auf.
 

Weiß, das war alles, was Yuki sah, als er langsam wieder zu sich kam. Das Bild wurde erst langsam wieder schärfer. So konnte Yuki zwar zwei Personen neben sich ausmachen, diese jedoch nicht erkennen. Ebenso nahm er nur Fetzen ihres Wortwechsels wahr und konnte in seinem Dämmerzustand selbst aus diesen keinen Sinn erkennen.

„Die Miss hat versprochen, dass ihm nichts passiert, nicht wahr?“ fragte die eine Stimme.

„Ja ja. Wir werden nur das neue Mittel testen.“ antwortete eine tiefere Stimme.

„Und dann lasst ihr ihn wieder gehen?“

„Ja, dann lassen wir ihn wieder gehen. Hast du seinen Carn?“

„Natürlich. Hier.“

„Setz ihn in den Käfig.“

Yuki hörte Schritte. Eine der Personen entfernte sich langsam. Dann hörte er ein Klackern, Quietschen, Kratzen und schließlich ein vertrautes Geräusch von Flügelschlägen. Als Yuki den Kopf in die Richtung der Geräuschquelle drehte, wurden die Konturen vor seinen Augen langsam deutlicher.

Er lag in einem weißen Raum, in dessen Mitte ein kleiner Käfig auf einem Tisch stand. Minuit flatterte aufgeregt in dem Käfig herum. Neben der Tür war eine breite Fensterfront mit Blick auf einen farblosen Flur. Yuki konnte gerade noch erkennen wie eine der Personen den Raum verlassen hatte und nun hinter der Fensterfront den Gang entlang verschwand. Yuki erkannte Kiku in dieser Person. Ein junger Mann war im Raum geblieben. Er hatte schwarzes Haar, das er im Nacken zu einem kleinen Zopf gebunden hatte, und er trug einen weißen Kittel.

Langsam fühlte Yuki wie die Kraft in seinen Körper zurückkehrte. Auch der pulsierende Schmerz an seinen Schläfen wurde stärker. Er wollte sich aufsetzen. Als sein Versuch scheiterte, bemerkte er erst, dass er auf einer Liege festgeschnallt war. Eine weiße Liege wie sie in manchen Arztzimmern stand. Breite, feste Riemen lagen um seine Hand- und Fußgelenke. Ein weiterer, der über seine Schultern gespannt war, hielt ihn unten. Yuki zerrte an seinen Fesseln, musste aber schnell aufgeben. Keinen Millimeter wollten sie nachgeben.

Der junge Mann hatte nun aber Yukis Erwachen bemerkt und sich zu ihm umgedreht. Er legte einen Apparat auf den Tisch, den er eben begutachtet hatte, und kam näher. Nachdem er Yuki einen Moment gemustert hatte, setzte er sich auf die Seite der Liege.

„Guten Morgen.“ spottete er, als er sich fast direkt über Yuki lehnte.

„Was soll das? Wo bin ich?“

„Du bist in der Zentrale von K.R.O.S.S. und darfst bei unserer Forschung helfen.“

„Was…?“

Für Yuki gab alles keinen Sinn. K.R.O.S.S.? Warum? Wollte Kiku nicht mit ihm ins Kino gehen? Warum K.R.O.S.S.? Was hatte Kiku mit K.R.O.S.S. zu tun? Hatte sie ihn hierher gebracht?

„Wir brauchen eine Versuchsperson für ein neues Mittel. Meister Adoy hat uns dich empfohlen.“

Das Grinsen des jungen Mannes wurde breiter. Er strich sich ein paar Strähnen aus dem Gesicht, die somit sein offensichtlich blindes, rechtes Auge freigaben. Er zwinkerte Yuki zu.

„Ich freu mich, dich persönlich kennenzulernen, Yuki Natsukori. Ich habe durch unseren Informanten schon viel von dir gehört.“

„Informanten…?“ wiederholte Yuki verständnislos.

„Ja. Er… oder besser, Sie hat mir immer wieder erzählt, dass du dich gegen Meister Adoy gestellt hast. Du sollst die Entwicklungen deines Schülers verheimlicht, Berichte gefälscht und deinem Schüler nun auch noch zum Durchfallen geraten haben. Meister Adoy war nicht sehr glücklich darüber.“

Der Schreck weckte nun wohl auch den letzten noch schlafenden Teil in Yuki auf. Meister Adoy hatte also von einem Informanten von den gefälschten Berichten erfahren, auch von Keis Prüfung und wer weiß von was noch.

Es war nun kein Detektivstreich mehr, sich zusammenzureimen, dass der Informant Kiku gewesen sein musste. Kiku, das fröhliche, niedliche Mädchen, das seit Jahren als Freundin und fast wie eine kleine Schwester mit ihnen zusammenlebte. Kiku hatte also die ganze Zeit mit Meister Adoy, und was vielleicht noch schlimmer war, mit K.R.O.S.S. gemeinsame Sache gemacht.

Yuki konnte kaum einen klaren Gedanken fassen. Er konnte nicht einmal sagen, ob er wütend, traurig, enttäuscht, verzweifelt, verwirrt oder ängstlich war. Es war in gewisser Weise alles zur selben Zeit. Keine Worte, die er kannte, hätten beschreiben können, was sich in diesem Moment in ihm abspielte.

„Nachdem Meister Adoy nun genug von deinen Flausen hatte, hat er dich uns als Versuchsperson angeboten.“ beiläufig zuckte der Mann mit den Achseln. „Sieh’s positiv. Zumindest entgehst du damit seiner Strafe.“

Yuki sah ihn ungläubig an, verkniff sich aber jeden Kommentar. Seine Gedanken wären ohnehin nicht klar genug gewesen, um einen halbwegs vernünftigen Satz aus ihnen zu formulieren.

„Nun ja. Zumindest wenn unser neues Mittel wirkt und du überlebst. Sagen wir’s so.“

Damit stand der Mann auf und kehrte zum Tisch in der Raummitte zurück, wo er sich wieder seinem Apparat widmete. Die nächsten Minuten, vielleicht eine halbe Stunde, vielleicht länger – Yuki hatte sein Zeitgefühl verloren – verbrachten beide schweigend. Yuki beobachtete den anderen von Zeit zu Zeit, um zu verstehen, was er tat. Die meiste Zeit starrte er aber einfach nur an die weiße Decke über sich und versuchte, seine Gedanken zu ordnen.

Der Mann von K.R.O.S.S. bereitete inzwischen allerlei Gerätschaften vor. Er zerrte eine große Maschine aus einer Nische fast direkt ans Kopfende von Yukis Liege, leider außerhalb von dessen Sichtfeld. Auf dem Tisch breitete er einige Fläschchen mit verschiedenfarbigem, flüssigem Inhalt, sowie mehrere Instrumente aus.

Die Stille endete, als eine Frau mit großen dunklen Locken das Zimmer betrat. Auch sie trug einen weißen Kittel und hielt etwas in der Hand, das aussah wie ein Diktiergerät.

„Ist alles vorbereitet, Suzumaru? Die Miss hat uns grünes Licht gegeben.“

„So weit ist alles fertig. Von mir aus können wir loslegen.“

Die Frau mit den Locken stellte ihr Gerät auf ein Regal an der Wand, die der Liege gegenüberlag. Nachdem sie ein paar Knöpfe gedrückt hatte, nahm sie auf einem Stuhl neben der Tür Platz, den Yuki erst jetzt bemerkte. Der Mann trat zur Stirnseite der Liege, stützte sich auf beiden Händen links und rechts neben Yukis Kopf ab und grinste ihm direkt ins Gesicht.

„Showtime!“

Angst und Leid

Kapitel 20 – Angst und Leid
 

„Showtime“ grinste der Mann Yuki direkt ins Gesicht.

Yukis Herz schien vor Schreck stehen zu bleiben. Er konnte sich nicht erinnern, wann er zuletzt solche Angst gehabt hatte. Falls er überhaupt jemals solche Angst gehabt hatte. Was hatten diese Typen von K.R.O.S.S. nur mit ihm vor?

Der Mann, Suzumaru, wenn Yuki vorhin richtig gehört hatte, musterte Yuki einen Moment. Als ihm bewusst wurde, dass Yuki sein Schweigen nicht brechen würde, nickte er knapp in Minuits Richtung.

„Würdest du uns bitte den Körpertausch zeigen, Yuki Natsukori?“

Unwillkürlich folgte Yuki Suzumarus Blick zu seinem Carn. Minuit hatte sich ein wenig beruhigt und saß nun still am Boden des Käfigs in der Raummitte. Wäre sie weiter so ängstlich herumgeflattert wie vorhin, hätte Yuki sich Sorgen gemacht, dass sie sich verletzen könnte. Gleichzeitig kannte er jedoch seine Fledermaus gut genug, um zu wissen, dass ihre Stille nicht bedeutete, ihre wäre Angst verflogen. Minuit verstand sehr gut, dass irgendetwas nicht stimmte. Yuki war mit ihr verbunden und spürte ihre Angst, so wie Minuit auch die seine spüren musste.
 

„Na? Zeigst du uns den Körpertausch?“ wiederholte Suzumaru ungeduldig seine Frage.

Yuki überlegte einen Moment. Er hatte keine Ahnung, was K.R.O.S.S. vorhatte. Aber aufgrund dessen, was er bisher über die Organisation wusste, ging er davon aus, dass es nichts Gutes war. Und so konnte es für ihn nur eine Antwort geben, als er sich wieder dem Mann zuwandte, der immer noch über ihm lehnte.

„Kommt nicht in Frage.“

„Hab ich mir gedacht. Dann eben auf die harte Tour.“ erwiderte Suzumaru ebenso knapp wie gleichgültig.

Seine Hände lösten sich von der Liege und er trat einen Schritt zurück. Yuki hörte am Knarzen und Kratzen, dass er die Maschine, die er vorhin dort abgestellt hatte, noch ein Stück näher an die Liege rutschte. Yuki konnte sie noch immer nicht sehen, da sie wohl halb unter der Liege stehen musste. Was war das für ein Gerät? Was hatte der Mann jetzt vor?

Yukis Herz raste wie wild. Seine Atmung ging flach und unruhig. Ein weiteres Mal zerrte Yuki verzweifelt an seinen Fesseln. Sie gaben nicht nach. Auch waren sie zu eng, als dass wenigstens eine Hand hätte hinausschlüpfen können. Das einzige Ergebnis seiner verblichen Mühen waren, dass er seine Handgelenke aufschürfte.

Suzumaru beobachtete Yuki einen Moment grinsend, aber wortlos. Nachdem Yuki aufgegeben hatte, hielt er einen Schlauch hoch, der zu der Maschine führen musste. An seinem Ende saß etwas, das nach einer Atemmaske aussah.

Yuki versuchte noch, den Kopf zur Seite zu drehen und dem Gerät auszuweichen, doch Suzumaru folgte seiner Bewegung und setzte ihm die Maske auf. Yuki hörte wie er kurz darauf ein paar Knöpfe an der Maschine drückte. Dann hörte er ein Zischen und fühlte einen Luftzug aus der Maske. Yuki presste die Augen zusammen und hielt die Luft an, um was auch immer aus diesem Schlauch strömte, nicht einatmen zu müssen.

„Ach, wir haben Zeit.“ lachte Suzumaru kurz auf.

Er brauchte nur abzuwarten, bis Yuki nicht mehr die Luft anhalten konnte. Allzu lange dauerte es nicht. Mit einem ersten kurzen Atemzug strömte das merkwürdige Gas in Yukis Lunge. Es roch übel, stechend und übel. Ganz anders als alles, was Yuki je gerochen hatte. Allein der Geruch schien ihn fast zu ersticken. Yuki hustete ein paarmal schwach, konnte sich aber nicht gegen das Gas wehren.

Nach ein paar Augenblicken hatte er so viel davon eingeatmet, dass seine Wirkung einsetzte. Ein Kribbeln breitete sich von Yukis Atemwegen ausgehend langsam in seinem ganzen Körper aus. Das Gefühl glich dem, wenn sein Bein eingeschlafen war. Es kribbelte und schmerzte gleichermaßen. Yuki spürte wie sein Körper verkrampfte, seine Glieder sich unter dem unangenehmen Gefühl wunden.

Dann übermannte ihn plötzlich eine gewaltige Müdigkeit. Seine Lider wurden schwer. Er blinzelte. Bei jedem Mal wurde es anstrengender, seine Augen wieder zu öffnen.

Kurz bevor er das Bewusstsein verlor und sein Kopf kraftlos zur Seite kippte, nahm er aus dem Augenwinkel noch Suzumarus Arm wahr, der die Maske von seinem Gesicht nahm.
 

Als Yuki die Augen wieder aufschlug, sah er zuerst Gitterstäbe. Er saß in Minuits Käfig auf dem Tisch in der Raummitte. Durch das Gitter sah er sich selbst regungslos auf der Liege. Suzumaru drückte ein paar Knöpfe der Maschine und legte die Atemmaske beiseite. Was auch immer dieses Gas war, es hatte Yuki offensichtlich gegen seinen Willen in Trance versetzt und ihn gezwungen, in Minuits Körper zu fahren. Sofort versuchte Yuki, den Körpertausch wieder zu lösen. Doch er konnte es nicht. Über solche Mittel verfügte K.R.O.S.S. also.

Minuit regte sich in Yukis Körper. Normalerweise zog sie es vor, sich in Yukis Körper schlafend zu stellen. Aber Yuki konnte nachvollziehen, dass sie unter diesen Umständen zu aufgeregt war, um still liegen zu bleiben. Sie schlug die Augen auf und sah ängstlich um sich. Schließlich traf ihr Blick den ihres Zalei und verharrte dort. Yuki hielt den Augenkontakt, als könnte er seinen Carn durch ihn eine Botschaft übermitteln.

Suzumaru sah Yukis Körper lange prüfend an. Bevor er den Blick abwandte, nickte er knapp. Dann kam er zum Käfig herüber und wiederholte das Schauspiel mit Minuits Körper. Zufrieden wandte er sich schließlich an die Frau mit den Locken.

„Es hat funktioniert. Wir haben hier einen echten Zalei.“

„Dummkopf! Welches Interesse hätte Meister Adoy daran, uns eine Versuchsperson zu verweigern? Fang endlich an mit dem eigentlichen Experiment.“

Das war noch nicht das eigentliche Experiment? Erst jetzt fielen Yuki die Fläschchen und Instrumente ein, die Suzumaru vorhin auf dem Tisch ausgebreitet hatte. Sie mussten immer noch neben dem Käfig liegen. Yuki drehte sich um, um einen Blick auf sie zu werfen. Doch schlau wurde er nicht aus dem Anblick.

Die Fläschchen trugen Etiketten mit Buchstaben- und Zahlenfolgen, die er nicht entziffern konnte. Die Instrumente waren vielfältig, von Pinzetten über Messer und Spritzen bis hin zu welchen, die wie ein Radiergummi oder eine Nagelfeile aussahen. Yuki hatte nicht die geringste Ahnung, wozu die Instrumente dienten. Vielleicht machte ihm das sogar die größte Angst.
 

Ein paar Minuten mussten alle Anwesenden abwarten, bis die Wirkung des Gases endlich nachließ und Yuki in seinen eigenen Körper zurückkehren konnte. Sofort spürte er wieder dieses unangenehme Kribbeln von dem Gas, das erst nach und nach nachließ. Yuki gab sich Mühe, genauso ruhig liegen zu bleiben wie Minuit gelegen hatte. Aber irgendwie schien Suzumaru dennoch sofort zu bemerken, dass der Körpertausch gelöst war.

„Zeit für Runde zwei!“ kündigte er an.

Er rieb sich die Hände, während er sich von seiner Gesprächspartnerin löste und zum Tisch trat. Er hatte Yuki den Rücken zugewandt, so dass dieser nur hören, aber nicht sehen konnte wie Suzumaru die Fläschchen und Instrumente bewegte.

„Nur pro forma, wirst du jetzt mitarbeiten?“ fragte er wie beiläufig über seine Schulter.

„Auf keinen Fall.“ antwortete Yuki, wenn auch nicht mehr ganz so energisch wie zuvor.

„Kein Problem. Hierfür gibt es sowieso keine sanfte Tour.“

Mit einem dumpfen Plopp setzte Suzumaru den Stöpsel zurück auf das Gefäß in seiner Hand und dieses kurz darauf wieder auf den Tisch. Irgendeines der Instrumente hob er auf und steckte es wohl in seine linke Kitteltasche. Als er sich umdrehte und Schritt für Schritt langsam auf Yuki zukam, hielt er nur noch eine Spritze in der Hand. Sie war voll aufgezogen mit einer rostbraunen Flüssigkeit.

Yukis Herz raste wie wild.

Etwa einen halben Meter vor der Liege blieb Suzumaru stehen, hielt die Spritze hoch und betrachtete sie prüfend gegen das Licht. Dann schnippte er in schneller Bewegung zweimal mit dem Finger gegen den Körper und drückte ein paar Luftbläschen zusammen mit einigen Tropfen der Flüssigkeit heraus.

„W-was ist das?“ fragte Yuki heiser.

„Ein Mittel namens aX-482-L, das K.R.O.S.S. entwickelt hat… Im Auftrag des Zalei-Rates, falls dich das interessieren sollte.“

„Und was bewirkt es?“

„Das siehst du gleich.“ antwortete Suzumaru spöttisch zu Yuki herab.

Daraufhin beugte er sich herunter und griff nach Yukis Arm. Obwohl er nach seinen letzten Fehlversuchen wusste, dass die Fesseln nicht nachgaben, zerrte Yuki erneut an ihnen. Wenn er sich schon nicht befreien konnte, so versuchte er wenigstens, Suzumarus Hand auszuweichen. Natürlich gelang es ihm nicht. Sowohl sein Handgelenk als auch seine Schulter waren fest fixiert. Trotz Gegenwehr war es Suzumaru ein Leichtes, Yukis Ärmel bis über dessen Ellenbogen nach oben zu schieben. Dann umgriff er die Spritze und brachte sie in Position.

Wieder war jeder Ausweichversuch vergeblich. Kurz bevor die Nadel seine Haut berührte, drehte Yuki den Kopf zur Seite, presste die Augen fest zusammen, ballte seine Hände zu Fäusten und biss die Zähne auf einander. Er hörte das Rasen seines eigenen Herzen so laut in seinen Ohren, dass sogar Suzumarus Lachen dagegen fast verstummte.

Dann fühlte er das Pieken in seinem Arm. Er glaubte sogar zu spüren, wie sich die Flüssigkeit kühl in seinen Adern ausbreitete.

Und dann passierte eine Weile lang überhaupt nichts. Misstrauisch verharrte Yuki zunächst noch in seiner Starre. Er hatte damit gerechnet, dass sich erneut ein Schmerz oder Kribbeln in seinem Körper ausbreiten würde, ähnlich wie bei dem Gas. Doch es passierte zunächst wirklich gar nichts. Auch wenn er noch nicht wusste, ob das ein Grund zur Erleichterung war, wagte Yuki zumindest, die Augen wieder zu öffnen. Er sah, dass Suzumaru wieder an der Stirnseite der Liege stand. Der Mann starrte auf seine Armbanduhr.

Es waren wohl zwei Minuten vergangen, da löste Suzumaru den Blick von seiner Uhr.

„Dann wollen wir mal sehen, ob unser aX-482-L auch funktioniert.“

Nach einem kurzen, prüfenden Blick auf Yuki, griff er erneut nach der Maschine an seiner Seite. Wie schon vorhin zog er den Schlauch herauf und setzte die Atemmaske über Yukis Gesicht. Zwei bis drei Knopfdrücke und wieder drang dieser unangenehme beißende Geruch in Yukis Nase. Zunächst schien alles abzulaufen wie schon vorhin. Wieder wand sich Yuki gequält soweit es seine Fesseln erlaubten. Ein unangenehmes Kribbeln und schmerzende Glieder, gefolgt von einer überwältigenden Müdigkeit. Kurz darauf verlor er das Bewusstsein und erlangte es in Minuits Körper wieder.

Was anders war als vorhin, war Suzumarus Reaktion. Eher widerwillig entfernte er die Maske von Yukis Gesicht. Der Blick, den er seiner Kollegin zuwarf, zeugte von Enttäuschung.

„Noch keine Wirkung nach zwei Minuten.“ stellte sie nüchtern fest, während Suzumaru erneut auf seine Armbanduhr stierte.

Yuki hatte Angst. Nicht nur er, sondern auch Minuit. Er konnte die Angst seines Carn sowohl sehen als auch fühlen.
 

Etwas schneller als vorhin löste sich der Körpertausch schließlich wieder. Diesmal aber schienen das Kribbeln und der Schmerz nicht abzunehmen. Fast unvermindert begrüßten sie Yuki bei der Rückkehr in seinen Körper. Von ihnen überrumpelt konnte er sich ein schmerzvolles Stöhnen nicht verkneifen. Wieder wand er sich auf seiner Liege, schürfte seine Haut noch mehr auf, wo sie gegen die Fesseln rieb. Doch gegen den dumpfen Schmerz in seinem ganzen Körper war das Brennen auf seiner Haut eine fast angenehme Ablenkung.

Kurz darauf löste Suzumaru sich abermals von seiner Uhr, um Yuki die Atemmaske aufzusetzen. Das Spiel begann von Neuem. Der Schmerz wurde stärker. Alles tat weh. Jedes Glied seines Körpers schmerzte mehr und mehr. Der bisher dumpfe Schmerz verwandelte sich in immer unerträglichere Qualen. Bald wand Yuki sich nicht mehr nur, sondern kämpfte verzweifelt gegen seine Fesseln. Er riss den Kopf hin und her im vergeblichen Versuch, die Maske abzuschütteln. Nie hatte er solche Schmerzen gefühlt. Kein Zentimeter seines Körpers, der nicht höllisch brannte.

Es kam Yuki vor wie eine Ewigkeit, bis ihn endlich die Müdigkeit übermannte und ihn für einen kurzen Augenblick von diesen Qualen erlöste.

„Keine Wirkung nach vier Minuten.“ hielt die Frau mit den Locken fest, während Suzumaru die Atemmaske aufhob.

Von Minuits Käfig aus konnte Yuki daraufhin beobachten, dass sein Carn unter denselben Schmerzen litt. Sie tat Yuki unendlich leid, als er sah wie sie sich genauso vergeblich wand wie er kurz zuvor.

Nur kurz darauf war er es wieder, der leiden musste. Noch kürzer als die ersten beiden Male hatte der Körpertausch gehalten. Yuki schnappte nach Luft. Sogar das Atmen tat ihm weh. Er konnte kaum noch die Augen offen halten, so sehr brannten sie.
 

Wie Suzumaru die Atemmaske erneut über auf sein Gesicht setzte, konnte er mehr fühlen als sehen. Selbst wenn er die Augen mit aller Mühe offen hielt, wurde das Bild von ihnen immer trüber. Hören konnte Yuki neben seinem eigenen Herzschlag, dem Rascheln seiner Kleidung und seinem stockenden Atem nichts mehr. Sogar den üblen Geruch des Gases nahm Yuki kaum noch wahr. Nur das stärker werdende Brennen jedes Atemzugs verriet ihm, dass er mehr davon eingeatmet hatte.

Während Yuki wenige Minuten zuvor vor Schmerz nicht stillliegen konnte, brachte er nun kaum noch die Kraft auf, sich zu bewegen. Sein Ringen wurde schwächer und schwächer. Schließlich war sogar die Qual zu groß, auch nur den kleinen Finger zu rühren. Zu diesem Zeitpunkt war Yuki kaum noch bei Bewusstsein.

Allerdings war der Grund dafür nicht das Gas, das ihn ermüden ließ. Müdigkeit konnte Yuki zwar tatsächlich auch neben seinen Schmerzen spüren. Doch diese Müdigkeit war bei Weitem nicht groß genug, um ihn in Trance zu versetzen oder ihn sogar zum Körpertausch zu zwingen.

Es fühlte sich an, als kämpften zwei Kräfte in seinem Körper gegen einander. Die eine wollte sein Bewusstsein unbedingt aus seinem Körper in den von Minuit übertragen, während die andere sein Bewusstsein in seinem eigenen Körper einsperren wollte. Das Zerren beider in seinem Kopf fühlte sich fast an, als würde sein Schädel bald zerspringen. Nie gekannte Kopfschmerzen, die Yuki fast verrückt machten. Im Ergebnis blieb er in seinem Körper gefangen und seinen Qualen ausgeliefert. Mit einem der letzten annähernd klaren Gedanken, die Yuki noch fassen konnte, fragte er sich, ob er dieses Experiment überleben würde.

„Die Wirkung tritt nach zirka sechs Minuten ein.“ erklärte die Frau mit den Locken.

„Vielleicht verzögert das Mittel nur.“

Suzumaru schien auf Nummer sicher gehen zu wollen. Diesmal befreite er Yuki noch nicht von der Atemmaske, sondern wartete noch zwei weitere Minuten ab. Erst als Yuki danach keine Veränderung zeigte, bestätigte er die Feststellung seiner Kollegin. Diese verließ daraufhin den Raum, um der Miss sofort Bericht zu erstatten.

Suzumaru blieb zurück, um die verwendeten Instrumente und Mittelchen aufzuräumen. Nur hin und wieder warf er dabei einen Blick auf Yuki, kümmerte sich aber nicht weiter um ihn. Der Versuch war erfolgreich durchgeführt worden und damit hatte die Versuchsperson sein Interesse verloren. So hatte Suzumaru auch keine Skrupel, Yuki allein zurückzulassen. Mehr tot als lebendig überließ er das ausgediente Versuchskaninchen seinem Schicksal.
 

Nachdem er den Nachmittag konsequent an seiner Arbeit weitergeschrieben hatte, war Ryu inzwischen guter Hoffnung, seinen Abgabetermin doch noch einhalten zu können. In letzter Zeit war viel passiert, das ihn gezwungen hatte, sein Studium sträflich zu vernachlässigen.

Die Hauptursache war natürlich die Rebellion gegen den Rat, aber auch seine Ratstätigkeit selbst. Ryu musste zugeben, dass er beides unterschätzt hatte. Sowohl die Vorbereitungen für die Ratssitzungen, als auch die Recherchen für ihre Rebellen-Homepage nahmen viel mehr Zeit in Anspruch als er erwartet hatte. Dass sein Vater sich wieder einmal ohne Erklärung aus dem Staub gemacht hatte und die meiste Arbeit damit an ihm hängen blieb, machte alles nicht einfacher. Außerdem musste er auch noch in zwei Jobs beim Fairy Tales-Park und in Pierres Praxis Geld für die WG verdienen, Kiku zum Zalei ausbilden und sich allgemein um seine drei jüngeren Mitbewohner kümmern. Mit seinen 22 Jahren musste Ryu fast allein die Verantwortung für die ungewöhnliche Wohngemeinschaft stemmen.

Folglich waren Ryus Zeit knapper geworden, seine Noten schlechter, seine Laune gereizter und seine Wut auf seinen Vater größer. Vor allem seine Mitbewohner hatten in letzter Zeit oft unter seiner schlechten Stimmung leiden müssen. Ryu hatte sich vorgenommen, das wieder gutzumachen, sobald er diese Arbeit endlich beendet hätte. Sein schlechtes Gewissen drückte ihn schon seit Längerem.

Etwa gegen sechs Uhr beschlich Ryu das Gefühl, dass er sich von seinem Abgabetermin vermutlich doch verabschieden musste. Sein Handy klingelte unerbittlich. Anfangs versuchte Ryu noch, es zu ignorieren. Er versuchte sich einzureden, dass es nur ein Kollege war, der mit ihm die Schicht tauschen wollte. Oder ein Kommilitone, der ihn um seine Unterrichtsnotizen bitten wollte. Oder Pierre, der ihn zu einer Verabredung überreden wollte. Aber keine dieser Erklärungsversuche konnten den Gedanken ‚Vielleicht ist es aber doch wichtig?‘ aus Ryus Kopf vertreiben. Also knurrte er missbilligend, ließ seinen Stift fallen, schob seinen Schreibtischstuhl zurück und griff nach seinem Handy, das auf dem Nachttisch lag.

„Hallo?“

Schweigen am anderen Ende. Ryu konnte nur Straßengeräusche und schwere Schritte im Hintergrund hören.

„Wer ist denn da?“

„… Ryu? Gott sei Dank…“ hauchte eine Stimme mehr als sie sprach. Sie war so leise, dass Ryu das Handy fest ans Ohr pressen musste, um überhaupt etwas zu hören.

„Ja, ich bin’s. Was ist denn?“

Wieder keine Antwort. Nur der Straßenlärm, die schweren Schritte und unruhiges Atmen. Ryu wartete einen Moment, ob sich die Stimme nicht doch noch einmal melden würde. Er lauschte inzwischen den Geräuschen. Diese schweren Schritte... Das waren keine Schritte. Es waren Hufe.

„Lan, bist du das?“

Auch diesmal erhielt Ryu zunächst keine Antwort. Spätestens jetzt machte er sich ernsthaft Sorgen. So ein Anruf an sich war schon Anlass zur Sorge. Noch viel mehr, wenn er wirklich von Lan stammte.

„Lan…?“

„… bin am Spielplatz hinter der alten Tennisanlage. Ryu…“

„In Ordnung. Ich komme sofort. Ok? Warte dort auf mich.“

Ryu legte auf, schickte eine Mischung aus einem Fluch und einem Stoßgebet zum Himmel, während er das Handy kraftvoll auf sein Bett schleuderte. Dann griff er nach seiner Jacke und stürzte zur Tür hinaus. Erst als er die Haustür schon hinter sich zugeworfen hatte, fiel ihm ein, dass es vielleicht nicht die dümmste Idee gewesen wäre, das Handy mitzunehmen. Aber nachdem er sich beeilen musste, wollte er nicht noch einmal umdrehen.
 

Ryu joggte den größten Teil der Strecke. Unterwegs war ihm auch eingefallen, dass er eigentlich auf seinem Esel Sleipnir hätte reiten können. Ganz offensichtlich war Ryu unter Stress nicht der klarste Denker. Aber auch zu Fuß erreichte er den angegebenen Spielplatz hinter der nicht mehr genutzten Tennisanlage nur etwa zwanzig Minuten nach Lans Anruf. Schon von Weitem konnte er das schwarze Pferd erkennen, das ihm mit gesenktem Kopf langsam entgegen trabte. So wie Ryu näher kam, bemerkte er, dass Lan auf dem Rücken seines Carn lag. Sein Kopf ruhte auf dem Nacken des Tieres, seine Arme baumelten an seinen Seiten herab.

Die letzten Meter sprintete Ryu zu ihnen hinüber, während er wieder und wieder Lans und Onyx‘ Namen rief. Das Pferd schnaubte als wolle es antworten, doch Lan meldete sich nicht.

Zunächst griff Ryu nach den Zügeln und führte Onyx zum Rand des Spielplatzes, wo eine Reihe von Parkbänken stand. Dann hob er Lan vorsichtig von seinem Rücken und legte ihn auf eine von ihnen.

Lan atmete genauso unruhig wie bei seinem Anruf. Sein Haar war zerzaust, der Stoff seiner Jacke und Jeans zerrissen. An diesen Stellen gab der Stoff den Blick auf zahlreiche Kratzer und blaue Flecke frei. Über seinem linken Auge prangte eine Platzwunde, von der aus sich eine Blutspur bis über seine Wange zog. Lan sah aus wie nach einer Schlägerei.

„Lan. Hörst du mich?“ fragte Ryu mit beruhigender Stimme.

Lan nickte und öffnete unter anscheinend großer Anstrengung die Augen. Als er Ryu erkannte, lächelte er fast ein wenig erleichtert.

„Ryu, es tut mir leid. Ich hab gedacht, du bist der Verräter. Es tut mir leid.“ murmelte er eine Entschuldigung, die in Ryus Ohren überhaupt keinen Sinn ergab.

„Wieso Verräter? Was ist passiert, Lan? Wer hat dich so zugerichtet?“

„Ich hab Adoy belauscht. Er arbeitet tatsächlich mit K.R.O.S.S. zusammen. Pierre ist auch auf seiner Seite und sollte mich umbringen.“

„Pierre war das? Aber dann…“

„Sie hat mich nicht gebissen. Antoinette meine ich. Er hat nur… Das wird wieder, bin ok… Nicht schlimmer als sonst… Und Onyx hat nur zwei Kratzer abgekriegt. Diesmal hab ich auf ihn aufgepasst, wie du immer gesagt hast…“

Ryu überlegte, ob Lan einfach so kaputt, oder ob sein wirres Gestammel möglicherweise das Ergebnis seiner Kopfverletzung war. Auf jeden Fall war er verletzt. Selbst wenn er kein Kobragift von Pierres Carn abbekommen hatte, musste er verarztet werden. Hier sah Ryu im Moment die höchste Priorität. Über Meister Adoys Zusammenarbeit mit K.R.O.S.S. oder Pierres Rolle konnte er sich später Gedanken machen. Auch wenn ihn beides natürlich schockierte.

„Ich bring dich jetzt erst mal nach Hause. Du kannst mir später erzählen, was genau passiert ist.“

Ryu stand auf und sah sich Onyx zunächst genauer an, bevor er entschied, ob er Lan mit seiner Hilfe transportieren konnte. Der Hengst hatte tatsächlich nur zwei kleinere Kratzer abbekommen, wie Lan gesagt hatte. Also hatte er sich vielleicht endlich Ryus Worte zu Herzen genommen und besser auf seinen Carn aufgepasst. Jetzt musste Ryu ihm nur noch beibringen, auf sich selbst genauso Acht zu geben. Ryu schüttelte resignierend den Kopf.
 

Lan war in der Zwischenzeit schon fast erneut weggetreten. Doch er kam wieder zu sich, als Ryu mit einem Arm unter seine Schultern und mit dem anderen unter seine Knie fasste, um ihn hochzuheben. Erschrocken riss er die Augen auf.

„Ich hab das Wichtigste vergessen!“

„Was denn?“

„Wo ist Kiku? Und Yuki? Er ist in Gefahr! Kiku ist der Verräter!“

„Was meinst du?“ fragte Ryu ungläubig und wunderte sich, ob Lans Kopfverletzung doch so schlimm war.

„Kiku arbeitet für K.R.O.S.S. und soll Yuki zu ihnen bringen.“

„Spinn doch nicht. Kiku würde nie…“

„Ich spinn nicht! Was glaubst du denn, warum K.R.O.S.S. von jedem unserer Schritte sofort Wind bekommen hat? Zuerst dachte ich, du wärst ihr Informant. Aber Pierre hat sich vorhin verplappert.“

„Und was hat das mit Yuki zu tun?“

„Adoy ist sauer auf Yuki, weil der ihn schon zum zweiten Mal wegen Kei hintergangen hat. Deswegen will er ihn K.R.O.S.S. als Versuchskaninchen opfern.“

Lan konnte förmlich zusehen wie Ryu immer blasser wurde. Gleichzeitig spürte er wie langsam die Kraft aus den Armen wich, die ihn noch immer hielten, und sie zu zittern begannen.

„Wenn du mich verstanden hast, dann lass mich endlich los und sieh zu, dass du deinen kleinen Bruder findest!“
 

Einige Zeit verging, bevor sich wieder etwas tat in dem weißen Raum in der K.R.O.S.S.-Zentrale. In dieser Zeit lag Yuki einfach nur da, unfähig zur kleinsten Bewegung und kaum bei Bewusstsein. Seine ohnehin blasse Haut war fast schneeweiß geworden. Kleine Schweißperlen glänzten auf seiner Stirn, rote Blutspuren an seinen Handgelenken, wo er diese an den Fesseln aufgerieben hatte. Sein Haar fiel in wirren Strähnen um sein Gesicht und über seine Schultern. Nur kaum hörbare Atemzüge bestätigten, dass er noch am Leben war.

Minuit schien es so weit gut zu gehen. Sie war unverletzt und von den Schmerzen verschont geblieben, die ihren Zalei fast bis zur Besinnungslosigkeit gequält hatten. Aber ihre Angst war unvermindert. Fast panisch flatterte sie in ihrem Käfig herum. Immer wieder hielt sie inne und knabberte an den Gitterstäben, nur um kurz darauf erneut panisch aufzuflattern.

Ausgerechnet Kiku öffnete schließlich zögerlich die Tür und trat mit unsicheren Schritten ein. Sie zitterte am ganzen Leib wie Espenlaub. Tränen hatten sich in ihren wasserblauen Augen gesammelt. Die Spuren auf ihren Wangen verrieten, dass es nicht die ersten waren, die sie vergoss.

Ganz langsam setzte sie einen Fuß vor den anderen und stand dabei so unsicher, dass ihre Knie jeden Augenblick nachzugeben drohten. Direkt vor Yukis Liege sank sie schließlich tatsächlich nieder. Kiku wäre vielleicht komplett auf dem Boden zusammengebrochen, wenn sie sich nicht mit dem rechten Arm am Rand der Liege abgefangen hätte. Ihre Hand tastete suchend nach Yukis. Als sie sie fand, schlossen sich ihre Finger zitternd um die seinen. Yukis Hand war eiskalt, seine Finger leblos.

„Y-Yuki…“ schluchzte sie völlig heiser. Ihre Stimme schien in ihren Tränen erstickt. „Es tut mir so leid. Sie haben mir gesagt, dass dir nichts passiert. Sie haben es mir versprochen. Hoch und heilig haben sie es mir versprochen. Die Miss selbst… Es tut mir so leid.“

Einige Minuten verstrichen, in denen Kiku Yukis Hand hielt, sich wieder und wieder entschuldigte und eine endlose Zahl an Tränen vergoss. Sie wusste nun, dass jeder sie angelogen hatte, der ihr versprochen hatte, Yuki würde nichts passieren. Wie naiv sie gewesen war. Sie hatte auch begriffen, dass K.R.O.S.S. nicht die Guten in diesem Spiel waren. Sie war nur ausgenutzt worden. Und ihr war auch bewusst, dass sie nie wieder gutmachen konnte, was sie angerichtet hatte, egal wie leid es ihr tat.

Aber zumindest konnte sie Yukis Leben retten. So schluchzte sie ein letztes Mal, wischte mit ihrem Ärmel die vorerst letzten Tränen aus ihrem Gesicht und stand mit neugefundener Entschlossenheit auf. Sie hatte Yuki hier reingebracht und sie würde ihn auch wieder rausbringen. Mit zitternden Fingern begann sie, die Riemen zu lösen, die Yuki an die Liege fesselten.
 

Alles suchte Ryu nach seinem Bruder und seiner Schülerin ab. Kaum hatte Lan seinen Satz beendet, da hatte er ihn auf das Pferd gehoben, war hinter ihm aufgestiegen und losgaloppiert. Die Angst um seinen Bruder ließ ihn für eine Weile sogar jedes Mitleid mit dem entkräfteten Pferd und seinem verletzten Freund vergessen.

Zwei- oder sogar dreimal ritt er den Weg zum Kino und zurück ohne eine Spur zu finden. Im Kino selbst fragte er mehrere Angestellte, aber niemand konnte sich an ein Paar erinnern, auf das die Beschreibung von Yuki und Kiku passte. Auch in sämtlichen Gaststätten in der Umgebung des Kinos hatte niemand die beiden gesehen.

Bei einem kurzen Zwischenstopp in ihrer gemeinsamen Wohnung wurde auch Ryus Hoffnung enttäuscht, sie wären inzwischen nach Hause gekommen. Bei dieser Gelegenheit legte er jedoch zumindest den verletzten Lan auf der Couch ab und tauschte Onyx im Stall gegen Sleipnir aus. So konnten sich die beiden etwas erholen, während Ryu sich mit seinem Esel auf den Weg zur Zentrale von K.R.O.S.S. machte. Wenn Kiku wirklich plante, Yuki zu K.R.O.S.S. zu bringen und die beiden sonst nirgends zu finden waren, dann musste Ryu befürchten, dass sie ihren Plan schon in die Tat umgesetzt hatte. Sie mussten in der Zentrale von K.R.O.S.S. sein. In diesem Fall konnte Ryu nur hoffen, nicht zu spät zu kommen.

Er ahnte nicht, dass Kiku inzwischen zigmal vergeblich versucht hatte, ihn auf seinem Handy zu erreichen.

Unterstützung oder Rettung

Kapitel 21 – Unterstützung oder Rettung
 

Kei und Atari saßen im Wohnzimmer und diskutierten seit dem Ende des Spiels ausführlich alle Fehlentscheidungen des Schiedsrichters. Das war immer hin schon fast eine ganze Stunde lang. Hin und wieder warf auch Ataris kleine Schwester Shimari einen Kommentar ein, zeigte sonst aber wenig Interesse an Fußball. Ihre Aufmerksamkeit galt eher Robin, über dessen Kopf sie einen langen Faden pendeln ließ, um mit ihm zu spielen.

Selbstverständlich hatte ihr Team verloren. Ihr Team verlor immer. Der einzige Trost war, dass sie diesmal auch objektiv betrachtet gar nicht schlecht gespielt hatten, nur mit einem Tor Rückstand unterlegen waren. Aber der Abstieg schien kaum noch vermeidbar, wenn nicht ein Wunder geschah.

„In so einer Situation erkennt man zumindest wer nur ein Schönwetterfan ist und wer ein echter.“ lachte Atari gequält.

„Es macht doch irgendwie sowieso keinen Spaß, ein Team anzufeuern, das auch ohne die Unterstützung ganz gut klarkommt, oder?“

„Genau… Ist viel besser, sich für ein Team die Lunge aus dem Hals zu brüllen, das sowieso verliert.“

„Hey, die Fanartikel kriegen bald Sammlerwert.“

Trotz der Trauer um die Hoffnung auf einen Sieg, die wieder einmal zu Grabe getragen wurde, hatten die beiden Freunde ihren Humor nicht verloren. Letztendlich hatten sie vielleicht auch gar nicht mehr ernsthaft mit einem Sieg ihrer Mannschaft gerechnet.

„Du könntest versuchen, Robin als Maskottchen auszubilden. Vielleicht nützt’s was, wenn er die Fahne schwenkt oder so.“ schlug Atari vor, als sein Blick auf Robin fiel.

Der Fuchs lag auf dem Teppich am anderen Ende der Couch. Nachdem er während des Spiels ein paarmal hinter Shimaris Faden her um den Tisch und über die Regale getobt war, hatte er sich dort zusammengerollt und döste seitdem vor sich hin. Der Faden hatte seinen Reiz verloren. Nur hin und wieder hob er den Kopf, gähnte laut, schleckte sich übers Fell und drehte sich um, bevor er weiterdöste.

„Geht aber nicht. Die haben doch schon einen Löwen als Maskottchen.“

„Dann bindest du ihm halt einfach einen Fellkragen um. Das steht ihm bestimmt gut. Aber ob er das mit dem Anfeuern hinkriegt, weiß ich nicht so recht. Im Moment scheint er die gleiche Sorte Schlafmütze zu sein wie der Torwart…“

„Ich zeig dir mal was.“ zwinkerte Kei.

Er wusste, dass Atari seinem Leben als Zalei sehr kritisch gegenüber stand. Deswegen hatte Kei ihm auch noch nie den Körpertausch oder irgendetwas in diese Richtung gezeigt. Ganz abgesehen davon wäre ihm eine unvergleichliche Standpauke von seinem Lehrer sowieso sicher gewesen, hätte er es getan. Aber so unwohl Atari beim Gedanken war, dass Kei Zalei wurde, so hatte er sich doch zumindest mit dem neuen ungewöhnlichen Haustier abgefunden. Atari ging mit Robin nach ihren inzwischen zahlreichen Treffen fast um wie mit einem exotischen Hund. Er spielte gelegentlich mit ihm und hatte auch keine Scheu mehr, ihn zu streicheln. Deshalb traute sich Kei zumindest, Atari Kunststückchen zu zeigen, die nichts mit der Kraft der Zalei zu tun hatten.
 

„Robin!“ rief er seinen Carn, der sofort den Kopf hob und die Ohren aufstellte. Der Fuchs fixierte seinen Zalei aufmerksam, blieb zunächst aber noch liegen.

„Auf.“ Kei bekräftigte sein Kommando mit einer Aufwärtsbewegung seiner Hand. Robin verstand ihn. Der Fuchs gähnte herzhaft, erhob und streckte sich. Dann setzte er sich wie ein gut dressierter Hund vor seinen Zalei und wartete mit wachen Augen auf weitere Anweisungen.

„Ok. Jetzt wäre er schon fast ein Kandidat fürs Mittelfeld.“ lachte Atari.

Doch Kei überhörte den spöttischen Kommentar einfach. Mit einer weiteren Geste nach oben gab er Robin ein weiteres Kommando. Der Fuchs hatte seine Hand fixiert und verstanden. Aber einen Moment schien er noch abzuwägen, ob er gehorchen wollte. Kei konnte seine Gedanken fast sehen, als er seinen Kopf zögernd leicht schief legte.

Letztendlich entschied der Fuchs aber, seinem Herrn zu folgen. Er hob die Vorderpfoten langsam vom Boden ab, verlagerte sein Gewicht immer weiter nach hinten und streckte seine Hinterpfoten langsam. Kurz darauf balancierte der Fuchs nur noch auf seinen Hinterpfoten und sah seinen Zalei erwartungsvoll an.

Atari staunte schweigend. Kei konnte sich ein triumphierendes Lächeln nicht verkneifen. Robin konnte sicher auf zwei Beinen stehen. Nach einiger Übung wackelte oder taumelte er überhaupt nicht mehr. Kei beschloss, noch einen weiteren Schritt zu wagen. Er streckte seine Hand in Robins Richtung aus. Wieder schien der Fuchs einen Augenblick zu überlegen. Doch dann kam er auf Keis Hand zu. Nicht wie gewohnt allerdings, sondern nur auf seinen Hinterbeinen. Mit erstaunlich sicheren Schritten setzte er eine Pfote vor die nächste.

Diesmal konnte Atari sich ein überraschtes Lachen nicht verkneifen. Shimari applaudierte begeistert.

Kurz bevor Robin Keis Hand erreichte, ließ er sich wieder auf seine Vorderpfoten fallen. Er schlüpfte unter die Hand, die ihn erwartet hatte und ließ sich den Kopf kraulen. Sichtlich genoss er seine Streicheleinheiten und sein Lob.

„Vergiss das mit dem Maskottchen. Robin wird unser neuer Mittelstürmer!“ lachte Atari. Kei nickte zustimmend und stimmte in Ataris Lachen ein.

Ein wohlbekannter Klingelton unterbrach ihr Lachen schließlich. Kei zog sein Handy aus der Hosentasche und sah aufs Display. Kiku rief ihn an.

„Natsukori?“ fragte Atari neugierig. „Will er kontrollieren, ob du anständig bleibst?“

Diese nur halb ironisch gemeinte Frage beantwortete Kei nur mit einem langen, ermahnenden Blick. Yuki würde ihm nicht nachtelefonieren. Nein, wirklich. Soweit würde er trotz aller Eifersucht nie gehen. Yuki wusste genau, dass der sicherste Weg Kei loszuwerden der Versuch war, ihn einzuengen.

„Hallo, Kiku?“ nahm er schließlich ab.

„Kei! Kei, bitte hilf mir!“ Kiku war völlig aufgelöst. Ihre Stimme zitterte und wurde von Schniefen und Schluchzen unterbrochen. Kei begriff sofort, dass irgendetwas sehr Schlimmes passiert sein musste.

„Ok. Was ist los?“ fragte er nervös und versuchte doch gleichzeitig, Kiku ein wenig zu beruhigen. Ihm war selbst bewusst, dass der Versuch kläglich misslang. Seine Stimme war selbst fast heiser vor Aufregung.

„Yuki geht’s schlecht. Es tut mir so leid. Bitte hol uns ab. Ich schaff’s nicht allein und ich kann Ryu nicht erreichen.“ Kei konnte sogar fast Kikus Tränen hören. Sie war absolut verzweifelt. Noch konnte Kei sich nicht vorstellen, was passiert war. Aber allein die Information, dass es Yuki schlecht ging, war wie ein Schlag in die Magengrube. Ein merkwürdiges Gefühl im Bauch, das Kei selten gekannt hatte. Er sprang förmlich von der Couch auf und war schon halb auf dem Weg zur Wohnzimmertür.

„In Ordnung. Ich komm sofort. Wo seid ihr?“

„Im Gewerbegebiet außerhalb der Stadt. Die zweite Ausfahrt hinter der Fußgängerbrücke. Ich warte auf dem Parkplatz auf dich. Bitte beeil dich!“

„Bin unterwegs.“

Kei legte auf, bevor er das Handy in seine Hosentasche zurücksteckte. Mit einem kurzen Blick versicherte er sich, dass Robin ihm folgte. Auch wenn er nicht die geringste Ahnung hatte, was vor sich ging, oder wie er bis zum Gewerbegebiet kommen sollte, zögerte er keinen Augenblick.

Kei wollte schon durch die Wohnzimmertür in den Gang verschwinden. Aber Atari hielt ihn am Handgelenk zurück. Kei sah ihn fragend an.

„Du bist zu Fuß hier.“ stellte er fest.

„Ja. Dann sollte ich mich beeilen, oder?“

„Komm, ich fahr dich.“
 

Kiku hatte es geschafft, Yuki und Minuit zu befreien. Von dem weißen Raum durch die verschlungenen Gänge der K.R.O.S.S.-Zentrale bis zur Eingangshalle, am Pförtner vorbei, über den Hof und bis zum Parkplatz hatte sie Yuki bringen können. Dabei war ihr sicher zugutegekommen, dass K.R.O.S.S. es offensichtlich nicht für nötig hielten, ihr ausgedientes Versuchsobjekt besonders zu bewachen. Das Wachpersonal an der Pforte zu überlisten, war jedoch ihre Meisterleistung des Tages gewesen.

Kiku hatte sich Yukis linken Arm über die Schulter gelegt, hielt ihn mit ihrer rechten Hand fest um die Taille und stützte ihn so. Yuki befand sich in einem merkwürdigen Dämmerzustand. Für kurze Augenblicke war er immer wieder wach genug, um selbst ein paar Schritte zu machen. Dann sank er aber auch immer wieder ganz unvermittelt zusammen und hatte nicht einmal mehr genug Kraft, die Augen offen zu halten. Kiku war sich ziemlich sicher, dass er in diesem Moment kaum wahrnahm, was um ihn geschah.

Am Parkplatz angekommen setzte Kiku sich kraftlos auf den Randstein. Yuki legte sie vorsichtig neben sich ab, sein Kopf auf ihren Schoß gebettet. Hier konnte Kiku sich und Yuki hinter einer Reihe Sträucher und Büsche verbergen. Obwohl die Pflanzen winterlich kahl waren, standen sie doch so dicht, dass sie zumindest von der Zentrale aus den Blick auf die Flüchtigen verdeckten. Minuit war Kiku nervös über ihrem Kopf flatternd gefolgt. Jetzt hing sie an einem Zweig hinter ihr und beobachtete sie mit großen Augen.

Kiku wusste, dass sie Yuki so nicht bis nach Hause bringen konnte. Sie war nicht stark genug, ihn den ganzen Weg zu tragen. Und Yuki war nicht einmal stark genug aufzuwachen. Sie strich einige seiner schneeweißen Haarsträhnen aus seinem Gesicht. Seine Haut selbst war so blass, dass sie fast die Farbe der Haarsträhnen angenommen hatte. Yukis Lider waren wieder geschlossen, als hätte er schon seit längerem geschlafen und würde auch so bald nicht aufwachen.

Kiku konnte sich gegen eine neue Flut von Tränen nicht wehren. So hilflos wie in diesem Moment hatte sie sich vermutlich noch nie gefühlt. Im Erste-Hilfe-Training für den Schulsanitätsdienst hatten sie nie irgendetwas gelernt, was ihr in dieser Situation ansatzweise hätte helfen können. Yuki ging es sehr schlecht und sie konnte nichts für ihn tun. Das einzige, was sie tun konnte, war Hilfe zu rufen. Sie fischte ihr Handy aus der Tasche an ihrer Seite und wählte Ryus Nummer. Große Angst hatte sie davor, Ryu zu beichten was sie getan hatte. Sehr große Angst sogar. Aber noch größere Angst hatte sie, dass Yuki ihren Verrat mit dem Leben bezahlen musste.

Die Mailbox meldete sich, nachdem Kiku eine schiere Ewigkeit dem Freizeichen gelauscht hatte. Kiku legte auf und wählte erneut. Diese Szene wiederholte sich bestimmt zehnmal. Bei jedem Mal zitterten Kikus Hände mehr, als sie die Tasten drückte. Und bei jedem Mal wurde ihr Schluchzen verzweifelter. Schließlich gab sie auf und ließ ihre Hand mit dem Telefon fast wie gelähmt sinken. Ryu war nicht erreichbar. Er würde ihr nicht helfen können. Und nun? Sollte sie hier warten bis sie entdeckt würden? Kiku konnte sich selbst ausmalen, dass K.R.O.S.S. die Wahrung ihrer Geheimnisse über das Leben von Yuki und ihr eigenes stellen würden.

In einem letzten Versuch wählte sie Keis Nummer.
 

Keine zehn Minuten später bog ein altes, dunkelrotes Auto von der Landstraße in den Parkplatz. Kiku erschreckte sich fast zu Tode, als es einmal wendete und die Scheinwerfer direkt neben ihr ins Gebüsch leuchteten. Sie dachte, sie wären erwischt worden und sie seien verloren. Ohne darüber nachzudenken, zog Kiku Yuki etwas näher an sich heran. Ihr Griff um seine Schultern wurde fester. Sie hatte große Angst.

Doch dann öffnete sich die Beifahrertür des unbekannten Autos und sie hörte Keis Stimme aufgeregt ihren Namen rufen. Sofort stürzte Kei auf sie und Yuki zu, kniete sich vor ihr auf den Boden.

„Kiku! Um Himmels Willen! Was ist passiert? Was ist mit Yuki?“

„Es tut mir so leid. Das ist alles meine Schuld.“ schluchzte sie.

Kei strich über Yukis Wange. Wie blass und kalt er war. Kei schluckte hart, bevor er seine Frage wiederholte.

„Was ist mit ihm?“

„I-ich weiß es wirklich nicht genau. Bitte, bringen wir ihn erst mal nach Hause. Dann erzähl ich. Wir müssen hier weg. Bitte.“

Kei nickte stumm. Er griff nach Yukis rechtem Arm, legte sich diesen über die Schultern und zog Yuki mit seiner Linken näher an sich heran. Kiku stützte Yuki und kam Kei so entgegen. Mit seinem rechten Arm fuhr Kei schließlich unter Yukis Beine und hob ihn langsam hoch. Wie eine leblose Puppe lag Yuki in seinen Armen. Kei war einen Kopf kleiner als Yuki, aber dafür war Yuki sehr schlank und entsprechend leicht. Bis zum Auto konnte Kei ihn fast ohne Probleme tragen. Dort legte er Yuki auf den Rücksitz und stieg neben ihm ein. Schwach wie sein Lehrer war, stützte Kei Yukis Kopf gegen seine Schulter und legte einen Arm um ihn, um ihn festzuhalten. Kiku nahm auf dem Beifahrersitz Platz. Sie hielt Minuit in beiden Händen. Atari schwieg. Er sprach kein Wort, als er den Motor startete und das Auto zurück auf die Landstraße lenkte.

Auf dem Weg nach Hause trafen sie zufällig Ryu, der auf Sleipnirs Rücken neben der Landstraße ritt. Sofort bat Kiku Atari, rechts ranzufahren. Noch bevor das Fahrzeug zum Halten kam, sprang sie heraus und rannte zu ihm hinüber. Ein paar Takte sprachen sie wohl. Kei konnte sich gar nicht weniger dafür interessieren, weder hörte noch sah er etwas. Mit seinen Gedanken war er ganz bei Yuki, der bewusstlos in seinem Arm lag. So nahm er auch nicht wahr, dass Atari ihn im Rückspiegel beobachtete. Atari sah Yuki zum ersten Mal seit der Abschlussfeier wieder, und gleichzeitig zum ersten Mal überhaupt Kei und ihn zusammen.

Wenig später stieg Kiku wieder ein und Atari fuhr weiter. Nach wenigen Minuten waren sie zu Hause.

Kei hob Yuki aus dem Auto und rätselte gerade wie er ihn die Treppe in den ersten Stock hinauf tragen sollte. In diesem Moment kam auch Ryu zu Hause an und Kei nahm seine Hilfe dankend an. Yuki schien leicht wie eine Feder, wie Ryu ihn scheinbar völlig mühelos in die Wohnung, die Treppen hinauf und bis in sein Zimmer trug.

Kei bedankte sich noch bei Atari, bevor er ihm folgte. Atari verabschiedete sich wohlwissend, dass er ab jetzt nicht mehr helfen konnte.
 

Yuki lag schlafend auf seinem Bett, Ryu saß an seiner Seite und strich mit einer Hand über Yukis Stirn. Minuit hing an ihrem Lieblingsplatz in Yukis Vorhangstange gegenüber der Tür. Kiku stand in der Mitte des Zimmers, immer noch weinend, und spielte nervös mit den Ärmeln ihres Pullovers. Dieses Bild bot sich Kei, als er das Zimmer betrat.

„Erzähl uns was du weißt.“ forderte Ryu mit ruhiger, aber strenger Stimme.

„S-sie haben ein neues Mittel getestet.“

„Wer?“ mischte sich Kei ein. Er glaubte, dass jeder der Anwesenden wesentlich mehr wusste als er.

„K.R.O.S.S..“ antwortete Ryu nüchtern.

„Wie zum Teufel konnte Yuki ein Opfer von K.R.O.S.S. werden?!“

„Weil Kiku ihn an ausgeliefert hat.“

„Du hast Yuki an K.R.O.S.S. ausgeliefert?!“ Keis Selbstbeherrschung musste gerade einer schweren Belastungsprobe standhalten. Nur schwer konnte er sich zurückhalten, um sich nicht sofort auf Kiku zu stürzen.

„Es tut mir so wahnsinnig leid. Wirklich.“ schniefte Kiku.

„Was für ein Mittel?“ fragte Ryu schließlich weiter.

„Es soll den Körpertausch unterdrücken.“

„Ach ja? Das erklärt Yukis Zustand nicht im Ansatz.“ Ryu sprach fast grausam ruhig. Allen war klar, dass er innerlich kochen musste vor Wut und Sorge. Wie beherrscht er sogar jetzt noch blieb, war fast unheimlich.

„Das ist alles, was ich weiß. Ehrlich. Das sollte alles gar nicht passieren.“

„Richtig. Das hätte alles nicht passieren müssen.“ wiederholte Ryu und warf Kiku einen eiskalten Blick zu. Sie verstand und presste die Lippen fest zusammen. Eine weitere Träne fand den Weg über ihre Wange und tropfte kurz darauf von ihrem Kinn. Sie zitterte.

„Im Moment ist nur Yuki wichtig. Wir unterhalten uns später.“ setzte Ryu fort.

Kiku verstand, dass Ryu damit eher aussagen wollte ‚geh mir aus den Augen‘. Übrigens ein Gedanke, den Kei teilte. Kiku nickte stumm und verließ eilig das Zimmer. Kei hörte noch ihre Schritte den Gang hinunter und das Schlagen ihrer Zimmertür.

Kaum dass sie das Zimmer verlassen hatte, atmete Ryu laut aus. Erneut strich er über Yukis Stirn, fast als wollte er prüfen, ob sein Bruder Fieber hatte. Kei kam einige Schritte näher.

Yuki lag jetzt ganz ruhig da. Er atmete flach, aber gleichmäßig. Fast wie im Schlaf.

„Wie geht es ihm? Können wir irgendwas tun?“ erkundigte sich Kei heiser.

„Ich hab leider keine Ahnung, was überhaupt passiert ist oder was ihm fehlt.“ Ryus Stimme war immer noch sehr ruhig, aber bei Weitem nicht mehr so kalt wie eben. Ganz im Gegenteil schien sie sogar die Sorge und Wärme von Keis Worten anzunehmen.

Bevor Ryu weitersprach, deutete er zu Minuit. Die Fledermaus hing kopfüber an der Vorhangstange und beobachtete aufmerksam ihren Zalei, dessen Bruder und Schüler. Zwar schien sie ein bisschen matt, vermutlich von der Aufregung, aber sonst quicklebendig.

„Minuit scheint es ganz gut zu gehen. Wenn Yuki ernsthaft in Lebensgefahr wäre, könnte man das auch seinem Carn ansehen. Deshalb nehme ich an, dass er sich wieder erholen wird.“

Kei kam noch ein Stück näher ans Bett und betrachtete Yuki mit sorgenvollem Blick. Ryu wiederum sah Kei einen Moment an, bevor sich unbemerkt ein leichtes Lächeln auf seine Lippen legte.

„Ich hoffe, du hast recht.“ flüsterte Kei.

Ryu stand auf und machte seinen Stuhl für Kei frei. Im Umdrehen klopfte er ihm beruhigend auf die Schulter. Ryu verließ das Zimmer, holte den Verbandskasten aus dem Badezimmer und kehrte mit diesem zurück. Für Yukis aufgeschürfte Handgelenke gab er Kei eine Salbe und Verbandszeug. Den Verbandskasten nahm er schließlich mit, als er wieder hinaus ging.

„Ich bin unten bei Lan, falls du was brauchst.“

„Lan ist auch da?“

„Ja. Wenn du Yuki verbunden hast, komm ruhig nach unten. Ich glaub, es wird langsam Zeit, dass wir alle mal unsere Karten offen legen.“
 

Kei hatte gerade den Verband an Yukis zweitem Handgelenk festgeknotet, da fühlte er wie Yuki schwach nach seiner Hand griff. Sofort wanderte Keis Blick zuerst auf Yukis Hand, dann zu seinem Gesicht. Nur aus einem halb geöffneten Auge sah Yuki ihn an. Aber immerhin sah er ihn an.

„Yuki! Du bist wach!“ stellte Kei das Offensichtliche fest.

„Hmh…“

„Wie fühlst du dich?“

„Kei? Du bist da…“ hauchte Yuki immer noch etwas benommen.

„Natürlich bin ich da. Ich wohne hier.“ versuchte Kei, die Stimmung etwas zu lockern. „Du bist wieder zu Hause.“

Yuki blinzelte schwach. Sein Blick wanderte von Kei weg durch das Zimmer. Aus Yukis nicht vorhandener Reaktion konnte Kei aber schließen, dass auch seine Augen noch zu schwach waren, um irgendetwas zu erkennen.

„Wie fühlst du dich?“ fragte Kei erneut, während er sich etwas mehr zu Yuki herunter beugte.

„Nicht so gut.“

„Geht’s bisschen genauer?“

„Mir tut alles weh.“

„Alles?“

„Alles.“

„Kann ich dir irgendwie helfen? Brauchst du irgendwas?“

„Mh-Hmh… Nur schlafen…“

Dann schloss Yuki auch schon wieder die Augen. Kei blieb noch eine Weile an seinem Bett sitzen und beobachtete ihn. Yuki schien diesmal wirklich zu schlafen. Seine Brust hob und senkte sich gleichmäßig mit seinen Atemzügen. Er war immer noch blass, aber nicht mehr ganz so weiß wie vorhin, als er ihn auf dem Parkplatz gesehen hatte.
 

„Danke fürs Verbinden.“

Ryu saß am Esstisch und las in irgendeiner Zeitschrift, die er vom Wohnzimmerregal aufgehoben hatte. Was er las, interessierte ihn gar nicht. Er wollte sich nur irgendwie ablenken, um keine Gedanken zu denken, die er später bereuen könnte. So war er auch nicht böse, dass Lan ihn aus seiner Lektüre riss. Nach einigen Stunden Schlaf auf der Wohnzimmercouch fühlte Lan sich schon ein wenig besser.

„Immer wieder gern. Kannst du denn schon aufstehen?“

„Stehen macht nichts, sitzen ist schlimmer. Sich die ganze Nacht mit Pierre herumzuschlagen und dann auch noch im Galopp, geht ins Kreuz. Und mein Hintern tut auch weh.“

Ryu zog eine Augenbraue hoch und sah Lan lange an. Es dauerte eine ganze Weile, bis Lan bewusst wurde, was er eben gesagt hatte. Dann allerdings traf ihn die Erkenntnis wie ein Blitz und trieb ihm die Schamesröte auf die Wangen.

„Oh Mann! Du weißt, was ich meine! Pierre hat mich angegriffen, wir haben gekämpft. Und du hast selbst gesehen, wie’s mir ging. Ich bin gerade noch so auf Onyx entkommen und war zu kaputt, um mich oben zu halten. Mein Rücken und mein Gesäß tun höllisch weh, weil ich ein paarmal gestürzt bin.“

„Nichts anderes hab ich gedacht.“ zuckte Ryu unschuldig mit den Schultern.

„… Mistkerl.“

Lan ließ sich, nicht gerade rückenschonend, Ryu gegenüber auf die Eckbank fallen. Das bereute er wohl sofort ein wenig, denn er beugte sich mit unnatürlich gekrümmten Rücken vornüber. Um seine wieder abflauende Röte zu verstecken, stahl er einfach Ryus Kaffeetasse und nahm einen Schluck.

Kurze Zeit später betrat Kei das Esszimmer und setzte sich zu ihnen. Kiku ergänzte die Runde, nachdem Ryu sie gerufen hatte. Ganz klein zusammengesunken und immer noch mit Tränen in den Augen setzte sie sich neben Lan auf die Eckbank. Sie schien immer tiefer zusammenzusinken unter den vorwurfsvollen Blicken der anderen. Vor allem Kei gab sich nicht einmal Mühe, seinen Zorn zu verbergen. Er konnte gar nicht in Worte fassen wie wütend er war über das, was Kiku seinem Freund und Lehrer angetan hatte.

Zuerst wagte niemand, den Anfang zu machen. Doch nach einer Weile fasste sich Kei ein Herz.

„Yuki war vorhin mal kurz mehr oder weniger wach.“

„Wie geht’s ihm? Hat er was gesagt?“ erkundigte sich Ryu sofort sorgenvoll.

„Er sagt, ihm tut alles weh. Er wollte nur schlafen.“

„Wenigstens war er ansprechbar, das ist schon etwas.“ versuchte Ryu, sich selbst ebenso zu beruhigen wie Kei. „Hoffen wir, dass er bald wieder auf die Beine kommt.“

„Könnt ihr mir jetzt bitte erklären, was überhaupt mit ihm passiert ist?“ fragte Kei in die Runde.

Ryus und Lans Blicke wanderten zu Kiku, die auf der Bank noch tiefer sank. Sie hatte den Blick auf den Tisch gesenkt und die Hände wieder nervös spielend in ihren Ärmeln versteckt.

„E-es tut mir wirklich alles so leid.“ begann sie kleinlaut, bevor sie zu erklären begann. „Kurz nachdem ich Zaleischülerin geworden bin, hat mich ein Mann von K.R.O.S.S. angesprochen. Er sagte, sie würden erforschen, was hinter der Zaleikraft steckte und sie würden auch mit dem Zaleirat zusammenarbeiten. Das stimmte auch. Ich war neugierig und hab ihnen hin und wieder ein paar Auskünfte gegeben, mehr nicht. Und dann ist es immer mehr und mehr geworden. Ich sollte immer mehr für sie erledigen, nicht nur für K.R.O.S.S., sondern auch für den Zaleirat. Meister Adoy ist ein weiser Mann, deshalb dachte ich, dass alles in Ordnung ist.“

Kei hörte wie Ryu bei diesem Satz laut ausatmete.

„Dann hatte Meister Adoy den Verdacht, dass Taro irgendetwas plant oder vielleicht aus dem Ausland zurückkommt. Er hat befürchtet, dass du, Ryu, oder Yuki ihm irgendwas verheimlicht. Ich sollte ihn informieren, sobald ich etwas erfahre.“

„Hast du für Adoy gearbeitet oder für K.R.O.S.S.?“ hakte Lan nach.

„Offiziell für K.R.O.S.S., aber sie erhalten ihre Anweisungen von Meister Adoy, soviel ich weiß. Zwei Mitarbeiter von K.R.O.S.S. treffen sich regelmäßig mit ihm.“

„Du hast uns alle bei Meister Adoy angeschwärzt. Du hast ihm erzählt, dass unser Vater wieder da ist. Du hast ihm erzählt, dass er, Lan und ich gegen den Rat recherchieren. Du hast ihn auch auf unsere Homepage aufmerksam gemacht. Du hast ihm erzählt, dass Yuki Keis Ausbildungsberichte gefälscht hat. Und letzte Woche hast du ihm auch noch erzählt, dass Yuki Kei geraten hat, absichtlich durch die Prüfung zu fallen. Richtig?“ zählte Ryu mit einer gnadenlosen Nüchternheit auf.

„Ja. Es tut mir so leid. Ich wusste wirklich nicht, was ich damit anrichte.“ schluchzte Kiku schuldbewusst.

„Dass du ihm alle unsere Geheimnisse erzählt hast, ist das eine. Aber wie zum Teufel konntest du Yuki für irgendwelche Experimente an K.R.O.S.S. ausliefern?!“

Jetzt schaffte es sogar Ryu nicht mehr, sich zurückzuhalten. Der Blick, den er Kiku zuwarf, war mehr als eiskalt. Seine Stimme war laut und überschlug sich fast vor Zorn. Er schlug mit der Faust auf den Tisch. Kei bemerkte, dass Ryu zitterte.

Ryu hatte Kiku geliebt wie eine kleine Schwester. Das war vermutlich nicht dieselbe Liebe, die sie für ihn empfand, zumindest wenn er ihr Glauben schenkte, aber sie war doch immer einer der Menschen gewesen, die ihm am allernächsten standen. Niemals hätte er sich vorstellen können, dass sie ihn die ganze Zeit über hintergangen hatte. Vor allem hätte er niemals geglaubt, dass sie seinem Bruder so etwas antun könnte, der immerhin auch für sie fast wie ein Bruder gewesen war. Sich selbst musste Ryu allerdings gleichzeitig den Vorwurf machen, dass er Kiku gegenüber zu sorglos mit seinen geheimen Informationen umgegangen war. Aber Ryu hätte ohne zu zögern seine Hand für sie ins Feuer gelegt.

„Sie haben mir hoch und heilig versprochen, dass Yuki nichts passiert. Sie wollten nur dieses Mittel testen und ihn dann gehen lassen. Ich weiß, dass ich ihnen nicht hätte glauben dürfen. Es tut mir so leid. Bitte glaubt mir das.“ Kiku brach wieder in Tränen aus. Sie konnte ihre Tränen gar nicht so schnell mit den Ärmeln aus ihrem Gesicht wischen wie neue aus ihren Augen strömten. Ihre Schultern bebten unter ihren heftigen Schluchzern.

Als Ryu erkannte, dass er von Kiku nicht mehr erfahren konnte, beschloss er, zunächst das Thema zu wechseln.

„Du hast gesagt, du hast Meister Adoy gestern belauscht, Lan. Was hast du gehört?“

„Im Prinzip das, was Kiku uns gerade bestätigt hat. Der Zaleirat, beziehungsweise Adoy, arbeitet mit K.R.O.S.S. zusammen bei der Erforschung der Zaleikräfte. Adoy versorgt sie mit Informationen und Versuchspersonen, K.R.O.S.S. ihn dafür mit den Forschungsergebnissen und Infos von ihren Spionen.“

„Ich hab immer gehofft, dass wir uns irren und es doch keine Verbindung zwischen dem Rat und K.R.O.S.S. gibt.“ seufzte Ryu und fuhr sich durchs Haar.

„Keine Chance.“ winkte Lan ab.

„Dann decken wir es auf. In der Ratssitzung nächste Woche legen wir die Karten auf den Tisch und lassen Meister Adoy unter Arrest stellen.“

„Willst du das riskieren? Er macht uns fertig. Du weißt, dass er das kann.“

„Entweder wir riskieren es, oder wir warten bis er uns sowieso fertig macht. Mir wäre ersteres lieber. Überlass den Rat ruhig mir. Ich hab langsam sowieso die Schnauze voll.“

„Ich hör das zwar alles zum ersten Mal, aber ich hätte da eine Frage.“ meldete sich Kei . „Wenn der Rat und K.R.O.S.S. zusammenarbeiten, verfügt der Rat dann nicht auch über die ganzen Mittel von K.R.O.S.S.? Kiku hat vorhin gesagt, dass die an Yuki ein Mittel ausprobiert haben, das den Körpertausch unterdrücken soll. Was meint ihr wohl, was die sonst noch so alles in ihrem Lager haben?“

Alle Augen ruhten auf Kei, doch keiner sprach ein Wort.

„… War das eine dumme Frage?“ erkundigte sich Kei schließlich unsicher.

„Nein, das ist sogar eine sehr schlaue Frage.“ nickte Ryu, bevor er sich wieder an Kiku wandte. „Was weißt du über die Forschungen von K.R.O.S.S.?“

„Nicht viel. Ich glaube, nur die Miss selbst kennt alle Forschungsergebnisse. Soviel ich weiß, will die Miss die Fähigkeiten der Zalei erforschen, um sie für alle nutzbar zu machen, auch für Nicht-Zalei. Sie hat verschiedene Mittel entwickelt, mit denen man die Zaleifähigkeiten verstärken, aber auch löschen kann. Ich hab Gerüchte gehört, dass sie sogar einen Zalei im Körper seines Carn einsperren könnte.“

„Das wäre total… wahnsinnig.“ sprach Kei aus was vermutlich alle dachten.

„Was mich brennend interessieren würde: wer ist diese Miss überhaupt? Ich dachte, es wäre diese Obscura, die Frau mit den dunklen Locken. Aber das scheint sie nicht zu sein.“ grübelte Lan.

„Obscura ist nicht die Miss. Sie ist ihre Assistentin und vertritt sie oft bei öffentlichen Auftritten. Aber die Miss selbst hab ich nie gesehen. Ich weiß weder ihren richtigen Namen, noch wie sie aussieht. Ich weiß nicht einmal, ob sie überhaupt eine ‚Miss‘ ist. Niemand weiß das.“

„Wenn K.R.O.S.S. und der Rat jedenfalls über solche Mittel verfügen, dann sollten wir wirklich vorsichtig sein. Wie’s aussieht, könnte uns sogar etwas noch schlimmeres passieren, als einfach nur ermordet zu werden.“ überlegte Ryu laut.

„Sie sind wirklich skrupellos. Dieser Einäugige von K.R.O.S.S. hat Ryami erschossen, ohne mit der Wimper zu zucken. Genauso eiskalt hat Adoy Mika ermordet und sogar Pierre hat nicht gezögert, den Va-“ Lan unterbrach seinen Satz abrupt. Er hielt sich die Hand vor den Mund, als wollte er sich selbst zum Schweigen bringen.

„Was hat Pierre - versucht dich umzubringen? Das hast du schon gesagt.“ wollte Ryu ihm auf die Sprünge helfen. Doch Lan schüttelte geistesabwesend den Kopf.

„Das auch, aber… Ryu, es tut mir leid. Wirklich… Ich weiß nicht, wie ich dir das sagen soll. Es… Ich hab es auch erst letzte Nacht erfahren, weil es Pierre so rausgerutscht ist.“ Lan atmete einfach tief durch.

„Was meinst du…?“ trotz aller Mühe konnte Ryu die Unsicherheit in seiner Stimme nicht mehr verbergen.

„Pierre hat Taro ermordet. Dein Vater ist schon seit mehreren Monaten nicht mehr am Leben. Es tut mir echt leid.“

Die zweite Nacht und der Morgen danach

Kapitel 22 – Die zweite Nacht und der Morgen danach
 

Die Nachricht vom Tod seines Vaters nahm Ryu relativ ruhig auf, für normale Verhältnisse. Für Ryus Verhältnisse reagierte er erstaunlich emotional. Er schluckte schwer und senkte den Blick auf den Tisch vor sich. Nachdem er ein paarmal tief durchgeatmet hatte, sah er lange aus dem Fenster. In erster Linie ging es ihm dabei nur darum, den Blicken seiner Gegenüber auszuweichen. Kei bemerkte sogar, dass Ryu auffällig häufig blinzelte, vielleicht um gegen die sich sammelnde Tränen anzukämpfen. Von Zeit zu Zeit strich er sich mit den Fingerspitzen unruhig über die Schläfe, die Wange oder das Kinn. Die ganze Zeit über sprach Ryu kein einziges Wort. Auch keiner der anderen wagte es, die Stille zu stören.

Schließlich stand Ryu unvermittelt auf und wandte sich ohne einen letzten Blick auf seine Freunde in Richtung Tür. Mit sehr leiser und ungewohnt flattriger Stimme bat er alle, Yuki vorerst noch nichts zu sagen. Dann verließ er das Esszimmer in Richtung Treppenhaus und signalisierte so das Ende des Gesprächs.
 

Es war schon spät am Abend, als Kei wieder an Yukis Bett saß. Während er fast die ganze Zeit über blieb, sah Ryu nur von Zeit zu Zeit nach dem Rechten. Ryus Sorge um seinen kleinen Bruder war nicht zu übersehen, aber er schien mit sich selbst vereinbart zu haben, Yuki diesmal Kei anzuvertrauen.

Ryu verbrachte die meiste Zeit mit Lan in Wohnzimmer, wo sie wohl ein paar Biere tranken. Letzterer hatte sich im Lauf des Abends wieder zunehmend unwohler gefühlt, insbesondere hatte er auch noch zu viel getrunken und sich daraufhin bei Ryu ausgeheult, wie grausam und gemein Pierre und die ganze weite Welt doch waren. Lan übernachtete deshalb auf der Couch. Hätte Kei zu dieser Zeit schon gewusst, wo er die Nacht verbringen würde, hätte er Lan auch gleich sein Bett anbieten können.

Kiku hatte sich für den restlichen Abend in ihrem Zimmer verkrochen, wogegen niemand etwas einzuwenden hatte. Kei war immer noch stinksauer auf sie und war froh, dass sie ihm aus dem Weg ging.

Die Zeiger des Weckers auf dem Nachttisch näherten sich schon der Eins. Wie lange Kei schon an Yukis Bett saß, konnte er aber trotzdem nicht sagen. Auch wenn Kei das Ticken als eindeutigen Beweis wahrnahm, glaubte er fast, dass die Zeit doch nicht verging. Yuki schlief so ruhig, dass es fast schien, jemand hätte die Zeit angehalten.

Kei war tiefer gesunken auf dem Stuhl, der an der Stirnseite von Yukis Bett stand. Er wurde langsam müde und bemerkte selbst, dass seine Augenlider schwerer wurden. Bestimmt zehnmal hatte Kei sich schon vorgenommen, gleich ins Bett zu gehen. Ein paarmal war er sogar schon drauf und dran gewesen aufzustehen. Aber irgendwie konnte er seinen Blick doch nicht von Yuki losreißen.

Yuki war immer noch sehr blass. Kei hatte dennoch den Eindruck, dass die Farbe langsam in sein Gesicht zurückkehrte. Kei beugte sich vor, bis er die Ellenbogen auf seinen Knien abstützen konnte. Er legte sein Kinn in eine Hand, ohne den Blick von Yuki abzuwenden. Yukis Wangen wirkten so weich – Kei konnte aus früherer Erfahrung bestätigen, dass sie es tatsächlich waren – ihr Teint so eben und zart wie Porzellan. Ja wirklich, so blass wie Yuki in diesem Moment war, wirkte er wirklich fast wie aus Porzellan geformt. Dazu passte auch die fast perfekt gerade Nase. So gerade Nasen konnte Mutter Natur doch einfach nur aus Porzellan gießen, vermutete Kei. Yukis sanft geschwungene Lippen musste sie mit einem weichen Pinsel sorgsam in zartem Rosarot aufmalt haben. Und die dichten Wimpernkränze, die in erstaunlichem Kontrast zu Yukis hellem Haut- und Haarton standen, hatte sie in mühevollster Detailarbeit angepasst.

Kei war so darauf konzentriert, Yuki schön zu finden, dass er gar nicht bemerkte, wie dieser sich langsam regte. Die Wimpern, die Kei eben noch bewundert hatte, zuckten unter einem schwachen Blinzeln, bevor Yuki langsam die Augen öffnete. Die Rubine, die in verschiedenen Rottönen schimmerten und die Yukis Iris bildeten, wanderten einen Moment unruhig umher, bevor sie Kei fanden. Noch immer war dieser zu sehr in seinen Gedanken versunken, um auch nur das Lächeln zu bemerken, das sein Anblick sofort auf Yukis Gesicht zauberte. Erst als Yuki mit flüsternder Stimme zu sprechen begann, wachte auch Kei schlagartig auf.

„Wie spät ist es?“

„Äh…“ Obwohl Kei gerade erst auf den Wecker gesehen hatte, war er so überrumpelt, dass er die Zeit nicht einmal hätte schätzen können. Er drehte sich zum Nachttisch um und befragte den Wecker erneut. „Kurz nach Eins.“

„So spät schon… Willst du nicht schlafen gehen?“

„Doch… gleich… bald…“

Yuki hob wie in Zeitlupe einen Arm. Kei konnte die Anstrengung förmlich sehen, die Yuki diese Bewegung bereitete. Er strich sich mit dem Handrücken über die Stirn und die Augen, wobei Kei erst auffiel, wie unfokussiert Yuki ihn zuvor angesehen hatte. Als Yuki schließlich seine Hand kraftlos neben sich sinken ließ, hielt er die Augen noch geschlossen. Er seufzte kaum hörbar.

„Hast du immer noch Schmerzen?“

„Hmh… Nicht mehr so stark wie vorhin.“

Irgendwie konnte diese Aussage Kei nur mäßig beruhigen.

„Kann ich irgendwas für dich tun? Brauchst du irgendwas?“

„Kannst du mir ein Glas Wasser holen oder so?“

Yuki drehte sich wieder zu Kei um und öffnete die Augen in derselben Bewegung. Allerdings konnte er nur noch sehen wie Kei aufsprang und aus dem Zimmer stürmte. Kaum eine Minute später kehrte er mit einem Glas Wasser zurück. Er war hör- und sichtbar außer Atem.

„Ich wär dir schon nicht weggelaufen.“ versuchte Yuki zu lachen.

Kei hob verteidigend die Schultern, als er näher ans Bett kam. Diesmal setzte er sich nicht auf seinen Stuhl, sondern direkt auf den Rand der Matratze. Das Glas stellte er inzwischen auf dem Nachttisch ab. Er hatte richtig vermutet, dass Yuki es nicht allein schaffte, sich im Bett aufzusetzen. Yuki hatte sich auf die Seite gedreht und sich mit einem Ellenbogen, sowie einer Hand auf der Matratze abgestützt. Unterstützend griff Kei um Yukis Taille und legte eine Hand auf seinen Rücken. Er konnte die angenehme Wärme spüren, die von Yuki ausging. Und er bildete sich sogar ein, durch sein Shirt hindurch die Weichheit seiner Haut fühlen zu können.
 

Als Yuki saß, gab Kei ihm das Glas in die Hand. Es war wohl anstrengend für ihn, aber Yuki konnte das Glas zumindest alleine halten und trinken. Seine Hände zitterten allerdings stark vor Schwäche, und auch die Verletzungen an seinen Handgelenken machten es ihm nicht leichter. Das geleerte Glas stellte Yuki anschließend auf den Nachttisch und sank in sein Kissen zurück.

„Noch irgendeinen Wunsch?“

Kei fragte eigentlich eher pro forma. Yuki machte auf ihn eher den Eindruck als wäre sein einziger Wunsch im Moment einfach weiterzuschlafen.

„Wunsch?“ blinzelte Yuki ihn müde an.

„Hast du noch einen?“

„Hmh… Egal welchen?

„So lange ich ihn dir erfüllen kann zumindest.“

„In Ordnung.“ lächelte Yuki.

So langsam dämmerte Kei, dass er doch nicht einfach nur ans Schlafen dachte. Etwas mehr Licht kam ins Dunkle, als Yuki seinen linken Arm ausstreckte und mit der Hand hinter Keis Nacken griff. Gleichzeitig legte sich Yukis rechte Hand auf Keis linke Schulter und zog ihn herunter. Kei war so überrascht, dass er nicht reagieren konnte, obwohl Yuki objektiv betrachtet kaum Kraft gebraucht hatte. So lag Kei im nächsten Augenblick halb auf, halb neben Yuki auf dem Bett. Sein Kopf ruhte an Yukis Nacken.

Kei wollte protestieren. Er stützte beide Hände links und rechts von Yuki auf die Matratze, um sich hochzudrücken und sich aus Yukis Griff zu befreien. Aber noch bevor er sich einen Millimeter bewegt hatte, hypnotisierte ihn Yukis Geruch. Kei mochte diesen Geruch gerne, irgendwie beruhigte er ihn. Dann spürte er wie Yukis linke Hand, die zuvor seinen Nacken gehalten hatte, auf seinen Hinterkopf wanderte. Ihre Finger gruben sich zwischen seine Haare und spielten wie in einer angenehmen Massage mit den roten Strähnen. Yukis rechte Hand verharrte auf Keis Schulter, um ihn festzuhalten. Na ja, Yuki war sehr schwach und das Festhalten entsprechend eher symbolischer Natur.

„D-das geht aber nicht…“ widersprach Kei ohne jeden Nachdruck.

„Warum nicht? Das ist mein Wunsch und du kannst ihn mir erfüllen.“

Yuki lehnte sich ein wenig zu Kei und streifte einen hauchzarten Kuss auf dessen Stirn. Kei überraschte selbst wie leicht es ihm inzwischen fiel, diesen Kuss zuzulassen.

„Aber das geht nicht…“ wiederholte Kei dennoch, wenn auch noch unsicherer als zuvor, und weil ihm kein besserer Grund einfiel, ergänzte er noch „Ich hab mir noch nicht die Zähne geputzt.“

„Macht nichts. Ich auch nicht.“

„… Das ist total böse.“

„Wir haben beide schon bösere Sachen gemacht.“

Noch einmal berührten Yukis Lippen warm und weich Keis Stirn. Diesmal verharrten sie dort.

Kei schloss die Augen. Eigentlich war er sehr müde. Und eigentlich genoss er Yukis Geruch. Und eigentlich mochte er es, von Yuki umarmt zu werden. Und eigentlich mochte er auch wie Yukis Hand durch sein Haar strich. Und eigentlich mochte er es, Yuki so nah zu sein. Und eigentlich mochte er auch, wenn Yuki ihn küsste. Eigentlich… eigentlich mochte er Yuki sehr gern.

„Auf dem Seziertisch dachte ich, dass ich dich nie wiedersehe… Da hab ich bereut, dich vorgestern nicht geküsst zu haben.“

Diese letzten Worte flüsterte Yuki hörbar schlaftrunken. Nur Augenblicke darauf wich die Kraft aus seinen Armen, die Kei hielten, und er war wieder eingeschlafen. Das war Keis Chance, sich aus Yukis Griff zu befreien und sich in sein eigenes Bett zu stehlen. Eigentlich.

‚Ach, pfeif drauf!‘ dachte Kei bei sich ‚Falls später jemand fragt, behaupte ich einfach, Yuki hätte mich k.o. geschlagen.‘
 

Es war die zweite Nacht, die Kei in Yukis Bett verbracht hatte. Kei konnte sich nur sehr gut an die erste erinnern. Damals, im Sommer, hatte Atari ihm ins Gewissen geredet und er hatte daraufhin überlegt, seine Zaleiausbildung abzubrechen. Yuki hatte ihn getröstet und irgendwie war er dann in dessen Armen eingeschlafen. Kaum dass er am nächsten Morgen aufgewacht war, war er auch schon in heller Panik aus dem Bett und dem Zimmer geflüchtet. Kei hatte Yuki danach nicht mehr in die Augen sehen können.

Seitdem war viel passiert.

Als Kei diesmal aufwachte, war er nicht annähernd so orientierungslos wie damals. Schon bevor er die Augen aufschlug, verriet ihm der typische Geruch von Yuki wo er war. Auch die Hände, die ihn zugleich sanft und fest hielten, bestätigten es ebenso wie der weiche Stoff von Yukis Hemd, den Keis linke Hand verschlafen ertastete. Im Schlaf hatte Kei offensichtlich den linken Arm um Yuki gelegt, ohne es zu merken. Seine Hand ruhte direkt auf Yukis Brust.

Mit einem schlaftrunkenen „Hmh…“ gab Kei zu erkennen, dass er noch zu müde war, um aufzuwachen. Im Halbschlaf, was immerhin auch bedeutete, dass er halbwach war, kuschelte er sich noch etwas näher zu Yuki. Sein Kopf lag auf Yukis Schulter, direkt an dessen Nacken. Kei konnte Yukis Atem sanft an seiner Schläfe fühlen.

Nach ein paar Minuten bemerkte Kei, dass Yukis Hand, die immer noch auf seinem Hinterkopf geruht hatte, wie schon letzte Nacht mit seinen Haarsträhnen zu spielen begann. Yuki war also offensichtlich wach.

„Guten Morgen.“

Und Yuki hatte offensichtlich gemerkt, dass Kei auch wach war. Halbwach zumindest.

„Mhm… Morgen.“

Kei blinzelte verschlafen. Die Sonne hatte das Zimmer durchs Fenster taghell erleuchtet. Allein davon ausgehend musste es schon Mittag sein. Es dauerte eine kleine Weile, bis sich Keis Augen genug an das Licht gewöhnt hatten, dass er sie vollständig öffnen konnte. Dann stützte er sich auf seinen rechten Ellenbogen und löste sich von Yuki. Kei setzte sich gerade weit genug auf, um Yuki ansehen zu können.

Yuki sah deutlich besser aus als am Abend zuvor. Er hatte fast wieder seine normale Gesichtsfarbe zurückerlangt, seine Augen sahen Kei klar und wach an. Und vor allem lächelte er. Dieses Lächeln gehörte mindestens in die Top Five in Keis ‚Best of Yukis Lächeln‘-Liste,… nicht dass er so eine Liste führen würde. Aber da waren diese niedlichen kleinen Fältchen unter Yukis Augen, die Kei immer deutlicher auffielen, je herzlicher Yuki lächelte. Das Panorama passte auch noch perfekt mit dem warmen, weichen Sonnenlicht, dem zartblauen Kissen und Yukis Haar, das unordentlich in großen Wellen um sein Gesicht und bis über seine Schultern fiel. Davon sollte jemand ein Foto schießen und es mit ‚Der Morgen danach‘ überschreiben.
 

„Alles ok?“ erkundigte sich Yuki, ein wenig beunruhigt von Keis langem Schweigen.

Kei lehnte sich ein kleines Stück näher zu Yuki und sah ihm einen Moment lang direkt in die Augen. Zufrieden kehrte er dann in seine letzte Position zurück und setzte ein freches Grinsen auf.

„Ich hab die Nacht in deinem Arm verbracht und kann dir immer noch in die Augen schauen. Scheint alles ok zu sein.“

Yuki sah ihn zunächst überrascht an. Dem folgte ein verschmitztes Lächeln, das Kei verriet, dass Yuki sich ebenfalls an ihre erste Nacht erinnern konnte.

„Und wie geht’s dir heu-hmhpfh?“

Keis Frage erstickte in einem langen Kuss. Yuki hatte sich im Bett aufgerichtet. Seine linke Hand hielt Keis Hinterkopf, während die rechte langsam Keis linken Arm hinauf fuhr bis sie auf seiner Schulter liegen blieb. Als Yuki merkte, dass Kei sich nicht gegen den Kuss wehren würde, fuhr seine linke Hand ganz langsam über seinen Hinterkopf hinab bis zu Keis Nacken und zurück. Kei fühlte wie sich die Härchen auf seinen Armen aufstellten.

Bevor ihm die Luft ausging, unterbrach Kei den Kuss unvermittelt. Mit beiden Händen stützte er sich an Yukis Schultern ab zog sich einige Zentimeter zurück. Er öffnete langsam die Augen – wann hatte er sie eigentlich geschlossen? – und sah Yuki überrumpelt an.

„Dir geht’s also wieder besser, ja?“

„Woraus schließt du das?“

„Weil… Weil du mich wieder festhalten kannst zum Beispiel.“

„Ja, mir geht’s wieder besser…“

Mit diesen Worten ließ Yuki seine Hand wieder zurück auf Keis Hinterkopf wandern und zog ihn in einen weiteren Kuss. Kei blieb gerade noch genug Zeit, die Augen zu schließen, bevor sich ihre Lippen trafen. Yukis Lippen fühlten sich genauso sanft und weich an wie sie aussahen.

Ja, Yuki ging es wieder besser. Er hielt Kei ziemlich fest. Der kleine Ansatz eines Versuchs, sich aus dem Kuss zu lösen, blieb vergeblich. Stattdessen zog Yuki ihn sogar noch näher an sich heran. Seine rechte Hand, die auf Keis Schulter geruht hatte, glitt jetzt fast unmenschlich langsam über seinen Rücken bis zu seiner Taille. Keis Gänsehaut breitete sich fast über seinen ganzen Körper aus.

Irgendwann gestand sich Kei ein, was er eigentlich schon die ganze Zeit gewusst hatte: er wollte Yuki küssen. Und so ließ er den Kuss nicht nur zu, sondern erwiderte ihn erstmals in gleicher Intensität. Und Yuki antwortete ihm sofort.

Haltsuchend krallten sich Keis Finger in Yukis Shirt.

Er fühlte wie Yukis Zunge langsam und verführerisch über seine Lippen strich. Kei gab nach und gewährte ihr Einlass. Im selben Moment, in dem sich ihre Zungen trafen und einen spielerischen Tanz begannen, übernahm Yuki wieder die Führung. Kei ließ sich völlig in seine Arme fallen und sank unter seiner Regie zurück auf die Matratze. Ein leises Stöhnen entfuhr Kei, als er in das Kopfkissen sank.

Ihr Kuss wurde noch heftiger. Kei spürte wie Yuki immer stärker und verlangender gegen ihn drängte. Gleichzeitig wanderte Yukis Hand von seiner Taille langsam immer tiefer. Sie hatte schon Keis Hintern erreicht, als bei ihm schließlich die Alarmglocken schrillten.

Mit einem halb erstickten „Nein“, das fast mehr mit einem Stöhnen gemein hatte als mit einem Widerspruch, brach Kei aus ihrem Kuss aus. Yuki gehorchte und hielt sofort inne.

Kei rang nach Luft. Erst jetzt fiel ihm auf wie sehr sein Herz zu rasen begonnen hatte, und dass seine Wangen glühten. Auch Yuki atmete schwer. Sie hatten einander sprichwörtlich den Atem geraubt.

Bis sie wieder genug Luft bekamen, um zu sprechen, sahen sie einander tief in die Augen. Rubine und Smaragde. Eigentlich konnten sie sich über ihre Blicke schon so viel mitteilen, dass die noch folgenden Worte längst überholt waren.

Kei hatte den Kuss ebenso gewollt wie Yuki, von Anfang bis Ende und in aller Leidenschaftlichkeit. Aber weiter zu gehen, war für ihn immer noch unvorstellbar.

Auch wenn Yuki Keis Widerspruch bedauerte, verstand er ihn doch irgendwie. Er wusste, dass Kei ihn nicht zurückgewiesen, sondern ihm nur seine – womöglich vorläufige – Grenze aufgezeigt hatte. Den Fehler, Kei zu überrumpeln und zu irgendetwas zu drängen, wollte er nicht wiederholen. Yuki erinnerte sich nur zu gut daran, dass Kei nach ihrem ersten Kuss tage- und wochenlang angesehen hatte wie ein verschrecktes Reh im Scheinwerferlicht.
 

Kei mochte Yuki sehr, das hatte er sich selbst gegenüber zumindest schon zugegeben. Vermutlich war es langsam auch an der Zeit, sich einzugestehen, dass es mehr war als das. Vor allem aber könnte er Yuki in dieses inzwischen doch eher offene Geheimnis einweihen.

„Das geht mir zu schnell. Ich brauch mehr Zeit.“ erklärte Kei schließlich fast etwas schüchtern.

„Alles was du willst.“ lächelte Yuki über ihm. „Ich hab dir einmal gesagt, ich würde dich nie unter Druck setzen. Und daran wird sich auch nichts ändern.“

„… Yuki?“

„Ja?“

„… Mhmhnichts…“ Keis Wangen schienen unter Yukis Blick von Neuem aufzuglühen. Hilflos wich Kei ihm aus, indem er den Kopf zur Seite drehte.

„Was ist denn?“

„Ich glaub,…“ wahrscheinlich rot wie eine Tomate nahm Kei doch seinen Mut zusammen und sah Yuki wieder direkt an. „… i-ich hab mich in dich verliebt.“

So, das war’s. Kei hatte es ausgesprochen. Und jetzt wollte er sich am liebsten die Bettdecke über den Kopf ziehen und sich bis zum jüngsten Tag unter ihr verstecken. Das ging aber nicht, weil ausgerechnet Yuki auf dem Ding kniete. Was dieser Mistkerl ihm nicht alles antat!

Yukis freundliches Lächeln von eben wich mit einem Mal einem völlig leeren Ausdruck. Erst nachdem er einigermaßen sicher war, sich nicht verhört zu haben, nicht zu träumen und auch nicht das Opfer eines ziemlich grausamen Scherzes geworden zu sein, hellte sich sein Gesicht dafür umso mehr auf. Das war nun definitiv ein Lächeln, von dem der Moderator von Keis Yukis-Lächeln-Hitparade sagen würde „Direkteinstieg von Null auf Eins in den Charts“. Kei war sich ziemlich sicher, dass ein noch glücklicheres Lächeln nirgends auf der großen, weiten Welt existieren konnte. Und vor allem kein schöneres.

„Ich liebe dich auch, Kei!“

Yuki strahlte ihn förmlich an. Seine Wangen hatten einen zart rosigen Ton angenommen, als hätte jemand ihn genau an dieser Stelle ganz leicht mit einer Puderquaste angetippt. Seine Lippen gaben in einem strahlenden Lächeln den Blick auf seine schneeweißen Zähne frei. Und um seine Augen lagen wieder diese niedlichen kleinen Lachfältchen. Jetzt war Kei doch wieder so verlegen, dass er kaum Blickkontakt halten konnte. Gleichzeitig war er aber so gebannt, dass er den Blick gar nicht von Yuki hätte abwenden können, selbst wenn er es gewollt hätte.

„Kei?“

„Ja…?“

„Küssen ist ok?“

„Schätze schon…“

Auch nach seiner Erlaubnis versicherte sich Yuki noch einmal mit einem fürsorglichen Blick direkt in Keis Augen, ob er ihn wirklich noch einmal küssen durfte. Kei blinzelte bestätigend, bevor er langsam die Augen schloss und darauf wartete, dass sich ihre Lippen trafen. Nur einen kurzen Moment später streiften ein paar von Yukis Haarsträhnen über seine Wangen, bevor er Yukis Atem auf seinen Lippen fühlte. Dann folgten Yukis Lippen, die sanft die seinen in ihrem Kuss versiegelten.

Dieser Kuss war wesentlich milder als der vorherige. Er war warm, herzlich und vermittelte Kei ein Gefühl von Vertrauen. Ihr Kuss brannte nicht vor Leidenschaft wie der letzte, aber dafür war er voll von Liebe.
 

Am frühen Sonntagnachmittag schritt Pierre durch das große Tor und betrat das Gelände des Ratsgebäudes, das sich hinter einer laubbewachsenen, meterhohen Mauer vor der Außenwelt verbarg. Er folgte dem Weg durch den winterlich kahlen Vorgarten bis zum Eingang des Gebäudes. Sein sonst so graziler Gang war steif und ungleichmäßig. Tatsächlich schmerzte Pierres Knie trotz einer Bandage so stark, dass er um ein Haar freiwillig Stiefel ohne Absätze angezogen hätte. Objektiv musste Pierre vielleicht zugeben, dass die Absätze möglicherweise die Hauptursache für seine Schmerzen waren. Aber subjektiv würde er niemals freiwillig in unmodischen Tretern das Haus verlassen, und soweit er sich erinnerte, befand sich ohnehin kein absatzloses Paar in seinem Besitz.

Das zusätzliche Gewicht seiner Schlange Antoinette, die er über den Schultern trug wie eine Stola, erleichterte ihm das Gehen dabei auch nicht. Darüber hinaus war der Transport auch für die Schlange nicht das, was man bequem nennen konnte. Nicht nur, dass sie jeder von Pierres ungelenken Schritten aufschreckte, er trug seinen linken Arm in einer Schlinge nah am Körper, so dass Antoinette sich nicht wie sonst haltsuchend um Pierres Oberarm wickeln konnte. Der Grund für die Schlinge war ein großer, hufeisenförmiger Bluterguss, der in Facetten aus Dunkelblau, Blutrot, Dunkelgrau bis zu Hellgrün auf seiner Schulter prangte. Zum Glück waren Pierres Knochen heil geblieben, doch selbst die Prellung schmerzte genug, dass er seinen Arm kaum noch gebrauchen konnte.

Auch Pierre hatte also ganz offensichtlich ein paar Spuren aus seinem nächtlichen Kampf mit Lan davongetragen, auch wenn er ziemlich sicher war, dass es Lan schlimmer erwischt hatte als ihn. Ob letzteres ein Trost für Meister Adoy war, bezweifelte er allerdings. Meister Adoy hatte ihn ausdrücklich angewiesen, Lan ein- für allemal aus dem Weg zu räumen. Vor Pierre lag nun die unangenehme Aufgabe, dem Meister seinen Misserfolg zu beichten.

Pierre klopfte an die schwere Holztür, die zum Büro des Meisters führte. Dessen unverkennbare Stimme forderte ihn praktisch im selben Moment auf, einzutreten. Pierre gehorchte und schloss die Tür hinter sich. Kaum dass er das Büro betreten hatte, musterte der Meister ihn von Kopf bis Fuß. Seine Miene war finster. Es war nicht zu übersehen, dass der Meister schlecht gelaunt war.

„Schon wieder zu spät du bist.“ stellte er mit strengem Ton fest.

„Excusez-moi. Isch bin ein wenig ge’andycapt, wie Sie se’en, Maître.“

„Ausreden! Alles Ausreden!“

Natürlich waren es Ausreden. Pierre kam immer zu spät. Er hielt sich für wichtig genug, dass andere auf ihn warteten. Er wusste, dass er es wert war, und anderen demonstrierte er es nur zu gerne. Aber wegen seiner Verletzungen war er in der Tat ein wenig mehr zu spät als sonst. Für ihn trotzdem kein Grund für ein schlechtes Gewissen.

„Erzähl mir, was ist mit Lan.“

„Désolé… Er ist noch am Leben. Isch konnte ihn verwunden, aber isch ‘abe leider seine Spur verloren. Gestern ist er den ganzen Tag nischt nach ‘ause gekommen, sonst ‘ätte isch ihn dort erwartet.“

„Versagt du hast.“

„Verzeiht, Meister. Es war das erste Mal, dass isch einen Auftrag von ihnen nischt erfüllen konnte. Und gerade bei diesem ist es mir auch ein persönlisches Ärgernis. Sie wissen besser als jeder andere, dass isch seit drei Jahren auf den Tag gewartet ‘abe, misch bei Lan zu revanchieren.“

„Ja, das ich weiß.“ nickte der Meister zwar immer noch verärgert, aber zumindest mit dieser Information zufrieden.

„Isch stehe treu ‘inter ihnen und dem Rat. Sie wissen was meinem Bruder passiert ist. Nie würde isch zulassen, dass sisch irgendwer gegen den Rat stellt, um diese anarchischen Ver’ältnisse wiederzubeleben. Obwohl isch schon vor drei Jahren wusste, dass Lan genau das plante, ‘abe isch misch für ihn eingesetzt. Es war ein großer Fehler, den isch sehr bereut ‘abe, und isch brenne darauf, ihn wiedergutzumachen.“

Pierre hatte den Blick gesenkt. Einige seiner blonden Strähnen hatten sich aus seiner Frisur gelöst und fielen ihm in die Augen. Sie versteckten die Tränen, die sich unwillkürlich in seinen Augenwinkeln sammelten, kaum dass er seinen Bruder erwähnt hatte. Pierre schwieg für einen Moment, in dem er sich zu sammeln versuchte. Mit seiner freien Hand strich er eine einzelne Träne von seiner Wange, die sich aus seinen Lidern gestohlen hatte. Schließlich kam ein leises Seufzen über seine Lippen.

„Meine Kontaktperson von K.R.O.S.S. mich informiert hat, dass Yuki Natsukori ihnen entkommen ist und ihre Informantin ebenfalls sich gegen sie gewendet hat. Lan und Ryu Fuyutaka werden sie bestimmt erzählen, dass der Rat sich der Hilfe von K.R.O.S.S. bedient. Dienstag eine Vollversammlung des Rats angesetzt ist, in der sie bestimmt alles aufdecken wollen.“

„Das wäre eine Catastrophe für uns, Maître!“ Pierres vor Tränen glasig glänzende Augen waren vor Schreck geweitet.

„Nein, nein. Immer noch einen Plan in der Hinterhand habe ich. Sorg dich nicht.“ winkte der Meister ganz beiläufig ab. „Hier in den Rat werden Lan und Ryu am Dienstag kommen. Erwarte ihn einfach hier und hol nach, was du nicht geschafft vorgestern hast.“

„Isch verste’e, Maître. Es wird mir ein Vergnügen sein.“

Pierre deutete zum Abschied eine leichte Verbeugung an, bevor er zur Tür hinkte und das Büro verließ. Ehe er die schwere Tür hinter sich zuzog, fand eine zweite Träne ihren Weg über seine Wange. Bevor sie sein Kinn erreicht hatte, strich Pierre sie mit zwei Fingern aus seinem Gesicht.

Er konnte sein zweites Treffen mit Lan kaum erwarten. Diesmal würde er alles tun, um das Versprechen einzulösen, das er ihm vor drei Jahren gegeben hatte.
 

Beim verspäteten Mittagessen saß die vollständige Wohngemeinschaft um den Esstisch versammelt. Lan hatte sich irgendwann am Vormittag nach Hause verabschiedet. Das war lange bevor Kei und Yuki aufgestanden waren, denn die beiden hatten tatsächlich bis nach Mittag geschlafen. Wirklich geschlafen, folgende Aktionen nicht eingerechnet.

Yuki fühlte sich deutlich besser. Seine Schmerzen waren verschwunden und er bemerkte außer einem leichten Ziehen an den Schläfen und über den Augen, das kaum die Bezeichnung Kopfschmerzen verdiente, sowie einem leichten Schwindelgefühl keine Nachwirkungen des Experiments von K.R.O.S.S. mehr. Förderlich für sein allgemeines Wohlbefinden war selbstverständlich auch Keis Geständnis, das Yuki schon die ganze Zeit über wie auf Wolken schweben ließ.

Über Kiku dagegen schienen immer noch dicke Gewitterwolken zu hängen. Sie rührte ihr Essen kaum an, stocherte nur appetitlos mit der Gabel darin herum. Sie hatte ihr heftiges Schluchzen von gestern einigermaßen unter Kontrolle bekommen, vielleicht war sie aber auch einfach nur ausgebrannt, nachdem sie die ganze Nacht durch geweint hatte. Ihre Augen waren rot und dunkle Ringe hatten sich unter sie gelegt. Die ganze Zeit über wagte sie es nicht, die anderen direkt anzusehen. Auch gab sie keinen einzigen Ton von sich, der nicht ein hilfloses Seufzen war.

Kei konnte ihr das schlechte Gewissen ansehen. Dass ihr alles schrecklich leid tat, stand förmlich auf ihre Stirn geschrieben. Irgendwie hatte er sogar ein bisschen Mitleid mit ihr, wenn er sah, wie sie sich selbst quälte. Aber andererseits fühlte er auch jetzt noch dieses unangenehme Gefühl im Bauch, wenn er zurückdachte, wie Yuki mehr tot als lebendig in seinem Arm gelegen hatte. Er hatte noch nie so viel Angst um jemanden gehabt. Beim bloßen Gedanken daran, dass er Yuki um ein Haar verloren hätte wegen Kikus Verrat, ließ die Wut erneut in ihm hochkochen.
 

Während des Essens brachten Ryu und Kei Yuki auf den aktuellsten Stand. Sie erzählten ihm von der Zusammenarbeit vom Zaleirat und K.R.O.S.S., alles, was sie von Kiku über die Organisation erfahren hatten, und auch dass Pierre ihr Feind war. Über den Tod ihres Vaters verlor Ryu kein Wort. Er würde es seinem kleinen Bruder später unter vier Augen sagen.

„E-es tut mir alles so schrecklich leid, Yuki.“ meldete sich schließlich erstmals auch Kiku kleinlaut zu Wort. „Ich hab nicht gewusst, was ich anrichte.“

Erneut konnte sie sich kaum gegen die aufsteigenden Tränen wehren. Das Wasser glitzerte bereits in ihren Augen. Noch immer starrte sie konsequent nur auf ihren Teller, um jeden Blickkontakt mit ihren Mitbewohnern zu vermeiden. Kiku fiel die Gabel aus der Hand, als ihre Hände wieder zu zittern begannen. Um ihre Finger unter Kontrolle zu halten, ballte sie beide Hände zur Faust.

Nach einem kurzen Schweigen legte sich eine Hand über die ihre. Warm und freundlich strichen die schlanken Finger über ihre. Nicht nur Kiku erschrak bei der unerwarteten Geste, auch Kei und Ryu waren sichtlich überrascht. Nachdem sie einen Augenblick verständnislos auf die Hand mit dem verbundenen Gelenk gestarrt hatte, nahm Kiku ihren Mut zusammen und blickte Yuki nun doch direkt an. Genauso freundlich wie er ihre Hand gedrückt hatte, lächelte er sie an. Kiku verstand nicht.

„Jeder macht Fehler, niemand ist perfekt. Ich sehe, dass es dir sehr leid tut.“ versicherte er ihr mit tröstendem Ton.

Kei konnte nicht zustimmen. Natürlich machte jeder Fehler. Aber nicht jeder ließ einen Freund diese Fehler beinahe mit dem Leben bezahlen. Yukis Antwort konnte Keis Wut jedenfalls nur minimal besänftigen. Ein bisschen gerührt war Kei aber andererseits schon von Yukis Worten. Nicht nur, dass er diesen unheimlich sanften und beruhigenden Klang seiner Stimme sehr mochte, es war letztendlich auch Yukis Freundlichkeit, die Kei liebte. Yuki schätzte seine Freunde hoch und war bereit, unter allen Umständen zu ihnen zu stehen. So wie er auch seine Liebe zu Kei nie aufgegeben hatte, egal wie kalt der ihn hatte abblitzen lassen.

Nichtsdestotrotz konnte er nicht nachvollziehen wie Yuki Kiku einfach so vergeben konnte, nachdem er wegen ihr so gelitten hatte. Irgendwie musste Yuki fast wie ein Buddha sein, dass er nicht einmal den kleinsten Funken von Groll hegte. Hatte er etwa die Erleuchtung erlangt und die himmlische Glückseligkeit erfahren…? Oh, Moment… Vielleicht hatte er zumindest letzteres, dachte Kei. War es etwa seine Schuld? Waren wegen seines Geständnisses möglicherweise Yukis Sicherungen durchgebrannt? Das musste es wohl sein. Vor Glück hatte Yuki den Verstand verloren.

„Y-Yuki… danke…“ schniefte Kiku, ebenso fassungslos wie gerührt.

„Danke dir auch, dass du mich da wieder rausgeholt hast. Ich nehme an, dass es nicht leicht war.“

„Das war ja wohl das mindeste. Immerhin warst du überhaupt nur wegen mir dort.“

„Du hast mit Sicherheit einen Fehler gemacht, als du dich von K.R.O.S.S. hast ausnutzen lassen. Aber wenn ich euch richtig verstanden hab, stand ich auf Meister Adoys Abschussliste. Glaub mir, wenn du mich nicht dorthin gebracht hättest, dann hätte es eben jemand anderes getan.“

„Glaubst du wirklich…?“

„Ich geb dir nicht die Schuld, Kiku. Natürlich hat es mich hart getroffen, dass du uns die ganze Zeit über hintergangen hast. Aber was passiert ist, wäre sowieso passiert. Die Verantwortlichen sind K.R.O.S.S., die diese Experimente machen, und Meister Adoy, der sie beauftragt hat. Dein Fehler war, dass du diesen Leuten vertraut hast, nicht mehr und nicht weniger.“
 

Kei hatte die ganze Zeit über mit großen Augen, aber angespannt schweigend das Gespräch verfolgt. Er lauschte mit höchstem Interesse jedem von Yukis Worten. Na gut, zugegebenermaßen nicht nur aus reinem Interesse an dem Gespräch hatte sein Blick wie gebannt an Yukis Lippen gehangen. An diesen weichen, zartrosenen Lippen, die schmeckten nach-… äh, die so elegant die Worte formten, die Kei so sehr interessierten.

Obwohl er also ein klitzekleines bisschen abgelenkt war, nahm Kei dennoch jedes von Yukis Worten gespannt auf. Dabei wurde ihm erst bewusst, wie anders als er selbst Yuki die ganze Situation betrachtete. Kei war ein Hitzkopf und dachte nicht besonders weit. Für ihn hatte sofort festgestanden, Kiku hatte Yuki zu K.R.O.S.S. gebracht, also war Kiku auch schuld an Yukis Leid. Damit hatte er jemanden gefunden, auf den er seine komplette Wut richten konnte, und basta. Aber Yuki betrachtete die Fakten viel nüchterner und klarer als Kei. Yuki dachte weiter. Er erkannte, dass Kiku nur eine Schachfigur für Meister Adoy gewesen war, ein Bauer bestenfalls als solche. Letztendlich war Kiku auch ein Opfer. Die wahren Schuldigen waren die Spieler, die ihre Züge gelenkt hatten. Das war die Organisation K.R.O.S.S., wenn diese nicht sogar selbst nur eine Schachfigur war, und vor allem der Meisterzalei Adoy, der anscheinend alle Fäden in der Hand hielt. Diesen galt es, das Handwerk zu legen.

Dass Yuki die Fakten so objektiv betrachten konnte, obwohl ihm selbst unmittelbar so großes Leid zugefügt worden war, konnte Kei nur umso mehr bewundern. Was hatte er doch für einen scharfsinnigen, intelligenten und großartigen F-F-Freund.

‚Oh. Mein. Gott! Ich hab einen Freund!‘ traf ihn die Erkenntnis wie ein Blitz. Schlagartig spürte Kei wie seine Wangen aufglühten. Er hatte einen Freund. Yuki war nicht mehr EIN Freund, er war SEIN Freund. Diese Tatsache wurde Kei tatsächlich zum ersten Mal bewusst. Sofort schlug sein Herz mindestens zwei Takte schneller.
 

Gänzlich unbeeindruckt von Keis plötzlicher Eingebung, zumal diese ohnehin unbemerkt blieb, setzten seine Mitbewohner ihr Gespräch fort.

„Danke, Yuki. Wirklich danke…“ schniefte Kiku und konnte nun wirklich ihre Tränen nicht mehr zurückhalten. „Es tut mir s-so leid. Ich bin so froh, dass es dir wieder gut geht. Ich hab mir vorgenommen, für immer zu verschwinden, so bald du wieder ok bist. Ich kann verstehen, wenn ihr nichts mehr mit mir zu tun haben wollt, deswegen werde ich gleich nachher meine Sachen packen und-“

„Das lässt du schön bleiben.“

Ryus Stimme war ruhig, aber bestimmt wie immer. Sofort verstummte Kiku ängstlich. Sie schluckte das noch nicht ausgesprochene Ende ihres Satzes sprichwörtlich herunter und senkte den Blick beschämt zurück auf ihren Teller. Sie wagte nicht, ihrem Lehrer zu widersprechen, sich zu rechtfertigen oder überhaupt nur den Mund zu öffnen.

„Du hast einen Fehler gemacht, diesen eingesehen und dich dafür entschuldigt. Nachdem Yuki, der immerhin das Opfer war, dir anscheinend verzeiht, finde ich nicht, dass einer von uns noch das Recht hat, böse auf dich zu sein.“

Auch wenn er seine Gedanken sehr sachlich formulierte, waren Ryus Worte doch gleichzeitig wohlwollend. Ihr Beiklang bestätigte, dass Ryu keinen Groll mehr gegen Kiku hegte, oder zumindest dass er bereit war, sich Yuki anzuschließen und ihr zu verzeihen. Mit einem fragenden Blick erkundigte er sich, ob Kei ebenfalls zustimmte. Kei nickte bestätigend in Kikus Richtung. Nachdem er Yukis Gedanken verstanden hatte, war er sicher, dass er ihr vergeben konnte. Kei wusste jetzt wer der richtige Adressat für seine Wut war.

„Du solltest nicht weglaufen, sondern versuchen, deine Fehler wiedergutzumachen. Zum Beispiel könntest du Lan und mich übermorgen in die Versammlung begleiten und dem Rat erzählen, was du uns erzählt hast.“

„D-das mach ich.“ flüsterte Kiku kleinlaut und beschämt.

„Außerdem bist du immer noch eine Zaleischülerin. Nichts mehr mit deinem Lehrer zu tun haben zu wollen und für immer zu verschwinden, kommt überhaupt nicht in Frage.“

Ryus Stimme hatte ihren fürsorglichen Klang nicht verloren. Er sorgte sich wie eh und je um seine Schülerin, nicht nur aus Pflichtbewusstsein, sondern weil er sie trotz allem mochte. Dennoch überhörte Kiku auch nicht die Bitternis in Ryus Worten. Er hatte sich seit Jahren um sie gekümmert, als ihr Lehrer, als Mitbewohner, als großer Bruder und als Freund. Sie hatte nicht nur Yuki hintergangen, indem sie ihn ausgeliefert hatte. Auch Ryu hatte sie hintergangen, denn die Informationen, die sie K.R.O.S.S. und Meister Adoy zugespielt hatte, hatte er ihr entweder anvertraut, oder sie hatte sogar heimlich in seinen Unterlagen nach ihnen gewühlt. Obwohl sie tatsächlich die ganze Zeit über ein bisschen in ihn verliebt gewesen war, hatte sie doch schamlos sein Vertrauen missbraucht. Auch wenn Ryu bereit war, ihr zu verzeihen, wusste Kiku nicht, ob er ihr jemals wieder vertrauen würde.
 

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Hallo,
 

oh je! Dieses Kapitel hab ich spät nachts und im Keksrausch geschrieben. Ist euch schon mal aufgefallen, dass man mit einer Überdosis Zucker fast so überdreht wird als hätte man getrunken? XD

Trennung, Verbindung und Bruch

Kapitel 23 – Trennung, Verbindung und Bruch
 

Ganz den Musterschüler mimend übte Kei diesen Nachmittag sogar mehr als zwei Stunden mit Robin im Garten. Yuki beobachtete ihn wieder von der Terrasse aus, diesmal aber ohne Buch. Er schenkte Kei heute seine ungeteilte Aufmerksamkeit. Am Anfang war es etwas ungewohnt für Kei, den achtsamen Blick seines Lehrers die ganze Zeit über im Nacken zu spüren. Manchmal schaute Kei unauffällig über die Schulter zu ihm hinüber und fühlte sich sofort ertappt, wenn sich ihre Blicke trafen. Manchmal legte sich ein leichter Rotton auf seine Wangen. Manchmal spürte er sogar die berühmten Schmetterlinge im Bauch.

Um ehrlich zu sein, war Keis Übungsstunde nur deshalb länger als sonst, weil er total unkonzentriert war. Nachdem seine Gedanken ständig in Richtung der Terrasse abschweiften, gelang ihm kaum etwas, was er versuchte. Letztendlich wurde es sogar Robin zu bunt und der Fuchs widmete sich lieber einem Blumenbeet als seinem Zalei.
 

Draußen war es schon nachtdunkel geworden, da suchte Kei nach seinem Freund. Yuki als seinen Freund zu bezeichnen, wenn auch nur in seinen Gedanken, war immer noch mehr als gewöhnungsbedürftig für ihn. Kei seufzte resignierend. Nach ein paar Stunden konnte er ja wohl auch kaum erwarten, dass es sich irgendwie anders anfühlte.

Jedenfalls fand Kei seinen Freund wie schon zwei Abende zuvor auf der Terrasse. Yuki saß auf einem der inzwischen zwei nach vorne gezogenen Stühle. In einem Windlicht an seiner Seite flackerte eine Kerze, die sein Gesicht in warmes Licht tauchte. Yuki trug seinen Mantel, aber als hätte Kei es geahnt, natürlich auch diesmal keine Handschuhe. Kei konnte gerade noch sehen wie die schneeweiße Fledermaus Minuit im Nachthimmel verschwand. Auf Yukis Knien lag diesmal allerdings kein Handtuch für sie.

Es vergingen wohl mehrere Minuten, in denen Kei regungslos in der Terrassentür stehen blieb und Yuki beobachtete. Irgendwie wurde er das Gefühl nicht los, dass irgendetwas nicht in Ordnung war. Yuki wirkte irgendwie niedergeschlagen. Zuerst dachte Kei, dass er vielleicht einfach müde war, oder dass seine Kopfschmerzen schlimmer geworden waren. Doch das schien es nicht zu sein. Yuki war einfach… traurig. Allerdings eine andere Art von traurig als wenn Ryu ihn vom Tod ihres Vaters in Kenntnis gesetzt hätte, mutmaßte Kei. Die Euphorie, die Yuki den ganzen Tag über trotz Kopfschmerzen und Schwindelgefühl ausgestrahlt hatte, war komplett verschwunden. Schlaff war er gegen die Lehne seines Stuhls gesunken und schaute gedankenverloren in den sternenbesetzten Himmel. Seine Augen waren halb geschlossen, wenn er blinzelte, dann wie in Zeitlupe. Ein kaum hörbares, missmutiges Seufzen kam über Yukis Lippen.

Als er das Knarzen der Terrassentür hörte, drehte er sich nur so weit um wie unbedingt nötig, um erkennen zu können, wer sie bewegt hatte. Obwohl er sich über Keis Gesellschaft freute und ihn auch gleich mit einem freundlichen „Hey“ begrüßte, verharrte er doch in seiner lustlosen Haltung. Er versuchte zwar, Kei anzulächeln wie immer, aber er musste sich sehr dazu zwingen. Außerdem erkannte Kei sofort, dass das Lächeln nicht echt war. Yukis Mundwinkel wanderten zwar nach oben, und seine Lippen gaben sogar die Sicht auf ein paar seiner Zähne frei, aber Yukis Augen lächelten nicht mit. Keine niedlichen Lachfältchen diesmal.

Kei setzte sich auf den freien Stuhl neben Yuki. Er warf ihm einen langen, sorgenvollen Blick zu, dem Yuki nur einen Moment standhielt. Um ihm auszuweichen, blickte er wieder in den Himmel, als ob er nach irgendetwas Ausschau hielt.

„Was ist los?“ fragte Kei geradeheraus.

Yuki schien kurz zu überlegen, dann seufzte er leise, bevor er sich auf die Unterlippe biss als wolle er sich selbst zum Schweigen bringen. Langsam schüttelte er den Kopf.

„Erzähl schon. Ich merk doch, dass du irgendwas hast.“

Wieder ein leises Seufzen, bevor Yuki im Flüsterton zu sprechen begann. Was auch immer er drauf und dran war zu sagen, fiel ihm sichtlich schwer.

„Ich bin kein Zalei mehr.“

„Was?! So ein Blödsinn. Du… Du kannst nicht kein Zalei mehr sein.“

Nicht dass Kei einfach nur gegen den bloßen Gedanken protestieren wollte, er verstand es auch gar nicht. So viel er wusste, war das Talent eines Zalei angeboren, wenn auch nicht von Geburt an ausgebildet. Es war eine Verbindung zwischen dem Zalei und seinem Carn. Dass man diese einfach so verlieren konnte, konnte sich Kei nicht vorstellen.

„Es scheint aber so. Dieses Mittel, das sie mir gespritzt haben, wirkt nicht nur vorübergehend.“ Yuki legte eine Hand auf seine Brust. „Ich spüre, dass ich in meinem Körper eingeschlossen wurde, endgültig. Da ist keine telepathische Verbindung mehr zu Minuit.“

„Das… Das kann nicht sein.“

„Ich kann den Körpertausch nicht mehr.“

Yukis Stimme war kaum noch mehr als ein Hauchen. Diese traurige Wahrheit konnte er nur mit großer Mühe aussprechen. Allein unter der Vorstellung litt Yuki erkennbar.

Kei verfiel in mitfühlendes Schweigen und senkte den Blick auf den Boden. Yuki liebte Minuit, sie war viel mehr als ein Haustier für ihn. Sie war seine Partnerin, die beiden waren ein perfekt eingespieltes Team. Oft schon hatte Kei das Gefühl gehabt, dass die beiden die Gedanken des anderen lesen konnten. Sie waren immer unzertrennlich gewesen. Kei weigerte sich zu glauben, dass irgendein blödes Mittelchen so eine feste Bindung einfach komplett kappen konnte. Das durfte einfach nicht wahr sein.

„Ich bin kein Zalei mehr. Deshalb hab ich Minuit fliegen lassen. Sie ist weg.“ murmelte Yuki geistesabwesend.

Seine Stimme war noch leiser als vorhin und zitterte. Kei sah Yuki an und bemerkte eine Träne, die im Licht der Sterne auf seiner Wange glitzerte.
 

„Weißt du, was mein Lehrer mir die letzten acht Monate immer wieder für eine Predigt gehalten hat?“

Kei erhielt weder eine Antwort, noch irgendeine andere Reaktion von Yuki. Also begann er einfach zu erzählen.

„Am Anfang dachte ich, ein Zalei zu sein bedeutet, dass man sich in den Körper seines Haustiers versetzen kann. Aber mein Lehrer hat mir immer wieder und wieder erklärt, dass ich auf dem Holzweg bin, wenn ich das glaube. Immer wieder hat er mir eingebläut, es ist ein uralter Schamanismus, der sich zwischen dem Menschen und der Natur abspielt. Es geht um das Leben und das Verständnis für die Natur und alle Lebewesen, bla bla. Im Zentrum der ganzen Philosophie steht nicht die Fähigkeit, sich in ein Tier versetzen zu können, sondern die Verbindung mit diesem Tier und der Natur im Allgemeinen. Und dieses Tier ist auch kein Haustier, das man zu seinem persönlichen Vergnügen hält. Sondern es ist ein gleichwertiger Partner, mit dem der Zalei von seiner Geburt bis zu seinem Tod verbunden ist, und zwar enger als mit jedem anderen Lebewesen auf der ganzen weiten Welt, und untrennbar. Der Körpertausch ist nur ein klitzekleines Steinchen im ganzen Mosaik, das einen Zalei ausmacht. Demzufolge bist du nicht kein Zalei mehr, nur weil du den Körpertausch nicht mehr kannst. Und ich glaub auch nicht, dass Minuit das so sieht. Oder dass sie dich deswegen verlässt.“

Jetzt drehte sich Yuki ganz langsam zu Kei um. Er hatte vor Überraschung seine leicht zitternden Lippen ein wenig geöffnet. Seine Augen sahen Kei durch einen Schleier aus Tränen hindurch an. Yuki versuchte nicht einmal seine Tränen zurückzuhalten. Wie kleine Glasperlen glitzerten sie auf seinen geröteten Wangen im schwachen Licht der Kerze.

Kei konnte nicht widerstehen. Er beugte sich ein Stück weit vor und sah Yuki lange und tief in die Augen. Eine Weile brach Yuki nicht aus ihrem Blickkontakt aus. Zögerlich legte Kei seine rechte Hand auf Yukis Wange. Bei ihrem Kontakt schließlich schloss Yuki die Augen. Er atmete einmal tief durch und lehnte sich trostsuchend in Keis Hand. Mit dem Daumen fing Kei eine der letzten Tränenperlen ab, die ihren Weg aus Yukis Augenwinkel gefunden hatte.

Im selben Moment, in dem Yuki die Augen wieder öffnete, legte er seine Hand über die von Kei. Er strich sachte über Keis Handrücken, bevor sich seine Finger um die seinen legten. Sanft nahm Yuki Keis Hand von seiner Wange und führte sie bis an seinen Mund. Er streifte den Hauch eines Kusses auf Keis Fingerspitzen. Dann legte sich ein schwaches, immer noch trauriges, aber diesmal ehrliches Lächeln auf Yukis Lippen.

„Dein Lehrer sollte nicht immer so gefühlsduseliges Zeug daherreden.“

„Das kann er aber so gut.“

Wie an einer magischen, unsichtbaren Schnur gezogen, lehnten sich beide noch weiter nach vorne. Yukis freie rechte Hand legte sich zunächst auf Keis Schulterblatt. Sowie Kei näherkam, glitt sie aber in aller Langsamkeit über Keis Schulter, seinen Hals, schließlich zu seinem Hinterkopf und über diesen zurück zu Keis Nacken.

Wie von selbst schlossen sich Keis Augen zeitgleich mit seiner Bewegung nach vorne. Bis zuletzt konnte er den Blick nicht losreißen von Yukis Lippen. Sie hatten ein ungewohnt intensives Rot angenommen, sei es von der nächtlichen Kälte, weil Yuki vorhin auf seine Lippe gebissen hatte oder wegen der Tränen. Kei konnte Yukis Atem spüren, er glaubte sogar schon fast die Wärme seiner Lippen auf den seinen fühlen zu können.

Doch ihr Fastkuss endete - Kei konnte sich unter den gegebenen Umständen nicht einmal darüber ärgern - genauso wie der Fastkuss vor zwei Tagen an derselben Stelle. Wie aus dem Nichts war plötzlich Minuit unbemerkt zurückgekehrt. Ganz in fledermaustypischer Geschwindigkeit flatterte sie eine Runde lautlos um ihren Zalei und Kei, bevor sie sich unvermittelt auf ihren üblichen Landeplatz in Yukis Schoß fallen ließ.

Yuki und Kei erschraken gleichermaßen. Als sie die Situation aber erfasst hatten, konnten sich beide das Lachen nicht verkneifen. Mehr als die spontane Belustigung war dafür wohl die große Erleichterung auslösend.

Kei ließ sich in seinen Stuhl zurückfallen. Währenddessen hob Yuki seine Fledermaus vorsichtig auf. Er streichelte vorsichtig mit zwei Fingern über ihren Kopf und ihren kleinen, vor Kälte zitternden Körper. Minuit streckte ihm ihren Kopf förmlich entgegen, um sich ihre Streicheleinheiten abzuholen. Mit ihren hakenförmigen Daumen krallte sie sich in den Verband am Gelenk der Hand, auf der sie saß, fast so als wollte sie Yuki festhalten und ihn ermahnen, sie ja nie wieder wegzuschicken. Sie starrte ihn aus ihren dunklen Augen an, als würde sie ihn nie wieder aus dem Auge lassen wollen. Schließlich hielt Yuki sie ganz dicht an seinen Körper, um sie zu wärmen.

„Siehst du? Ich hab mir gleich gedacht, dass die Verbindung zwischen dir und Minuit nicht wirklich erloschen sein kann. Du bist und bleibst ein Zalei, Körpertausch hin oder her.“

Mit beiden Händen stützte Kei sich auf den Armlehnen seines Stuhls ab und stand auf. Bevor er sich zur Terrassentür umdrehte, pustete er noch die Kerze aus.

„Und jetzt komm lieber rein und wärm Minuit auf… Können sich Fledermäuse eigentlich erkälten?“
 

Kei drückte die Terrassentür auf und trat über die kleine Stufe in die Wohnung. Hinter sich hörte er wie Yuki sich erhob und sich seine Schritte näherten. Kei wartete den Türgriff haltend auf Yuki, um hinter ihm abzuschließen. Nachdem er die Stufe ebenfalls hinter sich gelassen hatte, blieb Yuki auf derselben Höhe stehen wie Kei. Ihre Augen trafen sich und hielten den Kontakt. Ohne diesen abzubrechen, neigte sich Yuki ein kleines Stück zu Kei herunter, so dass seine Stirn die von Kei berührte.

„Danke.“ flüsterte er bewegt.

„Gern geschehen.“

Kei nickte lächelnd. Yuki ließ sich anstecken. Zwar konnte Kei seine Lippen nicht sehen, aber seine Augen dafür umso näher. Die kleinen Lachfältchen an Yukis Augenwinkeln bezeugten eindeutig, dass er Keis Lächeln erwiderte.

Im nächsten Moment löste Yuki die Berührung ihrer Stirne. Kei glaubte, er würde sich umdrehen und an ihm vorbei ins Esszimmer gehen. So wollte auch er schon aus der Tür treten, um diese schließen zu können. Umso überrumpelter war Kei, als Yukis Lippen die seinen direkt in seiner Bewegung abfingen. Instinktiv wollte Kei vor Schreck zurückweichen, stieß aber sofort mit dem Hinterkopf an die Tür, vor der er stand. Sein Mund öffnete sich zu einem Stöhnen, das vielleicht ein „Autsch“ hätte werden können, hätte Yuki nicht sofort die Gelegenheit ergriffen und ihren Kuss vertieft. Kei hatte sein Gleichgewicht noch nicht wiedergefunden, da begegneten sich schon ihre Zungen in seinem Mund. Um nicht umzufallen, griff Kei mit der Rechten nach Yukis Schulter. Mit zunehmender Heftigkeit ihres Kusses bohrten sich seine Fingerspitzen regelrecht in Yukis Haut.

Als ihr Kuss endlich endete und sich beide atemlos trennten, legte Yuki erneut seine Stirn gegen Keis. Beide teilten einen langen, intensiven Blick.

„Ist dein Kopf ok?“

„Mhm-hmh… Deine Schulter auch?“

„Alles ok… Tut mir leid, dass ich dich erschreckt hab. Ich wollte aber auf keinen Fall nochmal bereuen, dich nicht geküsst zu haben.“

Kei nickte langsam und nur ein paar Zentimeter. Durch die Berührung ihrer Stirne genügte es, Yuki sein Beipflichten nur anzudeuten. Gedankenverloren fuhr er mit der rechten Hand über Yukis Schulter als könnte er eventuellen Schmerz einfach von ihr fegen. Auch Kei hatte der ungenutzten Gelegenheit von vor zwei Tagen nachgetrauert, musste er gestehen.
 

Zwei Tage später war es so weit. Die große Enthüllung im Zaleirat stand kurz bevor. Kei hatte Ryu in den letzten zwei Tagen kaum zu Gesicht bekommen, weil dieser sich praktisch in seinem Zimmer einkaserniert hatte, um sich gründlich vorzubereiten. Er hatte wieder und wieder das vollständige Material gesichtet, das er mit Lan und seinem Vater zusammengetragen hatte. Als er seine Mitbewohner vor ihrem Aufbruch im Flur traf, trug er eine gut gefüllte Mappe bei sich, in der Kei Notizen und Beweise vermutete.

Kiku knöpfte gerade ihren Mantel zu. Sie war sichtlich nervös, so dass ihr der oberste Knopf direkt vor dem Knopfloch immer wieder aus den zitternden Fingern schlüpfte. Fast als ob ihr Äffchen Jack ihre Anspannung spüren konnte, turnte auch er noch unruhiger als sonst am Treppengeländer.

Das Verhältnis zu ihren Mitbewohnern hatte sich zumindest wieder so weit normalisiert, dass sie ihre Tränen unter Kontrolle bekommen hatte. Von Freundschaft wie vorher konnte zwar nicht mehr die Rede sein, aber sie kamen zumindest im Alltag miteinander aus. Kiku hatte dennoch Angst vor der Reaktion des Rats auf ihre Rolle in der ganzen Geschichte. Dass ihre Mitbewohner sie nicht verstoßen hatten, bedeutete noch lange nicht, dass der Rat ähnlich entscheiden würde.

„Und was glaubst du, dass du da tust?“

Ryu hatte eine Hand in die Seite gestützt und warf Yuki einen kritischen Blick zu. Yuki dagegen schnürte völlig gleichgültig seine Schuhe weiter zu.

„Meine Schuhe anziehen natürlich. Sonst werden doch meine Socken schmutzig.“

„Du kommst nicht mit.“

„Doch, natürlich komm ich mit.“

Kaum dass er seine Schleife fertig gebunden hatte, stand Yuki auf und nahm seinen Mantel vom Kleiderhaken. Ganz und gar unbeeindruckt von Ryu schlüpfte er in die Ärmel. Erst als dieser ihn an beiden Schultern packte, um sich Gehör zu verschaffen, sah Yuki ihn überhaupt direkt an.

„Ich will, dass du hier zu Hause bleibst und dich raushältst. Und Kei übrigens auch. Du hast schon genug abgekriegt.“

„Ryu…“ Yuki lächelte mild. Für einen Moment schloss er die Augen und schüttelte gedankenverloren den Kopf. Dann legte er seine Hände auf die von Ryu, um sich aus seinem Griff zu befreien. „Ich freu mich, dass du dir Sorgen machst. Aber das ist wirklich ein ungünstiger Zeitpunkt, um deinen brüderlichen Beschützerinstinkt wiederzuentdecken.“

„Es tut mir sehr leid, dass ich den in letzter Zeit so vernachlässigt hab. Du bringst dich nur unnötig in Gefahr. Bitte bleib hier.“

„Kommt nicht in Frage. Ich bin nicht nur ein Augenzeuge, sondern auch der lebende Beweis für die fragwürdigen Forschungen von K.R.O.S.S.. Ich denke überhaupt nicht daran, hier Däumchen zu drehen.“

„Mir wäre wesentlich wohler, wenn du hier Däumchen drehen würdest.“ Langsam sah Ryu seine Niederlage ein. Er würde seinen kleinen Bruder wirklich am liebsten außerhalb der Gefahrenzone wissen, aber er konnte ihn doch verstehen.

„Mir wäre auch wesentlich wohler, wenn Kei hier Däumchen drehen würde. Aber ich glaub, dazu müsste ich ihn wohl im Wandschrank einsperren. Und selbst daraus würde er sich irgendwie befreien und nachkommen.“ lachte Yuki und zwinkerte Kei unauffällig zu.

Kei sah ein bisschen ertappt auf seine Schuhe. Ja, natürlich hatte er seine Schuhe an. Es stand doch völlig außer Frage, dass er mitkommen würde! Auch musste er zugeben, dass Yuki vermutlich recht hatte. Kei würde sich nicht aufhalten lassen, um ihm zu folgen.

„Heute kriegen wir beide nicht unseren Willen. Scheint in der Familie zu liegen.“ schloss Yuki die Diskussion.

Ohne weitere Umschweife öffnete er die Haustür und trat ins Freie. Ganz selbstverständlich flatterte seine Fledermaus Minuit über seinem Kopf mit. Sie brauchte weder ein Kommando, noch eine Geste oder auch nur einen Blick, um jedem Schritt ihres Zalei zu folgen. Die Verbindung zwischen den beiden war mehr als offensichtlich auch ohne Körpertausch noch intakt. Kei war erleichtert.
 

Im Ratsgebäude angekommen führte Ryu seine drei Begleiter sowie deren Carn in eine Nische am Ende des Gangs, in dessen Mitte der Eingang zum großen Sitzungssaal lag. Die Nische war bestuhlt und vor einer Fensterfront stand ein niedriger Beistelltisch, auf denen einige Zeitschriften lagen. Durch die Fenster sah man in den Innenhof des Ratsgebäudes. Auf den kahlen Zweigen der Bäume und Büsche saßen allerlei bunte Vögel, von denen Kei vermutete, dass ein guter Teil Carn von Beschäftigen des Ratsgebäudes waren. Hätten die Pflanzen nicht den Blick versperrt, hätte er vielleicht sogar auch die Wiese sehen können, auf der Sleipnir wartete, bis sein Zalei ihn nach der Sitzung abholen würde.

Ryu erklärte ihnen, dass sie einen Moment hier warten sollten. Sobald der Rat zugestimmt hätte, sie anzuhören, würde er sie in die Sitzung holen. Inzwischen nahmen Kei, Yuki und Kiku Platz. Robin setzte sich brav neben Keis Stuhl und beobachtete mit scharfem Blick wie Jack auf den Tisch sprang und anfing, die Zeitschriften zu zerreißen. Kiku gelang es nur bedingt, ihren Carn zu beruhigen.

Nachdem Ryu kurz mit Lan telefoniert hatte, wandte er sich zum Gehen.

„Lan ist gleich hier. Ich geh ihm entgegen und klär noch paar Details mit ihm. Die Sitzung fängt in einer Viertelstunde an, ihr habt also noch ein bisschen Zeit.“

Damit hatte Ryu sich auch schon verabschiedet und sich auf den Weg zur Eingangshalle gemacht. Diese lag schon am anderen Ende des langen Ganges. Es war eine große, helle Halle, an deren Stirnseite eine monumentale Treppe, die sich in der Mitte in zwei Flügel teilte, in den ersten Stock führte. Dieser gegenüber befand sich das große Eingangstor, durch das Lan bald spazieren musste.

Ryu trat gerade am Ende des Gangs in die Halle ein, da hörte er seinen Namen. Als er sich umdrehte, sah er ausgerechnet Meister Adoy. Der alte Zaleimeister ließ gerade die letzten Treppenstufen hinter sich und kam mit gemächlichen, kurzen Schritten auf ihn zu. Auf seinem linken Arm trug er seine Schildkröte, während er mit der rechten Hand über ihren Panzer streichelte.

„Ryu. Sehr schön, dass vor der Sitzung ich dich noch treffe. Mit dir sprechen, das wollte ich.“

„Ja, Meister?“

Ryu blieb stoisch ernst und antwortete mit nüchternem Ton. Gleichzeitig überlegte er, was der alte Meister wohl mit ihm zu besprechen hatte. Sein ehemaliger Lehrer sollte wissen, dass er und Lan nach den jüngsten Entwicklungen planten, dem Rat heute alles offenzulegen, was er hinter dessen Rücken angestellt hatte und immer noch anstellte.

„Ein guter Schüler du mir warst, sehr gelehrig und aufmerksam. Du hast stets hart an dir gearbeitet, um zu verbessern dein Können. Große Macht du hast, und was mindestens genauso wichtig, auch Köpfchen.“

„Ihr Kompliment ehrt mich Meister. Aber darf ich fragen, warum Sie mir so schmeicheln?“

„Ein Zalei des vierten Rangs du bist. Eine Schande. Viel besser du hättest immer sein können, wenn nicht die falschen Freunde du dir hättest gesucht. Höherstufen, das ich dich könnte. Du würdest haben mehr Einfluss, mehr Macht und mehr Rechte. Auch im großen Rat der Zalei dein Einfluss würde wachsen.“

„Ich fürchte, ich kann Ihnen nicht folgen, Meister. Die Ränge sind nicht einfach so zu verschieben, sondern ergeben sich aus den Fähigkeiten eines Zalei. Ein Aufstieg ist nur gerechtfertigt, wenn die Kraft eines Zalei gestiegen ist.“ entgegnete Ryu kühl.

„Natürlich, natürlich.“ winkte der alte Meister ab. „Viel von mir du gelernt hast als Schüler. Noch mehr du lernen kannst auch jetzt noch. Deine Fähigkeiten werden steigen, dein Rang auch. Mit ihnen dein Ansehen. Du wirst weiterkommen, wenn an meiner Seite du stehst.“

„Aha. Daher weht der Wind.“

„Schließ dich mir an, Ryu, und du kannst es noch weit bringen. Dieser Verräter Lan kein Umgang ist für dich.“

Ryu senkte den Blick nachdenklich auf den Boden vor sich. Gleichzeitig verschränkte er die Arme vor der Brust. Der Meister witterte seine Chance und setzte seine Argumentation fort.

„Den Rat will Lan absetzen. Chaos und Anarchie herrschen werden, wenn kein Kontrollorgan aufpasst auf die Zalei. Du weißt, dass viel Gefahr und Leid sich wird daraus ergeben. Wie in früheren Zeiten Zalei werden ausgebeutet, und werden ausbeuten selbst. Viel Missbrauch ihrer Fähigkeiten ist gewiss, wenn nicht mehr der Rat kontrolliert die Zalei. Lass nicht zu, dass den Rat absetzt Lan. Deine Geltung auch du wirst verlieren sonst.“

Ryu schüttelte geistesabwesend den Kopf ohne seinen Blick vom Boden vor sich zu lösen. Einen Moment schwieg er noch weiter, bis er schließlich einmal tief durchatmete. Dann sah er den Meister wieder direkt an.

„Ich kann nicht glauben, dass Sie mir so einen Vorschlag machen, Meister. Sie versprechen mir eine Beförderung, wenn ich mich auf Ihre Seite stelle? Mir fehlen die Worte.“

„Bevor du antwortest, denk daran, dass der älteste, erfahrenste und einflussreichste Zalei des Landes ich bin. Nicht nur den höchsten Rang und die größte Macht als Zalei habe ich, sondern auch große Autorität im Rat und außerhalb. Wer entgegen sich mir stellt, einen mächtigen Feind sich schafft.“

Eiskalt, nein, eigentlich sogar noch viel kälter als nur eiskalt, war der Blick, mit dem Ryu seinen ehemaligen Lehrer bedachte. Er hatte die Brauen tief ins Gesicht gezogen und musste sich sehr beherrschen, um nicht die Stimme zu erheben. Dennoch blieb der alte Meisterzalei fast ungerührt.

„Ich weiß wirklich nicht, was ich dazu sagen soll. Ein einfaches Nein würde nicht ansatzweise ausdrücken, was ich davon halte. Wie können Sie glauben, dass Sie mich so einfach bestechen und auf Ihre Seite ziehen können? Sie wollen mich dafür bezahlen, dass ich die Augen vor allen Missständen verschließe. Und Sie drohen mir gleichzeitig, wenn ich ablehne. Ich bin schockiert und stinksauer, wenn Sie geglaubt haben, dass ich auch nur in Erwägung ziehen könnte, dem zuzustimmen.“

Das war Ryus letztes Wort, bevor er den Meister einfach stehen ließ und die Eingangshalle zum Tor hin überquerte, um Lan in Empfang zu nehmen. Nach außen hin wirkte er eiskalt, insbesondere sein Blick, der den Meister schon fast befürchten ließ, gleich von Eiszapfen erdolcht zu werden, die Ryu mit seinen Augen schoss. Aber innerlich kochte er vor Wut.

Niemals hätte er auch nur die Möglichkeit in Betracht gezogen, die Fronten zu wechseln. Er wusste, dass er das Richtige tat und würde sich nie davon abbringen lassen. Umso weniger natürlich, nachdem der Meister seinen Vater und seinen besten Freund ermorden lassen wollte und seinen kleinen Bruder als Versuchsobjekt geopfert hatte. Dass der Meister glaubte, ihn ködern zu können, indem er ihm mehr Macht versprach, verletzte Ryu nicht nur, sondern verärgerte ihn maßlos.

Genauso wütend machte ihn der Versuch des Meisters, ihn zu erpressen. Viel mehr als die Repressalien des alten Meisters fürchtete Ryu das, was passieren konnte, wenn ihm niemand Einhalt gebot.

Was der Meister über die Gefahr von Chaos und Missbrauch gesagt hatte, falls kein Kontrollorgan über die Ausübung der Zaleifähigkeiten und ihre Ausbildung wachte, stimmte allerdings. Ryu kannte viele schlimme Geschichten aus der Zeit vor der Gründung des Rats. Er wusste, dass es eine kontrollierende Instanz geben musste. Aber diese durfte nicht ein Rat sein, der seine Macht für illegale Machenschaften missbrauchte und die Zalei, für die er verantwortlich war, schamlos ausnutzte und in Gefahr brachte.
 

„Irgendwie hab ich das Gefühl, dass du ein bisschen gereizt bist.“

Lan konnte mit dieser Feststellung kaum mehr untertreiben. Ryus Wut war noch nicht nennenswert abgeklungen, als er sich an Lans Seite auf den Weg zurück zum Sitzungssaal machte. Es war ziemlich lange her, dass Lan seinen besten Freund so böse erlebt hatte. Das letzte Mal war wohl vor ungefähr zwei Jahren gewesen, als Ryus kleiner Bruder von seiner ersten Mission für den Rat mit einem langen Kratzer quer über den Rücken zurückgekehrt war. Ryu war eigentlich die Besonnenheit in Person. Aber wenn seinen Freunden oder seinem Bruder etwas zustieß, sah er rot.

„Du wirst mir nicht glauben, was eben passiert ist. Ich erzähl’s dir später mal.“

Ryu atmete ein paarmal tief durch, um sich abzuregen. Bevor er und Lan den Sitzungssaal erreicht hatten, hatte er zumindest nach außen hin seine typische Ruhe wiedergefunden.

„Lan, bitte versprich mir zwei Sachen, bevor wir reingehen.“

„Was denn?“

„Erstens: Überlass mir das Reden. Und zweitens: Lass dich auf keinen Fall provozieren. Ich weiß genau, dass du sehr anfällig bist für Adoys Provokationen.“

„Wow…“

„Was ist?“

„Das war das erste Mal, dass du ihn nicht respektvoll mit ‚Meister‘ angesprochen hast. Ich bin beeindruckt.“

„Möglich. Der Respekt ist Geschichte. Also?“

„Ich tu mein Bestes.“ zuckte Lan mit den Schultern.

Dann öffnete Ryu die Tür zum großen Sitzungssaal und die beiden Rebellen traten dem Rat der Zalei gegenüber.
 

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O~h, diese Spannung!

Mit dem nächsten Kapitel beginnt endlich der große Showdown. Soll ich so unerwartet nett sein und ab dann die Upload-Intervalle verkürzen? ;D

Rat und (Straf-)Tat

Kapitel 24 – Rat und (Straf-)Tat
 

In dieser Sitzung des Zaleirats am Dienstagnachmittag kam alles ans Licht.

Erstmals erfuhren die Ratsmitglieder, dass und in welcher Weise ihr Vorsitzender die ganze Zeit über hinter ihren Rücken gehandelt hatte. In einem Vortrag, der weit über zwei Stunden dauerte, legte Ryu dem Rat alles offen, was Lan, er selbst und sein Vater erfahren hatten. Sachlich und gnadenlos ehrlich erzählte er mit ruhiger Stimme, und untermauerte seine Behauptungen mit Beweisen, so gut er konnte. Der Rat hatte außerdem der Anhörung von Yuki, Kei und Kiku zugestimmt. Von einer Reihe Stühle an der Seite des Raums konnten sie die Sitzung verfolgen.
 

Zu den Enthüllungen gehörte, dass Meister Adoy seit Langem die ihm unterstehenden Zalei für illegale und gefährliche Aufgaben missbrauchte. Vor Jahren hatte der Rat sich einverstanden erklärt, die Dienste ihrer Zalei gegen eine Vergütung buchbar zu machen. Es ging dabei vor allem um künstlerische Auftritte bei Geburtstagen, Tiershows an Schulen, oder ähnliches. Der Beschluss war damals gefasst worden in der Hoffnung, der Öffentlichkeit die Tradition der Zalei näherzubringen, sowie Angst und Ausgrenzung entgegenzuwirken.

Ein zweiter Grund war schlichter Geldmangel gewesen. Der Rat benötigte große finanzielle Mittel, um die Gehälter seiner Angestellten zu bezahlen, sowie allen Zalei eine finanzielle Stütze zu bieten. Denn nicht jedem Zalei war es möglich, seinen Lebensunterhalt in einer traditionellen Arbeit zu verdienen, und auch in den Einrichtungen des Rates waren die Verdienstmöglichkeiten nicht endlos. Insbesondere hatte der Rat damals erst begonnen, seine Einrichtungen wie zum Beispiel den Fairy Tales Park, den Zoo und den Zirkus aufzubauen, in denen später viele Zalei einen Zufluchtsort und eine Arbeit gefunden hatten. Während die Einrichtungen in der Gründungsphase bezuschusst werden mussten, trugen sie sich heute weitestgehend selbst. Im Raum stand auch der Vorwurf, dass Meister Adoy auch Gelder aus diesen Einrichtungen des Rates hinterzogen hatte. Eine Prüfung der Geschäftsunterlagen würde diese Frage klären müssen.

Heute erfuhr der Rat darüber hinaus zum ersten Mal, dass Meister Adoy nicht mehr nur Aufträge für artistische Auftritte bei Veranstaltungen angenommen hatte, sondern auch viele, die gegen Gesetze verstießen, und die beauftragten Zalei mitunter in Lebensgefahr gebracht hatten. Diese Behauptung wurde sowohl von Ryu und Lan, als auch von Yuki bestätigt, die alle zahlreiche Missionen dieser Art hinter sich gebracht hatten. Handfeste Beweise konnte Ryu aber leider nicht vorlegen, da Meister Adoy sich dieser entledigt hatte, beziehungsweise sie an einem unbekannten Ort aufbewahrte. Lan warf allerdings ein, dass Mika Takano ein solches Beweisstück gefunden hatte und deshalb sterben musste. Außerdem erklärte er, dass Ryami Hisui bei einer dieser Missionen ihr Leben verloren hatte, und nicht bei einem Handtaschendiebstahl wie bisher behauptet.
 

Dann erklärte Ryu dem Rat, dass Meister Adoy die Organisation K.R.O.S.S. beauftragt hatte, die Fähigkeiten der Zalei zu erforschen. Die Organisation war bekannt für die Erforschung von übernatürlichen Phänomenen und hatte schon mehrfach ihr Interesse an den Fähigkeiten der Zalei bekundet. Der Rat selbst hatte Anfragen zur Zusammenarbeit stets abgelehnt, da K.R.O.S.S. sich bei ihrer Arbeit gerüchteweise fragwürdiger Mittel bediente, und der dringende Verdacht im Raum stand, dass die Zalei von ihr nur ausgenutzt werden würden. Die Ratsmitglieder konnten gar nicht glauben, dass ihr Vorsitzender sich über ihre ausdrückliche Entscheidung hinweggesetzt und mit der Organisation in Kontakt getreten war.

Kiku bestätigte Ryus Ausführungen kleinlaut und gestand auch ihren Anteil, indem sie dem Rat von ihrer Anwerbung und ihrer Spionage erzählte. Yuki bekräftigte, dass er selbst laut dem Mann von K.R.O.S.S. von Meister Adoy der Organisation als Versuchsperson zur Verfügung gestellt worden sei.

Außerdem berichteten Kiku und Yuki von der Art der Forschungen bei K.R.O.S.S., sowie deren Ergebnisse soweit sie ihnen bekannt waren. Die Ratsmitglieder waren sichtlich schockiert von den Methoden der Organisation.
 

„Trotzdem muss ich an dieser Stelle nachhaken.“ meldete sich eines der Ratsmitglieder zu Wort, eine junge Frau mit rotblondem Haar. Sie war Meister Adoys Stellvertreterin im Rat. „Fräulein Aki sagte aus, dass sie von K.R.O.S.S. beauftragt worden ist und nur über diese mit Meister Adoy in Kontakt stand. Gibt es denn Beweise, dass der Meister tatsächlich mit der Organisation zusammenarbeitete? Oder müssen wir uns auf Ihre Zeugenaussagen stützen?“

„Ja, es gibt einen Beweis.“ nickte Ryu und zog ein zerknittertes Blatt Papier aus seiner Mappe, das mit unordentlicher Handschrift beschrieben war. „Am 18. Juni letzten Jahres hat Meister Adoy einem Brief an die Leiterin von K.R.O.S.S. übergeben lassen. Lan hat den Brief gelesen und seinen Text abgeschrieben. Wenn der Rat es wünscht, lese ich vor.“

Selbstverständlich wollten alle Ratsmitglieder den Inhalt des Briefs hören. Alle bis auf Meister Adoy natürlich, der in seinem Sessel sichtlich nervös schluckte. Er hatte weder damals damit gerechnet, noch später erfahren, dass Lan den Brief gesehen hatte. Keine gute Entwicklung für ihn. Ryu räusperte sich kurz und begann zu lesen.

„Sehr verehrte Miss, auf ihre Anfrage zurückkommend, erkläre ich mich unter den bereits hinreichend besprochenen Bedingungen bereit, die Forschungen Ihrer Organisation zu unterstützen. Auf die verabredeten Dienste Ihrer Organisation darf ich zurückgreifen.“

„Ist das die Originalnachricht?“ erkundigte sich die Rothaarige.

„Der Wortlaut der Originalnachricht. Der Zettel ist die Abschrift.“

„Hätte ich das Original mitgehen lassen, wäre mein Einbruch aufgefallen.“ erläuterte Lan.

„Hmh… Die Nachricht ist ziemlich allgemein gehalten. Man könnte alles Mögliche in die Worte interpretieren. Und auch weder Adressat, noch die Organisation werden benannt. Wenn man sie im Kontext sieht, den ihr uns eingangs erläutert habt, wäre sie natürlich ein Skandal. Aber die bloße Nachricht an sich scheint mir ein wenig… dürftig. War der originale Brief signiert?“

Ryu warf Lan einen fragenden Blick zu. Der schüttelte den Kopf.

„Gibt es jemanden, der bezeugen kann, von wem der Brief an wen übergeben worden ist?“ fragte die Rothaarige weiter.

„Ryami Hisui, die leider wenig später verstorben ist, war bei der Übergabe anwesend. Überreicht wurde der Brief an eine Frau namens Obscura, die laut Kiku die Assistentin der Miss ist. Ryami hat mir damals gesagt, dass ihr der Bote bekannt vorkam, sie ihn aber im Dunkel nicht erkennen konnte.“ musste Ryu leider verneinen. Er selbst hatte an diesem Tag nur Wache gestanden, während Ryami die Übergabe beobachtet hatte.

„Aber ich kann dafür bezeugen, dass ich selbst den Brief im Büro der Assistentin von dieser Miss im Hauptquartier von K.R.O.S.S. gefunden und abgeschrieben habe.“ erklärte Lan, sichtlich verstimmt von der Skepsis seiner Kollegin. „Und ich wurde letzten Freitag Zeuge wie Adoy in seinem Büro zwei Mitarbeiter von K.R.O.S.S. empfangen und ihnen dabei eine Versuchsperson zugesagt hat. Es ging um dieses Experiment, von dem Yuki und Kiku vorhin erzählt haben.“

„Kann dieses Treffen noch jemand außer dir bezeugen?“

„Nur der Eintrag in Adoys Kalender, auch wenn der nicht besonders aussagekräftig ist.“
 

Der letzte Vorwurf, den Ryu und die anderen gegen den alten Zaleimeister vorbrachten, hatte es in sich. Mit einem nicht viel weniger kalten Blick als zuvor in der Eingangshallte sah Ryu den Meister direkt an, als er weitersprach.

„Der Ratsvorsitzende hat nicht nur bei den zahlreichen gefährlichen Aufträgen in Kauf genommen, dass Zalei verletzt oder sogar getötet wurden. Er hat sogar selbst eine Person ermordet und den Mord an mindestens zwei weiteren in Auftrag gegeben.“

Ryu hielt kurz inne und atmete einmal tief durch, bevor er weitersprach. Gerade seit vier Tagen wusste er vom Tod seines Vaters und war noch sichtlich getroffen. Kein Wunder, dass es ihm schwer fiel, geradeheraus darüber zu sprechen.

‚Oh-oh!‘ dachte Kei bei sich und fuhr von seinem eigenen Gedanken erschrocken zu Yuki herum, der an seiner Seite saß. Ob Ryu seinen kleinen Bruder inzwischen informiert hatte?

Yuki hatte den Blick auf den Boden gesenkt, einige Haarsträhnen erschwerten den Blick auf seine Augen. Er biss sich auf die Unterlippe. Anscheinend wusste Yuki Bescheid. Wie von selbst suchte Keis Hand die von Yuki und streifte sie tröstend. Zunächst erschrocken sah Yuki Kei aus dem Augenwinkel an. Dann nahm er Keis Geste gerne an und hielt seine Hand. Ryu setzte seine Ausführungen inzwischen fort.

„Mika Takano hat, wie ich vorhin schon angedeutet habe, ein Beweisstück gefunden, das der Vorsitzende verschwinden lassen wollte. Als der ihn dabei erwischte, brachte er ihn kaltblütig um und versuchte auch noch, den Mord Lan in die Schuhe zu schieben.“

„Gibt es Zeugen oder Beweise? Zumindest die Polizei hat bekanntlich keine Spuren gefunden, die für eine Anklage ausgereicht hätten, wie wir wissen.“ zeigte sich die stellvertretende Vorsitzende erneut skeptisch.

„Ich hab übers Handy mit Mika telefoniert bis er getötet wurde. Ich konnte praktisch mithören wie Adoy ihn umgebracht hat. Es war eindeutig seine Stimme im Hintergrund.“

Lan konnte seinen Ärger langsam kaum mehr überspielen. Mikas Tod ging ihm immer noch sehr nahe, genauso die Anschuldigungen, die immer noch hinter vorgehaltener Hand gegen ihn erhoben wurden.

„Deine Aussage kennen wir alle schon zu Genüge, Lan. Aber du musst verstehen, dass wir einen gewissen Konflikt sehen, wenn ausgerechnet du als Hauptverdächtiger den Meister beschuldigst, und gleichzeitig alle Indizien gegen dich sprechen. Im Gegensatz zum Meister, der ein ausgezeichnetes Verhältnis mit Mika hatte, lagst du dir ständig mit ihm in den Haaren. Gerade an diesem Tag hattet ihr vor unser allen Augen einen neuerlichen Streit. Das kannst du nicht abstreiten. Dass die Polizei keine Beweise in die eine oder andere Richtung finden konnte, macht es nicht leichter.“ erklärte die rothaarige Frau geduldig.

„Es steht Aussage gegen Aussage. Und da scheint der ehrwürdige Meisterzalei, der sich in zig Jahren harter Arbeit für die Gemeinschaft einen tadellosen Ruf erworben hat, doch ein wenig zuverlässiger.“ fügte ein weiteres Ratsmitglied hinzu. Es war ein Mann, neben dessen Sessel ein Wolf lag.
 

„Und was waren das für Auftragsmorde?“ wechselte die Rothaarige das Thema.

„Nachdem mein Vater, Taro Natsukori, nach einem Streit mit dem Rat gebrochen hatte, ließ Adoy ihn ermorden. Er wusste, dass mein Vater gegen ihn ermittelte und weitere Verbündete suchte. Deshalb ließ er ihn aus dem Weg räumen. Aus demselben Grund wollte er letzte Woche auch Lan ermorden lassen, nur dass dieser Versuch zum Glück gescheitert ist. Der beauftragte Mörder war in beiden Fällen Pierre Loire.“

Ein Raunen ging durch den Saal. Die Ratsmitglieder schauten entsetzt bis fassungslos. Ein Mann lachte sogar kurz ungläubig auf.

„Was sagen Sie zu diesen Vorwürfen, Meister?“ erkundigte sich die rothaarige Stellvertreterin.

„Unsinn! Völliger Unsinn! Ihr alle gehört habt, wie Taro und ich geeinigt haben uns hier im Rat. Das Land verlassen und mit dem Rat nichts mehr zu tun haben, das er wollte. Seine Ermittlungen gegen mich fürchte ich nicht. Nichts zu verbergen habe ich. Und Lan? Lan war mein eigener Schüler, wie ein Sohn er ist fast für mich. Umbringen lassen ihn zu wollen, Unsinn ist das.“

„Dass ich nicht lache! Du wolltest mich tot sehen, weil ich dir schon lange unbequem war. Pierre hat mir selbst gesagt, dass der Auftrag von dir kam.“ rief Lan aus. Jetzt gab er sich nicht mehr die geringste Mühe, sein Temperament im Zaum zu halten. Er kochte vor Wut so heiß, dass Kei fast die lodernden Flammen sehen konnte.

„Lan, beruhig dich.“ ermahnte ihn Ryu leise.

„Gibt es für irgendeinen der beiden Morde Beweise oder Zeugen?“ fragte die Rothaarige, langsam selbst gelangweilt von ihrer ewig gleichen Frage.

„Nur den Auftraggeber, der alles bestreitet, den Mörder und die Opfer. Lans Aussage als solches habt ihr gehört. Handfeste Beweise können wir euch nicht vorlegen.“

„Pierre ist heute im Ratsgebäude. Vorhin hab ich ihn zufällig in der Kantine getroffen. Warum fragen wir ihn nicht einfach selbst?“ schlug der Mann mit dem Wolf vor.

Alle Anwesenden hielten dies für eine sehr gute Idee und so verließ der Mann den Saal, um den Tierarzt zu suchen. Einige Minuten später kehrte er in dessen Begleitung zurück. Pierre balancierte seine Schlange um die Schultern gewunden. Den linken Arm trug er in einer Schlinge und beim Gehen zog er ein Bein ein wenig nach, wohl von einer Knieverletzung.
 

Kei fiel sofort auf, dass Pierre schon direkt nach seinem Eintritt in den Saal Lan fixierte und umgekehrt. Beide funkelten einander finster an, die Brauen tief ins Gesicht gezogen. Wenn Blicke töten könnten…

Seit Langem hatte Kei gewusst, dass Lan und Pierre nach einem großen Streit vor drei Jahren ein mehr als schlechtes Verhältnis hatten. Pierre war Lan immer konsequent aus dem Weg gegangen, während Lan sich regelmäßig über Pierres Bockigkeit beschwert hatte. Aber Kei hatte den Kleinkrieg zwischen beiden immer eher als lustige Neckerei verstanden. Nie hätte er damit gerechnet, dass einer von beiden versuchen könnte, den anderen umzubringen.

„Pierre, eben haben wir gehört, dass Meister Adoy dich zweimal zu Auftragsmorden angestiftet haben soll. Du sollst Herrn Natsukori ermordet und letzte Woche versucht haben, auch Lan umzubringen.“ informierte ihn die Rothaarige.

„Quoi?!“ Pierre fiel fast die Kinnlade auf den Boden, so geschockt war er. In großer Geste signalisierte er wie getroffen und verletzt er von diesen Anschuldigungen war. „Mon dieu! Ihr kennt misch doch alle. Isch bin Arzt, isch rette Leben. Isch könnte keiner Fliege etwas zu Leide tun. Niemals könnte isch einen Mord bege’en. Und warum sollte isch Taro etwas antun? Er ist immer’in der Vater von Ryu, einem sehr guten Freund. C’est ridicule!“

„Und Lan? Stimmt es, dass du ihn letzte Woche umbringen wolltest?“ fragte die stellvertretende Vorsitzende weiter.

„Bon… Es ist kein Ge’eimnis, dass Lan und isch uns nischt leiden können seit diesem… dieser Sasche vor drei Jahren… Ihr wisst alle, dass wir seitdem keinerlei Kontakt mehr ‘atten. Uns beiden war immer klar, dass es zu einem neuen Streit kommen würde, wenn wir uns über den Weg laufen würden. Dieser ‘ass ist beiderseitig.“

Allein mit seinem finsteren Blick schien Lan Pierres Worte kommentarlos zu bestätigen. Pierre seufzte leise, als er sich dessen bewusst wurde. Unter der ganzen Situation schien er sichtlich zu leiden. Wenn er ihnen allen nur etwas vormachte, dachte Kei bei sich, war Pierre ein ziemlich guter Schauspieler. In einer fast theatralischen Geste warf er sein Haar hinter die Schulter, bevor er fortsetzte.

„Am Freitagnachmittag ‘aben wir uns zufällig getroffen. Isch kam spät aus einem… na ja, egal wo’er. Jedenfalls sah isch Lan auf einer Parkbank sitzen. Isch wollte schnell weiter ge’en, bevor er misch bemerkt, aber es war schon zu spät. Er ‘at sisch förmlisch auf misch gestürzt und misch geschlagen. Mein Knie und mein linker Arm sind immer noch verletzt.“

„Schwachsinn!“

Lan brüllte mehr als nur stinksauer in Pierres Richtung. Er war von seinem Sessel aufgesprungen und seine Glieder zitterten vor Zorn. Beide Hände hatte er zu Fäusten geballt. Obwohl er sichtlich bemüht war, sich zurückzuhalten, konnte jeder der Anwesenden seine überschäumende Wut deutlich sehen. Kei schluckte mit gemischten Gefühlen. Er glaubte Lan, aber allein seine Wut in diesem Moment schien Pierres Worten fast recht zu geben. Wer Lan so sah, traute ihm vermutlich zu, sich tatsächlich im nächsten Moment auf Pierre zu stürzen.

„DU bist zu MIR gekommen und hast mir eröffnet, dass du mich in Adoys Auftrag erledigen sollst. Und das hättest du auch getan, wenn ich nicht mit einer Riesenportion Glück entkommen wäre!“

„Maître Adoy ‘atte damit nischts zu tun.“ entgegnete Pierre unterkühlt im stärksten Kontrast zu Lans Ausbruch. „Unser Streit von vor drei Jahren ist wieder aufgeflammt bei einer zufälligen Begegnung. Isch kann mir vorstellen, dass es Lan gut in den Kram passt, diese Geschischte einfach auf den Maître zu schieben. Auch den Mord an Mika Takano wollte er dem Maître in die Schu’e schieben, n’est-ce pas?“

„Hör sofort auf mit diesen bescheuerten Lügen, Pierre!“

„Dass Lan gegen den Maître arbeitet ist doch ein offenes Ge’eimnis. Er ‘atte wohl von Anfang an vor, dem Rat ‘eute die Wahr’eit über Maître Adoy zu erzählen, die isch übrigens nischt für selbige ‘alte, falls Sie meine Meinung interessiert. Um der ganzen Geschischte noch etwas mehr Brisanz zu verlei’en, wollte Lan wohl einfach noch einen Auftragsmord oben drauf setzen. Also will er Ihnen unseren Streit von letzter Wosche als Mordversusch verkaufen. Maître Adoy wäre der Böse Auftraggeber und isch der böse Mörder. Et voilà, Lan ‘ätte sisch mit nur einer Lüge bei gleisch zwei Feinden revanchiert.“

Lan bebte vor Wut. Inzwischen hatte er augenscheinlich wirklich gute Lust, seinen Kampf mit Pierre fortzusetzen. Und der provozierte ihn sogar noch weiter, indem er ihm neckisch zuzwinkerte. Pierre versuchte noch nicht einmal, sein Zwinkern vor den anderen Anwesenden zu verstecken. Lan explodierte daraufhin fast.

Nur Ryu hielt ihn mit ausgestrecktem Arm zurück. Mit gewohnter Ruhe in seiner Stimme, aber deutlich verstimmtem Gesichtsausdruck, wandte er sich schließlich an Pierre.

„Ist das deine Aussage?“

„Oui. Lan und isch ‘atten letzten Freitag einen Streit mit ‘andgreiflischkeiten. Aber dieser war rein privat und ‘atte nischts mit Maître Adoy, dem Rat oder irgendwem anders zu tun. Und es war auch nur ein spontaner Streit, ganz sischer kein geplanter Mord.“

Der Rat nahm diese Bekundung von Pierre zur Kenntnis. Nachdem sich keine weiteren Fragen mehr an ihn ergaben, wurde er entlassen. Pierre verließ daraufhin den Sitzungssaal mit erhobenem Haupt. Sein blondes Haar folgte seiner Bewegung in eleganten Schwüngen. Lan sah ihm noch nach als ob er ihn mit seinen Blicken erdolchen wollte, bis die Tür hinter Pierre ins Schloss fiel.
 

Nach einem Moment, indem vermutlich jeder der Anwesenden das auf sich wirken ließ, was zuvor im Saal gesprochen wurde, ergriff die rothaarige stellvertretende Vorsitzende wieder das Wort.

„Wir haben jetzt alles gehört, was ihr Meister Adoy vorwerft. Wir haben die Zeugen gehört und so weit möglich Beweise gesehen. Welchen Antrag möchtet ihr an den Rat stellen?“

„Wir bitten den Rat, eine unabhängige Kommission zu bilden, die alle Vorwürfe gegen Meister Adoy und die Organisation K.R.O.S.S. überprüft. Gleichzeitig sollten die Tätigkeiten und Befugnisse des Rats umfassend überprüft werden. Der Rat hat zu viel Macht über die Zalei und wird zu wenig kontrolliert. Vor allem müssen die illegalen, gefährlichen Aufträge an die Zalei ein Ende haben, sowie die geschehenen Morde aufgeklärt werden. Wir beantragen außerdem, Meister Adoy den Vorsitz des Rats zu entziehen und ihn unter Arrest zu stellen.“

„Der Rat der Zalei wird sich jetzt beraten.“ nickte die Rothaarige, nachdem sie Ryus Antrag vernommen hatte.

Ryu, Lan, Yuki, Kei und Kiku verließen den Saal inzwischen. Sie warteten gespannt in der Nische, in der sie schon vor dem Sitzungsbeginn gesessen hatten. Auch Meister Adoy zog sich zurück, allerdings folgte er den anderen mit demonstrativem Abstand durch die Tür und zog sich in eine andere Ecke zurück.

„Ist nicht ganz so gelaufen wie wir gehofft haben.“

Lan schnaufte resignierend. Er war in seinen Stuhl gesunken. Mit dem Ellenbogen stützte er sich auf der Armlehne ab und hatte den Kopf in seine Hand gelegt. Geistesabwesend strich er mit zwei Fingern über das Pflaster über seinem Auge. Auch bei allen Temperamentsausbrüchen war ihm immer noch anzusehen, dass sein Körper geschwächt war.

„Es hätte besser laufen können. Aber zumindest konnten wir ihnen alles vortragen, was wir haben.“ stellte Ryu fest.

„Was glaubst du wie sie entscheiden?“

„Keine Ahnung. Es könnte sein, dass ihnen die Beweise noch nicht reichen, um den Alten unter Arrest zu stellen. Aber zumindest einen Untersuchungsausschuss können sie eigentlich nicht ablehnen. Der wäre ein Anfang und würde früher oder später die Leichen in Adoys Keller finden.“

„Hoffen wir’s.“
 

Nach einer grausam langen Zeit des Wartens wurden alle wieder in den Sitzungssaal gerufen. Der Rat hatte seine Beratung beendet und eine Entscheidung gefällt. Ryu, Lan und Meister Adoy nahmen wieder in ihren angestammten Sesseln im Kreis der Ratsmitglieder Platz. Kei, Yuki und Kiku kehrten zu den Stühlen an der Seite des Saals zurück, wo sie auch zuvor gesessen hatten.

„Der Rat der Zalei hat eure Ausführungen diskutiert und über eure Anträge entschieden.“ begann die stellvertretende Vorsitzende schließlich. „Alle Anträge wurden einstimmig abgelehnt.“

Der alte Meisterzalei thronte mit einem triumphierenden Grinsen auf seinem Sessel, das er kaum unterdrücken konnte.

Ryu war sprachlos. Die so leichtfertig dahin gesprochenen Worte der stellvertretenden Ratsvorsitzenden waren für ihn wie ein Schlag ins Gesicht. Wie konnte der Rat zu diesem Ergebnis kommen nach allem, was sie ihm dargelegt hatten?

„WAS?! Habt ihr alle ‘nen Vogel?!“ konnte Lan sich nicht beherrschen.

„Lan, nicht schon wieder dieser Ton. Du wurdest hiermit verwarnt.“ Die Rothaarige warf ihm einen langen, strengen Blick zu, bevor sie weitersprach. „Ich möchte gerne begründen, wie wir zu unserer Entscheidung gekommen sind.“

„Ja, bitte erklär es uns! Hat Adoy euch gekauft oder seid ihr wirklich so dämlich? Das würde mich brennend interessieren.“

„Das ist deine zweite Verwarnung. Noch ein Zwischenruf dieser Sorte und du verlässt den Saal, Lan.“

Sie ermahnte Lan abermals und erfuhr Unterstützung, als auch Ryu seinen Freund im Flüsterton noch einmal dringend bat, sich zurückzuhalten. Lan nickte schuldbewusst und versuchte, seinen Ärger herunterzuschlucken.
 

„Die Anschuldigungen gegen Meister Adoy lauten folgendermaßen:

1. Er soll Zalei missbraucht haben, um Aufträge illegaler und gefährlicher Art auszuführen, für die er sich bezahlen ließ. Beweise liegen nicht vor.

2. Er soll Gelder aus den Einrichtungen des Zaleirats hinterzogen haben. Beweise liegen nicht vor.

3. Er soll mit der Organisation K.R.O.S.S. bei illegalen und gefährlichen Forschungen zusammengearbeitet haben. Beweise liegen nicht vo-…“

„Natürlich liegen Beweise vor! Was soll das Affentheater? Ryu hat euch den Brief vorgelesen. Und ihr habt Zeugenaussagen. Denkt ihr, Kiku würde sich so was ausdenken und sich selbst reinreiten? Wie kann man nur so dämlich sein?“

„Ja, Lan. Wie kann man nur so dämlich sein? Ich hab dich zweimal gewarnt, einmal mehr als ich es hätte tun müssen. Du bist hiermit von der Sitzung ausgeschlossen. Verlass den Saal!“

Ryu schlug die Hand vors Gesicht. Er hatte es kommen sehen. Eigentlich hätte er wissen müssen, dass es so enden würde. Es war naiv von ihm gewesen zu glauben, dass Lan sich diesmal beherrschen würde. Immerhin hatte er genau gesehen wie gereizt er nicht nur heute, sondern schon die ganze letzte Zeit gewesen war.

Nachdem Lan immer noch kochend vor Wut und leise vor sich hin schimpfend den Saal verlassen hatte, setzte die stellvertretende Vorsitzende ihre Ausführungen fort.

„Wir können den Brief leider nicht als Beweismittel anerkennen, da aus ihm weder Absender noch Empfänger hervorgehen. Der Inhalt ist viel zu wage und jede Deutung wäre reine Spekulation. Außerdem handelt es sich noch nicht einmal um das Original, so dass wir die Herkunft und Echtheit des Briefs ebenfalls nicht überprüfen könnten.“

Ryu nickte knapp. Bei Tageslicht betrachtet hatte sie wohl oder übel recht.

„Auch Kiku Aki hat uns zwar glaubhaft erklärt, dass und wie sie für K.R.O.S.S. tätig war. Da sie sich selbst damit schwer belastet, gehe ich davon aus, dass sie nicht lügt. Aber sie hat uns auch wirklich ausschließlich ihre Arbeit für K.R.O.S.S. darlegen können, keine Verbindung zu Meister Adoy. Deshalb musste der Rat zum Schluss kommen, dass es keine ausreichenden Beweise für diese Verbindung gibt.“

Punkt für Punkt ging die stellvertretende Vorsitzende alle Vorwürfe durch, die Ryu und Lan gegen Adoy erhoben hatten. Ryus Mut sank zusehends, während das Grinsen des alten Meisterzalei immer breiter und breiter wurde.

„4. Er soll Mika Takano ermordet haben, um Beweise für seine illegalen Aufträge zu vertuschen. Beweise liegen nicht vor. Insbesondere hat sich auch die Polizei ausführlich mit dem Fall befasst und selbst mit moderner Kriminaltechnologie keinerlei Hinweise gefunden, dass der Meister irgendetwas mit Mikas Tod zu tun hatte. Die einzige Zeugenaussage ist die des Hauptverdächtigen.

5. Er soll den Mord an Taro Natsukori in Auftrag gegeben haben. Beweise liegen nicht vor. Genau genommen liegen nicht einmal Beweise vor, dass Herr Natsukori überhaupt tot ist. Dennoch möchte ich euch mein herzliches Beileid aussprechen, wenn es so ist, Ryu und Yuki.

6. Er soll den Mord an Lan Sekiei in Auftrag gegeben haben. Meister Adoy sagt ebenso aus wie Pierre Loire, dass es keinen Mordversuch an Lan gegeben hat. Laut Pierre handelte es sich um einen privaten Streit, der mit Meister Adoy nichts zu tun hatte. Es gibt keine Beweise, aufgrund derer der Rat der Zalei etwas anderes annehmen müsste.“
 

Ryu atmete einmal tief durch, bevor er antwortete.

„Ich verstehe die Argumentation des Rats, auch wenn ich natürlich sehr getroffen bin, dass unsere Aussagen als Zeugen anscheinend in keiner Weise ernst genommen werden. Lan, Yuki, Kiku, Kei und ich haben mit eigenen Augen gesehen und mit eigenen Ohren gehört, was Adoy für ein falsches Spiel spielt. Ich bin fassungslos, dass er damit einfach davonkommt, solange wir keine knallharten Beweise auf den Tisch legen können. Ich meine, Sie sehen doch was sie Yuki angetan haben.“

„Du meinst, was K.R.O.S.S. ihm angetan hat. Es geht hier nicht um Vorwürfe gegen K.R.O.S.S., sondern gegen Meister Adoy. Die Organisation K.R.O.S.S. untersteht nicht dem Rat und ist damit ein Thema für die öffentlichen Behörden, nicht für uns.“

„K.R.O.S.S. arbeitet für Adoy, also ist es dasselbe. Nur fehlen uns eben die Beweise, die Sie auch anfassen können. Fünf Zeugenaussagen reichen ja anscheinend nicht.“ seufzte Ryu missmutig und strich sich ein paar Haarsträhnen aus dem Gesicht.

„Solltet ihr uns diese Beweise nachreichen können, befassen wir uns natürlich gerne erneut mit dem Thema.“

„Jetzt haben Sie uns erläutert, warum Meister Adoy nicht seines Postens enthoben und unter Arrest gestellt wird. Aber was ist mit der Gründung eines Untersuchungsausschusses? Es gibt mehrere Hinweise darauf, dass innerhalb der Struktur des Rats und der Gemeinschaft Missbrauch betrieben wurde. Entgegen den Regeln des Rats wurden Zalei für verschiedene Tätigkeiten ausgebeutet und gefährdet. Und es soll finanzieller Schaden für die Gemeinschaft entstanden sein – stufe ich persönlich zwar nicht als Topargument ein, aber Führungsetagen hängen ja gerne mal an den Bilanzen. Ganz zu schweigen von den beiden Morden und einem Mordversuch, deren Ursache ganz offensichtlich irgendwo innerhalb der Zaleigemeinschaft liegen. Auch wenn es keine Ihrer heißgeliebten Beweise gibt, sollten die Hinweise doch genug Anlass geben für eine umfassende Untersuchung.“

Ryus Geduld schien langsam zu Neige zu gehen. Auch wenn seine Stimme ruhig blieb, wählte er doch eine zunehmend unsachlichere Sprache. Einen ähnlichen Ton hatte Kei von Ryu eigentlich nur im Gespräch mit seinem Vater gehört.

„Wie ich bereits ausführlich erklärt habe, gibt es keine Beweise. Die Hinweise, von denen du sprichst, sind nur eure Zeugenaussagen. Und die wurden schon heute während dieser Sitzung in mindestens zwei Punkten widerlegt.“

„Sie wurden nicht widerlegt, sondern es steht Aussage gegen Aussage. Dass der Rat Adoy oder Pierre mehr Glauben schenkt als uns bedeutet nicht, dass unsere Aussage deshalb widerlegt ist.“

„Eine Untersuchung wie ihr sie euch wünscht, ist wahnsinnig aufwendig. Um einen Ausschuss aufzubauen, müssen Arbeitskräfte, Material und Mittel bereitgestellt werden. Solange wir bloß vagen Hinweisen folgen sollen, und die ganze Nachforschung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit mit dem Ergebnis enden wird, dass alles in bester Ordnung ist, können wir uns diesen Aufwand nicht leisten. Der Rat muss abwägen und seine Ressourcen im Interesse aller Zalei, die er vertritt, nach bestem Wissen und Gewissen einsetzen.“

„Mit anderen Worten: Nur weil eine Handvoll junger Zalei euch auf grobe Missstände hinweist, müsst ihr noch lange nicht tätig werden, weil es zu teuer ist.“ murmelte Ryu kaum hörbar und massierte mit den Fingerspitzen seine Schläfe. Langsam begann sein Kopf zu schmerzen.
 

„Ebenfalls einen Antrag an den Rat möchte ich stellen.“

Der alte Meisterzalei hatte so weit wie möglich sein triumphierendes Grinsen unter Kontrolle gebracht. Er blickte nun mit dem ernsten Blick in die Runde seiner Zalei, die man vom ehrwürdigen Vorsitzenden des Rates erwartete.

„Die Anschuldigungen meiner ehemaligen Schüler, sehr haben sie mich getroffen. Völlig haltlos sie sind natürlich, wie bereits ich erläutert zuvor. Ryu und Lan bringen Klagen gegen mich hervor, die eigentlich gegen K.R.O.S.S. sich richten. Vor wenigen Minuten erst hat Ryu gesagt, K.R.O.S.S. und ich, das sei dasselbe.“

„Dreh mir nicht das Wort im Mund um.“

„Das ich nicht tu. Du hast es so gesagt, alle haben es gehört. Ryu kann unterscheiden mich und K.R.O.S.S. nicht mehr. Er und Lan haben viele, viele Vorwürfe erhoben. Viele davon sogar schon jetzt widerlegt sind. Der einzige Beweis, den sie vorlegen konnten, ist ein Brief, den sie wahrscheinlich selbst haben gefälscht. Ryu und Lan unterstellen mir, das Vertrauen des Rats missbraucht und verschiedene Straftaten begangen zu haben, von denen sie keine einzige beweisen konnten. Im Gegenzug ich ebenfalls erhebe eine Anschuldigung gegen meine ehemaligen Schüler: Verfolgungswahn.“

Ryu schüttelte geistesabwesend den Kopf. Was bezweckte der Alte mit so einem lächerlichen Vorwurf?

„Lan und Ryu beide Mitglieder dieses Rats sind, dem ich vorsitze. Sitzungen immer waren schwierig mit ihnen. Oft sie haben Beschlüsse blockiert, regelmäßig Lan wurde von Sitzungen ausgeschlossen. Jetzt aber das Maß ist voll. Ryu und Lan haben schwere Vorwürfe gegen den Vorsitzenden des Rats erhoben und damit gegen den Rat selbst. Eine Zusammenarbeit künftig ich sehe als unmöglich sie an. Deshalb beantrage ich, Ryu und Lan ihrer Posten zu entheben und sie aus dem Rat der Zalei zu entlassen.“

Ryu wusste nicht, ob er lachen oder weinen sollte. Nicht nur dass ihr Plan, den alten Meister als Ratsvorsitzenden ab- und ihn festzusetzen auf ganzer Linie gescheitert war, jetzt wollte der Alte stattdessen sie ausschließen. Das durfte nicht wahr sein.

„Möchtest du dich zum Antrag des Vorsitzenden äußern, Ryu?“ riss ihn die rothaarige Stellvertreterin aus seinen Gedanken.

„Was soll ich dazu sagen? Der Rat weiß natürlich, dass Lan und ich gerne Diskussionen anstoßen und Beschlüsse im Rat oft kritisch betrachten. Mir ist klar, dass es Adoy bequemer wäre, wenn alle Ratsmitglieder brav nach seiner Pfeife tanzen würden. Und wahrscheinlich würde auch der restliche Rat gerne jeden Tagesordnungspunkt schnell abhaken und in den Feierabend starten. Aber genau in der differenzierten Auseinandersetzung mit den Themen im Rat, sehe ich unsere Aufgabe als dessen Mitglieder. Es ist absolut lächerlich, uns deswegen rausschmeißen zu wollen.“

Wieder beriet sich der Rat der Zalei ausführlich und ließ sich Zeit, um zu einem Beschluss zu finden. Als es so weit war, räusperte sich die stellvertretende Ratsvorsitzende kurz. Mit festem Blick sah sie Ryu an und machte seinen Albtraum perfekt.

„Der Rat der Zalei nimmt den Antrag des Vorsitzenden Adoy mit sechs zu drei Stimmen an. Ryu Fuyutaka und Lan Sekiei werden mit sofortiger Wirkung ihrer Funktion als Mitglieder des Rates der Zalei enthoben.“
 

Zur selben Zeit trottete Lan immer noch mit einer Riesenwut im Bauch den Gang entlang in Richtung Eingangshalle. Nach seinem neuerlichen Rauswurf würde er das tun, was er nach jedem Rauswurf tat. Er würde einfach so lange vor dem Eingangstor stehen und rauchen, bis Ryu sich nach der Sitzung zu ihm gesellen und ihm eine Standpauke halten würde.

Lan konnte es einfach nicht fassen. Trotz all ihrer Recherchen, trotz aller Zeugenaussagen, aller Beweise – und er sah sie definitiv als handfeste Beweise an – und nach allem, was sie durchgemacht hatten, zerschmetterte der Rat so einfach all ihre Hoffnungen. Schon zum zweiten Mal musste Lan erleben, wie eine Rebellion gegen Adoy scheiterte.

Er kochte vor Wut. Gleichzeitig war er aber auch völlig ausgebrannt von den Strapazen der letzten Zeit. Alles war umsonst gewesen. Lan fühlte sich so ohnmächtig. Hatten sie wirklich verloren?

Lan hatte kaum einen Fuß über die Schwelle zwischen Gang und Eingangshalle gesetzt, da packte ihn eine starke Hand am Unterarm und wirbelte ihn herum. Im nächsten Moment wich beim Kontakt mit der Wand die Luft aus Lans Lungen. Bevor er überhaupt seinen Atem wiedergefunden hatte, legte sich eine Hand über seinen Mund. Reflexartig wollte er sich umdrehen, spürte aber dann, wie ein metallischer Gegenstand gegen seinen Rücken gepresst wurde. Eine Waffe.

„Hast du dich nie gefragt, warum du immer noch am Leben bist, Lan Sekiei?“

Die Stimme fast direkt neben seinem Ohr klang beinahe belustigt. Lan kannte diese Stimme, er hatte sie schon gehört. Aber wann und wo…?

„Ich hätte dich ja längst umgebracht. Aber die Miss scheint noch Pläne mit dir zu haben.“

Mit dem Ende des letzten Satzes fühlte Lan einen heftigen Schlag am Hinterkopf, der das Bild vor seinen Augen trüb werden ließ. Nur wenig später sank er fast wie in Zeitlupe auf den Boden und verlor das Bewusstsein.
 

****

Hallo,
 

diesmal bin ich einen Tag früher dran, weil ich dieses Wochenende vermutlich nicht zum Hochladen kommen werde. Leider bedeutet das im Umkehrschluss, dass ihr einen Tag länger als sonst warten müsst, um zu erfahren, was eben passiert ist und wie es weitergeht. ;P

Bauernopfer oder Heldentod

Kapitel 25 – Bauernopfer oder Heldentod
 

Nach Ende der Sitzung strömten alle Ratsmitglieder durch die Tür in ihren wohlverdienten Feierabend. Ryu blieb noch eine Weile zurück, fast wie gelähmt durch das niederschmetternde Urteil des Rates. Als er schließlich begleitet von Yuki, Kiku und Kei geknickt den Saal verließ, schien das Ratsgebäude schon fast menschenleer. So sorgten nur ihre Schritte auf den Bodenfliesen sowie Jacks gelegentliche Schreie dafür, dass auf den Gängen keine absolute Stille entstand. Ansonsten herrschte zwischen den Freunden betretenes Schweigen. Mit diesem Ausgang der Sitzung hatten sie nicht gerechnet. Er war schlimmer als ihre schlimmsten Befürchtungen.

Meister Adoy war währenddessen noch im Sitzungssaal zurückgeblieben. Er thronte in seinem Sessel an der Stirnseite des kreisrunden Saals und genoss seinen Triumph. Ryu und Lan waren in der Sitzung angetreten, um ihn zu vernichten. Doch er, der mächtigste aller Zalei, hatte es nicht nur geschafft, sich gegen die beiden Rebellen zu wehren. Nein, er hatte ihnen eine vernichtende Niederlage beibringen können. Sie hatten mit ihrem Sitz im Rat der Zalei auch ihre Geltung in der Gemeinschaft der Zalei verloren. Darüber hinaus würde ihnen für immer der Ruf anhaften, in ihrem Verfolgungswahn zu lügen, Beweise zu fälschen und Tatsachen zu verdrehen. Ryu und Lan würden ihm nicht mehr gefährlich werden können, da war der alte Meisterzalei sicher.
 

Ryu führte die anderen den Gang entlang in Richtung Eingangshalle. Während Yuki, Kiku und Kei ihm folgten, rannte Robin wie immer ein paar Meter voraus. Der Fuchs hatte schon fast die Mitte der Halle hinter sich gelassen, als die Menschen hinter ihm erst das Ende des Gangs erreichten.

Draußen vor dem Eingangstor erwartete Ryu Lan mit unverminderter Wut inmitten von ausgetretenen Zigarettenstummeln vorzufinden. Ihm wurde schon jetzt etwas mulmig beim Gedanken an Lans unvergleichlichen Wutausbruch, sobald er von ihrem Ausschluss erfuhr.

„Lan qualmt bestimmt wieder vor dem Eingang.“ erklärte Ryu, als sie gerade aus dem langen Gang in die Eingangshalle traten.

„Non, da ist er ‘eute nischt.“

Alle vier fuhren erschrocken herum. Pierre stand links zwischen dem Gang, aus dem die vier gerade gekommen waren, und der monumentalen Treppe der Eingangshalle. Seine Schlange Antoinette lag wie eine Stola über seinen Schultern und schien sie mit ihren hellen Schlangenaugen bedrohlich zu mustern. Pierre selbst hatte die linke Hand in die Hüfte gestützt. Die Schlinge von vorhin trug er nicht mehr. In der rechten Hand hielt er einen Stab von grob geschätzt einem Meter Länge. Seine himmelblauen Augen blitzten gefährlich.

„Was soll das heißen?“ Ryus Ton war ebenso eiskalt wie der Blick, mit dem er Pierre bedachte.

„Isch weiß, dass er nach jedem Rausschmiss draußen raucht. Deswegen ‘abe isch ihn vorhin absischtlisch noch etwas mehr provoziert, um sischer zu ge’en dass er ausrastet, und wollte dort auf ihn warten. Leider kam er aber nie an.“

„Und wo ist er jetzt? Hast du ihn etwa doch noch umgebracht?“ verfinsterte sich Ryus Miene weiter.

„Ah non alors!“ Pierre hob abwehrend die Hände „Isch ‘abe doch gesagt, dass isch niemals einen Mord bege’en könnte. Wieso glaubst du Lan mehr als mir?“

„Ganz einfach: Weil Lan im Gegensatz zu dir ein wahnsinnig schlechter Lügner ist.“

„Ha ha. Das fasse isch als Kompliment auf. Oui, oui. Isch bin ein großartiger Schauspieler, n’est-ce pas?“

„Wo ist Lan?“

Ryu wiederholte seine Frage deutlich lauter und weniger geduldig als zuvor. Doch Pierre winkte nur ahnungslos mit der linken Hand. In eleganten Schritten kam er ein Stück näher, bis ihn nur noch etwas über zwei Meter von Ryu trennten. Antoinette wand sich um Pierres Körper herum bis auf den Boden. Fast als wolle sie Ryu, Yuki, Kiku und Kei einkreisen, schlängelte sie sich ein paar Meter von Pierre weg. Direkt am Absatz der monumentalen Treppe blieb sie liegen, von wo aus sie ihre Gegenüber im Auge behielt.
 

Aus dem Gang, der zum Sitzungssaal führte, trat nun auch der alte Zaleimeister in die Szene. Er trug seine Schildkröte auf dem linken Arm und bewegte sich auf kleinen, hastigen Schritten. Nur kurz hinter der Schwelle zwischen Gang und Eingangshalle blieb er stehen. Seinem Grinsen zufolge schien ihm das Bild zu gefallen, das sich ihm bot.

„Oui, du ‘attest rescht, isch ‘ätte Lan aufgelauert und ihn getötet. Du ‘ast ja nischt die leiseste Ahnung, was er mir vor drei Jahren angetan ‘at. Wir waren Freunde und er ‘at misch verraten. Er ‘at gegen den Meister rebelliert und misch einfach ‘ängen lassen, nachdem isch misch für ihn eingesetzt ‘abe. Isch ‘abe seine Strafe auf misch genommen und ihm war es total egal.“

Wo eben noch ein amüsiertes Grinsen auf Pierres Gesicht gelegen hatte, sah Kei nun Verletzung und Wut. Pierres blaue Augen wirkten kalt wie Gletschereis. Seine Worte zischte er regelrecht.

„Es ist wahr, dass isch Lan getötet ‘ätte, wenn isch ihn vorhin erwischt ‘ätte. Aber das ‘abe isch nischt. Jemand war wohl schneller als isch. Isch weiß wirklisch nischt, wo er jetzt ist.“

Einen Moment standen sich Pierre und Ryu gegenüber, als wollten sie sich gegenseitig mit ihren eiskalten Blicken in Blitzeis verwandeln.

Keiner der Anwesenden wagte es, die angespannte Stille zu stören. Der einzige, der schon wieder keinerlei Sinn für dramatisches Schweigen bewies, war Jack. Kikus Äffchen war schon die ganze Zeit über aufgekratzt durch die Halle gesprungen und turnte nun an einer der Säulen direkt neben der Eingangstür herum. Besonders der schwere Samtvorhang davor schein es ihm angetan zu haben.
 

„Oh. Ich weiß, wo er ist. Aber ich glaub nicht, dass ich es euch sage.“

Alle wandten sich sofort erschrocken zur Treppe, von wo die Stimme ertönt war. Direkt an der Stelle in der Mitte der Treppe, wo sich diese in zwei Flügel teilte, stand ein Mann mit belustigtem Ausdruck. Er trug sein pechschwarzes Haar in einem kleinen Pferdeschwanz im Nacken. Die vorderen Haarsträhnen, die zu kurz waren, um in seinem Haargummi Halt zu finden, verdeckten nur spärlich sein blindes, rechtes Auge. In jeder Hand hielt er eine Waffe, die er auf die Gruppe unten in der Halle gerichtet hielt.

„Das ist der Kerl von K.R.O.S.S.. Der, der dieses Experiment mit mir gemacht hat.“ hörte Kei Yuki fast ohne Stimme flüstern.

„Suzumaru…“ sprach Kiku entgeistert seinen Namen aus.

Kei drehte sich zu seinem Freund um. Die Farbe war aus seinem Gesicht gewichen. Seine Augen fixierten den Mann wie gebannt. Er hatte die Brauen tief ins Gesicht gezogen und atmete schwer. Kei bemerkte, dass Yuki leicht zitterte, ob aus Wut oder Angst, konnte er aber nicht recht einschätzen. Er vermutete, es war ein bisschen von beidem.

Das war also der Mistkerl, der Yuki, seinem Freund, dieses Mittel gespritzt hatte. Dieser Kerl auf der Treppe hatte Yuki gequält, verletzt und ihm seine Kraft geraubt. Er war schuld daran, dass Yuki vorgestern sogar geweint hatte! Kei spürte wie die Wut in ihm aufstieg und immer heißer zu brodeln begann, als der Kerl weitersprach.

„Kiku Aki und Yuki Natuskori! Wunderbar, euch beide wiederzusehen. Ich war sehr betrübt, dass ihr so plötzlich verschwunden seid.“ lachte Suzumaru. Dann wanderte sein Blick prüfend von Kopf bis Fuß über Yukis Figur und zurück. „Yuki Natsukori, du siehst lebendig aus. Freut mich, dass unser aX-482-L anscheinend wirkt. Würdest du mir ein paar Fragen beantworten? Wie fühlst du dich denn? Hast du irgendwelche Veränderungen bemerkt, abgesehen davon, dass du deine Kräfte verloren hast? Hast du Schmerzen oder irgendwelche Nebenwirkungen?“

„Halt bloß den Rand, oder ich vergesse mich!“ entfuhr Yuki stocksauer.

Die Waffe, die der andere auf ihn gerichtet hatte, schien ihn in seinem Zorn gar nicht zu beeindrucken. Jetzt war Kei sich auch einigermaßen sicher, dass der Grund für Yukis Zittern mehr Wut als Angst war.

„Schon wieder so unkooperativ? Sehr schade. Ich bräuchte diese Informationen, um meinen Bericht abschließen zu können. Die Miss wird unzufrieden sein mit einer unfertigen Arbeit.“

„Dann hoffe ich, dass sie dich ordentlich übers Knie legt!“

„Oh ja! Das wär ein Spaß.“ spottete Suzumaru nur über Yukis Ausbruch.
 

Im nächsten Moment wandelte sich Suzumarus Lachen in ein belustigtes Grinsen. Sein Auge wanderte über die Personen in seinem Fadenkreuz hinweg durch die Halle bis zur Eingangstür. Er winkte kurz mit einer Hand dorthin, bevor er seine Waffe erneut auf seine Gegenüber richtete.

Zögerlich und in der Hoffnung, unbemerkt zu bleiben, drehte Kei sich gerade so weit in Richtung Tür um, um zu sehen, dass eine weitere Person eingetroffen war. Eine Frau mit kinnlangem, lockigem Haar hatte die Halle betreten. Kei vermutete sofort, dass es diese Obscura sein musste, die Assistentin der Miss. Sie schob hinter sich die schwere Tür zu, als Signal, dass der Fluchtweg hinaus hiermit geschlossen war. Dann postierte sie sich selbst direkt vor der Tür und zog ihre Waffe. Mit ausgestrecktem Arm richtete sie ihre Pistole auf die Gruppe in der Hallenmitte.

„Obscura! Suzumaru! Warum hier seid ihr? Immer ich habe gesagt, ihr sollt euch nicht im Rat blicken lassen, wenn nicht ausdrücklich ich euch rufe.“

Erstmals ertönte nun auch die Stimme des alten Adoy in der Halle. Der Meisterzalei hatte ein paar Schritte nach vorne gemacht, um die Handlung nicht wie von den billigen Seitenplätzen verfolgen zu müssen. Er war wütend. Kei verstand allerdings nicht warum. Es waren doch seine eigenen Leute. Denn der alte Meister war doch derjenige, der K.R.O.S.S. befehligte. Und sie hielten ihre Waffen auf dessen Feinde gerichtet.

„Wir sind hier im Auftrag der Miss.“ antwortete Obscura, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt.

„Auftrag der Miss? ICH gebe die Aufträge an euch und die Miss!“

Kaum hatte der alte Meister seinen Satz wutschnaubend beendet, da brach Suzumaru in schallendes Lachen aus. Sein Körper bebte so stark unter seinem Gelächter, dass er nur mit größter Mühe seine Waffen zielsicher halten konnte.

„Was ist so komisch?!“ erhob der Meister zunehmend verärgert die Stimme.

Suzumaru beruhigte sich schließlich wieder. Ganz demonstrativ atmete er einmal tief durch. Dann hielt er beide Hände nach oben, um seine Waffen vorzuführen.

„Meister, Meister… Für einen Meisterzalei mit so viel Lebenserfahrung sind sie ganz schön naiv. Sehen Sie her. In meiner linken Hand habe ich eine klassische Pistole. In meiner rechten Hand habe ich eine Pistole, geladen mit Pfeilen, die unser neu entwickeltes eZ-513-Dx enthalten. Vielleicht haben sie die Gerüchte ja schon gehört. Dieses Mittel kann einen Zalei im Körper seines Carn einsperren, für immer.“

Suzumaru senkte seine Waffen wieder und richtete beide auf die Gruppe am Treppenabsatz.

„Mit meiner linken Hand könnte ich Sie ins Jenseits befördern oder Sie mit meiner rechten für den Rest Ihres Lebens auf allen Vieren kriechen lassen. Wo ich doch diese Macht habe, nennen Sie mir nur einen guten Grund, warum ich Ihre Befehle entgegennehmen sollte.“

„Ihr wagt es, euch mir zu widersetzen?! ICH habe K.R.O.S.S. beauftragt! Von Anfang an war ich es, der die Befehle gab!“

„Sie haben das völlig missverstanden, Meister.“ mischte sich nun auch Obscura ein. „Die Miss hat sich die ganze Zeit über Ihrer Informationen, Ihrer Geldmittel, Ihrer Fähigkeiten und Ihrer Zalei bedient. Sie haben bereitwillig kooperiert, so lange Sie dachten, dass Sie das Zepter in der Hand halten. Wachen Sie endlich auf, Meister! Sie dachten, Sie würden sich der Dienste von K.R.O.S.S. zu Ihrem Vorteil bedienen. Aber in Wahrheit hat K.R.O.S.S. die ganze Zeit über Sie in der Hand gehabt.“

Nicht nur der alte Meisterzalei musste schwer schlucken. Allen Anwesenden schien es die Sprache zu verschlagen. So auch Kei. Er war vor Schreck wie erstarrt.

Die ganze Zeit über hatten alle Indizien darauf hingedeutet, dass Meister Adoy K.R.O.S.S. mit der Erforschung des Zaleitalents und mit der Entwicklung dieser ganzen Mittelchen beauftragt hatte. Aber die Wahrheit entpuppte sich nun als das genaue Gegenteil. Nicht der Meister hatte die Organisation ausgenutzt, sondern umgekehrt. Nicht der Meister war der Drahtzieher und die Ursache allen Übels, sondern die Miss.
 

„Wie auch immer. Nachdem wir das nun endlich geklärt hätten, hab ich noch etwas zu erledigen.“

Suzumaru winkte so beiläufig mit seiner bewaffneten Rechten, als wollte er den Moment wie eine lästige Schmeißfliege verscheuchen. Mit der tödliche Waffe in seiner Linken zielte er weiter.

„Ich freue mich, dass ich Yuki Natsukori und Kiku Aki hier wiederfinde. Eigentlich sollte ich nach dem Experiment alle Zeugen beseitigen, damit sie nichts ausplaudern können. Was für ein Pech, dass ihr einfach abgehaut seid! Und dann habt ihr dummerweise inzwischen auch schon alles ausgeplaudert, so dass es gar keinen Sinn mehr machen würde, euch zum Schweigen bringen zu wollen.“

Suzumaru trat langsam eine einzige Stufe herab. Gleichzeitig zog er das Kinn leicht an die Brust und verengte seine Augen zu Schlitzen. Er richtete seine Waffe nun direkt auf Yuki.

Im selben Moment spannte auch Obscura den Hahn ihrer Pistole und legte ihre zweite Hand stabilisierend um den Griff. Sie hatte Kiku im Fadenkreuz.

Kei sah nervös zwischen beiden hin und her. Sein Herz klopfte immer schneller und schneller. Er war immer noch vor Schreck ganz starr und unfähig zur kleinsten Bewegung.

„Wenn es sowieso zu spät ist, uns zum Schweigen zu bringen, warum wollt ihr uns dann immer noch erschießen?“ fragte Yuki mit erstaunlich fester Stimme.

„Nennt es einfach Genugtuung.“ griente Suzumaru bösartig.
 

Im nächsten Moment fielen fast zeitgleich zwei Schüsse.

Zwei Schreie ertönten, die von den Wänden widerhallten.

Ein Körper stürzte leblos zu Boden.

Blut benetzte die Fliesen der Halle.
 

Kei zitterte am ganzen Körper. Der Schreck saß tief in seinen Gliedern, seine Arme und Beine fühlten sich an wie Pudding. Er rang nach Luft.

Es dauerte eine Weile, bis er sich aus der Starre befreien konnte, in die er zum zweiten Mal gefallen war. Kaum dass es ihm gelungen war, war seine erste Bewegung hin zu Yuki. Kei drehte sich zu ihm um und starrte ihn mit großen Augen an, in denen sich einige Tränen gesammelt hatten. Sein Herz raste noch immer wie wild und seine Atmung ging unruhig.

Erst als Yukis Hand unendlich sanft und beruhigend über Keis Wange strich, bevor sie auf seiner Schulter liegen blieb, konnte Kei sich langsam wieder sammeln.

Yuki war unverletzt. Suzumaru hatte ihn verfehlt.

Nach und nach konnte Kei seine Gedanken ordnen und endlich begreifen, was eben passiert war.

Suzumarus Finger hatte sich um den Abzug gespannt. So grausam langsam wie die Zeitlupeneinstellung in Filmen hatte Kei diese Bewegung wahrgenommen. Jeden Moment hatte er damit gerechnet, den Schuss zu hören, der für seinen Freund bestimmt war. Auch Yuki hatte sich schon darauf gefasst gemacht, dass die Kugel ihn in wenigen Augenblicken treffen würde. Er hatte die Augen geschlossen und einen tiefen Atemzug genommen, von dem er gedacht hatte, es würde sein letzter sein.

Zum zweiten Mal würde Kei den leblosen Körper seines Freundes in den Armen halten. Doch diesmal würde er sich nicht wieder erholen können. Kei würde Yuki für immer verlieren. So leer Keis Gedanken in diesem Moment auch gewesen waren, eines hatte er ganz sicher gewusst: Er wollte Yuki auf gar keinen Fall verlieren.

Also war er selbst wenige Sekunden bevor Suzumaru abdrücken konnte, vor Yuki und in die Schusslinie getreten.

Aber Kei war nicht der einzige gewesen, der Yuki nicht sterben sehen wollte. Fast im selben Moment war Minuit wie aus dem Nichts auf Suzumaru herabgestürzt. Die Fledermaus hatte so wild unmittelbar vor seinem Gesicht herumgeflattert, dass er fast zu Tode erschrocken war. Suzumaru war mit einem panischen Schrei zurückgestolpert und hatte die Waffe dabei verrissen. Der Schuss, den er im Fall abgegeben hatte, mochte so ziemlich alles getroffen haben, aber kein lebendes Wesen in diesem Raum.
 

Anders stand es allerdings um den Schuss aus Obscuras Pistole. Dieser hatte leider ein lebendes Ziel gefunden.

Vor Angst war Kiku wie versteinert stehengeblieben. Ihre wasserblauen Augen hatten angsterfüllt in die Mündung der Pistole gestarrt. Sie hatte nicht gewusst, ob ihr Herz gleich vor Rasen aus ihrer Brust springen oder schließlich vor Schreck einfach stehen bleiben würde. Eine glitzernde Träne war über ihre Wange gelaufen und wenig später von ihrem Kinn getropft. Kiku hatte mit ihrem Ende gerechnet. Mit angehaltenem Atem hatte sie verfolgt wie Obscura den Abzug ihrer Pistole betätigt hatte.

Im buchstäblich letzten Moment hatte Kiku dann plötzlich gespürt, wie sich eine starke Hand um ihren Oberarm gelegt und sie zur Seite gezogen hatte. Sie war überrumpelt zurückgestrauchelt und nur wenig später unsanft auf ihrem Hintern gelandet. An der Stelle, an der sie nur wenige Augenblicke zuvor gestanden hatte, hatte sie nun Ryu vor sich gesehen. Und genau in diesem Moment war sie Zeugin geworden wie die Kugel ihn traf, die für sie bestimmt gewesen war.

Ryu war fast augenblicklich zusammengebrochen. Seine Augen waren geschlossen und er war schon nicht mehr bei Bewusstsein gewesen, als sein Körper den Boden getroffen hatte.

„Neiiiin!“ hatte Kiku mit angsterfülltem Zittern in der Stimme ausgerufen.

Sofort war sie zu Ryus Körper gestürzt, der leblos neben ihr lag. Doch wie sehr sie auch immer wieder seinen Namen rief, wie sehr sie ihn auch schüttelte, seine Lider blieben geschlossen. Kiku geriet langsam in Panik. Umso mehr, als sie bemerkte, wie sich ein immer größerer Blutfleck an Ryus rechter Seite bildete. Sie zog ihre Jeansjacke aus, rollte sie zusammen und presste den Stoff mit zitternden Händen fest auf die Wunde an seiner Taille.
 

„Was war das?! Das Mittel, das ich dir verabreicht habe, sollte deine Zaleikräfte für immer gelöscht haben!“

Suzumaru hatte sich wieder aufgerappelt, stützte sich aber noch vornüber gebeugt mit einer Hand auf seinem Knie ab. Mit dem Rücken seiner anderen Hand strich er über seine Stirn. Dabei ließ er die ganze Zeit über keine seiner beiden Waffen los. Er schnaufte schwer.

„Sollte eure dämliche Organisation nicht die Kräfte der Zalei erforschen?!“

Mit dem Mut der Verzweiflung stampfte Kei auf, während seine Aufmerksamkeit von Yuki zu Suzumaru wanderte. Spätestens jetzt, nachdem der Mistkerl tatsächlich versucht hatte, seinen Freund zu erschießen, kochte Kei vor Wut.

„Mit euren Forschungen kann’s ja nicht besonders weit her sein. Die Verbindung zwischen einem Zalei und seinem Carn ist nicht einfach nur eine Straße, über die das Bewusstsein des einen in den Körper des anderen fahren kann. Dass du Yuki den Körpertausch weggenommen hast, hat ihm noch lange - noch sehr lange - nicht seine Kräfte als Zalei geraubt! Wenn K.R.O.S.S. nicht mal das kapiert hat, dann könnt ihr eure Forschungen in die Tonne treten!“

„So so. Na schön, dann werde ich das in meinem Bericht eben noch ergänzen.“

Nur mäßig beeindruckt von Keis Worten richtete sich Suzumaru schließlich vollständig auf. Ein letztes Mal schnaufte er laut aus. Dann hob er seinen linken Arm und nahm Yuki erneut ins Fadenkreuz.

Instinktiv wollte Kei in seine vorherige Position zurückkehren und sich schützend vor Yuki stellen. Aber Yuki bedeutete ihm, dass er dieses Opfer nicht wollte. Selbstverständlich wollte Yuki ebenso wenig die Person verlieren, die er liebte, wie Kei. Ihm war klar, dass Suzumaru nicht nur ihn erschießen würde, den er als sein Opfer benannt hatte, sondern auch Kei, wenn ihm sich dieser in den Weg stellte.

Mit sanftem Druck schob er Kei deshalb langsam aus der Schusslinie, immer fürchtend, dass eine zu hektische Bewegung Suzumaru zu einem Schuss hinreißen konnte. Kei wollte protestieren. Er musste aber spätestens dann nachgeben, als Yuki einen Schritt vor ihn trat und so signalisierte, nicht zu Verhandlungen bereit zu sein.

Zur gleichen Zeit hatte auch Obscura sich für einen zweiten Schuss bereit gemacht. Mit beiden Händen hatte sie ihre Waffe umgriffen und richtete diese auf Kiku, die immer noch neben Ryu kniete. Kiku hatte ihre Augen fest zusammengekniffen.
 

Ein lauter Knall. Dann wich alles Leben plötzlich aus Kikus Körper. Bewusstlos kippte sie vornüber und landete dabei halb auf Ryu. Ihr Kopf ruhte regungslos auf seiner Brust.

Der unerwartet plötzliche und laute Knall hatte alle Anwesenden erschreckt. Auch Suzumaru war zusammengefahren und hatte darüber scheinbar einfach vergessen zu schießen.

Ganz automatisch drehte sich Kei um und suchte nach der Ursache des Knalls. Der hatte sich nicht wie ein Schuss angehört.

Die Eingangstür stand wieder offen. Mit einem Blick erfasste Kei sofort was passiert war. Kei erkannte Ryus Esel Sleipnir vor der Tür, der noch im Begriff war, sich zu ihnen umzudrehen. Der Esel hatte offensichtlich mit den Hinterläufen ausgeschlagen und mit einem kräftigen Tritt die Tür aufgestoßen. Kei wollte schon ein Loblied auf den sprichwörtlich störrischen Esel anstimmen, als ihn eine Einsicht überkam. Das war gar nicht Sleipnir, sondern Ryu.

Ryu hatte seine Schussverletzung ausgenutzt, um allen eine Ohnmacht vorzuspielen, damit er unbemerkt in den Körper seines Carn schlüpfen konnte. Er wusste, dass Sleipnir hinter dem Haus auf ihn wartete und dass er mit einem gezielten Tritt die Tür einfach öffnen konnte.

Die aufschwingende Tür wiederum hatte Obscura voll getroffen, die unmittelbar vor ihr gestanden hatte. Die Frau hatte vor Schreck ihre Waffe fallen lassen, bevor sie auch selbst dieser hinterher gestürzt war.

Noch bevor sie sich genug sammeln konnte, um wieder aufzustehen, stürzte sich schon Jack auf sie. Das Äffchen hatte schon die ganze Zeit lang über den Ornamenten neben der Tür herumgeturnt, und war anscheinend dort niemandem verdächtig vorgekommen. Allerdings vermutete Kei stark, dass es sich bei dem Tier, das jetzt auf Obscuras Rücken saß, um Kiku handelte, die in den Körper ihres Carn geschlüpft war. Geschickt wickelte das Äffchen ein Zierband um ihre Hände, das er zuvor von einem Vorhang gestohlen haben musste. Obscuras Hände waren auf ihren Rücken gefesselt, bevor sie wusste was überhaupt passiert war.
 

Doch damit war die akute Gefahr noch nicht ausgestanden. Obscura zerrte heftig an ihren Fesseln, und es war nur eine Frage der Zeit, bis der glatte Stoff nachgeben und sich der Knoten lösen würde. Lange würde die Frau nicht außer Gefecht gesetzt bleiben.

Außerdem hatte sich Suzumaru inzwischen wieder besonnen und seine Waffe nun schon zum dritten Mal auf Yuki gerichtet. Diesmal war er festentschlossen, zu schießen und zu treffen. Die ständigen Störungen und die Überwältigung seiner Komplizin stachelten ihn nur noch mehr an. Inzwischen lachte er nicht mehr amüsiert, sondern wurde zunehmend gereizt.

Mit gespannter Waffe und zusammengekniffenen Augen trat er langsam eine weitere Stufe herab, dann noch eine. Kei bemerkte das Funkeln in seinem sehenden Auge. Suzumarus Finger legte sich fester um den Abzug.

Yuki hatte die Augen geschlossen und erwartete den Schuss. Keis Glieder waren wie Wackelpudding. Am ganzen Leib zitterte er vor Angst. Das Bild vor seinen Augen verschwamm langsam hinter einem Schleier aus Tränen, die in seine Augen stiegen, als er vor Anspannung sogar zu blinzeln vergaß.

Kei rechnete mit dem Schlimmsten.
 

Dann hörte Kei plötzlich ein leise flirrendes Geräusch. Fast im selben Moment rutschte Suzumarus Fuß auf der Kante der nächsten Stufe aus. Er stürzte ganz unvermittelt und fiel die Treppe hinunter. In seiner Bewegung über die Stufen nach unten drehte sich sein Körper ein paarmal um die eigene Achse, bevor er an Schwung verlor und einige weitere Stufen herunterrutschte. Etwa drei oder vier Stufen über dem Boden blieb sein Körper regungslos liegen. Ein paar Stufen über ihm bemerkte Kei einen kleinen Gegenstand, der fast aussah wie ein Pfeil mit bunten Federn an seinem Ende.

Ein zweites Mal hörte Kei das leise Flirren. Kurz darauf endete Obscuras Kampf mit den Fesseln. Jede Kraft wich aus ihren Gliedern und sie blieb liegen wie tot. Auch in ihrer Schulter steckte einer dieser merkwürdigen Pfeile.

Kugeln und Gifte

Kapitel 26 – Kugeln und Gifte
 

„D-D-Du…?“ stammelte Kei.

Die beiden Mitarbeiter von K.R.O.S.S., die eben noch ihre Pistolen auf Yuki, Kiku, Ryu und Kei gerichtet hatten, waren plötzlich leblos in der Eingangshalle zusammengebrochen. Gerade als Kei geglaubt hatte, er würde Yuki gleich für immer verlieren, hatten merkwürdige Pfeile die beiden Angreifer außer Gefecht gesetzt. Kurz bevor dieses Wunder geschehen war, hatte Kei ein leises Flirren in der Luft gehört. Nach dessen Ursache hatte er sich umgesehen, sobald er mit Erleichterung registriert hatte, dass das Leben seines Freundes – zumindest vorerst – gerettet war.

Niemand anders als ausgerechnet Pierre, Meister Adoys rechte Hand, hatte ihm das Leben gerettet. In langsamer Bewegung senkte er den Stab, über den sich Kei schon vorhin gewundert hatte, von seinem Mund. Jetzt erkannte Kei den Stab als Blasrohr. Es war eines dieser Blasrohre, von denen er aus Tiersendungen wusste, dass Tierärzte mit ihnen Spritzen und Betäubungspfeile auf wilde Tiere schossen.

Aber warum hatte Pierre die Leute von K.R.O.S.S. angegriffen? Sie standen doch auf derselben Seite, dachte Kei. Oder hatte sich das Blatt nun gewendet, da er erfahren hatte, dass K.R.O.S.S. keine Befehle von Meister Adoy entgegennahm?
 

„Hast du sie umgebracht?“ fragte Ryu mit leisem, aber entschlossenem Ton.

Ryu und Kiku waren inzwischen beide wieder in ihre eigenen Körper zurückgekehrt. Gegen Kikus Protest hatte Ryu sich mit einiger Mühe aufgesetzt. Seine Miene war jedoch schmerzverzerrt. Noch immer presste Kiku besorgt ihre zusammengerollte Jeansjacke auf die Schussverletzung an Ryus rechter Seite.

„Ah non alors! Es waren nur Betäubungspfeile. Die beiden werden für die nächsten drei bis vier Stunden schlafen. Isch weiß wirklisch nischt wie oft isch noch sagen soll, dass isch niemanden umbringen könnte.“

„Langsam widersprichst du dir, Pierre. Du hast doch vorhin selbst gesagt, dass du Lan umbringen wolltest.“

Für einen Augenblick senkte Pierre nachdenklich den Blick. Mit dem Blasrohr in seiner Hand tippte er gedankenverloren gegen seinen Stiefel. Dann fing er an, leise zu lachen.

„Ah oui… Lan, das ist etwas anderes… Übrigens ist mir eingefallen, dass isch vor’in komische Geräusche aus dem ersten Stock ge‘ört habe, als isch draußen gewartet ‘abe. Möglischerweise war es Lans Büro, denn das Fenster dort zeigt fast direkt ‘inaus auf den Vorgarten. Wenn ihr die reschte Seite der Treppe ‘hinauf geht, ist es die vierte Tür auf der Stirnseite.“

„Was hast du gehört?“

„Kann isch nischt sagen. Maschinen und Stimmen. Isch weiß es nischt. Vielleischt irre isch misch auch und es waren nur ‘andwerker. Zu diesem Zeitpunkt wusste isch auch weder, dass es Lans Büro sein könnte, noch dass Lan verschwunden ist. Des’alb ‘ab isch mir nischts weiter gedacht.“

Kei hätte nicht gezögert, sofort die Treppe hinaufzurennen, auch wenn ihn ein bisschen abschreckte, dass er dabei erst über die gruselig züngelnde Antoinette und dann auch noch über den betäubten Suzumaru steigen musste. Er wäre sofort Pierres Hinweis gefolgt und hätte Lan gesucht. Aber Ryu kam Pierres unerwarteter Sinneswandel mehr als verdächtig vor.

„Warum erzählst du uns das? Willst du plötzlich die Fronten wechseln oder so?“

„Non, keine Sorge. Isch wechsel nischt die Fronten. Isch bin sehr treu.“

„Warum du ihnen dann hilfst? Lan und Ryu, sie wollten mich anklagen. Hast du schon vergessen? Sie der Feind sind!“

Der alte Meisterzalei Adoy wurde langsam von den Ereignissen überrollt. Er war ebenso wütend wie verunsichert. Vor wenigen Augenblicken hatte er erfahren, dass die Organisation, von der er geglaubt hatte, sie zu kommandieren, ihn die ganze Zeit nur benutzt hatte. Der kleine Trost war ihm noch geblieben, dass sie wenigstens ihre Feinde, die auch die seinen waren, auslöschen wollte.

Aber ausgerechnet Pierre, der ihm seit Jahren treu und ergeben zur Seite gestanden hatte, verhinderte nun auch noch das. Er half seinen Feinden jetzt anscheinend sogar auch noch, Lan zu retten. Warum nur? Gerade Pierre war es doch, der Lan die ganze Zeit über lieber heute als morgen tot sehen wollte.
 

„Oh, Maître! Isch ‘asse es, aber isch muss Suzumaru rescht geben. Sie sind wirklisch schwer von Begriff. Isch ‘abe nischt die Fronten gewechselt, weil isch die ganze Zeit auf Lans und Ryus Seite stand.“

„Was?! A-Aber euer Streit…? Lan deine Hilfe vor drei Jahren hat missbraucht. Ihr so heftig habt gestritten, dass umbringen du ihn wolltest.“

Pierre musste fast lachen, als er weitersprach.

„Bin isch wirklisch so ein guter Schauspieler…? Eh bon, isch erzähle euch wie es wirklisch war. Vor drei Jahren ‘at Lan gegen Sie ermittelt, weil er zufällig auf ein paar Ungereimt’eiten gestoßen ist. Sie ‘aben ihn erwischt und gedroht, ihn ‘art zu bestrafen. Was Sie dabei nischt wussten, Maître, ist dass er nischt allein war. Isch war es sogar, der Lan auf diese Ungereimt’eiten aufmerksam gemascht ‘atte. Mais Lan ‘at misch nischt verraten und war bereit, die Strafe allein zu tragen. Isch ‘abe misch nischt nur aus purer Menschenliebe eingesetzt, um ihm seine Strafe zu ersparen. Isch ‘atte ein unendlisch schleschtes Gewissen.“

„D-das ich nicht glaube… Und das ich auch nicht verstehe. Warum dann euer Streit? Und warum wolltet ihr umbringen euch?“

„Mon dieu… Es gab keinen Streit.“

„Keinen Streit?!“ rief Kei überrascht aus.

Den berühmten, ewigen Streit zwischen Lan und Pierre hatte er bei allen schockierenden Entwicklungen und Enthüllungen der letzten Zeit noch als eine der wenigen verlässlichen Tatsachen auf dieser Welt angesehen. Immer mehr geriet sein Weltbild ins Wanken.

„Wirklisch nischt. Wir ‘aben uns nie gestritten. Das war alles Teil des Plans.“

„Was für ein Plan?“ wollte nun auch Ryu wissen.

„Vor drei Jahren ‘aben wir gemerkt, dass wir die Ge’eimnisse des Maître nischt einfach so aufdecken können. Also ‘aben wir uns einen Plan ausgedascht. Lan würde weiter’in offen gegen Maître Adoy vorge’en, während isch ihn als seine reschte ‘and ausspioniere. Lan ‘at nischt nur Informationen gesammelt, sondern Adoy auch die ganze Zeit von mir abgelenkt. Und durch unsere Feindschaft konnte isch Adoy gleischzeitig meine Treue beweisen.“

Der alte Meisterzalei zitterte am ganzen Leib. Sein Gesicht sah blass und eingefallen aus. Seine Kraft drohte, ihn langsam endgültig zu verlassen. Schließlich konnte er nicht einmal mehr seine Schildkröte festhalten. Unsanft fiel das alte Tier auf die Fliesen der Halle.

„Unmöglich…“ murmelte der alte Meister entsetzt.

„Himmel, ich hab nie an eurem Streit gezweifelt. Jeder von euch hat sich ständig bei mir über den anderen ausgelassen.“ Ryu schüttelte ungläubig den Kopf.

„Oui, oui. Tut mir leid, dass wir disch da ein bisschen ausgenützt ‘aben… Es war ein grandioser Plan. Aber seit einer Weile ‘atte Lan wohl Zweifel… oder er ‘at misch einfach vermisst, keine Ahnung. Isch ‘atte Angst, dass er alles auffliegen lässt, wenn er so ‘artnäckig versuscht, misch zu se’en.“

„Ihr aber doch letzte Woche habt euch gesehen. Und fast umgebracht euch gegenseitig.“ wandte der alte Meister ein.

„Das stimmt. Als ich Lan gefunden hab, war er übel zugerichtet.“ überlegte Ryu.

„Naturellement! Es wäre dem Maître mehr als verdäschtig vorgekommen, ‘ätte isch den angeblisch lang ersehnten Mordauftrag an Lan abgelehnt. Es ‘at uns beiden keinen Spaß gemacht, wirklisch nischt. Aber wenn wir beide gar nischt oder nur leischt verletzt ‘ervor gegangen wären, wäre unser Plan sofort aufgeflogen. Genau des’alb ‘aben wir ja auch vor drei Jahren vereinbart, uns über‘aupt nischt mehr zu se’en, bis alles vorbei ist.“

„Ihr seid echt irre…“

Jeder der Anwesenden überlegte, ob Ryu damit ‚irre‘ im Sinne von ‚unglaublich, toll, umwerfend‘ oder ‚übergeschnappt, wahnsinnig, total gestört‘ meinte. Vielleicht wusste er es selbst auch nicht so genau.
 

Für kurze Zeit folgten seiner Feststellung auf jeden Fall keine weiteren Worte mehr. Doch dann glaubte der Meister, einen letzten Versuch starten zu können, Pierre doch noch auf seine Seite zu ziehen.

„Was mit dem Rat ist? Du weißt, dass nicht die Kontrolle des Rates abschaffen Lan darf. Denk an deinen toten Bruder!“

„Oh, Maître…“ Pierre seufzte und warf theatralisch sein Haar zurück. „Isch ‘abe nie erwähnt, dass isch Einzelkind bin? Das war doch nur eine meiner Lügen, um Ihr Vertrauen zu gewinnen. Und im Übrigen ging es uns nie darum, den Rat komplett abzuschaffen – nur Sie!“

Dieser Satz war wohl der verbale Todesstoß für den alten Zaleimeister. Er musste letztendlich einsehen, dass niemand mehr auf seiner Seite stand. Viel schlimmer sogar! Es hatte überhaupt nie jemand auf seiner Seite gestanden.
 

Pierre bedeutete den anderen mit einer Geste, ihm in den ersten Stock zu folgen. Sie hatten schon genug Zeit mit langen Erklärungen verschwendet. Wenn seine Vermutung richtig war, brauchte Lan wahrscheinlich ihre Hilfe.

Doch Pierre war erst ein paar Schritte weit gekommen, als ihm noch etwas einfiel und er sich erneut an Ryu wandte.

„Die Beweise, die eusch vor’in in der Sitzung gefehlt ‘aben, die ‘abe isch. Dokumente, Briefe, Statistiken, Fotos, Gegenstände, Filme, Tonbandmitschnitte,… Isch ‘abe praktisch jedes Gespräsch mit dem Maître aufgezeischnet. Und als sein Vertrauter ‘atte isch Zugang zu allen Unterlagen. Damit sollte es kein Problem sein, alle eure Anträge durschzusetzen… Ah oui, isch ‘abe vor‘in gelauscht. Ha ha.“

„Warum hast du dann vorhin nichts gesagt?“ Entgegen Pierres Erwartung reagierte Ryu fast schon wütend auf diese gute Neuigkeit. „Wieso hast du vorhin nicht gleich ausgepackt? Dann wäre der ganze Albtraum jetzt schon vorbei!“

„Weil ihr Jungspunde viel zu voreilig wart mit eurer Anklage! Natürlisch ‘abt ihr rescht mit allen Be’auptungen, und isch kann sie beweisen. Isch könnte sogar noch so einige Punkte ‘inzufügen. Aber vom wirklischen Ver’ältnis zwischen dem Maître und K.R.O.S.S. ‘aben wir ALLE erst jetzt erfahren. Und wer sisch ‘inter der Miss verbirgt, die anscheinend alle Fäden in der ‘and ‘ält, wissen wir sogar jetzt noch nischt. Genauso ist immer noch völlig unklar, welsche Ziele K.R.O.S.S. eigentlisch verfolgt. Was also ‘ätte es uns genützt, Adoy abzusetzen, wenn der größere Feind unbeirrt weitermacht? Ihr ‘abt es einfach überstürzt.“

Ryu knirschte missmutig. Leider, leider hatte Pierre absolut recht. Lan und er waren so fixiert auf Adoys Rolle gewesen, dass sie den Blick fürs Wesentliche verloren hatten.

Über ihr großes Ziel, Adoy abzusetzen und den Rat zu reformieren, hatten sie K.R.O.S.S. fast vergessen. Oder eher gesagt, sie hatten blauäugig angenommen, dass sich das Problem mit K.R.O.S.S. von allein lösen würde, sobald Adoy diesen keine Anweisungen mehr erteilen konnte.

Jetzt wussten sie nicht nur, dass eigentlich nicht Adoy, sondern K.R.O.S.S. der Kern des Problems war. Im Kampf gegen Adoy hatten Ryu und Lan Unmengen an Informationen zusammengetragen, um jede kleinste seiner Machenschaften aufdecken zu können. Alle seine Taten und seine Motive hatten sie offengelegt. Aber genau diese Waffen, die sie gegen Adoy geschmiedet hatten, fehlten ihnen im Kampf gegen K.R.O.S.S.. Ryu musste sich eingestehen, dass sie nicht das Geringste über die Organisation wussten. Sie kannten gerade einmal zwei der Mitarbeiter und nur Gerüchte über ihre Forschungen. Sowohl die Leiterin – falls sie überhaupt weiblich war – als auch die Ziele der Organisation lagen völlig im Dunkeln. Nun war genau der Fall eingetreten, den Ryu und Lan immer vermeiden wollten: Sie standen einem absolut unbekannten Feind gegenüber.

Was führte K.R.O.S.S. im Schilde? Wer oder was war K.R.O.S.S. überhaupt?
 

„Das noch nicht das Ende ist! Der stärkste und erfahrenste Zalei das ich bin. Keiner über größere Macht verfügt und kein Wort hat mehr Gewicht als meines. Viele Feinde angelegt sich haben mit mir in vielen Jahren, aber alle gescheitert sind sie. Immer triumphiert, das habe ich. Euch alle werde ich vernichten! Alle!“

Der alte Meisterzalei war zugleich kreidebleich vor Schreck und puterrot vor Wut. Er hatte beide Hände zu Fäusten geballt und hielt sie drohend vor seinen Körper. Seine Füße standen auf Schulterbreite auseinander. Zwischen ihnen flatterte der Saum seines weiten Gewands im Takt seines Zitterns. Am ganzen Körper zitterte der alte Mann wie Espenlaub.

Glaubte er ernsthaft, dass er noch irgendjemanden einschüchtern konnte? Fast schon mitleidig sahen alle Anwesenden ihn an.

Aus heiterem Himmel erschallte ein Schuss.

Das Geschoss traf den Meister zielsicher genau in der Brust. Kei bemerkte, dass es den Pfeilen aus Pierres Blasrohr gar nicht unähnlich war. Dieses Geschoss war jedoch ein gutes Stück kleiner und hatte keine Federn an seinem Ende.

Wie in Zeitlupe legte der alte Meister den Kopf in den Nacken. Gleichzeitig schlossen sich seine Lider. Dann fiel er langsam hinten über und sank auf den Boden. Mit von sich gestreckten Armen und Beinen blieb er regungslos liegen.

„Meine Güte! Jetzt wird der alte aber melodramatisch. So ein schlechter Verlierer aber auch… Höchste Zeit, ihn zu erlösen.“

Erschrocken drehte Kei sich um zur Treppe. Er blickte fast direkt in die Mündung einer Pistole. Suzumaru war wieder aufgestanden, wenn auch sein auffällig langsames Blinzeln darauf hindeutete, dass er noch nicht wieder ganz wach war. Er stand mit dem linken Fuß auf er vorletzten, mit dem rechten auf der vorvorletzten Treppenstufe. Seine linke Hand mit der tödlichen Pistole hing an seiner Seite herab. Die Pistole mit dem Mittel eZ-513-Dx hielt er mit ausgestrecktem rechten Arm vor seinen Körper. Er hatte mit diesem Schuss also den alten Meister im Körper seines Carn, der alten Schildkröte Schnappi eingesperrt.

„Quoi? Wieso bist du schon wieder aufgewacht? Der Pfeil sollte disch für mindestens drei Stunden ruhig stellen.“ Nicht nur Überraschung, sondern auch Angst schwangen in Pierres aufgeregter Stimme mit.

„Du scheinst mich nicht richtig getroffen zu haben. Soll ich dir zeigen, wie man so was macht, ja?“

Ohne eine Antwort abzuwarten, drückte Suzumaru ab. Er überraschte Pierre damit so sehr, dass der nicht einmal ans Ausweichen denken konnte. Das Projektil traf ihn am linken Oberschenkel und blieb stecken. Obwohl Pierre geistesgegenwärtig sofort versuchte, den Pfeil aus seiner Haut zu ziehen, war sein Schicksal unausweichlich. Es dauerte nur wenige Sekunden, bis das Mittel zu wirken begann. Pierres Augen schlossen sich langsam und er sank dem Boden entgegen. Sein langes, blondes Haar folgte seiner Bewegung in eleganten Schwüngen und legte sich schließlich in großen Wellen über seinen leblosen Körper.

„Jetzt kannst du für den Rest deines Lebens auch äußerlich das sein, was du innerlich schon immer warst: eine falsche Schlange!“

Suzumaru brach in schallendes Lachen aus als hätte er endgültig den Verstand verloren. Mehrere Minuten verstrichen bis er sich endlich wieder einkriegte. Dann senkte er seine rechte Hand und hob dafür die linke. Er streckte den Arm aus und zielte mit seiner tödlichen Waffe auf Yuki. Dieser blieb wie angewurzelt stehen, um ihn nicht mit einer unvorsichtigen Bewegung zu reizen.

„Entschuldige, dass du warten musstest, Yuki Natsukori. Bringen wir’s endlich zu Ende.“

In langsamen Schritten stieg Suzumaru nun auch noch die letzten Stufen hinunter. Seine Pistole hielt er fest auf Yuki gerichtet. Sein sehendes Auge funkelte bösartig über die Kimme. Schließlich ließ er die Treppe hinter sich und blieb nach wenigen Schritten über die Bodenfliesen stehen.

Yuki blieb auch diesmal erstaunlich ruhig, fast als hätte er sich langsam daran gewöhnt, in den Lauf von Suzumarus Pistole zu blicken. Furchtlos hielt Yuki den Augenkontakt mit dem Mann. Er stand stoisch ruhig und seine Atmung ging nur wenig schneller als normal.
 

Dagegen hatte Kei schon wieder das Gefühl, vor Angst gleich umzukippen. Sein Herz raste wie wild, er atmete schwer und zitterte leicht. Kei musste alle Selbstbeherrschung aufwenden, um sich ruhig zu halten. Das letzte, was er wollte, war Suzumaru mit einer unvorsichtigen Bewegung zu provozieren. Deshalb beschränkte er sich darauf, nur seinen Blick wandern zu lassen. Soweit es ging, ohne den Kopf zu weit zu drehen, sah Kei sich in der Halle um. Wonach er suchte, konnte er selbst nicht sagen. Vielleicht nach einem Zauberstab oder einer Wunderlampe – irgendetwas, das Suzumaru auf wundersame Weise aufhalten würde.

Was auch immer Kei suchte, er fand es nicht. Am nächsten kam der ersehnten zauberhaften Wunderwaffe noch sein eigener Carn, der einige Meter rechts neben der Treppe saß. Aus seiner Perspektive konnte Suzumaru den Fuchs bislang nicht gesehen haben. Aber wie Robin ihm helfen konnte, wusste Kei selbst nicht.

„Hast du noch irgendwelche letzten Worte?“ spottete Suzumaru, während er den Hahn spannte.

Resignierend beschloss Kei, seinen Blick auf Suzumaru zurück zu richten. Wenn dieser Mistkerl schon seinen Freund erschoss, dann wollte er ihm dabei in die Augen sehen und zumindest versuchen, ihn mit seinem Blick zu töten.

Kaum hatte Kei sich wieder umgedreht, musste er sich schon wieder zurückhalten, um jede auffällige Geste zu vermeiden. Diesmal sah er ausgerechnet hinter Suzumaru etwas, das ihm Hoffnung machte. Antoinette, oder eher Pierre, der nun in ihrem Körper eingeschlossen war, hatte den berühmten Kobrakragen aufgestellt und richtete sich geräuschlos hinter dem Mann auf. Suzumaru war über die Schlange getreten, als er die Treppe verlassen hatte, ohne das Tier weiter zu beachten. Ein großer Fehler.

Jetzt war auch Kei neu motiviert, etwas zu unternehmen. Er suchte den Blickkontakt mit seinem Carn und fand ihn. Robins Augen beobachteten seinem Zalei aufmerksam. So nahm er auch die unauffällige, kleine Geste von Keis rechter Hand wahr. Nur ein winziger Wink mit der Hand nach oben. Gehorsam stellte sich Robin auf die Hinterbeine wie er es oft geübt hatte. Dann wartete der Fuchs auf weitere Kommandos. Kei hatte sich inzwischen wieder Suzumaru zugewandt. Er wollte nicht riskieren, dass diesem sein Blick auf den Carn auffiel und damit sein Plan aufflog.

Pierre hatte seinen Schlangenkörper inzwischen bestimmt über einen Meter aufgerichtet. Kei bemerkte erst jetzt wie unglaublich riesig die Schlange war.
 

„Hey, du! Rühr dich keinen Millimeter weiter!“ fauchte Suzumaru in Keis Richtung, als dieser vor Überraschung einen kleinen Schritt zur Seite machte, um nicht die Balance zu verlieren. „Sonst bist du der nächste, den ich-AAAHH!“

Pierre hatte zugebissen. In pfeilschneller Bewegung war sein Schlangenkopf hervorgeschossen und genauso schnell hatte sein Giftzahn sein Ziel gefunden. Die Schlange hatte sich in den rechten Oberarm des Mannes verbissen und schien gar nicht mehr loslassen zu wollen. Eine gute Menge Gift musste sich inzwischen in Suzumarus Adern befinden. Er schrie wie am Spieß und ruderte wild mit den Armen.

Erst nach mehreren Minuten schaffte er es schließlich, die Schlange abzuschütteln. Er schleuderte das Tier regelrecht gegen den Pfosten des Treppengeländers. Noch in derselben Bewegung hob er erneut die Waffe in seiner linken Hand und richtete sie auf sein Opfer. Diesmal allerdings hatte er die Schlange als neues Ziel erwählt.

„Du dreckiges Mistvieh! D-das w-wirst du b-büßen!“ schäumte er vor Wut.

Suzumaru konnte vor Rage seine Hand kaum ruhig halten. Und nicht nur seine Hand, sondern sein ganzer Arm zitterte. Es dauerte eine Weile, bis er sich genug gefasst hatte, um zielen zu können. Doch auch dann hatte das Zittern noch nicht vollständig aufgehört. Suzumaru atmete in schnellen, flachen Stößen.

Sein Finger schloss sich fester um den Abzug. Die Schlange vor ihm lag in großen Wellen in sich gewunden kaum zwei Meter vor ihm. Irgendeine Stelle würde er sogar mit zitternder Hand treffen können.

Suzumaru wollte gerade den Abzug betätigen, da wurde er ein zweites Mal gebissen. Aus dem Augenwinkel sah er ein rotes Fellknäuel über die Treppe auf den Pfosten am Geländer springen und von dort aus direkt mit dem Gebiss voran gegen seine Hand. Die scharfen Zähne des Fuchses gruben sich tief in das Fleisch. Suzumaru stieß einen Schrei aus und ließ augenblicklich die Waffe aus seiner Hand fallen. Doch der Fuchs packte weiterhin fest zu, er nahm sogar noch seine Pfoten zu Hilfe und kratzte ihm damit den Arm auf, wo immer er ihn erwischte. Blut lief in tiefroten Bahnen über seine Hand und seinen Arm.

Es war nicht Robin, der Suzumaru hier angefallen hatte, sondern Kei. Als Suzumaru ihn vorhin angeschrien hatte, sich nicht zu rühren, war Kei für einen Moment das Blut in den Adern gefroren. Er hatte gefürchtet, Suzumaru hätte seinen Körpertausch bemerkt. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich bereits Robin in Keis Körper befunden, während Kei sich in Robins Körper von hinten an Suzumaru angeschlichen hatte.
 

Endlich ließ Kei die Hand los, in die er sich verbissen hatte. Gleichzeitig löste er den Körpertausch auf. Robin zog sich vom Zentrum des Geschehens an die Seite hinter der Treppe zurück, wo er zuvor schon unbemerkt gesessen hatte. Kei beobachtete die weiteren Ereignisse nun aus seinem eigenen Körper weiter.

Noch schwerer, aber auch noch flacher als eben atmete Suzumaru jetzt. Er ließ auch seine zweite Pistole fallen und nutzte seine frei werdende Hand, um seine blutüberströmte Linke festzuhalten. Sein Zittern wurde stärker und er schluckte schwer. Kei wusste aus eigener Erfahrung nur zu gut, dass ein Fuchsbiss höllisch wehtat.

„W-w-was h-hast d-du-u…“ begann er stammelnd einen Satz, den er nie beendete.

Jetzt endlich verstand Kei. Suzumaru zitterte, schnaufte und stotterte nicht vor Wut. Das Kobragift hatte schon zu wirken begonnen. Allerdings war Kei nicht ganz klar, ob die ungewöhnlich schnelle Wirkung bedeutete, dass Antoinette außergewöhnlich starkes Gift hatte - vielleicht weil sie keine gewöhnliche Schlange war. Oder aber die Wirkung des Gifts verstärkte sich durch das Betäubungsmittel aus Pierres Pfeil, dessen Wirkung ebenfalls noch nicht ganz nachgelassen hatte. Im Grunde war es Kei aber auch relativ egal. Hauptsache, dieser Mistkerl würde endlich aufhören, seine Waffe auf Yuki zu richten.

Ein paar weitere Minuten verstrichen, da wurden Suzumarus Lider schwerer und schwerer. Er blinzelte auffällig oft und konnte dabei seine Lider schon gar nicht mehr ganz öffnen. Seine Atmung wurde noch unruhiger. Die endgültige Entwarnung verstand Kei, als Suzumarus zitternde Knie dessen Gewicht nicht mehr tragen konnten und er ganz langsam zu Boden sank. Suzumaru war nach wie vor bei Bewusstsein, aber seine Lähmungserscheinungen waren bereits so deutlich, dass er nicht mehr aufstehen und kaum noch sprechen konnte. Nein, der würde Yuki nicht mehr mit einer Waffe bedrohen können.
 

Ein riesengroßer Stein fiel Kei vom Herzen.

„Dem Himmel sei Dank!“ atmete auch Yuki erleichtert auf. „Jetzt sollten wir aber schnellstens nach oben und La-…“

Yuki kam nicht mehr dazu, seinen Satz zu beenden. Kei breitete die Arme aus und zog Yuki in eine feste Umarmung. Zuerst gleichermaßen überrascht und verwirrt, erwiderte Yuki die Geste schließlich. Kei hatte beide Arme fest um Yukis Taille geschlungen und seinen Kopf in Yukis Schulter vergraben. Yuki schloss eine Arme um Keis Schultern. Es war nicht nur das erste Mal, dass Kei von sich aus Yukis Umarmung suchte, sondern es war auch das erste Mal, dass ihm die Gegenwart anderer dabei völlig egal war.

„Kei…?“ flüsterte Yuki nach einer Weile mit beruhigendem Ton, während seine Hand ebenso beruhigend über Keis Schulterblatt strich.

„Ich hatte solche Angst… Du hättest wirklich zu Hause bleiben und Däumchen drehen sollen.“ gab Kei im Flüsterton zu und verbarg dabei weiterhin sein Gesicht.

„Ich hatte auch Angst um dich.“ flüsterte Yuki zurück.

Einen Moment genossen beide noch ihre Berührung, auch um sich nach der ganzen Aufregung ein wenig zu sammeln. Dann streifte Yuki noch einen kleinen Kuss auf Keis Stirn und löste die Umarmung schweren Herzens.

„Wir sollten nach oben gehen und Lan suchen.“

„Du hast recht.“ nickte Kei.

„Ryu, Kiku, kommt ihr mit?“

Yuki drehte sich zu seinem Bruder und dessen Schülerin um. Kei folgte seinem Beispiel nur den Bruchteil einer Sekunde später. Sofort fiel es ihm wie Schuppen von den Augen: In der ganzen Aufregung hatte er Ryu und Kiku völlig vergessen.

Ryu lag wieder flach auf dem Boden. Er war ansprechbar, aber geschwächt. Seine Gesichtsfarbe war blass und ein paar kleine Schweißperlen glitzerten auf seiner Stirn. Obwohl es ihm seine Verletzung nicht leicht machte, versuchte er, möglichst ruhig und gleichmäßig zu atmen. An seiner gesamten rechten Seite war sein Hemd blutgetränkt und unter ihm benetzte sein Blut auch die Bodenfliesen der Halle. Auch Kikus Jeansjacke, die sie immer noch mit beiden Händen fest auf die Wunde presste, war inzwischen fast komplett blutrot gefärbt.

Kiku kniete neben Ryu. Wenn sie nicht mit beiden Händen auf die Jacke drückte, strich sie mit einer Hand ein paar seiner Haarsträhnen aus seinem Gesicht oder die Schweißperlen von seiner Stirn. Sie redete unaufhörlich auf Ryu ein, um ihm Mut zu machen, während ihre sturzbachartigen Tränen ihre Worte gleichzeitig Lügen straften.

„Sei mir nicht böse, aber ich schätze nicht, dass ich mitkommen kann.“ hauchte Ryu kraftlos.

„Ich bleibe bei ihm.“ schniefte Kiku. „I-Ich bin im Schulsanitätsdienst, wisst ihr? Ich kann helfen,… auch wenn wir dort nie was über Schusswunden gelernt haben.“

„Verstehe. Passt gut auf euch auf, ok?“ flüsterte Yuki sorgenvoll. „Habt ihr ein Handy? Ruft bitte Polizei und Notarzt.“

Kiku nickte und fischte ihr Handy mit zitternden Fingern aus ihrer Tasche.

Yuki wandte sich inzwischen wieder um zu Kei. Im Vorbeigehen streifte er sanft dessen Arm und signalisierte ihm so ihren Aufbruch. Mit einer Geste rief Kei seinen Carn an seine Seite. Auch Minuit folgte Yuki ganz selbstverständlich, als das Paar nebeneinander die erste Stufe betrat.
 

Inzwischen bemühte sich Kiku nach Leibeskräften, ihre Tränen unter Kontrolle zu bekommen. Sie wollte sich zumindest so lange zurückhalten, bis sie Hilfe gerufen hatte. Zwischen ihren heftigen Schluchzern konnten Polizei und Notarzt sonst womöglich gar nichts verstehen.

„Das war vorhin an der Tür echt gutes Teamwork, oder?“ versuchte Ryu zu lächeln.

„Ja… Aber du hast mir einen Riesenschreck eingejagt. Ich dachte im ersten Moment wirklich, du wärst…“

„Du hast die Trance diesmal sehr schnell erreicht, und auch noch trotz solcher Ablenkung. Du wirst immer besser.“

„Ryu… W-warum hast du die Kugel abgefangen? N-nach allem, was ich dir angetan hab! Seit ich für K.R.O.S.S. gearbeitet hab, hab ich dich ständig hintergangen, dich belogen und dich ausgenutzt. Du musst doch wissen, dass ich alles, was ich K.R.O.S.S. ausplaudert habe, von dir wusste.“ Kikus guter Vorsatz starb in einem neuen Tränenausbruch.

„Ich weiß nicht. Ich schätze, ich mag dich eben mit allen deinen Fehlern, genauso wie du bist.“

„U-und sogar jetzt, wo du wegen mir angeschossen wurdest, bist du immer noch nett zu mir. Und sagst so l-liebe Sachen…“

Auch um ein wenig ihre Verlegenheit zu überspielen, wählte Kiku den Notruf. Wer auch immer gleich am anderen Ende abnehmen würde, würde die schwere Aufgabe haben, Kikus Nachricht aus einem Meer von Tränen und Schluchzern herauszufiltern.

„Soll ich etwa lieber still sein?“ lächelte Ryu erneut.

„Nein, das nicht. Unser Erste-Hilfe-Trainer hat immer gesagt, ein redender Patient ist ein lebender Patient. Also rede bitte weiter. Aber… z-zwing dich nicht zu lächeln, nur um mich zu beruhigen.“

Es beruhigte Kiku überhaupt nicht, wenn Ryu sich zu einem Lächeln zwang. Ganz im Gegenteil machte es ihr sogar Angst. Es war fast so, als wollte Ryu sich mit einem Lächeln von der Welt verabschieden, das er sonst zu selten trug. So ähnlich wie die Verstorbenen, die man in ihren besten Kleidern und mit ihrem erlesensten Schmuck aufbahrte, nachdem es in ihrem Leben zu wenig Anlässe gegeben hatte, sie zu tragen.

Wenn sie den heutigen Tag hinter sich gelassen hatten, musste Kiku dringend dafür sorgen, dass Ryu mehr Gelegenheiten bekam, sein wertvolles Lächeln aufzusetzen. Wenn er sie lassen würde.

Vergeltung oder Vergebung

Kapitel 27 – Vergeltung oder Vergebung
 

Dem Weg, den Pierre ihnen gewiesen hatte, folgten Kei und Yuki in Lans Büro. Sie stiegen den rechten Flügel der monumentalen Treppe in der Eingangshalle hinauf, wandten sich dann wiederum nach rechts zur Stirnseite des Gebäudes hin. Robin lief ihnen ein paar Schritte voraus, während Minuit über ihren Köpfen flatternd folgte. Dem Flur folgend zählten sie die Türen. Genau wie in Pierres Beschreibung fanden sie an der vierten Tür auf der rechten Seite ein Schild, das das Zimmer dahinter als Lan Sekieis Büro auswies.

„Hoffentlich ist er wirklich hier.“

In dem Moment, in dem Kei die Türklinke herunterdrückte, hielt er vor Anspannung den Atem an. Dann schob er die Tür langsam auf. Hoffentlich würden sie wirklich Lan in diesem Raum entdecken und nicht noch mehr Feinde, die noch mehr Kanonen auf sie richteten.

Als die Tür den Blick ins Zimmer freigab, wusste Kei nicht recht, ob er aufatmen oder sich noch mehr Sorgen machen sollte. In Lans Büro erwartete sie zum Glück kein weiterer bewaffneter Feind. Sogar ihre Hoffnung, Lan zu finden, erfüllte sich. Allerdings wurde die Freude zugleich getrübt, denn in diesem Zustand hatten sie sicher nicht gehofft, ihn vorzufinden.
 

Lan lag regungslos auf dem Boden zwischen dem rekordverdächtig unordentlichen Schreibtisch und einer nicht aufgeräumteren Regalwand. Seine Pose wirkte fast, als hätte man ihn einfach dorthin geworfen. Er lag halb auf seiner rechten Seite, halb auf dem Bauch.

„Oh nein. Das sieht nicht gut aus.“ stellte Yuki vor Sorge heiser fest.

Zögerlich kamen Kei und Yuki näher und knieten sich neben Lan hin. Äußerst vorsichtig und langsam drehten Sie Lan auf den Rücken. Sein Körper folgte der Bewegung fast leblos wie ein Stein. Kei hätte ihn für tot gehalten, wäre ihm nicht das schwache, kaum sichtbare Heben und Senken von Lans Brustkorb aufgefallen. Zum Glück atmete er noch. Er reagierte allerdings nicht auf verschiedene Versuche, ihn aufzuwecken.

Während Yuki Lans Puls suchte, besah Kei ihn noch etwas näher. Lans Zustand war dem nicht unähnlich, in dem er Yuki auf dem Parkplatz vor der Zentrale von K.R.O.S.S. vorgefunden hatte. Er war so blass, dass man seinen Teint problemlos als schneeweiß bezeichnen konnte. Im schärfsten Kontrast dazu standen die tiefen Schatten unter seinen Augen. Lans Haar fiel ihm noch viel zerzauster als sonst ins Gesicht und bis über die fest geschlossenen Augen. Nur schwach kam sein Atem über die leicht geöffneten Lippen.

„Er lebt, aber er ist sehr schwach.“ seufzte Yuki schließlich, halb erleichtert und halb besorgt.

„So ähnlich haben wir dich nach dem Experiment auch gefunden.“

„Hmh… Glaubst du, sie haben dasselbe mit ihm gemacht?“

„Keine Ahnung…“

Lans aktueller Zustand glich wirklich dem von Yuki nach dem Experiment, in dem K.R.O.S.S. seine Zalei-Kräfte versiegelt hatte. Aber Kei sah keinen rechten Sinn darin, Lan zu entführen, nur um seine Kräfte zu löschen. Um ein bloßes Experiment konnte es sich nicht gehandelt haben, denn dieses war – leider – bereits erfolgreich an Yuki durchgeführt worden, und zudem hätte K.R.O.S.S. ein Experiment sicher in ihrer Zentrale abgehalten und nicht hier im Ratsgebäude.

„Was ist das?“ riss Yuki Kei aus seinen Gedanken.

Yuki hatte die Hand auf Lans rechten Oberarm gelegt und blickte sorgenvoll auf die Beuge darunter. In Lans Arm steckte eine Kanüle. Das Ding sah ganz anders aus als die Kanülen, die Kei vom Arzt oder Blutspendedienst kannte. Sie war viel größer und teilte sich in der Mitte. An ihrer Seite lag neben zwei dünnen Schläuchen, die in Schlaufen neben dem Plastik verliefen, auch ein Drehrädchen. Die Nadel selbst war mit zwei langen Streifen Klebeband an Lans Arm fixiert. Der Schlauch, in den die Kanüle gemündet haben musste, war nicht mehr da.

„Glaubst du, wir sollten das Ding rausziehen?“ wunderte sich Kei.

„Hmh… Lieber nicht. Das sollte besser jemand machen, der sich damit auskennt. Am Ende verletzen wir nur seine Adern oder so.“ überlegte Yuki unsicher.

„Was haben sie nur mit ihm gemacht…?“
 

Wie nach einer Antwort suchend sah sich Kei im Büro um. Zwischen den turmhohen Stapeln aus Ordnern und Papieren stand auf dem Schreibtisch eine Reihe von Fläschchen und Tuben. Auch ein paar Instrumente blitzten daneben. Kei stand auf und trat näher, um die Gegenstände in Augenschein zu nehmen. Ein paar der Fläschchen hob er auf und versuchte, die Etiketten zu lesen. Leider waren diese nur mit Abkürzungen und Symbolen beschriftet, die für Kei keinen Sinn ergaben. Auch aus den Instrumenten wurde er nicht schlau. Neben langen Messern, Nadeln und Vergrößerungsgläsern am Stiel lagen dort auch Instrumente, die auf den ersten Blick viel mit Zahnbürsten gemeinsam hatten. Minuit landete auf einem hohen Stapel von Unterlagen auf der Schreibtischablage zu Keis linker Seite. Mit großen Augen beobachtete sie Kei, fast als wollte sie sich am Ratespiel um den Zweck dieser Instrumente beteiligen.

Als Kei dem Blick von den Geräten löste, bemerkte er eine Maschine, die vor dem Schreibtisch stand. Das Gerät war fast einen Meter hoch, hatte oben einen Griff und viele Knöpfe, die mit unverständlichen Kürzeln beschriftet waren. An der Seite der Maschine hing ein langer, dicker Schlauch, der in einer Art Atemmaske endete. Kei besah sich das Objekt genauer.

„Das Ding kommt mir bekannt vor.“ hörte Kei Yuki hinter sich. Als er sich umdrehte, bemerkte er den angewiderten Ausdruck auf Yukis Gesicht. „Mit der Maschine können sie einen Zalei zum Körpertausch zwingen.“

„So was können die?!“ Kei schnaufte missmutig. „Hey, hast du dieses Ding auch schon mal gesehen?“

Er zeigte auf eine etwas kleinere Maschine, die neben der ersten stand. Bei dieser saß auf einer rechteckigen, metallenen Basis eine Glaskuppel von etwa zwanzig Zentimetern Durchmesser. Unter diesem Glas erkannte Kei zahllose dünne, bunte Kabel, die scheinbar wirr durcheinander liefen und in verschiedenen Auslässen endeten. An den Seiten des Metallkörpers befanden sich mehrere Schläuche und dicke Kabel, sowie Auslässe.

„Nein, nie gesehen.“

„Hmh. Was haben sie nur mit Lan gemacht?“ wiederholte Kei seine Frage missmutig.

„Das sollten wir die zwei unten fragen, wenn sie aufwachen… Falls Pierre so nett ist und Suzumaru ein Antiserum gibt, versteht sich.“

Kei nickte einverstanden. Die Maschinen verloren sein Interesse und er kam wieder zu Yuki und Lan herüber.

„Wir sollten ihn erst mal nach unten bringen und auf den Notarzt warten.“

Yukis Vorschlag fand Keis volle Zustimmung. Sie konnten hier oben ohnehin nichts für Lan tun. Außerdem beunruhigte der Anblick der komischen Mittelchen und Gerätschaften von K.R.O.S.S. Kei auch. Er hatte ganz und gar nichts dagegen, baldmöglichst aus deren Reichweite zu verschwinden. Nicht zuletzt war es nur umso besser, je schneller sie Lan zu einem Arzt bringen konnten. Vielleicht konnte der ihm helfen, auch wenn sie noch nicht die geringste Ahnung hatten, was ihm wiederfahren war.
 

Gerade war Yuki mit dem linken Arm unter Lans Schultern gefahren, um ihn ein Stück aufrichten zu können, da wurde der eben gefasste Plan schon gestört. Aus Richtung der Bürotür hörten Yuki und Kei zunächst leichte Schritte und dann ein klackerndes Geräusch.

„Lasst ihn liegen!“ befahl eine weibliche Stimme.

Sofort fuhr Kei, der mit dem Rücken zur Tür gestanden hatte, erschrocken herum. Auch Yuki unterbrach augenblicklich seinen Versuch, Lan hochzuheben, und wandte sich der Tür zu.

Schon wieder mussten beide erkennen, dass eine Pistole auf sie gerichtet war. Genau genommen zeigte die Mündung direkt auf Lan. Mehr oder weniger zumindest, denn die Hand, die die Waffe hielt, war sichtbar unruhig vor Anspannung. Nachdem Kei den ersten Schrecken überwunden hatte, konnte er seinen Blick über die Waffe hinweg auf deren Besitzerin richten. Und sofort erfuhr er den nächsten Schrecken.

Taki stand vor ihm. Taki Hisui, Kikus beste Freundin, das hübsche, zierliche Mädchen mit den großen Augen und dem liebreizenden, schüchternen Lächeln. Ausgerechnet diese Taki richtete jetzt eine Waffe auf Lan.

Ihre großen, blaugrünen Augen funkelten ungewohnt böse. Geradezu hasserfüllt sah sie auf Lans leblosen Körper herab. Sie hatte die Brauen ins Gesicht gezogen und die Lippen fest aufeinander gepresst. Mit den Beinen in festem Stand leicht geöffnet und etwas angehobenen Schultern stand sie Kei, Yuki und Lan gegenüber. Es fiel ihr sichtlich schwer, die Waffe ruhig zu halten.

„Taki? Was zum Kuckuck tust du hier?“ stammelte Kei völlig entgeistert.

Taki war keine Zalei. Sie hatte nicht das Geringste mit dem Rat oder der Gemeinschaft der Zalei zu tun. Warum war sie hier?

„Lasst ihn liegen und geht weg von ihm!“ wiederholte sie mit strenger Stimme ihren Befehl.

„Wieso? Willst du ihn erschießen?“

„Allerdings! Sie haben ihn noch leben lassen, aber ich werde das nicht tun.“

Kei drehte sich nun vollständig zu Taki um. Mutig, aber dennoch mit mulmigem Gefühl im Bauch, trat er einen Schritt näher auf das sie zu. Er hatte Taki als sehr freundliches, liebes Mädchen kennengelernt. Dass sie jemals irgendjemanden so voller Hass ansehen konnte wie Lan in diesem Moment, hätte er nie vermutet. Genauso konnte er sich im Leben nicht vorstellen, dass sie tatsächlich jemanden erschießen würde. Kei hoffte inständig, dass ihn seine Menschenkenntnis in diesem Punkt nicht im Stich ließ, als er sich zwischen Taki und Lan postierte.

„Geh mir aus dem Weg! Sonst erschieß ich dich eben auch noch!“

„Kei!“ hörte er hinter sich Yukis angsterfüllte Stimme.

„Du würdest mich aber nicht erschießen, Taki.“ antwortete Kei mit ruhiger und sicherer Stimme, während sein Herz vor Angst raste. Er hoffte sehr, dass er recht hatte.

„Warum nicht? Du bist auch einer von denen!“

„Von denen?“ wiederholte Kei verblüfft. „Was meinst du? Von wem?“

„Von den Zalei! Du bist einer von ihnen.“

„Schon. Aber das hat dich doch früher auch nicht gestört.“

Langsam verstand Kei nur noch Bahnhof. Taki wollte ihn erschießen, weil er ein Zalei war. Aber Taki hatte doch nie ein Problem mit den Zalei gehabt. Ganz im Gegenteil. Kei konnte sich gut erinnern, dass Taki bei ihrem Ausflug an den See damals geradezu vom Zalei-Talent ihrer Schwester geschwärmt hatte. Sie war richtig stolz auf ihre Schwester gewesen. Außerdem war Taki doch Kikus beste Freundin und Kiku war ebenfalls Zalei. Warum also hatte sie plötzlich diese Abneigung gegen Zalei entwickelt?

Noch bevor auch nur ein Wort über Takis Lippen gekommen war, trieb der bloße Gedanke an ihre Antwort ihr schon die Tränen in die Augen. Blinzelnd versuchte sie, sich dagegen zu wehren, verlor den Kampf aber fast augenblicklich. Die ersten Tränen fielen und ebneten vielen weiteren den Weg. Takis Hand mit der Pistole zitterte nun noch mehr. Auch ihre Stimme klang unsicher und überschlug sich, als sie endlich antwortete.

„Früher haben die Zalei auch noch nicht meine Schwester umgebracht! Ich weiß, dass sie erschossen wurde, als sie irgendeinen Auftrag für den Meister erledigen musste. Und zwar wegen ihm!“ zeigte sie auf Lan, während ihre Wut wieder die Oberhand über ihre Tränen gewann. „Die Kugeln, die meine Schwester getroffen haben, waren für Lan bestimmt. Er hat einfach zugesehen… Er hat meine Schwester einfach sterben lassen!“

Takis Stimme erstickte in einem tiefen Schluchzen. Ohne ihre Waffe zu senken, wischte sie sich mit dem Ärmel einige Tränen aus dem Gesicht, an deren Stelle jedoch nur wenig später wieder neue traten. Schließlich umfasste sie die Waffe mit beiden Händen, um sie wenigstens ein bisschen zu stabilisieren.
 

Einen Moment schwieg Kei betroffen, während sein Blick nervös über den Boden vor seinen Füßen wanderte. Weinende Mädchen, vor allem weinende süße Mädchen, waren seine große Schwachstelle. Er fühlte sich dann immer sehr hilflos, wollte sie am liebsten trösten und wusste doch nicht wie. Genau wie bei Kiku vor einigen Monaten stand er nun Taki ratlos gegenüber.

Er konnte sie ja irgendwie verstehen. Taki hatte ihre Schwester sehr geliebt. Auch wenn Kei Ryami nie wirklich kennengelernt hatte, hatte er diese Tatsache allein wegen der Weise begriffen, wie Taki von ihr gesprochen hatte. Dass ihr Tod das Mädchen schwer getroffen hatte, konnte er nur zu gut nachvollziehen. In gewisser Weise hatte sie sogar recht damit, den Zalei die Schuld zu geben. Denn diese halsbrecherischen Aufträge waren auf dem Mist von Meister Adoy gewachsen.

„Das... Das tut mir wirklich sehr leid, Taki. Wirklich. Was deiner Schwester passiert ist, ist ganz furchtbar.“ begann Kei schließlich im Flüsterton. „Diese Aufträge von Meister Adoy hätte es nie geben dürfen. Ich bin sicher, dass es zukünftig auch keine mehr geben wird. Dafür wird der Rat sorgen. Außerdem hat der Meister bekommen, was er verdient hat.“

Taki ließ sich von Keis Worten nicht beruhigen. Sie verharrte in ihrer Pose und senkte auch ihre Waffe keinen Millimeter. Doch zumindest ihre Augen folgten Kei aufmerksam durch einen Schleier von Tränen.

Mit gespieltem Mut trat Kei noch einen Schritt näher auf Taki zu, ohne dabei den Weg zu Lan freizugeben. Er war selbst ganz überrascht, dass es ihm gelang, so ruhig zu sprechen, während sein Puls fast durch die Decke schoss.

„Aber Lan die Schuld zu geben ist falsch, Taki. Lan hat deine Schwester weder auf diese fatale Mission geschickt, noch hat er die Waffe abgefeuert. Er ist genauso ein Opfer wie Ryami. Und er hat auch sehr um Ryami getrauert, die beiden waren Freunde. Deine Schwester hat ihr Leben gegeben, um seines zu retten. Das… Das solltest du nicht kaputtmachen, indem du ihn jetzt erschießt.“

Jetzt endlich schien Kei die richtigen Worte gefunden zu haben, um zu Taki durchdringen zu können. Ihr Zittern wurde stärker, ihr Körper bebte richtiggehend unter den heftiger werdenden Schluchzern. Mehr und mehr Tränen bahnten sich ihren Weg. Trotzdem rang sie innerlich immer noch mit sich. Die Waffe umklammerte sie weiterhin mit beiden Händen, auch wenn sie ihre Hände kaum noch hochhalten konnte.

„E-er war dabei… Er hätte verhindern können, dass sie… Sie haben mir alles erzählt. Er war es...“ schluchzte sie hilflos „Und deswegen g-ge-geschieht es ihm auch r-recht.“

„Wer hat dir was erzählt?“

„K.R.O.S.S. hat mir e-erzählt, was mit meiner Schwester passiert ist. Die Miss hat gesagt, Lan hat zugesehen wie auf sie geschossen wurde, ohne einen F-Finger zu r-rühren.“

„Dann haben sie dich belogen! Lan hat selbst zwei Kugeln abgekriegt und konnte sich gar nicht mehr bewegen. Er hätte Ryami sonst sicher nicht sterben lassen. Ihm ging es total schlecht, nachdem sie sich für ihn geopfert hat. Wirklich! Du hättest ihn sehen sollen.“

Eine neue Welle Schluchzer und Tränen kamen über Taki. Langsam gab sie ihnen nach und sank auf die Knie. Gleichzeitig ließ sie die Waffe aus ihren kraftlosen Fingern fallen. Ihre Tränen wollten kein Ende nehmen, egal wie viele von ihnen sie mit ihren Ärmeln von ihren Wangen strich.

„Deine Schwester wollte, dass Lan lebt.“

Kei kniete sich vor Taki und strich beruhigend über ihre Schulter, immer noch machtlos gegen ihre Tränen. Mehrere Minuten vergingen, in denen sich Taki ihren Tränen ergab und nicht mehr versuchte, sie zurückzuhalten. Ihre Schultern bebten unter ihren Schluchzern. Kei sah hilflos zu.

Er hatte scheinbar wirklich ein Talent, hübsche Mädchen zum Weinen zu bringen. Dabei wollte er doch eigentlich lieber lernen, wie man sie tröstete. Aber dazu fiel ihm kein einziges Wort ein.

Den Part versuchte nun Yuki zu übernehmen. Auch er war inzwischen zu Taki herübergekommen und hatte sich zu ihr gekniet. Mit einem freundlichen Lächeln sprach er ihren Namen aus und gewann so den Blick ihrer tränenbenetzten, blaugrünen Augen.

„Taki. Kei hat Recht. Ryami wollte, dass Lan lebt. Du kannst uns helfen, ihm zu helfen, nicht wahr?“

Ohne ein Wort zu sprechen nickte sie zaghaft.

„Du hast gesagt, du hattest Kontakt zu K.R.O.S.S.? Bitte erzähl uns, was passiert ist.“

Taki zögerte einen Moment. Sie schien zu überlegen, ob sie dieser Bitte folgen sollte. Bevor sie zu sprechen begann, wischte sie sich noch einmal ein paar Tränen aus dem Gesicht und seufzte leise. Dann antwortete sie mit heiserer und unsicherer Stimme.

„M… Die Miss kam zu mir… Sie hat gesagt, Lan sei schuld, und die Zalei seien schuld… Sie hat gesagt, K.R.O.S.S. erforscht die Gabe der Zalei und entwickelt ein Mittel, um ihre Fähigkeiten zu löschen. Damit wollen sie der ganzen Tradition ein Ende setzen, damit so etwas nie wieder passieren kann. Außerdem hat sie gesagt, dass Lan der drittstärkste Zalei des Landes ist, und weil er schuld ist, würde sie ihm seine Kraft als erstes wegnehmen.“

„Hast du der Miss das geglaubt?“ In Yukis Stimme lag mehr Interesse als Vorwurf.

„N-nein… Ich wusste, dass sie ein Auge auf Lans Kraft geworfen hat, weil er sehr stark ist. Aber um ehrlich zu sein, war es mir egal. So lange er dafür bestraft wird, was er meiner Schwester angetan hat, war es mir egal.“

„Weißt du, was sie mit Lan gemacht haben?“

„Sie hat gesagt, sie hat ihm seine Kraft weggenommen, mehr weiß ich nicht. Ich war nicht dabei.“

„In Ordnung. Danke, dass du uns das alles erzählt hast, Taki.“

Yuki lächelte sie noch einmal freundlich an und stand dann auf. Einmal atmete er tief durch, so als ob er überlegte, was jetzt zu tun war. Er erinnerte sich an den Plan, Lan nach unten zu bringen. Also trat er wieder an dessen Seite, kniete neben ihm nieder und setzte an, ihn hochzuheben.
 

Kei beobachtete inzwischen wie Taki ihre letzten Tränen trocknete. Ihre Augen waren gerötet und ein deutlicher Schleier aus Rot lag auch auf ihren Wangen.

„Geht’s wieder einigermaßen?“ erkundigte sich Kei mit verlegenem Ton.

Taki nickte, ohne seinen Blick zu kreuzen.

„Kei… Tut mir leid, dass ich dich bedroht hab. Ich hätte nie auf dich geschossen… Ich glaub, ich hätte auch Lan nicht erschießen können.“

„Das glaub ich auch.“ lächelte Yuki.

„Ach ja? Also ich hatte trotzdem eine Mordsangst!“ schmollte Kei grinsend. „Aber die Entschuldigung nehm ich an.“

„Und ich hab auch nichts gegen die Zalei, wenn… wenn das mit diesen Aufträgen aufhört und wenn der Meister eine Strafe bekommt.“

„Keine Sorge, der Rat wird sich darum kümmern.“ versicherte Kei. Nach ihren neuen Erkenntnissen und mit Pierres gesammelten Beweisen konnte der Rat sein heutiges Urteil nur korrigieren.

„Übrigens ist Kiku unten in der Eingangshalle. Du kannst zu ihr gehen und bei ihr auf die Polizei warten, wenn du nicht alleine hier bleiben möchtest.“ schlug Yuki vor.

„P-Polizei? Wieso Polizei?“

Taki war ganz aufgeregt. Sie hatte die Augen aufgerissen und ihre Pupillen zuckten nervös. Beide Hände hatte sie zu Fäusten geballt. Doch ihre zitternden Finger zitternden auch in ihren Fäusten weiter.

„Na, weil… Geiselnahme…? Körperverletzung…? Versuchter Mord…?“ stammelte Kei von der Frage völlig überrascht. Taki sollte doch wissen, was ihre ‚Freunde‘ von K.R.O.S.S. hier veranstaltet hatten.

„A-Aber… Nein, die Polizei darf ihr nichts tun!“ rief Taki atemlos.

„Wem?“ wunderte sich Yuki.

„…“

„Taki? Wem darf die Polizei nichts tun?“ wiederholte Yuki seine Frage mit ruhigem Ton.

„Der Miss.“ hauchte sie kleinlaut.

„Die Miss ist hier?!“ rief nun Kei überrascht aus.

„S-Sie ist…“

„Taki, wo ist sie?“

Taki senkte den Blick auf den Boden. Eine neue Flut von Tränen bahnte sich an. Als deutliches Signal, die Miss nicht verraten zu wollen, biss Taki nervös auf ihre Unterlippe. In schwachen Bewegungen schüttelte sie den Kopf.

Kei griff mit beiden Händen nach ihren Schultern. Er sah sie eindringlich an und schüttelte sie einmal kurz. Er wollte sie zwingen, ihn anzusehen, doch Taki hielt den Blick gesenkt. Ihr langes, schwarzes Haar verdeckte den Großteil ihres Gesichts.

„Taki! Ist dir klar, was die Miss alles getan hat?“

Nicht die geringste Reaktion ließ Taki sich entlocken. Kei musste sich sehr anstrengen, um halbwegs ruhig zu bleiben. Er brauchte nur daran zu denken, was K.R.O.S.S. im Auftrag dieser Miss seinem Yuki angetan hatte, da fing die Wut in ihm schon an zu kochen. Auch wenn er sich zu beherrschen versuchte, war Kei ziemlich sicher, dass Taki ihm seine Gereiztheit sehr deutlich anmerken konnte.

„Diese ganzen Forschungen, die K.R.O.S.S. auf ihre Anweisung durchgeführt hat! Weißt du, was sie mit Yuki gemacht haben? Sie haben ihn genauso zugerichtet wie Lan. Yuki hat seine Fähigkeit zum Körpertausch für immer verloren. Glaubst du, das hat er verdient? Und Lan, hat er etwa verdient, was sie ihm angetan haben? Ihn hier halbtot liegen lassen, nur weil die Miss ihm seine Kraft wegnehmen wollte!“

Noch immer schwieg Taki. Kei erkannte jedoch, dass ein paar Tränen von ihrem Gesicht auf den Boden fielen.

„Die Kugel, die deine Schwester getötet hat, wurde ebenfalls von einem Mitarbeiter von K.R.O.S.S. abgegeben. Und zwei von diesen K.R.O.S.S.-Typen haben auch gerade unten versucht, Yuki und Kiku zu erschießen.“

Kei spürte unter seinen Händen, wie Taki erschrak. Mit einem Mal wurde ihr Körper vor Entsetzen ganz steif. Doch noch immer hüllte sie sich in Schweigen.

„Sie haben ein Mittel, das Zalei im Körper ihres Carn einsperrt. Das haben sie dem Meister – gut, um den tut’s eigentlich keinem leid – und auch Pierre gespritzt. Pierre hat uns geholfen und muss jetzt für den Rest seines Lebens eine Schlange bleiben.“

Langsam versuchte Kei nicht mehr, sein Temperament im Zaum zu halten. Er war deutlich lauter geworden und merkte selbst, dass sein Griff um Takis Schultern unsanft geworden war.

„Das alles hat diese feine Miss zu verantworten. Und du willst nicht, dass die Polizei sie sich vornimmt? Einfach nur ins Gefängnis zu wandern, ist nach allem, was sie getan hat, noch ziemlich milde.“

„Nein!“ rief Taki, mehr in einem Schluchzen als in einem Schrei.

Endlich hob sie ihren Kopf und sah Kei direkt an. Ihre Augen waren noch roter geworden, Tränen um Tränen quollen aus ihnen hervor, als würde dieser Quell nie wieder zu versiegen drohen. Ängstlich zitterten ihre Lippen. Ihre Hände hatten sich haltsuchend in den Stoff ihres Pullovers gekrallt. Takis ganzer Ausdruck zeugte von Sorge, Angst und Trauer.

Kei ließ ihre Schultern los und machte einen unsicheren Schritt zurück. Er verstand ihre Reaktion nicht.

„Bitte! Ich weiß, dass sie viel falsch gemacht hat. Sie hat vielen weh getan, u-und vieles kann sie sicher auch nie wieder gutmachen. Es tut mir leid, was sie mit dir gemacht hat, Yuki! Wirklich, es tut mir sehr leid! D-Dass sie dich und Kiku umbringen lassen wollte, wusste ich wirklich nicht. D-Das hätte ich nie ge-gedacht. Nie!“

Takis Zittern wurde stärker und stärker, ihr Schluchzen gleichzeitig heftiger und ihre Tränen flossen so zahlreich, dass das Bild vor ihren Augen in ihnen vollständig verschwamm. Schließlich sank sie erneut kraftlos auf ihre Knie. Ihr Körper folgte der Bewegung und kam erst zum Halten, als sie sich mit ihren Händen abfing. Vornübergebeugt kauerte Taki auf dem Boden wie ein Häufchen Elend. Ihre weiteren Worte ertranken in Schluchzern und Tränen. Nur mit Mühe konnte Kei sie überhaupt verstehen.

„I-Ich weiß, dass sie Unrecht hatte… Aber bitte… Bitte nehmt sie mir nicht wieder weg! Bitte t-tut mir das n-nicht an!“

Kei schluckte trocken. Hilflos drehte er sich zu Yuki um. Doch auch Yuki war von Takis hemmungslosem Ausbruch ebenso überrascht wie schockiert wie er. Dennoch hatte Yuki eine leise Ahnung und dabei ein sehr ungutes Gefühl, was Takis Motiv anging.

„Wer ist die Miss…?“ stellte er schließlich heiser die alles entscheidende Frage.

Taki antwortete zunächst überhaupt nicht. Selbst wenn sie es gewollt hätte, dauerte es wohl eine ganze Weile, bis sie die Kontrolle über sich so weit zurückgewonnen hatte, dass sie sprechen konnte. Eine gefühlte Ewigkeit verging, bis Kei und Yuki ihre Stimme heiser und fast tonlos vernahmen.

„M-Meine Schwester… Ryami.“
 

Minuten, die allen fast wie Stunden erschienen, vergingen in völligem Schweigen. Nun ja, ganz perfekt war das Schweigen nicht, denn es wurde von Takis Schluchzen begleitet. Doch ein Wort kam keinem der Anwesenden über die Lippen.

Mit vor Schreck leicht geöffnetem Mund starrte Kei Taki fassungslos an. Auch Yukis Augen ruhten mit entsetztem Blick auf dem weinenden Mädchen. Sogar Minuit beobachtete vom Schreibtisch aus scheinbar betroffen das Geschehen. Nur Robin spielte unbeeindruckt mit dem Schlauch der größeren Maschine.

Kei versuchte angestrengt, seine Gedanken zu sortieren. Also, Ryami war die Miss. Ryami war nicht nur immer noch am Leben, sondern auch noch der große, geheime Oberbösewicht. Sie war nicht von K.R.O.S.S. erschossen worden, sondern… war ihre Chefin? Sie, die selbst Zalei war, führte eine Organisation an, die für ihre zwielichtigen Forschungen grausame Experimente an Zalei durchgeführt hatte. Sie, die selbst eine der besten Zalei war, ließ diese fragwürdigen Mittelchen entwickeln. Sie, die selbst Mitglied des Rats der Zalei war, hatte Meister Adoy die ganze Zeit über benutzt. Obwohl sie mit Lan befreundet gewesen war, wollte sie ihm seine Kraft wegnehmen.

Wieso? Was hatte sie vor?

„W-Warum…?“ war alles, was Kei herausbrachte.

Taki blieb ihm die Antwort schuldig. Sie kauerte weiterhin auf dem Boden und weinte Tränen über Tränen.

So überglücklich war Taki gewesen, Ihre Schwester lebend wiederzuhaben, dass sie bereit gewesen war, die Augen vor allem zu verschließen, was sie getan hatte. Sie liebte ihre Schwester über alles und nie wieder wollte sie den Schmerz fühlen, sie zu verlieren. Doch Taki war durchaus bewusst, dass ihre Schwester unverantwortliche, schreckliche Dinge getan hatte. Wahrscheinlich wusste sie in ihrem Herzen auch, dass man ihre Schwester diese schrecklichen Dinge nicht fortsetzen lassen durfte. Irgendjemand sollte sie vermutlich aufhalten. Aber das würde bedeuten, dass Taki und ihre Schwester doch nicht für immer zusammen bleiben konnten.
 

„Kei. Hilf mir bitte, Lan nach unten zu tragen.“ beendete Yuki endlich das Schweigen.

Fast als hätte er Takis inneren Konflikt erahnt, hatte er beschlossen, das Thema vorerst zu beenden. Taki würde sich selbst vermutlich nicht erlauben, ihre Schwester noch weiter zu verraten. Wo Ryami sich in diesem Moment befand, würden sie von Taki wohl nicht erfahren. Yuki erwartete nicht, dass sie ihnen noch mehr erzählen würde als bisher. Er glaubte ihr außerdem tatsächlich, dass sie nicht mehr über die Forschungen von K.R.O.S.S. wusste als sie bereits erklärt hatte.

So blieb das einzige, was sie tun konnten, Lan endlich nach unten zu bringen und auf den Notarzt zu warten.

Während Yuki Lans Oberkörper trug, hielt Kei seine Beine. Lan war nicht schwer, aber zu zweit war es deutlich einfacher, ihn die Treppe hinunter zu tragen. Taki folgte ihnen nach kurzem Zögern in langsamen Schritten. Robin ließ sich dagegen nicht lange bitten, sondern rannte schon einige Meter voraus, nachdem Kei seinen Namen gerufen hatte. Minuit folgte über ihren Köpfen flatternd.

Die Lage in der Eingangshalle hatte sich in den letzten Minuten, in denen Kei und Yuki oben gewesen waren, kaum verändert. Ryu lag immer noch blass am Boden, Kiku kniete neben ihm. Die beiden unterhielten sich im Flüsterton. Meister Adoy, beziehungsweise Schnappi in seinem Körper, hatte sich hingesetzt und blickte verstört in den Raum. In ihrem Schildkrötenkörper legte Adoy inzwischen in Zeitlupe wenige Zentimeter zurück. Als drohende Flucht konnte das jedoch niemand ernst nehmen. Pierres Körper hatte sich kaum einen Millimeter bewegt. Antoinette schien es vorzuziehen, im Körper ihres Zalei brav an Ort und Stelle zu verharren. Pierre in seinem Schlangenkörper beobachtete aufmerksam wie Kei und Yuki Lan die Treppe herunter trugen. Suzumaru lag an der Seite der Treppe. Bei Bewusstsein war er wohl noch, aber er atmete schwer und konnte die Augen kaum offen halten. Obscura neben der Eingangstür schlief immer noch.

„Taki!“

Kiku sprang sofort aufgeregt auf, als sie ihre Freundin erkannte, die mit gesenktem Kopf hinter Kei und Yuki die Treppe hinunter schlich. Sie lief ihr entgegen und schloss den Abstand zwischen ihnen, sobald Taki die letzte Stufe erreicht hatte. Kiku legte ihre Arme um Taki und drückte sie fest an sich.

„Taki! Was tust du hier? Hat K.R.O.S.S. dir etwa irgendwas getan? Oder der Rat? Oder sonst irgendwer?“ Kiku hatte vermutlich gerade vor Aufregung einen neuen Rekord im Schnellsprechen aufgestellt.

„N-Nein. Ich bin ok. Aber… Ich glaub, ich hab… ziemlichen Mist gebaut.“ gab Taki kleinlaut zu.

„Wieso denn?“

„Weil ich K.R.O.S.S. geholfen hab… Ich hoffe, ihr könnt mir das irgendwann verzeihen.“

Ein paar neue Tränen traten in Takis Augen und folgten wenig später wie den Spuren, die ihre zahlreichen Vorgänger auf Takis Wangen hinterlassen hatten. Doch lange konnten sie ihren Weg nicht fortsetzen, bevor Kiku sie mit sanften, immer noch unruhigen Fingern aus dem Gesicht ihrer Freundin wischte.

„Ich bin wohl die allerletzte, die dich deshalb verurteilen würde.“ bemühte sie sich zu lächeln.

„Außerdem war’s halb so wild! Es ist ja keiner zu Schaden gekommen.“ rief Kei über die Schulter zu den Mädchen hinüber.

Kei und Yuki legten Lans kraftlosen Körper vorsichtig neben Ryu ab. Yuki achtete besonders darauf, dass Lans rechter Arm mit der Kanüle keinen Schaden nahm. Das letzte, was er wollte, war Lans Verletzungen noch zu verschlimmern.

„Gott sei Dank habt ihr ihn gefunden. Wie geht’s ihm?“ erkundigte sich Ryu mit ungewohnt schwachem Ton.

„Er lebt. Aber K.R.O.S.S. hat irgendwas mit ihm gemacht. Keine Ahnung was.“ seufzte Yuki. „Und wie geht’s dir?“

„Ging schon mal besser. Aber ich werd’s überleben.“

„Hör mal, davon geh ich fest aus! Ich hab keine Lust, deinen Teil vom Haushaltsplan zu übernehmen. Habt ihr den Notarzt gerufen?“

„Ja. Notarzt und Polizei sind unterwegs.“ nickte Kiku zu ihnen hinüber. „Aber sie sagen, es kann ein bisschen länger dauern, weil sie mit den Einsatzwagen nicht durch den Waldweg kommen.“

„Hauptsache, sie sind unterwe- MINUIT, lass das!“

Minuit war plötzlich wie aus heiterem Himmel im Sturzflug auf Yuki zugesaust, flatterte wild vor seinem Gesicht herum und schien sich überhaupt nicht mehr zu beruhigen. Die Fledermaus war völlig außer sich. Doch scheinbar ohne Grund.

Yuki versuchte, sie mit Gesten zu beruhigen, oder mit der Hand einzufangen. Aber sie wich jeder seiner Bewegungen aus und zappelte mit unverminderter Aufgeregtheit in der Luft vor ihm herum.

„Krieg dich wieder ein! Was ist denn nur los mit dir?“ wunderte sich Yuki schließlich resignierend.
 

„Wenn du möchtest, übersetze ich.“

Eine sehr junge, weibliche Stimme lachte ihre Worte geradezu spottend zu ihnen herüber.

Sofort wanderten alle Augen erschrocken zu ihr. Ein Mädchen von etwa 12 Jahren stand auf der Schwelle zwischen der Eingangshalle und dem Gang, der zu den Besprechungsräumen führte. Sie hatte die Arme vor der Brust verschränkt und lehnte lässig an der Wand. Ein freches Grinsen lag auf ihrem Gesicht.

„Shimari!“ Kei war so aufgebracht, dass er sich am liebsten Minuits wildem Tanz angeschlossen hätte.
 

****

Hallo allerseits!
 

Endlich ist die Katze aus dem Sack (ha ha! Katze... XD) und wir wissen, wer sich hinter der mysteriösen Miss verbirgt. Aber damit sind die Probleme natürlich noch lange nicht gelöst. :3

Es bleiben noch drei Kapitel bis zum Happy (?) End. Ich würde mich sehr freuen, wenn ihr bis zum Schluss dabei bleibt. ^^

Glücksspiel

Kapitel 28 – Glücksspiel
 

„Shimari!“

Sofort ließ Kei alles stehen und liegen, um zu dem Mädchen zu laufen, das zwischen der Eingangshalle und dem Gang, der zu den Besprechungsräumen führte, stand. Mit verschränkten Armen grinste Shimari frech zu Kei und den anderen herüber.

Nur etwa einen halben Meter vor ihr blieb Kei stehen und sah sie mit sorgenvollem Ausdruck an.

„Warum bist du hier, Shimari?“

Shimari war die kleine Schwester von Atari, Keis bestem Freund. Als Keis erster Schrecken genug nachgelassen hatte, dass er seine Gedanken etwas ordnen konnte, fiel ihm wieder ein, dass Shimari für K.R.O.S.S. arbeitete. Sie hatte Kei damals einen Fragebogen der Organisation ausfüllen lassen. Aber Kei hatte nicht angenommen, dass Shimari noch mehr für Organisation tat als Fragebögen zu verteilen. Sie war doch nur ein niedliches, 12-jähriges, unschuldiges Mädchen.

„Ich bin hier, um Taki zu holen.“

Das Grinsen auf Shimaris Gesicht wich einem sehr ernsten Ausdruck, als ihr Blick an Kei vorbei zu Taki wanderte. So ernst hatte Kei Shimari noch nie gesehen. Er hatte gar nicht vermutet, dass ihre Gesichtsmuskeln zu so einem Blick fähig waren.

„Komm, Taki!“

Taki schreckte kurz zusammen. Sie befreite sich aus Kikus Umarmung, rührte aber noch keinen Schritt. Einen Moment schien sie zu überlegen, richtiggehend mit sich zu ringen. Mit der rechten Hand hielt sie ihren linken Arm. Ihr Blick streifte unsicher hin und her.

„Ryami wartet auf dich, um in die Zentrale zurückzukehren. Komm schon, Taki.“

„Geh nicht mit ihr, Taki. Ryami hat einen Weg eingeschlagen, auf dem du ihr nicht folgen solltest.“ widersprach Yuki mit der Stimme der Vernunft.

„Sie ist deine Schwester.“ stellte Shimari mit einem ungewohnt nüchternen Ton fest.

Taki schluckte. Nach nur kurzem weiteren Zögern kam sie schließlich zu Shimari herüber. Ihre geknickte Haltung und der gesenkte Blick belegten doch, dass sie nicht überzeugt von ihrer Entscheidung war. Sie wich Keis Blick aus, als sie einen Schritt neben ihn setzte.

„Geh nicht.“ bat Kei noch einmal eindringlich.

„Sie… Sie ist meine geliebte Schwester. Ich kann sie nicht im Stich lassen.“ flüsterte Taki schweren Herzens.
 

Taki trat an Kei vorbei in den Gang, der zu den Sitzungssälen führte. Shimari wandte sich gleichzeitig mit erhobenem Haupt und triumphierendem Grinsen um, um Taki zu ihrer Schwester zu führen. Die beiden Mädchen hielten jedoch inne, sobald sie Keis Stimme hinter sich hörten.

„Wenn das so ist, komm ich mit. Mit dieser Miss Ryami hab ich noch ein Hühnchen zu rupfen!“

Kei war gleichermaßen wild entschlossen und ängstlich zögernd. Er hatte natürlich Angst vor der Miss, die all diese furchtbaren Mittelchen entwickelt hatte und ganz offensichtlich vor Morden nicht zurückschreckte. Kei konnte nur ahnen, was für abscheuliche Waffen sich in Ryamis Arsenal befanden. Sicher war nur, dass sie nicht davor zurückschrecken würde, sie einzusetzen.

Genau hierin gründete trotz aller Angst Keis Entschlossenheit. Ryami und ihre Leute hatten jetzt schon ungefähr vier- oder fünfmal versucht, seinen Yuki umzubringen, genauso auch Kiku. Sie hatten Yuki mit ihrem Experiment gequält und ihm seine Kraft geraubt. Dasselbe scheint nun auch Lan widerfahren zu sein. Dann hatten Sie Ryu angeschossen und Pierre für immer im Körper seines Carn eingesperrt. Kei war mehr als stinksauer auf Ryami wegen dem, was sie seinen Freunden angetan hatte. Und darüber hinaus war er auch fest überzeugt, dass eine so gefährliche und skrupellose Frau nicht frei herumlaufen sollte. Der Spuk musste ein Ende haben.

Auch wenn er nicht die geringste Ahnung hatte, wie er es mit Ryami aufnehmen sollte, wollte Kei auf keinen Fall zulassen, dass diese sich in die K.R.O.S.S.-Zentrale absetzte und ihr böses Spiel ungehindert fortsetzte.
 

„Ich komme auch mit.“

Eine Hand legte sich mit sanftem Druck auf Keis Schulter. Als dieser sich umsah, blickte er direkt in Yukis Gesicht, das dieselbe Entschlossenheit zeigte wie das seine. Kei war überrascht, aber zugleich unendlich dankbar, dass sein Freund an seiner Seite sein würde.

„Wie ihr wollt. Aber erwartet keine Gnade.“ antwortete Shimari trocken und zuckte gleichgültig mit den Achseln.

Das Mädchen führte Taki, Kei und Yuki zum Besprechungssaal. Robin und Minuit folgten ihren Zalei.

Vor der Tür drehte sich Shimari zu ihren Begleitern um. Sie grinste kalt und zeigte wortlos auf die Türklinke. Ein Schauer lief über Keis Rücken. So ein kaltes Grinsen kannte er nicht von Shimari. Auch ihre Art, so nüchtern und knapp zu sprechen, war anders als sonst. Was war nur los mit dem Mädchen?

Im nächsten Augenblick blinzelte sie auffällig langsam. Als sie die Augen wieder öffnete, war das kalte Grinsen schlagartig aus ihrem Gesicht verschwunden. Stattdessen weiteten sich ihre braunen Augen und ihre Mundwinkel hoben sich zu einem breiten Lächeln. Sie strahlte Kei förmlich an. Der wiederum verstand nur Bahnhof.

„Kei! Du bist ja hier!“ rief Shimari fröhlich aus und warf ihre Arme um Kei.

„W-Was?! Ja… Du hast uns doch gerade hierher geführt…“ Kei legte seine Hände auf Shimaris Schultern und schob das Mädchen weit genug von sich weg, um ihm in die Augen sehen zu können. In seinem Gesichtsausdruck bemerkte er Verwunderung über seine Reaktion, aber keinen Hinweis darauf, warum Shimari sich so seltsam benahm. „Was ist denn nur los mit dir, Shimari? Du bist die ganze Zeit schon so komisch.“

„Ach so? Ich hab euch hierher gebracht? Hab ich wohl vergessen…“ lachte Shimari verlegen.

„Vergessen? Das ist gerade mal 30 Sekunden her!“

Shimari hob unschuldig die Schultern, als ob sie keine Ahnung hätte, wovon Kei sprach.

Ihr Gespräch endete, als Taki die Tür zum Besprechungssaal öffnete und die Gruppe endlich der Miss, der Drahtzieherin hinter K.R.O.S.S. und dem Rat der Zalei, entgegentrat.
 

Tatsächlich war es Ryami Hisui, die die Gruppe im großen Besprechungssaal empfing. Quicklebendig.

Die junge Frau stand direkt vor der Fensterfront gegenüber der Tür. Das von draußen herein dringende Licht der Sonne, die sich langsam dem Horizont näherte, ließ ihre Konturen weich und unwirklich erscheinen. Dasselbe Sonnenlicht verlieh ihrem langen, pechschwarzen Haar einen blutroten Schimmer. Ihre grünen Augen funkelten dazu im stärksten Kontrast.

Ryamis Carn, eine schwarze Katze namens Aurora, hatte sich in Meister Adoys Sessel an der Stirnseite des Raums zusammengerollt. Sie machte sich nicht die Mühe, ihren Kopf zu heben, beobachtete die Neuankömmlinge jedoch aufmerksam.

Ryami selbst dagegen würdigte sie zunächst keines Blickes. Sie war gerade dabei, eine befremdliche Waffe zu laden und ließ sich nicht dabei stören. Das Objekt sah aus wie eine zu groß geratene Pistole. Eine nach der anderen steckte Ryami die Projektile in die breite Walze. Sie sahen genauso aus wie die Pfeile mit dem von K.R.O.S.S. entwickelten Mittel, die Suzumaru auf Pierre und Adoy geschossen hatte. Aber die Pfeile, mit denen Ryami ihre Waffe lud, waren verschiedenfarbig.

Nachdem Kei, Yuki und Taki den Saal betreten hatten, schloss Shimari die Tür hinter ihnen. Das Mädchen blieb direkt vor der Tür stehen, während Taki nach nur kurzem Zögern direkt zu ihrer Schwester ging. Minuit hielt sich schüchtern an Yukis Seite, doch Robin sprang gleich noch ein paar Meter weiter nach vorne, um Aurora in Augenschein zu nehmen. Taki blickte sichtlich beunruhigt auf die Waffe ihrer Schwester. Dennoch schwiegen die Schwestern einander an.

„Du bist also tatsächlich noch am Leben.“ stellte Yuki fest, um das Schweigen zu beenden.

Ryami schenkte ihm nur einen sehr kurzen Blick, bevor sie sich wieder ihrer Waffe widmete.

„Das ist richtig. Ich erfreue mich bester Gesundheit.“

„Dürfte ich dann erfahren, warum du deinen Tod vorgetäuscht hast? Was hatte das für einen Sinn?“

„Meine Organisation K.R.O.S.S. stand bei einem wichtigen Projekt kurz vor dem Durchbruch. Es hat mich geärgert, dass sich die entscheidenden Momente wegen lästigen Verpflichtungen meinerseits ständig verzögerten. Meine Arbeit im Fairy Tales Park und in der Agentur, im Zaleirat, Adoys Missionen… Da sie mich im Leben nicht in Ruhe gelassen haben, bin ich eben gestorben.“

„Einfach so?“

„Einfach? Ich bin Schauspielerin. Das war eine oscarreife Sterbeszene in einer Doppelrolle.“ zwinkerte Ryami zu ihrer Katze.

„Und dir war völlig egal, dass sich deine Schwester und deine Freunde die Augen ausgeheult haben?“ mischte sich nun auch Kei ein.

„Um meine kleine Taki tat es mir natürlich leid. Aber ich habe sie nach ein paar Tagen aufgeklärt und sie gebeten, das Spiel mitzuspielen. Auch sie ist Artistin und Schauspielerin, vergesst das nicht.“

„Und deine Freunde?“

„Welche Freunde? Ich habe keine Freunde, nur Bekannte. So wie ich es sehe, sind sie alle gut über meinen Tod hinweggekommen.“

„Lan nicht. Er war total am Ende.“

„Wohl eher wegen seinen Schuldgefühlen und nicht aus Trauer. Unser Verhältnis war nicht so gut wie es vielleicht ausgesehen haben mochte.“

„Hast du ihn deswegen als Opfer auserkoren?“

„Nein. In meiner Arbeit lasse ich mich nicht von Gefühlen beeinflussen. Lan ist nach Meister Adoy und Herrn Natsukori der drittstärkste Zalei im Land, und außerdem ein unvorsichtiger Dummkopf. Mit seinem Talent hätte er es sehr weit bringen können, doch er hat nie etwas daraus gemacht. Von den stärksten Zalei war er die leichteste Beute. Deshalb habe ich ihn ausgewählt.“

„Was hast du mit ihm gemacht?“

„Ich habe seine Kraft gestohlen. Das hat Taki euch doch oben schon erzählt.“

Taki zuckte kurz zusammen. Woher wusste Ryami davon?
 

Inzwischen hatte Ryami den letzten Pfeil in ihre Waffe gesteckt und schob die Walze nun zurück in die Pistole. Sie hielt die Waffe in ihrer rechten Hand gesenkt neben ihrem Körper, als sie sich endlich zu Kei und Yuki umdrehte.

„Genug geplaudert. Ich möchte euch einen Vorschlag machen. Was ich hier im Rat erledigen wollte, habe ich erledigt. An euch habe ich kein Interesse, zumindest aktuell nicht. Ich möchte deshalb zusammen mit meiner Schwester und meiner Mitarbeiterin das Gebäude verlassen und in unsere Zentrale zurückkehren. Wenn ihr euch uns nicht in den Weg stellt, werde ich euch nichts tun. Ihr solltet inzwischen wissen, über welche Mittel ich andernfalls verfüge. Kommen wir ins Geschäft?“

Kei schluckte trocken. Er fühlte die Angst in sich aufsteigen. Ryamis kalter Blick beunruhigte ihn genauso wie die Waffe in ihrer Hand. Aber Kei würde nicht zulassen, dass seine Furcht seine Entschlossenheit zum Bröckeln brachte.

„Auf keinen Fall. Shimari und Taki werde ich sicher keiner skrupellosen Größenwahnsinnigen wie dir überlassen. Dieser ganze K.R.O.S.S.-Mist muss aufhören.“

„Sehr schade.“ seufzte Ryami fast schon mitleidig.
 

Langsam trat Ryami einen einzigen Schritt nach vorne und hob in gleicher Bewegung ihre rechte Hand. Sie präsentierte allen Anwesenden ihre Waffe.

„In dieser Pistole befinden sich sechs Schuss. Wie ihr vorhin wahrscheinlich bemerkt habt, ist sie nicht mit gewöhnlichen Kugeln geladen, sondern mit Pfeilen, die einige von K.R.O.S.S. entwickelte Mittel enthalten.“

So nüchtern und ungerührt als spreche sie über ein Kochrezept, erklärte Ryami alle sechs der Mittel.

Der erste und vielleicht harmloseste Pfeil enthielt das Mittel, das Yuki schon in Gasform kennengelernt hatte. Es löste den Körpertausch aus. Das Mittel wirkte nur für einige Minuten und hatte keine Spätfolgen. Bei zu hoher Dosierung konnte es allerdings zu Kopf- und Gliederschmerzen führen.

Der zweite Pfeil enthielt das Mittel, das an Yuki getestet worden war. Es löschte das telepathische Talent eines Zalei und schloss ihn somit in seinem Körper ein.

Der dritte Pfeil entsprach denen, die Suzumaru benutzt hatte. Es war das Mittel, das einen Zalei im Körper seines Carn einschließen konnte. Ryami erklärte seine Wirkung als eine Kombination der beiden ersten Mittel. Zuerst zwang es den Zalei zum Körpertausch und kappte danach die Verbindung zwischen seinem Körper und dem des Carn.

Der vierte Pfeil enthielt ein Mittel, das dem dritten nicht ganz unähnlich war. Es zwang den Zalei zum Körpertausch, löschte aber schon gleichzeitig das telepathische Talent des Zalei. Das Bewusstsein des Zalei wurde also aus seinem Körper gedrängt, konnte aber dann weder in den Körper des Zalei noch in den des Carn eindringen. De facto bedeutete dies den Tod des Zalei.

Die beiden übrigen Mittel waren dagegen eher langweilig.

Der fünfte Pfeil enthielt ein Narkotikum, das den Körper betäubte, das Bewusstsein jedoch hellwach bleiben ließ. Die Wirkung dauerte mehrere Minuten an, Nachwirkungen waren bis dato unbekannt.

Das Mittel im sechsten Pfeil war ein starkes Gift, das je nach Körperstruktur des Betroffenen innerhalb von zehn Minuten bis etwas über einer Stunde zu einem qualvollen Tod führte.

Nachdem Ryami ihre Erklärungen beendet hatte, bedachte sie ihre Gegenüber eine ganze Weile lang mit einem geringschätzigen Blick. Ihre gründen Augen schienen boshaft zu funkeln, als sie schließlich ihre linke Hand an die Seite ihrer Waffe legte. In schnellen Bewegungen streifte sie mehrmals über die Seite der Pistole und drehte so die Walze. Dann streckte sie ihren rechten Arm aus und zielte mit der Pistole zwischen Kei und Yuki.

„Wie wär’s mit einer Runde Russisch Roulette?“
 

Keis Augen weiteten sich erschrocken und er wich ganz unwillkürlich einen Schritt zurück. Sein Herz raste vor Angst.

Als hätte sie sein Zurückweichen als stumme Zustimmung gewertet, richtete Ryami den Lauf ihrer Pistole nun genau auf Kei.

„Du möchtest also den Anfang machen, Kei.“ stellte Ryami kalt fest.

Was hatte er sich nur dabei gedacht, die Chefin von K.R.O.S.S. herausfordern zu wollen? Kei hatte nicht die geringste Chance gegen sie. Nicht nur, dass sie anders als er eine fertig ausgebildete und noch dazu sehr starke Zalei war, sie hatte nun auch noch eine furchtbare Waffe in der Hand. Keis Chance, einen Schuss aus dieser Pistole zu überleben, stand 4:2. Seine Chance, einen Schuss ohne Langzeitschäden zu überstehen, stand 2:4. Und selbst die übrigen Optionen für einige Minuten bei vollem Bewusstsein gelähmt zu bleiben, oder unter Schmerzen zum Körpertausch gezwungen zu werden, waren nicht wirklich verlockend.

Aber einfach so aufgeben würde er auf keinen Fall. Er konnte immer noch hoffen, Ryami mit dem gleichen Trick überwältigen zu können wie Suzumaru. Einen Versuch war es wert.

Mit einer unauffälligen Geste bedeutete er Robin, sich auf die Hinterbeine zu stellen und kündigte gleichzeitig den folgenden Körpertausch an. Robin hatte bis dahin vor dem Sessel gesessen, in dem Aurora lag. Mit etwas Glück hatte die Rückenlehne des Stuhls Ryamis Blick auf den Carn verdeckt.

Ryamis Finger legte sich über den Abzug.

Nicht nur Kei hielt vor Anspannung den Atem an. Keiner der Anwesenden wollte eigentlich, dass Ryami auf ihn schoss. Taki und Shimari beobachteten die Szene von Angst erfüllt. Beide wagten es jedoch nicht, sich Ryami zu widersetzen.
 

Dann ging alles ganz schnell. Kei führte den Körpertausch durch. Robin blieb in seinem menschlichen Körper still stehen wie er es oft geübt hatte. Inzwischen sprang Kei in seinem Fuchskörper zuerst auf den Sessel vor ihm, dann auf dessen Rückenlehne und schließlich direkt auf Ryami zu. Er hoffte, wie bei Suzumaru, ihre Hand zu fassen zu bekommen, um sie zu entwaffnen.

Doch leider schien Ryami den Angriff vorausgesehen zu haben. Völlig unbeeindruckt trat sie einen Schritt zur Seite, um dem Fuchs auszuweichen. Sie senkte dabei weder ihre Waffe, noch wandte sie den Blick von Keis Körper ab. Kei landete ein gutes Stück hinter Ryami auf dem Boden und konnte sich gerade noch schnell genug umdrehen, um zu sehen, wie sie den Abzug betätigte.

Mit einem lauten Knall löste sich einer der Pfeile aus der Pistole und schlug nur einen Wimpernschlag später mit einem klirrenden Kratzen auf die Bodenfliesen hinter Keis und Yukis Körper auf.

Wieder in seinem eigenen Körper rang Kei nach Luft. Der Schreck war ihm in alle Glieder gefahren. Am ganzen Körper zitterte er und es gelang ihm erst langsam, sich etwas zu beruhigen. Auch Yuki ging es nicht besser. Er kniete über Kei und teilte seinen sorgenvollen Blick.

Nachdem Keis Plan nicht aufgegangen war, hatte Yuki blitzschnell reagiert und Keis Körper aus der Schusslinie zur Seite geworfen. Der Pfeil hatte sein Ziel auf diese Weise zum Glück verfehlt.

„Danke.“ hauchte Kei, immer noch atemlos.

„Keine Ursache.“
 

Yuki fand zuerst wieder die Kraft, um aufzustehen. Dann reichte er Kei die Hand und zog auch diesen auf die Beine. Kei stand unsicher. Seine Knie fühlten sich noch immer weich an wie Pudding.

Er drehte sich um und blickte auf den Pfeil, der ihn verfehlt hatte. Welcher Pfeil es wohl gewesen war? Das Mittel hatte eine dunkelgelbe Färbung. Es war also nicht das Mittel von Suzumaru.

„Kinder, Kinder.“ riss Ryami Kei aus seinen Gedanken. Sie schüttelte bedauernd den Kopf. „Lasst mich bitte zwei Dinge klarstellen. Erstens: ich bin die Zalei, die am schnellsten von allen zwischen ihrem Körper und dem ihres Carn hin und her wechseln kann. Ich kann so schnell wechseln, dass ich den Körpertausch schon wieder gelöst habe, bevor ihr überhaupt meine Trance bemerkt habt. Was meine Augen nicht sehen, sehen die von Aurora. Wenn du also so etwas noch einmal versuchst, Kei, dann solltest du darauf achten, dass dein Carn nicht nur mir verborgen bleibt, sondern auch Aurora.“

„Ich werd’s mir merken.“ knirschte Kei missmutig.

„Zweitens: Wenn ihr noch einmal ausweicht, wird Shimari scharfschießen.“

Sofort drehte sich Kei zu Shimari um. Das Mädchen hielt tatsächlich eine Pistole vor ihrem Körper gesenkt, die deutlich schlanker war als Ryamis Pistole mit den Pfeilen. Mit beiden ihrer kleinen Hände hielt sie den Griff umfasst.

„Um Himmels Willen! Wirf die Waffe weg, Shimari! Das ist kein Spielzeug!“ rief Kei voller Sorge.

Doch Shimari machte keine Anstalten, seinen Worten folgen zu wollen. Nur ihre großen, unruhig hin und her wandernden Augen verrieten ihr Unbehagen.

„Wenn ihr von jetzt an gehorcht, wird Shimari nicht schießen müssen.“ betonte Ryami kalt. „Übrigens war es dein Pech, ausgewichen zu sein. Dieser Pfeil war der harmloseste. Das Mittel hätte dich einfach nur für ein paar Minuten zum Körpertausch gezwungen. Die nächste Runde wird also umso heißer.“

Damit hob Ryami ihren Arm erneut. Diesmal nahm sie Yuki ins Visier.

„Ich frage mich, was wohl passiert, wenn du, dessen telepathischer Ausgang bereits versiegelt ist, von einem Mittel getroffen wird, das dich aus seinem Körper vertreiben soll. Ein interessantes Experiment.“

Yuki schluckte. War es nicht genau das, was Suzumaru ausprobiert hatte, um die Wirkung des Mittels aX-482-L zu testen? Suzumaru hatte ihm das Mittel gespritzt, das die Verbindung zu Minuit löschen sollte. Danach hatte er ihm das gasförmige Mittel verabreicht, das ihm zum Körpertausch zwingen sollte. Yuki erinnerte sich nur zu gut an die unendlichen Schmerzen in seinem ganzen Körper, vor allem die Kopfschmerzen, die ihn fast um den Verstand gebracht hatten. Wie zwei Kräfte, die in verschiedene Richtungen an seinem Bewusstsein gezerrt hatten. Das war absolut keine Erfahrung, die Yuki noch einmal machen wollte.

Außerdem war das gasförmige Mittel in seiner Wirkungsdauer begrenzt gewesen. Die noch übrigen Mittel in Ryamis Waffe wirkten dagegen dauerhaft. Was also würde Yuki erwarten?
 

Ryami schien fest entschlossen, es herauszufinden. Ihr Finger spannte sich stärker um den Abzug.

Genauso wenig wie Yuki wollte Kei dagegen die Antwort auf Ryamis Frage wissen. Auf gar keinen Fall würde er zulassen, dass sie auf Yuki schoss. Kein Pfeil, ob nun tödlich oder ‚nur‘ quälend sollte ihn treffen. Nie wieder wollte Kei seinen Freund so kreidebleich, schwach und leidend im Arm halten.

Yuki musste aus der Schusslinie… mal wieder. Langsam fragte sich Kei sowieso, ob heute bei K.R.O.S.S. der ‚erste allgemeine wir-richten-unsere-Knarre-auf-Yuki-Tag‘ war.

Kei war sicher, dass das liebe Mädchen, als das er Shimari kannte, niemals auf einen Menschen schießen würde. Selbst dann nicht, wenn ihre Chefin es ihr befohlen hatte. Shimari war immerhin die kleine Schwester seines besten Freundes und Kei hatte sie schon gekannt als sie noch ein Kleinkind gewesen war. Nein, so ein nettes Mädchen würde nie schießen.

Kei wurde aus seinen Gedanken gerissen, als Ryami ihre Augen ein wenig zusammenkniff, um genau zu zielen. Nur einen Augenblick später betätigte sie den Abzug. Ein zweites Mal zuckten alle Anwesenden unter einem lauten Knall zusammen.

Zwar hatte Kei sich schon bereit gemacht, Yuki zur Not persönlich aus der Schusslinie zu befördern, doch seine Hilfe wurde gar nicht gebraucht. Schon nach dem ersten Schritt auf seinen Freund zu, hielt Kei deshalb in seiner Bewegung inne.

Yuki selbst hatte keine besondere Lust auf Russisch Roulette. Einen Sekundenbruchteil bevor Ryami ihre Waffe abfeuerte, machte er einen Schritt zur Seite und wich damit dem Pfeil aus. Dieser traf nur die Wand einige Meter hinter Yuki und etwa zwei Meter links von Shimari, von der aus er klirrend zu Boden fiel.
 

Gerade hatten sich Kei und Yuki für einen Moment erlaubt, aufzuatmen, da wurden sie auch schon daran erinnert, dass die Gefahr noch nicht vorüber war.

„Pass auf! Sie schießt!“ schrie eine weibliche Stimme in heller Panik.

Doch schon im selben Moment erschallte der Schuss. Yuki war nach der Warnung reflexartig einen weiteren Schritt zurückgewichen und hatte sich in derselben Bewegung zu Shimari umgedreht, die ihn über die Kimme ihrer Waffe böse anfunkelte. Zum Glück hatte diese Drehung dafür gesorgt, dass ihn die Kugel nicht tödlich traf.

„Nein! Yuki!“ entfuhr es Kei panisch, als er sich aus seiner Starre löste und auf seinen Freund zustürzte.

Yuki hielt mit der linken Hand seine rechte Schulter. Seine Fingerspitzen hatten sich in den Stoff seines aufgerissenen Pullovers und in seine Haut gegraben, als könnten sie den Schmerz herausreißen. Von der Wunde konnte Kei zunächst gar nichts sehen, da sich Yuki wehrte, als er seine Schulter von der Hand befreien wollte. Doch es dauerte nicht lang, bis sich das Blut seinen Weg durch den Stoff und zwischen Yukis Finger hindurch suchte.

„Es ist nur ein Streifschuss.“ erklärte Yuki mit beruhigendem Ton, aber eindeutig schmerzverzerrtem Gesicht.

„NUR?! Das ist Blut!“

Kei war in heller Aufregung. Yuki war verletzt, blutete und hatte Schmerzen. Wie konnte er die Wunde verbinden? Mit einem Taschentuch? Moment, er hatte keines. Außerdem war das viel zu viel Blut für ein Taschentuch. Sollte er so cool wie in Filmen ein Stück Stoff aus seinem Kapuzenpulli reißen? Aber der Stoff war viel zu fest…

„Seit wann hast du ein Problem mit Blut? Du bist doch derjenige, der sich ständig blutige Kämpfe mit seinem Carn geliefert hat.“

„Ich hab kein Problem mit Blut. Aber das ist DEIN Blut!“

Hätten sie sich nicht immer noch zwei bewaffneten Gegnern gegenüber befunden, hätte Yuki sicher schallend losgelacht. Er musste sich das Lachen sehr schwer verkneifen, und trotz Angst und Schmerz hoben sich seine Mundwinkel zu einem amüsierten Grinsen. Kei war einfach zu niedlich, wenn er ängstlich wurde. Schon vor ihrem allerersten Besuch beim Rat hatte Yuki seine Nervosität so süß gefunden. Und dass Kei jetzt auch noch aus purer Sorge um ihn so verrückt spielte, machte ihn nur noch niedlicher.
 

„E-Es tut mir leid! Ich wollte nicht, dass sie schießt!“ beteuerte dieselbe weibliche Stimme wie zuvor.

Jetzt erst bemerkte Kei, dass hier irgendetwas nicht ganz stimmte. Skeptisch drehte er sich in die Richtung um, aus der die Stimme gekommen war. Zur Fensterseite, wo die beiden Schwestern standen.

Doch entgegen seinen Erwartungen war es nicht Taki, die sie gewarnt hatte. Zwar lag auch auf Takis Gesicht ein besorgter Ausdruck, aber diejenige, deren Finger nervös mit dem Saum ihrer Ärmel spielten, und die mit weit aufgerissenen Augen zu Kei und Yuki hinübersah, war Ryami. Kei verstand die Welt nicht mehr. Dieselbe Ryami, die mit was auch immer für Giftpfeilen auf Yuki geschossen hatte, hatte sie nur einen Augenblick später vor einem tödlichen Schuss gewarnt, den sie selbst ihrer Mitarbeiterin befohlen hatte. Und jetzt tat ihr auch noch leid, dass Shimari geschossen hatte?

In einem weiteren urplötzlichen Stimmungswandel verfinsterte sich Ryamis Ausdruck plötzlich wieder. Die ängstlich aufgerissenen Augen verschmälerten sich wieder, gleichzeitig zog sie die Brauen ins Gesicht. Während ihre Lippen eben noch vor Aufregung gezittert hatten, zogen sie sich nun zu einem verächtlichen Schmunzeln. Ihre Hand ließ den Ärmel los, während sich die andere fester um die gesenkte Waffe legte.

Kei verfolgte das Schauspiel gebannt. Was ging hier vor?
 

Plötzlich hörte er hinter sich das Geräusch eines metallischen Gegenstands, der laut zu Boden fiel. Erschrocken zuckte Kei zusammen und wirbelte sofort herum. Shimari, die eben noch eiskalt auf Yuki geschossen hatte, zitterte nun ein wenig. Sie hatte die Augen aufgerissen und biss ängstlich auf ihrer Unterlippe herum. Die Pistole, die sie vor wenigen Minuten noch ohne Zögern abgefeuert hatte, war nun aus ihren unruhigen Händen geglitten. Die Waffe glänzte zu ihren Füßen im abendlich roten Sonnenlicht.

Was ging hier vor?

„Heb sie auf.“ befahl Ryami ruhig, aber bestimmt.

Shimari wagte es weder sich zu bewegen, noch Widerworte zu geben. Sie blieb einfach stehen, ihre Hände in den Ärmeln versteckt und mit nervös umherwandernden Augen.

„Heb sie auf!“ wiederholte Ryami ihren Befehl etwas lauter.

Doch wieder reagierte Shimari nicht. Für einen Moment herrschte angespannte Stille. Ryami bedachte Shimari mit einem langen, strengen Blick, unter dem das Mädchen immer mehr zusammenzusinken schien.

Kei rechnete vielleicht mit einem Ausbruch, vielleicht dass Ryami wütend die Stimme erhob oder sogar schlimmeres. Doch nichts dergleichen geschah.
 

Nach einem Moment atmete Shimari laut aus und zeigte den nächsten merkwürdigen Wandel. Mit einem Mal kehrte sie in die selbstbewusste Haltung von vor einigen Minuten zurück. Sie stand gerade und mit leicht angehobenem Kinn. Ihre Augen ruhten fest aus ihren Gegenübern und schienen boshaft zu funkeln. Als sie ihre Hände aus den Ärmeln streckte, in deren Stoff sie sich nervös gekrallt hatten, waren diese völlig ruhig. Sicher griffen sie nach der Pistole und hoben sie auf. Und genauso sicher nahm Shimari wenig später Kei und Yuki wieder ins Fadenkreuz.

Mit ausgestreckten Armen hielt sie die Waffe von beiden Händen umschlossen vor ihren Körper. Ihr Blick über die Kimme hinweg war entschlossen und sogar gefährlich.

Aber nur für eine Weile.

Denn nach nur einem Blinzeln weiteten sich ihre Augen wieder ängstlich. Ihre Pupillen zuckten vor Aufregung unruhig hin und her. Sie biss sich auf die Unterlippe. Schließlich begannen sogar ihre Hände wieder zu zittern. Mehr noch, das Zittern breitete sich über ihre Arme und Schultern schließlich fast über ihren ganzen Körper aus. Trotzdem wagte sie es nicht, die Waffe zu senken.

Eben noch so selbstsicher, hatte Shimari jetzt ganz eindeutig große Angst. Angst vor der Waffe in ihrer Hand.
 

Was hatten diese merkwürdigen urplötzlichen Stimmungswandel nur zu bedeuten? Erst hatte Shimari mit ungewohnter Kälte in den Sitzungssaal geführt, war dann wie aus heiterem Himmel zu ihrem lebendigen Selbst zurückgekehrt und schien dafür aber völlig desorientiert. Ryami hatte Shimari befohlen zu schießen, den Schuss dann verhindern wollen, beziehungsweise bedauert und unmittelbar danach Shimari erneut befohlen, die Pistole aufzuheben. Shimari hatte sich daraufhin erst geweigert, dann doch erschreckend bereitwillig gehorcht und zitterte nun vor Angst.

Langsam kristallisierte sich aus Keis wirren Gedanken eine mögliche Erklärung heraus. Wenn er recht hatte, dann musste Ryami…

Zögerlich drehte er sich wieder zur Chefin von K.R.O.S.S. um. Ryami hatte die linke Hand in die Hüfte gestützt. In der rechten hielt sie weiterhin ihre Pistole neben ihrem Körper gesenkt. Ihre ganze Haltung strahlte Selbstbewusstsein aus. Ihr Rücken war gerade, das Kinn leicht angehoben. Aus ihren grünen Augen sah sie auf Kei und Yuki herab. Dass sie vor Kurzem noch so angsterfüllt gewesen waren, schien nun unvorstellbar.

„Oh mein Gott…“ flüsterte Kei atemlos vor sich hin, als er seine Vermutung bestätigt fand.

„Nein.“ Ryamis Lippen zogen sich zu einem eiskalten Grinsen. „Gott bin ich nicht. Aber ich gebe zu, dass ich einen Schritt näher in Richtung Allmacht getan habe.“

„Du kannst in Shimaris Körper schlüpfen?!“

„Nicht nur in Shimaris Körper. Meine Kräfte sind jetzt stark genug, um in jeden Körper einzudringen, der über telepathisches Talent verfügt.“

„Jeden…?“

„Jeden mit telepathischem Talent. Meine liebe Taki verfügt beispielsweise leider nicht darüber. K.R.O.S.S. hat aber schon mit Forschungen begonnen, wie man das Zaleitalent auch auf völlig Unbegabte übertragen kann.“

„Warum kannst du das? Wie kann das sein?“ Unverständnis, Entsetzen und Angst sprachen gleichermaßen aus Kei.

„Das habe ich doch schon gesagt. Ich habe Lans Kraft gestohlen. Glaubst du denn, ich hätte mir einen der stärksten Zalei ausgesucht, um seine Kräfte nur zu versiegeln? Nein! Ich habe sie mir selbst übertragen.“
 

Kei weigerte sich zu glauben, was er da hörte. Ein Zalei, der sein Bewusstsein nicht nur in den Körper seines eigenen Carn versetzen konnte, sondern in jeden beliebigen Körper, solange dieser eine telepathische Veranlagung hatte. Das klang absolut verrückt. Und dennoch schien es wahr zu sein.

Ryami hatte Lans Zaleikraft gestohlen, die Kraft des drittstärksten Zalei. War sie jetzt etwa so stark wie sie selbst und Lan zusammen? Oder sogar noch stärker?

Aber wofür sie das alles tat, war Kei noch immer ein Rätsel. Bislang hatte Ryami kein Wort über ihre Ziele verloren.

Nach und nach wuchs in Kei auch der Zweifel, ob sie gegen eine so starke Zalei überhaupt nur den Hauch einer Chance hatten. Schon die ‚normale‘ Ryami hätte in einer anderen Liga gespielt als der Zaleischüler Kei, doch jetzt schien sie ihm so gut wie unerreichbar für jeden.

Aber ein Zurück gab es nicht.

Ryami hob ihre Hand mit der Pistole. Erneut drehte sie die Walze ein paarmal herum.

Dann traf ihr Blick Kei. Ihre Augen blitzten gefährlich und jagten einen kalten Schauer über Keis Rücken. Was auch immer sie vorhatte, konnte nichts Gutes sein.
 

„Ihr hattet übrigens schon wieder Pech. Das eben wäre der Betäubungspfeil gewesen. Ich denke, den nächsten darfst du abfeuern.“

Nach dieser spärlichen Ankündigung machte Ryami einen einzigen Schritt nach vorne und nahm mit ihrem rechten Arm gleichzeitig etwas Schwung auf. Im nächsten Moment warf sie Kei die Pistole zu, der sie aus Reflex auffing. Verwirrt starrte er auf die Waffe in seinen Händen. War sie jetzt völlig übergeschnappt, ihrem Feind ihre Waffe zu überlassen?

Doch ihm blieb nicht viel Zeit, sich diese Frage zu stellen. Die Antwort erhielt er prompt.

Kei beobachtete nämlich nur einen Augenblick später wie seine eigene Hand sich um den Griff der Pistole legte, sein Finger auf den Abzug. Mit ausgestrecktem Arm hielt er die Waffe vor seinem Körper. Seine Augen waren zu Schlitzen verengt, als er zielte - als er auf Yuki zielte.
 

„Nein! Wag es ja nicht!“ rief er noch von Panik und Wut gleichzeitig gepackt.

Kei wollte vorstürmen, die Pistole aus seiner Hand schlagen oder was auch immer. Aber schon bevor sein Fuß nach dem ersten Schritt den Boden berührte, legten sich zwei Hände um sein Handgelenk. Taki hielt ihn mit beiden Händen zurück. Wortlos, aber mit sorgenvollem Blick deutete sie auf Shimari, die immer noch zitternd ihre Pistole auf ihn richtete. Auf seinen Körper, um genau zu sein.

Ryami konnte in jeden Körper eindringen, der über ein telepathisches Talent verfügte. Außerdem war sie die Zalei, die am allerschnellsten zwischen verschiedenen Körpern hin und her wechseln konnte.

Was konnte Kei tun, um Yuki zu helfen? Würde er, der sich jetzt in Ryamis Körper befand, auf Ryami zustürzen, könnte sie blitzschnell aus seinem Körper herausschlüpfen und in ihren eigenen eindringen, um ihn aufzuhalten. In diesem Fall konnte Kei sich schon auf die Auflösung des Körpertauschs vorbereiten und sie dann in seinem eigenen Körper erwarten. Aber dann konnte Ryami immer noch in Shimaris Körper eindringen und auf ihn schießen. Nicht zu vergessen die drei Carn, die ebenfalls telepathisch veranlagt waren. Die einzige, in deren Körper Ryami nicht eindringen konnte, war Taki. Die Situation schien ausweglos.
 

Yuki blieb dennoch mit bewundernswerter Ruhe regungslos stehen. Mit der linken Hand hielt er weiterhin seine Schulter, von der aus sich ein blutroter Fleck immer weiter über seinen Arm ausbreitete. Die ersten Blutstropfen hatten sich ihren Weg seinen Arm entlang gebahnt und fielen von seinen Fingerspitzen auf den Boden. Yuki hielt den Blickkontakt mit Ryami fast die ganze Zeit über. Nur für einen kurzen Moment wanderten seine Augen zu Kei, der die Szene mit angsterfülltem Ausdruck verfolgte.

Panik machte sich in Kei breit. Sein, beziehungsweise eigentlich Ryamis, Herz raste wie verrückt vor Angst. Er rang nach Luft. In einen völlig fremden Körper gedrängt musste Kei hilflos mit ansehen wie er selbst eine Waffe auf seinen Freund richtete.

Alles auf Rot

Kapitel 29 – Alles auf Rot
 

Seit einigen Minuten lag Ryu so ruhig, dass er fast wirkte als hätte er das Bewusstsein verloren. Tatsächlich hatte er seinen immer schwerer werdenden Lidern nachgegeben und die Augen geschlossen. Er fühlte wie die Müdigkeit in ihm immer größer wurde je länger er auf dem kalten Fliesenboden lag. Im gleichen Maß schien dafür der pochende Schmerz an seiner rechten Seite abzunehmen. So fiel Ryu auch das ruhige, gleichmäßige Atmen etwas leichter, zu dem er sich selbst zwang. Dennoch bemerkte er selbst, dass er langsam schwächer wurde. Wie lange er wohl schon so dalag? Wie viel Blut mochte er wohl verloren haben?

Kiku kniete nach wie vor neben ihm, versuchte die Blutung seiner Schussverletzung etwas zu stillen und wurde nicht müde, auf ihn einzureden. Ryu lauschte ihrer Stimme und ermahnte sich selbst, bei ihr zu bleiben. Die meiste Zeit sprach Kiku von Kei, Yuki, Taki und davon, dass sie hoffte, es ginge allen gut. Gelegentlich antwortete Ryu ihr mit schwachem Ton, um Kiku und sich selbst zu beweisen, dass er noch wach war.

Seine Sorge um Yuki und Kei verbot ihm, jetzt einzuschlafen. Er würde sich erst erlauben, sich auszuruhen, wenn die beiden in Sicherheit waren.
 

Ungeachtet dessen ertappte sich Ryu schließlich doch gefährlich nahe an der Schwelle zum Traumland. Innerlich schreckte er förmlich hoch, als ihn das Geräusch von Schritten auf den Fliesen der Eingangshalle wachrüttelte. Äußerlich dagegen reichte seine verbliebe Kraft lediglich, um die Augen zu öffnen und den Kopf zu drehen. Die Schritte näherten sich mit einem Klackern wie von Absätzen aus Richtung der monumentalen Treppe. Sie waren unnatürlich langsam und sehr ungleichmäßig, fast als wäre jeder einzelne Schritt eine Qual. Aus dem Augenwinkel erkannte Ryu eine hochgewachsene Gestalt mit einem langen Mantel, die um Kiku und ihn herumtrat und schließlich neben Lan niedersank. Langes, blondes Haar folgte ihrer Bewegung dabei.

„Pierre!“ hörte er Kiku freudig überrascht ausrufen. „Du bist wieder ein Mensch!“

„Oui… Isch ‘abe den Pfeil wohl schnell genug ‘erausgezogen.“

„Wie fühlst du dich?“

„Miserabel… Frag lieber nischt weiter.“ winkte er ab.

Offensichtlich entsprach dies der Wahrheit. Pierres Teint war sehr blass. Seine Augen sahen trüb und müde aus, als könnte er sie kaum offen halten. Er atmete schwer.

Dennoch galt seine aktuelle Sorge Lan. Mit einem langen, intensiven Blick musterte er den jungen Mann, der noch immer leblos dalag wie Yuki und Kei ihn abgelegt hatten. Mit der linken Hand fuhr Pierre über Lans Stirn und strich dabei wie zufällig einige der wirren Strähnen aus seinem Gesicht.

Dann wanderte Pierres Blick zu der Kanüle, die in Lans rechtem Arm steckte. Vorsichtig zog er das Klebeband ab, mit dem das Objekt fixiert war.

„Sollte das nicht lieber ein Arzt machen?“ fragte Kiku besorgt.

„Isch bin Arzt…“

„Nein, du bist Veterinär.“ korrigierte Ryu mit schwachem Ton.

„Dann ist ein ‘ornochse wie Lan bei mir ja in besten ‘änden, non?“

Behutsam und in langsamer Bewegung zog Pierre die Nadel aus Lans Arm und schleuderte die Kanüle nach einem geringschätzigen Blick von sich. Dann drückte er mit den Fingerspitzen ein Stück Stoff seines Ärmels auf die leicht nachblutende Wunde.

Diese Geste schien Lan endlich aufgeweckt zu haben, zumindest ein wenig. Für den Bruchteil einer Sekunde bemerkte Ryu, dass er versuchte, die Augen zu öffnen. Allerdings fehlte ihm die Kraft und seine Lider fielen sofort wieder zu. Dennoch hatte der kurze Augenblick anscheinend gereicht, um den Mann zu erkennen, der seinen Arm hielt. Lans Lippen, auch wenn kein Laut über sie kam, formten kraftlos ein Wort, das vermutlich „Pierre“ heißen sollte.

„Oui. Isch bin da, Lan. Isch bin da…“ flüsterte Pierre beruhigend, während er mit der linken Hand erneut über Lans Stirn strich. „Alles wird wieder gut. Keine Sorge… Tout ira bien.“

Diese Worte wiederholte Pierre wie ein Mantra, um sich selbst ebenso zu beruhigen wie Lan. Seine Stimme war heiser und zittrig. Mit dem linken Arm fuhr Pierre unter Lans Schultern und hob seinen Oberkörper an. Lans Kopf ruhte nun an Pierres Schulter, so dass dieser sein Mantra direkt neben Lans Ohr flüstern konnte.

Vermutlich unter Aufwendung all seiner verbliebenen Kraft hob Lan seine freie, linke Hand. Schwach und ziellos tastete sie, bis ihr Pierres rechte Hand entgegen kam und sie auffing. Fast augenblicklich wich nun auch die letzte Kraft wieder aus Lans Hand und sie wäre wohl zurück auf den Boden gesunken, hätte Pierre sie nicht festgehalten.

Lan und Pierre, die ewigen Streithähne, Hand in Hand. An diesen Anblick würde Ryu sich erst noch gewöhnen müssen.

„Die ganze Zeit habt ihr unter einer Decke gesteckt.“ dachte Ryu laut. „Ich kann’s kaum glauben.“

„Sieht aus als wären wir dosch bessere Lügner als du dachtest. Sogar Lan, n’est-ce pas?“ lächelte Pierre angestrengt.

„Scheint so.“ Einen Moment beobachtete Ryu die unwirkliche Szene vor seiner Nase. Vielleicht war er ja doch eingeschlafen und träumte nur, denn… „Ich frage mich, warum mir das nie aufgefallen ist…“

„Was meinst du?“

„Dass ihr denselben Ring tragt. Ich hab es nie bemerkt.“

Als hätte er nicht die geringste Ahnung, was ihn dort erwartete, senkte Pierre erschrocken den Blick auf Lans Hand, die er in der seinen hielt. Voll Überraschung sah er eine ganze Weile auf das Metall. Dann legte sich ganz unwillkürlich ein glückliches Lächeln auf seine Lippen, das gleichzeitig ein paar Tränen in seine himmelblauen Augen trieb.

„Dabei ‘ab isch diesem Idioten damals nosch gesagt, er soll das Ding abnehmen,… weil isch es nämlisch nischt tun werde…“ flüsterte Pierre kaum hörbar.

„Oh mein Gott! Das stimmt wirklich!“

Kikus Kinnlade wäre vor Überraschung fast auf den Boden gefallen, hätte sie nicht eine Hand vor den Mund gelegt, um sie festzuhalten. Darüber zeugten jedoch auch ihre weit aufgerissenen Augen von ihrem Erstaunen.

Wie um sein Gesicht, das deutlich seine Verlegenheit zeigte, vor Ryu und Kiku zu verbergen, wandte Pierre sich zur Seite. Dabei berührten seine Lippen Lans Kopf in einem verschämten Kuss.

Die schlanken Finger seiner linken Hand gruben sich inzwischen sanft zwischen Lans struwwelige Haarsträhnen. An ihnen blitzte tatsächlich der gleiche Ring auf, den Lan trug.

Es war ein recht unauffälliges Schmuckstück, ohne Edelstein oder aufwendige Verzierungen. Aber trotzdem war es Ryu ein Rätsel, warum er es in all den Jahren überhaupt nie bemerkt hatte.
 

Kei stand da wie zur Salzsäule erstarrt. Erstarrt schienen nur seine Knie nicht, deren Konsistenz eher der von Wackelpudding glich. Dennoch wagte er nicht die geringste Bewegung, um Ryami nicht zu provozieren, die ihre Pistole auf Yuki richtete. Keis Augen wanderten immer wieder nervös von Ryami, die sich in seinem eigenen Körper befand, zu Yuki und zurück. Sein Herz hämmerte als versuchte es, aus seinem Brustkorb zu springen.

Was konnte er tun, um Yukis Leben zu retten?

Konnte er überhaupt irgendetwas tun oder war er machtlos gegen Ryami?

Wie um sich selbst zur Ordnung zu rufen, atmete Kei einmal tief durch und schloss dabei die Augen. Ob er nun eine Chance gegen Ryami hatte oder nicht, versuchen würde er es zumindest. Auf keinen Fall würde Kei einfach tatenlos zusehen wie Ryami irgendeines ihrer K.R.O.S.S.-Mittelchen auf Yuki abfeuerte. Um Yuki zu retten, würde Kei nichts unversucht lassen.

Ruhig und gleichmäßig atmete Kei ein und aus, die Augen weiterhin geschlossen. Er konzentrierte sich und schaffte es tatsächlich, sich wieder einigermaßen zu fassen. Keine leichte Aufgabe, wenn derjenige, den er liebte – ja ja, inzwischen gab er es ja zu – mit einer Waffe bedroht wurde, und er selbst gleichzeitig genau wusste, dass er ihn nur retten konnte, wenn er ruhig blieb.
 

Kei steckte in Ryamis Körper, in den sie ihn gedrängt hatte. Nachdem Ryami Lans Zaleikraft gestohlen hatte, verfügte sie nun über genug Kraft, um in fast jeden fremden Körper einzudringen. Sie konnte nicht nur der telepathischen Verbindung zu ihrem eigenen Carn folgen, sondern auch jeder anderen. Und sie war stark genug, das Bewusstsein des eigentlichen Besitzers des jeweiligen Körpers zu verdrängen. Über diese Kraft verfügte Kei natürlich bei weitem nicht.

Aber er wusste, dass Yuki ihn immer wieder für sein ungewöhnlich großes Zaleitalent gelobt hatte. Auch wenn Kei selbst noch Schüler war, war er stark. Vielleicht nicht stark genug, um Ryami zu bezwingen, aber hoffentlich wenigstens stark genug, um sie lange genug aufzuhalten.

Wie in den ersten Wochen und Monaten seiner Ausbildung brauchte Kei sehr lange, um sich in diesem fremden Körper in Trance zu versetzen. Nicht ganz unschuldig war daran sicher auch, dass seine Gedanken immer wieder unwillkürlich zu Yuki abschweiften. Aber nach einer Weile hatte Kei es geschafft. Er hatte die Verbindung gefunden, über die Ryami ihn zuvor in diesen Körper gedrängt hatte. Kei konnte den Weg lange nicht so deutlich spüren wie die Verbindung zwischen seinem Körper und dem von Robin. Eigentlich spürte er ihn sogar so gut wie gar nicht. Es war mehr wie eine Ahnung, oder ein kurzes Bild, das er für den Bruchteil einer Sekunde erhaschen konnte, wenn sein Blick darüber hinweg huschte, das aber sofort verschwand, wenn er direkt darauf blickte.

So kam Kei sich fast vor als liefe er mit verbundenen Augen über ein Hochseil, als sich sein Bewusstsein langsam vortastete. Er folgte der Verbindung zunächst vorsichtig zögernd, dann jedoch immer sicherer. Je näher er seinem vertrauten eigenen Körper kam, desto deutlicher spürte er die Verbindung und desto selbstbewusster bewegte er sich weiter. Schließlich erreichte er die telepathische ‚Pforte‘ seines eigenen Körpers. Ganz deutlich konnte er sie nun fühlen. Kei versuchte sofort, in seinen Körper einzudringen. Aber Ryami schlug ihm bildlich gesprochen ebenso schnell die Tür vor der Nase zu.

Ein Kampf im Geiste entbrannte. Kei gab nicht auf, er dachte gar nicht daran. Er kämpfte um seinen Körper und drängte wieder und wieder gegen die Pforte. Und Ryami hielt dagegen. Allerdings hatte Kei den Eindruck, dass sie, während er mit aller Macht stürmte, ihn lediglich mit dem kleinen Finger zurückschob. Ryami war um ein Vielfaches stärker als er.

Trotzdem zahlte sich Keis Hartnäckigkeit schließlich aus. Er dachte an Yuki. Dass Ryami auf ihn schießen würde, wenn er sie nicht aufhalten würde. Dass er wieder leblos, blass und von Schmerzen gezeichnet in seinem Arm liegen würde. Das gab Kei den nötigen Motivationsschub, um all seine Reserven zu mobilisieren und mit voller Wucht in seinen Körper zu dringen. Ryami war von seinem plötzlichen Kraftzuwachs anscheinend so überrumpelt, dass sie nicht daran dachte, neben ihrem kleinen Finger auch die ganze Hand benützen zu können, um Kei zurückzuhalten.

Kei befand sich gerade lange genug in seinem Körper, um die rechte Hand zu öffnen. Die Pistole fiel laut krachend zu Boden. Dann griff Ryami auch schon wieder an. Sie drängte Kei aus seinem Körper und schleuderte ihn richtiggehend zurück in den ihren.

Schwach blinzelte Kei ein paarmal. Das Bild vor seinen Augen wurde erst langsam klarer. Die Anstrengung war so groß gewesen, dass er sich plötzlich so müde fühlte wie noch nie zuvor. Aber es war eine sehr merkwürdige Art von Müdigkeit. Nicht sein Körper war erschöpft, sondern sein Bewusstsein.

Kei saß auf dem Boden. Während seinem Duell mit Ryami musste Ryamis Körper unbewohnt zu Boden gestürzt sein. Taki hockte neben ihm und hielt seine Schultern, nachdem sie den Sturz des Körpers aufgefangen hatte.

„Kei! Alles in Ordnung?“ erkundigte sich Yuki sofort besorgt.

„Nicht schlecht, Kleiner!“ grinste Ryami kalt. Kei fand das Grinsen auf Anhieb so hässlich, dass er sich eine geistige Notiz machte, jeden ähnlichen Gesichtsausdruck für immer aus seinem Repertoire zu verbannen. „Jetzt weiß ich, warum der Rat deiner Ausbildung erst so zögerlich zugestimmt hat. Wenn ein so starkes Talent rechtzeitig und ausreichend gefördert worden wäre, hättest du dem alten Adoy gefährlich werden können.“

„Was meinst du?“ fragte Kei mit müder Stimme.

„Wusstest du das nicht? Der Rat der Zalei hat dich schon seit Jahren beobachtet, aber nie kontaktiert.“

Das hörte Kei zum ersten Mal. Unwillkürlich wanderte Keis Blick zu seinem Lehrer. Yuki bestätigte Ryamis Worte mit einem stummen Nicken. Sein Gesicht zeigte deutlich, dass er nicht glücklich darüber war, Kei die Information auf diese Weise zu erzählen.

„Es ist schon ungerecht. Nur selten wird ein Zalei mit so großer Kraft geboren und dann wird diese wunderbare Gabe ausgerechnet an Menschen wie dich oder Lan verschwendet.“ Ryami schüttelte ungläubig den Kopf. „Wie auch immer. Ob du nun stärker als Aody bist oder nicht, spielt keine Rolle mehr. Denn stärker als ich bist du auf keinen Fall.“
 

Ryami bückte sich und hob die Pistole wieder auf. Kei atmete resignierend aus. Würde sie das Ding jetzt wieder auf Yuki richten? Langsam ging ihm die gesamte Organisation K.R.O.S.S., die alle paar Minuten ihre Knarren auf seinen Freund richtete, tierisch auf die Nerven.

Außerdem war er so unendlich müde. Sein Duell mit Ryami war unglaublich anstrengend gewesen. Kei hatte all seine Kraft, all seine Willensstärke aufgewendet. Und trotzdem hatte er letztendlich überhaupt nichts erreichen können. Ryami befand sich immer noch in seinem Körper und hielt immer noch diese verflixte Waffe in der Hand. Kei fühlte sich völlig nutzlos. Als wollte er die folgenden Szenen gar nicht mehr mit ansehen, ließ er seine Lider sich schließen. Wo er doch sowieso nichts ausrichten konnte, sah er auch keinen Sinn mehr darin, gegen seine Müdigkeit anzukämpfen. Kei sank etwas tiefer in Takis Arm, der seine Schultern hielt.

„Bitte gib nicht auf.“ flüsterte Taki heiser neben ihm.

Kei schlug die Augen wieder auf und drehte sich zu Taki um. Seine Augen trafen die blaugrünen von Taki, die von Tränen benetzt waren. Takis Lippen bebten vor Anspannung ein wenig, als sie weitersprach.

„Ich will nicht, dass meine Schwester noch mehr Schuld auf sich lädt. Bitte halt sie auf. Du bist der einzige hier, der stark genug ist. Bitte… gib nicht auf.“

Einen Moment starrte Kei Taki noch schweigend an. Schließlich nickte er zögerlich.
 

Mit großer Mühe und nur dank Takis unterstützendem Arm schaffte Kei es endlich, aufzustehen. Das Hautproblem war dabei nicht einmal seine Müdigkeit, sondern diese verflixten hohen Absätze. Wie zum Kuckuck schafften es Frauen, in solchen Dingern zu laufen? Allein einigermaßen ruhig stehen zu bleiben, war ein Akt höchster Balance.

Doch Ryami verweigerte ihm jede Anerkennung für dieses Kunststück.

„Setz dich und sei still.“ befahl sie trocken.

Selbstverständlich gehorchte Kei nicht. Er war doch nicht mühevoll aufgestanden, nur um sich wieder zu setzen.

„Lass die Waffe fallen, oder ich…“

„Oder was?“

„Oder ich… spring aus dem Fenster.“ drohte Kei.

So lange er in Ryamis Körper steckte, hatte er sich selbst praktisch als Geisel in der Hand, überlegte er. Dummerweise hatte er nur keine Waffe. Und selbst wenn er eine gehabt hätte, hätte Ryami diese durch einen simplen Körpertausch ganz einfach in ihren Besitz bringen können. Also war eine Waffe in seiner Hand im Moment eine sehr schlechte Idee.

„Tu dir keinen Zwang an.“ zuckte Ryami gleichgültig mit den Schultern. „Wir sind im Erdgeschoss.“

Ups! Unwillkürlich drehte Kei den Kopf und warf über die Schulter einen Blick durchs Fenster. Er sah in den Garten - auf selber Ebene. Daran hatte er nicht gedacht.

Na toll! Dann hätte er ja gleich damit drohen können, Ryamis Make-up zu verschmieren oder lächerliche Grimassen zu schneiden. Davon hätte sie sich vielleicht sogar noch eher einschüchtern lassen.

„Setz dich!“ wiederholte Ryami ihren Befehl. Gleichzeitig hob sie ihre rechte Hand, in der sie ihre Waffe mit den Mitteln von K.R.O.S.S. hielt. „Hier drin sind noch vier Pfeile: einer, der dein Talent löscht, einer, der dich im Körper deines Carn einsperrt, einer, der dein Bewusstsein aus jedem Körper ausschließt und ein tödliches Gift.“

„Du würdest wohl kaum auf deinen eigenen Körper schießen.“ knurrte Kei.

„Natürlich nicht. Aber du hast mir vorhin recht deutlich gezeigt, wie ich dich am besten unter Druck setzen kann.“

Ohne den Blick von Kei abzuwenden, richtete Ryami ihre Waffe geradewegs auf Yuki.

„Hinsetzen.“

Diesmal schluckte Kei nur trocken und gehorchte ohne Widerworte. Er trat ein paar Schritte vor und setzte sich in den freien Ratssessel zu Auroras linker Seite. Schon bevor er den ersten Schritt getan hatte, hatte Kei sich darauf vorbereitet, sich wieder in Trance zu versetzen. Ryami brüstete sich damit, die Trance schnell und unbemerkt von anderen erreichen zu können. So gut war Kei noch lange nicht, aber zumindest war er schnell und gab seine Trance erst zu erkennen, wenn es schon zu spät war, ihn aufzuhalten.

Diesmal suchte er nicht nach dem Weg zu seinem eigenen Körper. Ryami hatte ihm bewiesen, dass er es nicht mit ihr aufnehmen konnte. Sich ein zweites Mal eine blutige Nase zu holen, wäre unsinnig gewesen. Stattdessen suchte er nach der Verbindung, die zwischen Ryami und ihrer Katze Aurora bestehen musste. Da es die ursprüngliche Verbindung des Körpers war, in dem sich Kei aktuell befand, konnte er sie wesentlich einfacher finden als den unnatürlichen Weg zu seinem eigenen Körper.
 

So gelang es Kei tatsächlich, Ryami völlig zu überraschen, als er nur wenige Augenblicke später in Auroras Körper auf sie zustürzte. Nachdem er im Körper der schwarzen Katze aufgewacht war, hatte Kei nur eine Sekunde verloren, um zu testen wie er seine Krallen ausfahren konnte. Mehr Zeit erlaubte er sich nicht zu verlieren, damit Aurora ihre Herrin nicht warnen konnte. Dann machte er einen Satz von dem Sessel in langem Bogen auf den Boden. Dabei sprang er auch über Robin und streifte den Fuchs provozierend mit der Pfote. Wo er auf dem Boden aufkam, setzte er sofort zum nächsten Sprung an, der nun direkt auf Ryami gerichtet war.

Ryami sah das schwarze Fellknäuel aus dem Augenwinkel auf sich zukommen. Sie reagierte sofort. Noch ehe sie sich die Mühe machte, sich zu ihrem Angreifer umzudrehen, schlüpfte sie aus Keis Körper und in den ihrer Katze. Das Tier brach den Sprung augenblicklich ab und landete nach einem verkürzten Bogen sicher auf dem Boden.

Im Körper ihrer Katze wollte Ryami sofort kehrt machen und sich wieder auf den Sessel legen, da schnitt Robin ihr den Weg ab. Der Fuchs, der ohnehin schon die ganze Zeit über ein kritisches Auge auf die Katze gehabt hatte, war durch den Hieb von eben sichtlich verärgert. Er schnappte nach der Katze und jagte sie ein Stück zurück.

Inzwischen blieb Kei ein wenig Zeit in seinem eigenen Körper. Kaum dass Ryami ihn nach dem neuerlichen Körpertausch in seinen Körper zurück befördert hatte, war eine neue Welle dieser gigantischen Müdigkeit über Kei hereingebrochen. Sie hatte ihn sprichwörtlich in die Knie gezwungen. Er hatte gerade genug Zeit, um zweimal zu blinzeln und seinen Blick dadurch wieder einigermaßen scharfzustellen. Dann spürte Kei auch schon wie seine Beine zitternd nachgaben und er sank wie in Zeitlupe auf die Knie.

Sofort machte Yuki einen Satz auf ihn zu und fing ihn auf. Yukis Hände hielten Keis Schultern und zogen ihn in eine offene Umarmung. Kei erlaubte sich für einen Moment aufzuatmen. Er hatte aufgegeben, seine Lider offen zu halten und legte seine Stirn gegen Yukis Brust. Ein kurzer Augenblick um nach all der Anstrengung ein wenig zu verschnaufen. Kei genoss Yukis Nähe und atmete seinen Geruch ein. Sanft hörte er Yukis Stimme seinen Namen flüstern.

Trotzdem wusste Kei, dass der Kampf noch lange nicht vorbei war. Ryami würde ihm nicht viel Zeit lassen. Wenn sie wieder in seinen Körper drängte, würde er sie nicht aufhalten können. Also rief sich Kei selbst zur Ordnung und löste sich aus Yukis Umarmung. Er richtete sich auf und sah Yuki mit festem Blick direkt in die Augen.

„Hier!“ drückte Kei seinem Freund die Waffe in die Hand.

„Was…?“

„Ryami kann nicht in Körper ohne Zaleitalent. Nachdem sie deines gelöscht hat, bist du aus dem Schneider. Also sorgt dafür, dass sie die Waffe nicht wieder in die Finger bekommt.“

So schnell wie möglich erklärte Kei, denn aus dem Augenwinkel sah er wie Ryami in Auroras Körper ihrem Verfolger Robin entkommen war. Über die Zuschauerbestuhlung war sie auf ein paar Querbalken unter der Decke entkommen. Zuvor hatte der Fuchs ihr eine blutende Wunde beigebracht, die sich auf ihrer linken Seite vom Brustkorb bis zum Hinterlauf zog. Dennoch war die Katze vorerst in Sicherheit. Es war nun nur eine Frage der Zeit, bis Ryami zu Kei zurückkehren würde.

Nachdem Kei seine knappe Erklärung geschlossen hatte, stand Yuki auf und brachte so vorsichtshalber etwas Abstand zwischen sie. Während er sich erhob, versprach Yuki dass Ryami die Waffe nicht zurückbekommen würde. Der entschlossene Ausdruck, den er dabei trug, imponierte Kei.

Kei wollte noch lächeln und antworten, aber da schickte Ryami sein Bewusstsein schon auf eine neue Karussellfahrt. Ehe Kei überhaupt verstanden hatte, was vor sich ging, kam er in Ryamis Körper wieder zu sich, der nach wie vor in dem Ratssessel saß. Diesmal fiel es ihm sogar noch schwerer, die Augen offen zu halten. Taki war inzwischen hinter den Sessel getreten. Angespannt verfolgte sie das Geschehen, während sie auf ihre Unterlippe biss.
 

Als Kei seinen Blick zu Ryami und Yuki wandte, gefiel ihm diese Szene schon deutlich besser als die letzte. Diesmal hielt Yuki die Waffe in der rechten Hand. Er hielt sie neben seinem Körper gesenkt und zeigte damit, sie nicht gebrauchen zu wollen. Gleichzeitig signalisierte jedoch sein Finger neben dem Abzug, dass er es im Notfall doch tun konnte.

Ryami, nun wieder in Keis Körper, war gerade wieder aufgestanden. Sie stand Yuki im Abstand von etwa zwei bis drei Metern gegenüber und streckte die Hand aus.

„Gib mir die Waffe zurück!“ befahl sie trocken.

Kei machte sich eine zweite geistige Notiz, diesen blöden Befehlston ebenfalls aus seinem Repertoire zu streichen.

„Vergiss es.“ gab Yuki nüchtern zurück. „Verschwinde aus Keis Körper und lass uns gehen.“

„Aber Yuki. Hast du das schon vergessen? IHR wart diejenigen, die uns nicht gehen lassen wollten.“ schüttelte Ryami in Keis Körper mitleidig den Kopf.

„Also gib die Waffe zurück!“ befahl sie nun aus Shimaris Mund im selben Ton wie zuvor.

Yuki drehte sich zum Körper des Mädchens um. Ryami stand in diesem immer noch vor der Eingangstür und richtete die Pistole mit scharfer Munition auf ihn. Dass sie nicht zögern würde, diese auch abzufeuern, hatte sie bereits bewiesen.

In Keis Körper hatte Shimari inzwischen nicht gewagt, sich zu bewegen. Mit nach der Waffe ausgestrecktem Arm war sie einfach stehen geblieben und hatte Yuki mit großen Augen erwartungsvoll angesehen.

„Gib die Waffe zurück!“ wiederholte Ryami.

„Nein.“ blieb Yukis einzige Antwort.

Dann spürte Yuki plötzlich, wie jemand nach seiner linken Hand griff. Er fuhr erschrocken herum und erkannte, dass es Keis Körper war. Aber nicht nur Keis Köper, sondern Kei selbst. Ein einziger Blick in diese entschlossen blitzenden Augen ließ für Yuki keinen Zweifel offen. Kei war nicht stark genug gewesen, um Ryami aus seinem Körper zu verdrängen. Aber mit Shimari konnte er es leicht aufnehmen.

So hatte Kei keine Zeit verloren und seinen Körper zurückerobert. Langsam und vorsichtig hatte er dann den Abstand zu Yuki geschlossen. Einerseits wollte er Ryami weiterhin glauben lassen, es handle sich um Shimari – was vermutlich sowieso nicht funktionieren würde. Aber Ryami ließ ihn wohl gewähren, in der Hoffnung, letztendlich sowieso an die Waffe zu gelangen. Der zweite Grund für Keis vorsichtiges Näherkommen war einfach, sich nur Yukis linker Seite zu nähern und damit noch so viel Abstand zur Waffe in seiner rechten zu halten, dass Yuki diese aus seiner Reichweite halten konnte, falls Ryami erneut in Keis Körper eindringen würde.

Zum Glück tat sie das nicht. Kei hielt Yukis linke Hand und spürte wie Yuki nach kurzem Zögern seinen Händedruck erwiderte. Genau genommen war es sogar eigentlich eher Yuki, der Keis Hand hielt. Denn Kei selbst brauchte seine letzten Kraftreserven auf, um stehen zu bleiben. Nach einem Moment sank er aber ohnehin doch wieder auf die Knie.

Spätestens jetzt hätte Ryami wissen müssten, dass es sich um Kei, nicht um Shimari handelte. Dass sie dennoch nicht dazwischen ging, bestätigte Keis Verdacht, sie hätte es von Anfang an gewusst.

Yuki ließ Keis Hand nicht los. Jedoch wandte er sich auch nicht zu ihm um oder kniete sich neben ihn. Yuki musste die Waffe aus der Reichweite jedes Menschen und Tieres halten, in dessen Körper Ryami schlüpfen konnte.

„Wie niedlich. Wollt ihr etwa Hand in Hand in den Tod gehen?“ grinste Ryami verächtlich.

„Hand in Hand aus diesem Raum wäre uns lieber.“

„Vorhin hätte ich euch noch gehen lassen. Aber jetzt habt ihr mich verärgert.“

„Etwa, weil wir uns nicht bereitwillig erschießen lassen wollen?“

„Weil ihr euch trotz meiner Überlegenheit gegen mich stellt und mir meine kostbare Zeit raubt. Ihr hättet längst aufgeben sollen.“

„Glaubst du etwa, dass jeder nach deiner Pfeife tanzen muss, der schwächer ist als du?“

„Das ist Darwinismus.“ zuckte Ryami gleichgültig mit den Achseln.

„Hast du deswegen K.R.O.S.S. gegründet und diese ganzen Experimente durchgeführt?!“

„Glaub nicht, dass ich dir so einfach meine Motive preisgebe. Aber um deine Frage zu beantworten: Nein.“

Ryami funkelte Yuki gefährlich an. Ein Blick so eiskalt wie ihn Shimaris große, braune Augen vermutlich noch nie ausgesendet hatten, traf ihn über die Kimme hinweg. Doch Yuki hielt ihm stand und erwiderte ihn.

Ein bisschen hatte er vielleicht gehofft, endlich zu erfahren, was Ryamis Ziele waren. Warum sie K.R.O.S.S. gegründet hatte, warum sie den Rat der Zalei missbraucht hatte, warum sie die Kräfte der Zalei erforschte, warum sie all diese Mittel entwickelte, warum sie dabei über Leichen ging. Ihr Ziel lag ebenso wie ihr Motiv weiterhin im Dunkeln. Leider hatte Yuki nicht ernsthaft damit gerechnet, dass Ryami die Karten offen legen würde. Das Hauptziel seiner Plauderei war aber ohnehin gewesen, Kei Zeit zu verschaffen.
 

Kei war müde und geschwächt. Aber so müde und geschwächt, dass er völlig tatenlos an Yukis Seite hing, war er nun auch wieder nicht. Kei suchte nach einem neuen Weg.

Als Ryami ihn aus seinem Körper hinaus und in den ihren gedrängt hatte, hatte sie Kei unabsichtlich eine Lehrstunde erteilt. Jetzt hatte er gelernt, wie er Verbindungen zu anderen Körpern finden konnte. Anders als Ryami konnte er sich nicht frei zwischen allen Körpern bewegen. Aber er konnte bestehende Verbindungen finden und ihnen folgen, wenn sie stark genug waren.

Diesmal hatte Kei sich einiges vorgenommen. Während er Yukis Hand hielt, konzentrierte er sich ganz auf ihn. Natürlich konnte Kei keinen Weg in Yukis Körper finden, denn dieser war durch das Mittel von K.R.O.S.S. gelöscht worden. Aber Yukis Präsenz spürte Kei immer noch deutlich. Yukis Kraft war ihm durch ihr monatelanges gemeinsames Training sehr vertraut. Vor allem hatte Yuki seine Kraft mehr als einmal benützt, um seinem Schüler in Trance oder beim Körpertausch selbst zu helfen. Außerdem – auch wenn es Kei bei so viel Kitsch fast die Nackenhaare aufstellte – liebte er Yuki. Vielleicht bestand zwischen ihnen tatsächlich so etwas wie Seelenverwandtschaft. Das hätte erklärt, warum es Kei einfacher als zunächst erwartet gelang, den Weg zu finden, den er suchte.
 

„Ich sag es jetzt ein letztes Mal: Gib die Waffe zurück!“ zischte Ryami und kniff gleichzeitig die Augen etwas zusammen, um zu zielen.

„Nein.“ wiederholte Yuki ungerührt seine Antwort.

Tatsächlich war es das letzte Mal, dass Ryami ihre Aufforderung aussprach. Nun wollte sie ihren Worten Taten folgen lassen. Doch bevor sie den Abzug drücken konnte, spürte sie einen Stich in ihrer linken Wade. Obwohl sie sofort erschrocken an sich hinab sah, konnte sie nur noch beobachten wie der letzte Restinhalt des Pfeils sich in ihre Adern entleerte. Neben ihrem Bein saß ausgerechnet die kleinste, unscheinbarste Kreatur in diesem Raum: Minuit.

„Was zum…?“

Ryami konnte ihren Satz nicht mehr beenden, bevor Shimaris Körper gelähmt zu Boden sank. Doch nur einen Augenblick später nahm sie ihn in ihrem eigenen Körper wieder auf.

„Was zum Teufel war das?“

Kei hatte den Kontakt zu Yuki ausgenutzt und war über diesen zur Verbindung zwischen Yuki und dessen Carn gelangt. Spätestens jetzt wusste Kei, dass die Beziehung zwischen Yuki und Minuit noch absolut intakt war und tatsächlich nur Yukis telepathische ‚Pforte‘ versiegelt worden war. Minuit hatte Kei erlaubt, ihren Körper zu gebrauchen, auch wenn sie spürbar überrascht gewesen war.

Nach einer unsanften Landung – Hey, wann hätte er fliegen lernen sollen? – war Kei heimlich in Minuits Körper zu Ryami gekrabbelt. Der Betäubungspfeil, den sie zuvor verschossen hatte, hatte nur etwa zwei Meter neben ihr auf dem Boden gelegen. Die kleine Fledermaus konnte ihn unbemerkt aufheben, sich an Ryami anschleichen und die Spitze nach einem Sprung mit Flügelunterstützung in ihre Wade rammen. Kei tat es natürlich leid, die arme kleine Shimari auf diese Weise außer Gefecht zu setzen. Aber das Betäubungsmittel würde nur vorübergehend wirken. Dafür war sie jetzt aus dem Kampf und damit aus der Gefahrenzone befördert.

Vor allem hatte Ryami nun auch ihre zweite Waffe verloren. Die scharf geladene Pistole lag neben Shimaris schlafendem Körper auf dem Boden.
 

„Du bist entwaffnet. Das war‘s.“

Kei gab sich alle Mühe, seiner Stimme einen selbstbewussten Klang zu verleihen. Aber ihm war selbst bewusst, dass sie seinen Mund nur leise und heiser verließ. Er war am Ende. Nach jedem Blinzeln fiel es ihm schwerer, die Augen noch einmal zu öffnen. Er atmete schwer. Keinen Finger konnte er mehr rühren. Kei konnte sich nicht daran erinnern, jemals so erschöpft gewesen zu sein. Wenn das alles vorbei war, würde er mindestens eine Woche lang schlafen.

„Kei, halt durch!“ sprach ihm Yuki Mut zu und drückte gleichzeitig seine Hand.

Yuki hatte fast das Gefühl, dass nur er Kei überhaupt noch in einer halbwegs sitzenden Position hielt. Am liebsten hätte Yuki sich sofort neben Kei fallen lassen, ihn in den Arm genommen oder gestützt. Aber er konnte nicht riskieren, ihm mit der Waffe zu nahe zu kommen. Gerade weil er so geschwächt war, war er leichte Beute für Ryami.

„Du hast beide Pistolen verloren. Gib endlich auf! Du bist entwaffnet.“ wandte Yuki sich wieder an Ryami.

„Pah! Ich bin noch lange nicht entwaffnet. So lange es in diesem Raum noch fünf Körper gibt, in die ich eindringen kann, und zwei geladene Waffen, bin ich noch lange nicht entwaffnet.“ winkte Ryami ab.
 

Mühelos erhob sich Ryami aus dem Ratssessel und warf in gleicher Bewegung ihr langes, schwarzes Haar zurück. Bei jedem ihrer eleganten Schritte verursachten ihre Absätze ein klackerndes Geräusch, das von den runden Wänden widerhallte. Etwa drei oder vier Schritte machte sie auf Yuki und Kei zu, bevor Taki unsicher nach ihrem Arm griff und sie zurückhielt.

„Ryami, bitte hör auf. Du hast doch vorhin selbst gesagt, dass du kein Interesse an Kei und Yuki hast. Beide sind verletzt und erschöpft. Findest du nicht, dass es reicht?“

Nur widerwillig wandte sich Ryami zu ihrer kleinen Schwester um, warf ihr über die Schulter einen strengen Blick zu. Dabei begegneten ihr Takis große Augen von Sorge erfüllt und mit nervös hin und her wandernden Pupillen.

„Bitte lass es gut sein.“ wiederholte Taki ihre Bitte etwas leiser als zuvor.

Aber ihre Bitte stieß auf taube Ohren. Unerwartet kalt und ungerührt drehte sich Ryami wieder um und riss ihren Arm aus Takis Umklammerung.

„Meine eigene Schwester. Ich dachte, du bist auf meiner Seite, Taki, egal was kommt.“ Ryami wirkte erstmals unsicher, als sie diese Worte sprach, sogar fast verletzt. Der Widerstand ihrer kleinen Schwester schien sie schwer zu treffen. „Aber letztendlich hätte ich es wohl wissen müssen. Schließlich bist du keine von uns. Du weißt nicht, wie es ist… Niemand weiß das, niemand versteht es. Ich bin also doch allein.“

„Nein, bist du nicht! Ich war immer bei dir, Ryami. Immer. Und ich bin auch jetzt bei dir.“ Taki hob verteidigend die Arme. Sie kämpfte sichtlich um ihre Schwester. „Ich will nur nicht, dass du noch mehr Unschuldigen weh tust. Denn sonst tust du genau dasselbe wie-“

„Unschuldige! Diese beiden haben sich mir in den Weg gestellt.“ zischte Ryami abfällig.

„Du glaubst, Taki kann dich nicht verstehen, weil sie keine Zalei ist?“ mischte sich Yuki in das Gespräch der beiden Schwestern ein. „Kei und ich sind aber welche. Wie wär’s, wenn du es uns erzählst? Vielleicht verstehen wir dich ja dann.“

Mit großer Mühe schluckte Kei den Satz ‚Du glaubst ja wohl selber nicht, dass wir diese Verrückte verstehen können‘ unausgesprochen hinunter. Anders als sein viel zu freundlicher und optimistischer Freund, machte sich Kei keine Hoffnungen, sich mit Ryami gütlich einigen zu können. Aber Yuki sollte ruhig sein Glück versuchen. Kei war inzwischen ohnehin zu schwach, um noch ernsthaft Widerstand leisten zu können. Er hatte schon große Mühe, überhaupt halbwegs aufrecht sitzen zu bleiben.

„Ausgerechnet ihr! Dass ich nicht lache!“ Ryami hatte die linke Hand in die Hüfte gestützt. Ihr Gesichtsausdruck war in der Tat alles andere als ein Lachen.

„Lass es doch auf einen Versuch ankommen. Vielleicht können wir dir ja sogar helfen.“ schlug Yuki dennoch vor.

Anstatt zu antworten, warf Ryami in einer schwungvollen Kopfbewegung einige Haarsträhnen zurück, die ihr ins Gesicht gefallen waren. Gleichzeitig hob sie die rechte Hand auf Schulterhöhe und signalisierte mit einem knappen Winken ihre Ablehnung.

„Vergiss es, Yuki. Der ist nicht zu helfen.“ knurrte Kei verbittert.

Er versuchte aufzustehen. Aber kaum dass er sein Knie durchdrücken wollte, gab dieses nach und er sank zurück auf den Boden. Kei musste sich sogar mit einer Hand abfangen, um sich wenigstens in der Hocke zu halten.
 

„Ihr habt mir mit eurer Plauderei bereits geholfen.“ erklärte Ryami ungerührt.

Plötzlich fiel ein Gegenstand von oben herab und landete direkt in ihrer rechten Hand. Ryami verlor keine Zeit und nahm Kei ins Fadenkreuz, noch bevor der den Gegenstand überhaupt als Pistole identifizieren konnte.

Yuki dagegen schaltete schneller. Sein rechter Arm sauste trotz der Schussverletzung an seiner Schulter sofort nach oben. Er richtete die Waffe mit den Pfeilen direkt auf Ryami. Einen Moment verharrten beide in ihren Drohgebärden.

Kei hatte inzwischen immer noch Mühe, zu rekonstruieren, was eben passiert war. Ein Blick nach oben offenbarte ein Teil der Lösung. Ryamis Katze Aurora saß direkt über ihr auf einem Balken unter der Decke. Zögerlich drehte sich Kei ein Stück weit zu Shimari um und erkannte, dass ihre Pistole verschwunden war.

„Ich hab euch doch gesagt, ich kann so schnell zwischen verschiedenen Körpern hin und her wechseln, dass ihr nie wissen könnt, wo ich gerade bin. Erst recht nicht dann, wenn ihr euch mit Plaudereien selbst ablenkt.“

„Mann… Sag nicht, dass der ganze Mist jetzt wieder von vorne anfängt. Du spinnst doch.“ seufzte Kei resignierend.

„Nein, hier fängt der Mist nicht an. Hier endet er. Und für dein freches Mundwerk bist du als erster dran!“

Ryamis Finger spannte sich stärker über den Abzug. Ihre giftgrünen Augen verengten sich zu Schlitzen.

„Wage es ja nicht, Kei auch nur ein Haar zu krümmen! Sonst drück ich ab und wer weiß welches Schicksal dich dann erwartet!“

Noch nie, egal wie sehr Yuki je mit ihm geschimpft hatte oder wie sehr sie sich gestritten hatten, noch nie hatte Kei einen annähernd vergleichbaren Ton in Yukis Stimme gehört. Er hätte gar nicht für möglich gehalten, dass Yukis Stimme so verächtlich und so beängstigend klingen konnte. Kein Zweifel: Yuki meinte es todernst. Er würde ohne Zögern abdrücken, und die Konsequenzen würden ihn überhaupt nicht interessieren.

Dennoch gab sich Ryami völlig unbeeindruckt.

„Aber Yuki, du weißt doch ganz genau, dass du nicht auf mich schießen kannst…“ begann sie ihren Satz.

„… wenn du nicht weißt, wo ich bin...“ setzte sie ihn in aus Keis Mund fort.

„… und auch nicht, wer in meinem Körper steckt.“ vollendete sie ihn wieder aus ihrem eigenen Mund, bevor Kei den Körpertausch begreifen und die Waffe senken konnte.
 

„Alles klar. Du bist superstark und hast deine Knarre wieder.“ Kei atmete resignierend aus. Mit großer Mühe und nur im Zeitlupentempo stand er auf, bevor er Ryamis Blick entschlossen erwiderte. „Aber glaub ja nicht, dass wir uns deswegen geschlagen geben. An uns wirst du dir noch die Zähne ausbeißen.“

„So so. Die Zähne ausbeißen… Bist du dir da sicher?“ hob Ryami skeptisch die Augenbrauen.

„Natürlich!“ rief Kei sofort ohne zu zögern oder nachzudenken. Hätte er letzteres getan, wäre ihm vielleicht aufgefallen, dass Ryami eigentlich alle Trümpfe in der Hand hielt, während Yuki wegen seiner Verletzung die Waffe nur unruhig und Kei sich sogar selbst kaum auf den Beinen halten konnte.

„Das wollen wir doch mal überprüfen.“

Ryamis Blick verfinsterte sich. Irgendetwas schien sie wieder im Schilde zu führen. Doch bevor Kei sich überhaupt fragen konnte, was das war, erfuhr er schon die Antwort.

Wie aus dem Nichts schoss Robin plötzlich auf ihn zu und packte sein Bein. Ryami im Körper des Fuchses verbiss sich nur knapp über dem Knöchel in Keis Fleisch. Sofort entfuhr Kei ein Schmerzensschrei und er sank auf die Knie.

Monatelang hatte er sich mit seinem Carn nicht vertragen und war regelmäßig von dem Fuchs gebissen worden. Doch so fest wie jetzt hatte das Tier dabei nie zugebissen. Sogar durch seine Hose hindurch gruben sich die spitzen Zähne mit Leichtigkeit durch seine Haut und in sein Fleisch.

„Kei!“ Yuki wandte sich sofort erschrocken zu seinem Freund um. Er setzte schon an, diesem zu Hilfe zu kommen, doch Kei hielt ihn auf.

„Halt die Waffe oben! Sie will’s anscheinend nicht anders verstehen.“

„Aber ich kann nicht schießen, wenn Robin in ihrem Körper ist!“

„Ich weiß…“ knurrte Kei mit vor Schmerz zusammengebissenen Zähnen.

Kei hatte sich schon früher so oft aus einem Biss von Robin befreien müssen. Zumindest wusste er, was er zu tun hatte. Ob Ryami sich allerdings so einfach abwimmeln lassen würde, musste sich zeigen. Kei legte eine Hand um die Schnauze des Fuchses. Mit den Fingerspitzen drückte er die Lefzen fest gegen die Zähne des Tieres. Gleichzeitig warfen sich beide Kontrahenten lange, bitterböse Blicke zu. Der Fuchs knurrte bedrohlich.

Dann fühlte Kei endlich, dass Ryami ihren Biss etwas lockerte. Leider freute er sich aber zu früh. Denn kaum, dass sie sein Bein freigegeben hatte, schnellte sie herum und packte stattdessen seinen Unterarm. Erneut schrie Kei vor Schmerz auf. Durch den Stoff seines Kapuzenpullis drangen die scharfen Zähne natürlich noch viel leichter als durch seine Jeans. Bald konnte Kei über den pulsierenden Schmerz seine Finger kaum noch bewegen. Sein ganzer Ärmel färbte sich nach und nach blutrot.

Mutig biss Kei die Zähne zusammen. Zum zweiten Mal legte er seine Hand um die Fuchsschnauze. Diesmal musste er leider die linke Hand nutzen, mit der er deutlich weniger Kraft hatte, um die Lefzen des Tiers gegen seine Zähne zu drücken. Ryami schien nur mäßig beeindruckt. Ihren Biss lockerte sie kein bisschen.
 

Allerdings fiel Kei nun etwas auf. Die Zähne gruben sich mit schwankender Stärke in seinen Arm. Es fühlte sich fast an, als ob der Fuchs zwischendurch immer wieder versuchte, sein Maul zu öffnen und ihn loszulassen, es sich dann aber sofort wieder anders überlegte. Aus den Augenwinkeln warf Kei einen Blick zu Ryamis Körper hinüber.

Natürlich! Ryami musste immer wieder zwischen ihrem eigenen Körper und dem von Robin hin und her tauschen. Und das blitzschnell. Würde sie Robin zu lange in ihrem eigenen Körper bleiben lassen, könnte dieser die Pistole nicht weiterhin auf Kei richten. Würde sie Robin aber wieder in seinen Fuchskörper entlassen, würde der natürlich sofort seinen Zalei loslassen.

Ein leichtes Grinsen legte sich auf Keis Lippen. Er hatte endlich eine Idee.

„Yuki! Du musst auf Ryami schießen. Anders können wir sie nicht außer Gefecht setzen.“

„Was wenn sie einen tödlichen Pfeil abkriegt?“ sorgte sich Yuki dennoch.

„Berufsrisiko des Oberbösewichts! Egal was passiert, es kann auf keinen Fall deine Schuld sein.“ mit seinen Schmerzen nahm auch Keis Wut zu. Langsam glaubte er nicht mehr daran, dass sie Ryami besiegen konnten, ohne sie zu verletzen. Sie konnten nur hoffen, dass die Pistole keine der tödlichen Pfeile abgeben würde.

„D-das stimmt. Meine Schwester werdet ihr wohl nicht mehr anders zur Vernunft bringen können.“ bestätigte Taki heiser und schweren Herzens.

„Aber ich kann nicht schießen, so lange Robin in ihrem Körper steckt.“

Yuki wandte dennoch seine ganze Aufmerksamkeit Ryamis Körper zu. Er legte seine zweite Hand um den Griff der Pistole, um diese zu stabilisieren. Aufgrund seiner verletzten Schulter zitterte sein Arm sonst ein wenig und machte ihm das Zielen schwer.

„Ich sag dir, wenn du schießen sollst.“
 

Einige Augenblicke verstrichen, in denen anscheinend gar nichts passierte.

Robin hatte sich fest in Keis Arm verbissen. Yuki zielte auf Ryami. Ryami zielte auf Kei. Keis Blick war fest auf Robin fixiert. Und Taki beobachtete die Szene mit angehaltenem Atem.

„Jetzt!“ gab Kei endlich das Zeichen.

Nur kurz darauf betätigte Yuki den Abzug. Ein Pfeil sauste durch die Luft und traf Ryami direkt in die Brust. Zunächst anscheinend völlig überrascht sammelte sich Ryami schnell wieder. Sie zog mit der Linken den Pfeil schnell aus ihrer Haut und schleuderte ihn von sich. Gleichzeitig gab sie mit der Rechten einen Schuss auf Kei ab.

Kei hatte damit zum Glück schon gerechnet. Er packte seinen Carn und warf sich zusammen mit diesem zur Seite. Die Kugel verfehlte die beiden so um ein gutes Stück.

Ryami taumelte ein paar Schritte zurück. Welches Mittel der Pfeil auch immer beinhaltet hatte, seine Wirkung schien schon einzusetzen. Die Pistole fiel bald aus Ryamis zitternden Fingern. Mit einer Hand hielt Ryami ihren Bauch, während die andere nervös über ihre Stirn fuhr. Sie stammelte irgendetwas vor sich hin, das Kei nicht verstehen konnte.

Nach Luft ringend lag Kei inzwischen auf dem Boden und hielt Robin im Arm. Mit seiner freien Hand streichelte Kei über den Kopf des Fuchses. Robin genoss seine Streicheleinheiten und kuschelte sich sogar freiwillig noch etwas näher in Keis Arm. Jetzt wo die größte Aufregung überstanden war, wurde sich Kei wieder seiner gewaltigen Müdigkeit bewusst. Seine Lider wurden immer schwerer. Schließlich schaffte Kei es nicht mehr, sie nach dem Blinzeln wieder zu öffnen. An Ort und Stelle hätte er sofort einschlafen können. Nicht einmal der pulsierende Schmerz an seinem Bein und seinem Unterarm hielt ihn noch wach.

Dann spürte Kei plötzlich eine Hand, die sanft über seinen Kopf strich. Mühsam drehte er den Kopf und öffnete gleichzeitig die Augen. Über ihm kniete Yuki. Keis müde Augen erkannten unscharf sein erleichtertes Lächeln im weichen Licht der untergehenden Sonne. Kei liebte dieses Lächeln.

„Ist es vorbei?“ erkundigte Kei sich mit entkräftetem Ton.

Yuki drehte sich kurz zu Ryami um. Ryami war inzwischen auf dem Boden zusammengebrochen. Taki kauerte weinend neben ihrer bewusstlosen Schwester, deren Hand sie hielt. Yukis Blick kehrte gleich wieder zu Kei zurück, als er zu sprechen begann.

„Sieht so aus. Ich hoffe, sie überlebt es.“ seufzte Yuki.

„Ist nicht deine Schuld.“ wiederholte Kei kraftlos seine Worte von vorhin.

Gegen seinen Willen fielen ihm langsam wieder die Augen zu. Auch Keis Hand bewegte sich nur noch langsam und müde über Robins Fell. Kei genoss wie Yukis Finger sanft und beruhigend über seinen Kopf strichen und sich zwischen seine Strähnen gruben. Kei war so müde.
 

„Woher wusstest du, wann sie wieder in ihrem Körper steckt? Und wie hast du das geschafft?“ überlegte Yuki schließlich laut.

„Ich hab gar nichts gemacht.“ grinste Kei ohne die Augen zu öffnen. „Das war Robin.“

„Wie… Robin…?“

„Robin kann selbstständig den Körpertausch rückgängig machen. Erinnerst du dich noch, dass er mich beim Training aus seinem Körper geschmissen hat, als er keine Lust mehr hatte?“ Kei konnte ein müdes Gähnen nicht unterdrücken. „‚Wie‘ wüsste ich auch gern. Es kann nicht dran liegen, dass er stärker ist als der jeweilige Zalei in seinem Körper. Ich bin stärker als er und Ryami erst recht. Robin muss irgendeinen Trick haben.“

„Dann hat der schlaue Fuchs wohl den Abend gerettet.“

Kei gähnte noch einmal schlaftrunken. Inzwischen war er so müde, dass er den Schmerz seiner Bisswunden kaum noch wahrnahm. Er atmete ruhig und flach, während er Yukis Nähe und seine Berührung genoss. Inzwischen ruhte Keis Kopf in Yukis Schoß. Robin hatte sich neben seinen Zalei gekuschelt, als hätte der vorangegangene Kampf auch seine letzten Kraftreserven gefordert.

Ganz langsam glitt Kei hinüber ins Land der Träume, bevor ihn seine Müdigkeit endgültig übermannte. Als einige Minuten später endlich Polizei und Notarzt eintrafen, war er schon fest eingeschlafen.
 

****

Hi!
 

Wow, das war eine schwere Geburt, was? Eigentlich war gar nicht beabsichtigt, den großen Showdown so ausufern zu lassen. Aber irgendwie wollte einfach keine Seite nachgeben… Tse tse… XD

Ein letztes Kapitel folgt nächste Woche noch. Dann ist „Snowdrops and Chocolate“ mit der wunderschönen runden Zahl von 30 Kapiteln abgeschlossen. Ich hoffe, wir sehen uns nächste Woche noch einmal wieder. ^^

Frühlingserwachen

Kapitel 30 - Frühlingserwachen
 

Der Gasthof „Zum alten Ahorn“ war eine kleine Gaststätte in einem ebenso kleinen Dorf, dessen Name vermutlich niemandem etwas sagte, der nicht selbst zu seinen etwa 400 Einwohnern gehörte. Jeder dieser Einwohner schien jeden anderen zu kennen. Neuigkeiten brauchten nur wenige Stunden, um sich vom einen Ende des Dorfes bis zum anderen herum zu sprechen. Böse Zungen mochten wohl behaupten, das Dorf war so ruhig, dass seine Einwohner nichts Besseres zu tun hatten, als den ganzen Tag zu tratschen und zu klatschen. In gewisser Weise war das wohl gar nicht so weit von der Realität entfernt, denn das Dorf zeichnete sich in erster Linie durch die Besonderheit aus, dass es sich durch keine Besonderheiten auszeichnete. Es war einfach ein sehr, sehr ruhiges, kleines Dorf, in dem selten etwas Spektakuläres passierte. Fremde verirrten sich so gut wie nie dorthin. Dennoch hielt der Gasthof „Zum alten Ahorn“ optimistisch fünf Fremdenzimmer zur Vermietung bereit.

Der Gasthof befand sich an der sogenannten Hauptstraße, die in größeren Städten wohl bestenfalls als Einfahrt hätte dienen können, etwa 100 Meter vom Marktplatz im Zentrum des Dorfes entfernt. Während im ersten Stock besagte Fremdenzimmer, sowie im zweiten Stock eine kleine Wohnung der Eigentümerfamilie zu finden waren, lag im Erdgeschoss eine gemütliche Gaststätte, in der sich die Dorfbewohner abends gerne zusammenfanden. Der Gasthof befand sich schon seit etwa vier oder fünf Generationen in der Hand der Familie Hisui, wobei Wirt und Köchin guter Hoffnung waren, den Betrieb eines Tages an ihre Töchter weitergeben zu können. Die kleine Taki war mit ihren 6 Jahren natürlich noch zu jung, aber die 12-jährige Ryami half bereits gelegentlich als Kellnerin aus, wenn sie nicht auf ihre kleine Schwester aufpasste.

Sie war eine zuverlässige und fleißige Helferin, die beim Balancieren der Tabletts großes Geschick bewies. So unterhielt sie gleichzeitig die Gäste auch noch mit Balance- und Jonglagekunststücken, gelegentlich tanzte sie sogar zur Musik. Die größte Erheiterung schaffte Ryami, wenn sie in einer Mischung aus Pantomime und Clownerei die hauseigenen Katzen – die Familie hielt drei – parodierte. Bis dato hatten die Eltern das Talent ihrer Tochter noch mit Amüsement und Stolz beobachtet, jedoch ihren Wunsch, später Artistin werden zu wollen, eher belächelt. Applaudiert hatte dafür die kleine Taki umso mehr. Ryami war sowohl ihre geliebte große Schwester, als auch ihr großes Vorbild. Taki eiferte ihr bald nicht nur bei den Schularbeiten nach, sondern auch bei den Tanzeinlagen.

Man konnte sagen, die beiden Mädchen wuchsen glücklich bei liebenden Eltern in einer intakten Familie auf, die in einem idyllischen und ruhigen Dorf lebte.
 

Das änderte sich jedoch schlagartig am selben Abend, an dem Ryami schmerzlich herausfand, was ein „Zalei“ war.

Ryami spielte wie schon so oft mit den Katzen, ihr Liebling war die schwarze Aurora, die ihr vor einigen Monaten zugelaufen war. Später konnte Ryami selbst nicht mehr sagen, was genau geschehen war oder wie. Sie hatte, wie sie es oft tat, Katze gespielt und war plötzlich selbst eine gewesen. Die nackte Panik hatte das Mädchen ergriffen. Inzwischen war sein Körper durch die Gaststätte getobt wie vom Leibhaftigen besessen. Und genau so erklärten sich die Eltern und die anwesenden Gäste das Geschehen, als Ryami wenig später entkräftet, orientierungslos, verletzt und verwirrt wieder zur Besinnung kam. Sie waren überzeugt, ein Dämon hätte vom Körper des Mädchens Besitz ergriffen. Es dauerte nicht lang, bis sich das Gerücht im ganzen Dorf verbreitete, und mit ihm Angst und Sorge.

Um Ryami ebenso wie den Rest des Dorfes vor dem Dämon zu schützen, wurde das Mädchen völlig isoliert. Aus Schutz, aber vor allem auch zur Vertuschung. Die Eltern fürchteten um ihren Ruf und den ihres Gasthofs, sollte der Wahnsinn ihrer Tochter bekannt werden. Sie zogen es vor zu erzählen, ihre Tochter wäre an jenem Abend gestorben.

Ryami durfte ihr Zimmer nicht mehr verlassen, durfte niemanden mehr sehen und am besten auch nicht ans Fenster gehen. Nur ihre Mutter besuchte sie dreimal täglich, um ihr zu essen und zu trinken zu bringen. In regelmäßigen Abständen kam außerdem ein Exorzist zu ihr, der das Mädchen mit allerlei merkwürdigen Ritualen quälte, an die Ryami später mit Ekel, Hass und Abscheu zurückdachte.

Was die Eltern nicht wussten war, dass Taki immer wieder heimlich den Schlüssel zu Ryamis Zimmer stahl, um ihre große Schwester zu besuchen. Taki liebte ihre Schwester und konnte trotz aller Mahnungen ihrer Eltern nichts „Böses“ in ihr sehen. Gleichzeitig war Taki wohl die einzige, die Ryami Halt gab und sie daran hinderte, in ihrem engen Zimmer tatsächlich den Verstand zu verlieren.

Entkommen konnte Ryami ihrem Gefängnis nur von Zeit zu Zeit durch ihre Katze Aurora. Es dauerte lange, bis Ryami sich die Trance und den Körpertausch halbwegs beigebracht hatte. Aber sie hatte Zeit, sehr viel Zeit in ihrer Einsamkeit, und ohnehin keine andere Beschäftigung. Dennoch ging viel schief. Ein paarmal schaffte sie die Rückkehr in ihren eigenen Körper nicht wie geplant, wobei die Katze inzwischen in diesem tobte. Das waren die Tage, an denen die Eltern die Rückkehr des Dämons als bewiesen sahen und den Exorzisten riefen.
 

Ryamis Martyrium dauerte weit über ein Jahr. Sie stand kurz vor ihrem 14. Geburtstag, als es zum ersten Mal nach Ewigkeiten einen Fremden in das Dorf verschlug. Ursprünglich nur auf der Durchreise, verbrachte er spontan mehrere Nächte in einem der Gästezimmer im Gasthof „Zum alten Ahorn“. Im Stall hinter dem Haus stellte er einen hochgewachsenen Rothirsch mit einem beeindruckenden Geweih unter. Der Fremde hatte seinen Aufenthalt verlängert, nachdem ihm an seinem ersten Tag im Dorf merkwürdige Gerüchte zu Ohren gekommen waren. Die Tochter der Wirtsleute sollte von einem Dämon besessen sein, der sie im Wahn schreien, kratzen, beißen und knurren ließ wie ein wildes Tier. Natürlich leugneten die Wirtsleute auf seine Nachfrage hin alles. Selbst als er ihnen erklärt hatte, was ein Zalei war und dass er vermutete, ihre Tochter könnte wie er über dieses Talent verfügen, blieben sie stur. Dafür weckten seine Erzählungen das Interesse der kleinen Taki, die ihn mit Fragen bestürmte, sobald er im Gasthof Platz genommen hatte. Es dauerte jedoch noch zwei weitere Tage, bis Taki genug Vertrauen zu dem Fremden gefasst hatte, um ihn zu Ryamis Zimmer zu führen.

Ryami kam der Fremde mit dem exotisch hellen Haar vor wie ein strahlender Engel, den der Himmel geschickt hatte, um sie aus ihrem Gefängnis zu befreien. Eine weiche Aura aus warmem Sonnenlicht umgab seine Figur, als er die Tür zu Ryamis düsterem Zimmer aufschloss. Schüchtern, aber erleichtert strahlend stand Taki an der Seite des Fremden. Ryami wurde seine Zaleischülerin und verließ das Dorf zusammen mit ihrer Katze Aurora am Tag nach ihrer Befreiung an seiner Seite.

Ryami, die ihre Eltern trotz allem immer noch geliebt hatte, war sichtlich entsetzt, wie leicht diesen die Trennung fiel. Mit nur einem einzigen Wort entließen sie ihre Tochter für immer aus ihrem Leben. Ryamis Herz zerbrach förmlich, als ihre Mutter sich sogar weigerte, ihre Tochter zum Abschied noch einmal in den Arm zu nehmen. Ryami konnte das nicht verstehen.

War sie böse? War sie gefährlich? War sie eklig? War sie beängstigend? Waren Zalei so? War sie anders als normale Menschen? War sie... kein Mensch mehr?
 

Wahre Sturzbäche weinte dagegen Taki. Sie wollte ihre geliebte Schwester nicht gehen lassen. An keinem Menschen auf der Welt hing sie mehr. Aber die Eltern hielten die kleine Schwester sogar zurück, als sie Ryami zum Abschied drücken wollte. In diesem Moment verachtete Taki ihre Eltern vielleicht genauso sehr wie diese Ryami verachteten.

So mussten die Eltern am nächsten Morgen feststellen, dass sie nicht nur eine Tochter verloren hatten, sondern beide. Taki hatte sich in der Nacht aus dem Haus geschlichen, um Ryami und dem Fremden zu folgen.

Beide Schwestern hatten sich seitdem nie wieder getrennt. Der Fremde nahm beide Mädchen bei sich auf und zog sie groß. Ryami bestand mit 17 die Zaleiprüfung und schloss nur wenige Monate später die Schule ab. Sie besuchte eine Artistenschule, wurde Akrobatin und Model. Außerdem wurde sie eine der besten Zalei des Landes und seit ihrem 20. Lebensjahr sogar Mitglied im Rat der Zalei.

Ryami gründete in dieser Funktion den Fairy Tales-Vergnügungspark, um den Zalei einen Arbeitsplatz und eine Heimat zu geben, die keiner gewöhnlichen Arbeit nachgehen und die mit ihren Carn nicht in einer normalen Wohnung in der Stadt leben konnten. Kein Zalei sollte wegen seiner Gabe ausgestoßen, schikaniert oder verachtet werden. Jeder Zalei sollte einen Arbeitsplatz, Freunde, eine Familie und vor allem ein Zuhause haben. Jeder Zalei sollte ein glückliches Leben führen können. Das Motto des Parks symbolisierte Ryamis Schicksal, in dem ein edler Ritter sie auf märchenhafte Weise aus ihrer Not gerettet hatte und sie ihren Kindheitstraum verwirklichen konnte.

Taki blieb dabei stets an ihrer Seite. Bereits neben der Schule verdiente sich die jüngere Schwester ein Taschengeld durch einen Nebenjob als Artistin, und beabsichtigte, dieses Hobby nach ihrem Schulabschluss wie ihre Schwester zum Beruf zu machen.

Die beiden Mädchen hatten ein neues Leben in der Stadt begonnen. Keine von beiden war jemals wieder in ihr Heimatdorf zurückgekehrt.
 

Fast zehn Jahre waren seither ins Land gegangen.

Heute befand sich Ryami wieder in einem unpersönlichen Zimmer.

Welcher Pfeil Ryami getroffen hatte, konnte leider auch nach mehreren Monaten niemand mit letzter Gewissheit sagen.

Sie lebte noch, aber lag seit dem Zwischenfall im Ratsgebäude im Krankenhaus. Sie war ins Koma gefallen und die Ärzte machten Ryamis kleiner Schwester Taki kaum Hoffnungen, dass sich ihr Zustand je wieder bessern würde. Letztendlich wusste niemand im Krankenhaus, was ihr fehlte und entsprechend auch nicht, welche Therapie sie versuchen konnten.

Dennoch besuchte Taki ihre Schwester regelmäßig, saß an ihrem Krankenbett und sprach mit ihr als ob sie sie hören konnte. Auch nach Wochen gab Taki die Hoffnung nicht auf, dass Ryami irgendwann doch die Augen aufschlagen würde.

Zu Hause kümmerte sich Taki vorbildlich um Ryamis Katze Aurora. Diese erfreute sich wieder bester Gesundheit, seit sie sich von ihren Verletzungen erholt hatte. Und das wiederum stärkte Takis Glauben daran, dass ihre Schwester überleben würde.

Ryamis Organisation K.R.O.S.S. war aufgelöst und Ermittlungsverfahren gegen die führenden Mitglieder eingeleitet worden. Leider wurden jedoch bei der Durchsuchung des Geländes und der Auswertung aller Rechner keine Informationen gefunden, die bei Ryamis Behandlung hätten hilfreich sein können. Auch nachträglich bewiesen K.R.O.S.S. ihr Talent im Vertuschen und Verschlüsseln von Informationen. Alle Forschungsergebnisse waren mit verschiedenen Codes gesichert, von denen selbst die verhafteten Suzumaru und Obscura nur einen Bruchteil entschlüsseln konnten. Nach ihren Aussagen kannte niemand außer Ryami selbst alle Codes und damit alle Ziele, Mittel und Forschungsergebnisse von K.R.O.S.S..

Die einzige neue Erkenntnis der Ermittlungen war, wofür die Abkürzung „K.R.O.S.S.“ eigentlich stand. Es waren ganz simpel die Initialen der fünf Gründungsmitglieder.

Auch Taki und Kiku waren wegen ihrer Zusammenarbeit mit K.R.O.S.S. vernommen, jedoch bald gegen geringe Geldstrafen wieder auf freien Fuß gesetzt worden. Die beiden Mädchen blieben beste Freundinnen und unterstützten sich gegenseitig im Umgang mit ihrem schlechten Gewissen.
 

Als nach einigen Monaten der Frühling seine sonnigsten Tage, höchsten Temperaturen und größte Blumenpracht erreicht hatte, hatte sich fast wieder Alltag ins Leben aller Betroffenen eingestellt. Ihre Gedanken wurden kaum noch von den Geschehnissen im Rat beherrscht und die meisten Wunden waren verheilt. Man konnte wohl guten Gewissens sagen ‚alles neu macht der Mai‘.
 

Der Haushaltsplan meinte es jedoch heute schlecht mit der Wohngemeinschaft. Nicht nur, dass Kiku die Wohnung aufräumen und putzen musste, Kei war auch noch mit Kochen dran.

Kei lebte immer noch in der WG mit Yuki, Ryu und Kiku. Er war auch immer noch Zaleischüler. Auch wenn er, ebenso wie sein Fuchs Robin, inzwischen große Fortschritte gemacht hatte, hielten es alle Beteiligten für die beste Lösung, Kei noch nicht die Prüfung ablegen zu lassen. So war Kei weiterhin Yukis Schüler geblieben.

Leider sah es auch nach einigen Monaten ganz danach aus, dass Yuki seine Fähigkeit zum Körpertausch endgültig verloren hatte. Die Wirkung des Mittels von K.R.O.S.S. ließ nicht nach. Von Zeit zu Zeit ertappte Kei Yuki noch in nachdenklicher bis trauriger Stimmung, meistens kam Yuki jedoch mittlerweile ganz gut mit dieser Entwicklung zurecht.

Trotz des Verlusts von Yukis Kraft hatte der Rat angesichts der Tatsache, dass Keis Ausbildung schon relativ weit fortgeschritten war, zugestimmt, dass Yuki ihn weiter ausbilden durfte. So hatte sich am Leben in der WG im Prinzip rein gar nichts verändert. Der Alltag hatte alle wieder fest im Griff.

Beim Aufräumen wurde Kiku, die ohnehin schon eine rechte Chaotin war, üblicherweise begleitet von ihrem Äffchen Jack. Das wiederum führte nun zwangsläufig zu heillosem Chaos. Deshalb wurden nach Kiku beim Aufräumen in der Regel immer Ryu oder Yuki im Haushaltsplan eingeteilt, um die schlimmsten Schäden wieder zu beseitigen.

Heute hielt sich das Chaos ausnahmsweise einigermaßen in Grenzen. Denn Kiku wurde ihrer besten Freundin Taki unterstützt, die zu Besuch gekommen war.
 

Während die beiden Mädchen im ersten Stock zu Gange waren, hatte sich Kei an den Herd zurückgezogen. Wenn der Haushaltsplan ein Gericht von Kei ankündigte, konnte sich die WG gewöhnlich auf Kalte Platte, Gemüsepfanne oder Pasta einstellen. Nicht, dass Kei sich beim Kochen keine Mühe geben würde oder so, er konnte es nur einfach nicht. Zu seinem Repertoire gehörten inzwischen aber immerhin etwa fünf Gerichte, mit denen er weder die Küche abfackelte, noch seine Mitbewohner vergiftete.

Kei stand also vor dem Herd und beobachtete wie das Nudelwasser und die Tomatensoße um die Wette kochten. Um den Soßentopf hatte sich schon ein schöner roter Ring von Soßenspritzern gebildet, was Kei zur Überlegung veranlasste, ob er die Temperatur nicht doch etwas herunter drehen sollte.

Im selben Moment, in dem Kei den Knopf zurückdrehte und nach dem Kochlöffel griff, legte sich ein Paar Hände auf seine Hüften. Noch vor ein paar Monaten hätte Kei wahrscheinlich der Versuchung widerstehen müssen, sofort mit dem Kochlöffel nach diesen zu schlagen wie nach lästigen Schmeißfliegen. Aber heute nicht mehr. Heute rührte Kei unbeeindruckt in der Soße herum und möglicherweise, vielleicht lehnte er sich sogar unter Umständen ein klitzekleines Stückchen zurück. Neben seinem Ohr hörte er mit einem amüsierten Unterton Yukis Stimme.

„Nudeln mit Tomatensoße?“

„Wenn du lachst, kannst du gleich Minuit fragen, ob sie dir ein paar von ihren Mehlwürmern abgibt.“ schmollte Kei.

„Igitt.“ lachte Yuki. „Deine Nudeln sind bestimmt lecker wie immer.“

Yukis Hände wanderten um Keis Taille herum und verschränkten sich vor Keis Unterbauch. Mit sanftem Druck zogen sie Kei nach hinten, bis dessen Schultern gegen Yukis Brust trafen. Gleichzeitig drückte Yuki immer noch lächelnd einen Kuss auf Keis Hinterkopf. Keis linke Hand legte sich über Yukis, wo sich ihre Finger mit einander verhakten, während seine rechte Hand weiter in der Soße herumrührte.
 

Nur fürs Protokoll: jawohl, für Kei war es inzwischen ebenso selbstverständlich geworden, sich von Yuki umarmen und küssen zu lassen, wie es für Yuki selbstverständlich geworden war, Kei umarmen und küssen zu dürfen. Manchmal duldete Kei so etwas sogar auch vor Zeugen.

Diese Entscheidung war ihm irgendwie abgenommen worden, beziehungsweise er hatte sie sich wohl selbst abgenommen. Als Kei am nächsten Morgen – ja, wenn er so lange geschlafen hatte, zählte auch 16:30 Uhr noch als Morgen – nach ihrem Showdown-Besuch im Rat aufgewacht war, hatte anscheinend irgendwie plötzlich jeder gewusst, dass er und Yuki ein Paar waren.

Dunkel erinnerte sich Kei an seine Worte und Gesten, die wohl zu diesem Verdacht geführt hatten. Na ja, er hatte eben unheimliche Angst um Yuki gehabt, da hatte er doch nicht auf jedes seiner Worte achten können… oder auf jede seiner Gesten. Wer es jedenfalls im Ratsgebäude selbst noch nicht mitbekommen hatte, dem hatte Kiku es in den folgenden Tagen noch unter die Nase gerieben. Sogar bis zu seinem Freund Atari hatte es sich herumgesprochen, was Kei nun wirklich ein absolutes Rätsel war.

So war die Katze jedenfalls aus dem Sack, so dass Kei und Yuki ihre Beziehung nicht mehr leugnen oder verstecken brauchten… oder in Keis Fall: konnten.
 

Es war sogar irgendwie normal für Kei geworden, diese drei berüchtigten Wörter zu Yuki zu sagen… mehr oder weniger. Ein bisschen schwer fiel es ihm wohl schon noch, aber aussprechen konnte er sie zumindest. Meistens nur ganz leise, wenn sie allein waren, aber immerhin.

Kei konnte sich aber auch noch sehr gut daran erinnern, wie er es zum ersten Mal draußen in der Öffentlichkeit gesagt hatte. Das war einige Wochen nach dieser Sache im Rat gewesen. Keis Verletzungen waren schon zu Narben verheilt, Yuki hatte aber seinen Arm noch in einer Schlinge getragen. Der Frühling hatte sich langsam eingestellt und die ersten warmen Sonnenstrahlen hatten die letzten Schneereste weggeschmolzen. Yuki hatte Kei begleitet, als dieser mit Robin Gassi gegangen war. Über ein paar der ersten Schneeglöckchen des Jahres hatte Kei dann ganz geradeheraus, mit erstaunlich sicherer Stimme und nur minimalem Rotton auf den Wangen gesagt „Ich liebe dich.“.

Und bevor jetzt noch irgendjemand weiterfragte… Ja, auch DEN Schritt war Kei inzwischen mit Yuki gegangen. Gut, es hatte auch nach ihrem wenn-man-so-will-Coming-out noch eine ganze Weile gedauert, bis Kei bereit gewesen war, auch mehr als Umarmungen und Küsse in Erwägung zu ziehen. Yuki hatte eine große Menge Geduld mit Kei beweisen müssen.

Aber er hatte anscheinend nicht das geringste Problem damit gehabt, Kei alle Zeit der Welt zu lassen. Allein die Tatsache, dass Kei sich für ihn entschieden hatte, machte Yuki schon zum glücklichsten Menschen auf der ganzen Welt. Jeder weitere Schritt, den Kei zuließ, war nur noch das Sahnehäubchen, die Schokoladenglasur, der Puderzucker oder die Zuckerstreusel oben drauf. Und letztendlich hatte Yuki irgendwann ohnehin das ganze Törtchen mit Sahnehäubchen, Schokoladenglasur, Puderzucker und Zuckerstreuseln serviert bekommen… Im übertragenen Sinne natürlich, wir sprechen hier nicht von irgendwelchen Ticks, ja?!
 

„Die Soße ist heute ein bisschen anderes. Ich hab noch einen Schuss Balsamico reingetan.“ überlegte Kei selbst zweifelnd.

Er hatte im Internet irgendwo ein Rezept mit Balsamico in der Nudelsoße gelesen und sich vorgenommen, das einmal auszuprobieren. Leider hatte er sich weder die Internetadresse, noch das Rezept oder wenigstens die Mengenangaben gemerkt. Es war also letztendlich doch ein Experiment. Yukis Blick schweifte über die Flaschen, Dosen und Gewürze auf dem Tresen. Kei hatte zumindest nur Essbares verwendet. Dann konnte das Ergebnis eigentlich nicht giftig sein, oder?

„Hast du die Soße probiert?“

„Ja, schon. Aber Kiku behauptet, ich hätte keine Geschmacksnerven.“ grummelte Kei.

Er zog den Kochlöffel aus der Soße, klopfte ein paarmal gegen den Rand des Topfs, um die überschüssigen Tropfen zurückfallen zu lassen. Dann streifte Kei mit dem Finger eine gute Menge Soße vom Kochlöffel, bevor er diesen neben das Kochfeld auf den Tresen legte. In Yukis Umarmung drehte er sich um und hielt seinen Finger direkt vor Yukis Lippen. Erwartungsvoll sah er mit großen Augen zu Yuki auf.

Nach einem kurzen, fragenden Blick grinste Yuki kurz und nahm Keis Finger dann in den Mund, um die Soße von ihm zu lecken. Kei fühlte wie Yukis raue Zunge um seinen Finger tanzte. Und außerdem hatte Kei den dringenden Verdacht, dass Yuki sich absichtlich viel Zeit ließ und dass eigentlich schon lange gar kein Tröpfchen Soße mehr an seinem Finger kleben konnte… Na ja…

„Und?“ erkundigte Kei sich erwartungsvoll, als er seinen Finger endlich wieder zurückbekam.

„Schmeckt gut.“ nickte Yuki lächelnd. „Willst du auch probieren?“

Kei grinste erleichtert. Er wandte den Kopf zur Seite und wollte nach dem Kochlöffel greifen. Doch da legte sich Yukis rechte Hand an sein Kinn und zwang Kei sanft, sich wieder zu Yuki umzudrehen. Im nächsten Augenblick spürte Kei weich und warm Yukis Lippen auf den seinen.

Er ließ den Kochlöffel Kochlöffel sein und legte beide Arme um Yukis Schultern, um seinen Freund noch näher an sich heranzuziehen. Auch Yukis linke Hand, die auf Keis Rücken ruhte, zog Kei noch fester in ihre Umarmung. Mit einem kaum hörbaren „Mmh“ signalisierte Kei, dass er eben mit dem Rücken gegen den Tresen gestoßen war.

Gleichzeitig wanderten die Fingerspitzen von Yukis rechter Hand so vorsichtig von Keis Kinn über seine Wange, dass sie deren Haut kaum zu berühren schienen. Diese hauchzarte Berührung, die kaum eine war, weckte in Kei den Wunsch nach mehr. Genauso hoffe Kei, dass ihr beinahe unschuldiger Kuss noch viel mehr Temperament entwickeln würde. Nicht dass Kei nicht genossen hätte, wie Yukis weiche Lippen fast behutsam die seinen trafen. Selbstverständlich genoss er jeden einzelnen Moment ihrer Berührung. Aber Kei war bewusst, dass sie ihn absichtlich nur ahnen ließen. Yuki sollte inzwischen wissen, dass Kei nicht übervorsichtig behandelt werden wollte wie eine zerbrechliche Porzellanpuppe. Aber Yuki wusste anscheinend ganz genau wie er Kei verführen konnte.

Keis Hand wanderte von Yukis Schulter über seinen Hals bis zu seinem Nacken. Während seine Finger gedankenverloren mit den weichen Haarsträhnen spielten, zog er ihn fast ohne Kraftaufwand noch näher zu sich herunter.

Auch Yukis Hand hatte sich wieder auf Wanderschaft begeben. Von Keis Kinn strich sie federleicht über seinen Hals. Bei dieser verführerischen Geste konnte Kei ein leises Stöhnen nicht unterdrücken, das er in ihren Kuss hauchte. Er fühlte wie sich eine Gänsehaut erst über seine Arme, dann über seinen ganzen Körper ausbreitete.

Gleichzeitig bemerkte Kei, dass sich Yukis Lippen langsam von einander lösten. Ihm folgend gewährte er nur einen Augenblick später seiner Zunge Einlass. Kaum dass sie der seinen begegnet war, begannen sie ihren ungestümen Tanz. Ihr Kuss wurde feuriger.

Durch und durch atemlos unterbrachen sie ihren Kuss nach einer gefühlten Ewigkeit endlich. Kei atmete ein paarmal hörbar aus und ein, und auch Yuki bekam erst nach einem Moment wieder genug Luft.
 

„Und, schmeckt dir die Soße auch?“ lächelte Yuki.

„Soße…? Hab nicht drauf geachtet. Lass mich nochmal probieren.“ grinste Kei frech zurück.

Kei seinen Atem noch nicht ganz wiedergefunden, als Yukis Lippen die seinen erneut suchten. Diesmal allerdings trafen sie sich nur kurz. Herausfordernd kurz. Und Yukis Plan ging auf.

Immer noch atemlos kam Kei ihm entgegen, bat um einen weiteren Kuss. Und einen weiteren. Auch im Folgenden blieb es bei zärtlichen, aber kurzen Berührungen ihrer Lippen. Bevor Kei sich fragen konnte, was Yuki jetzt wieder im Schilde führte, übernahm dieser wieder die Führung. Er setzte einen weiteren, hauchzarten Kuss nicht auf Keis Mund, sondern daneben. Dann einen darunter. Dann einen auf Keis Kinn. Dann folgte er wie in Zeitlupe mit einer Reihe derselben kleinen Küssen Keis Kiefer entlang bis unter sein Ohr. Von dort wanderte Yukis Mund ein wenig tiefer an Keis Hals.

Schon als Yukis Lippen seine Haut dort nur minimal in ihrem Kuss berührten, spürte Kei dasselbe Kribbeln in seinem Körper wie schon vorhin. Von dem plötzlichen Gefühl überwältigt, stieß er einen scharfen Atemzug aus. Noch einmal küsste Yuki ihn an derselben Stelle, länger diesmal. Keis Finger gruben sich indes in den Stoff von Yukis Hemd. Kei spürte, dass Yuki an seiner Haut knabberte und saugte. Für den Bruchteil einer Sekunde überlegte Kei, ob Yuki nicht vielleicht ein Vampir war. Immerhin hatte er sogar eine Fledermaus…

Der Gedanke starb in einem erneuten Stöhnen. Yuki schien eine besonders empfindliche Stelle an Keis Körper entdeckt zu haben. Kei atmete laut ein. Seine Hände suchten nach Halt und fanden ihn im Stoff über Yukis Schultern. Allmählich fühlte Kei, wie das Kribbeln in seinem Bauch immer stärker wurde.

Schließlich trennte sich Keis Hand von Yukis Schulter und wanderte hinauf bis hinter dessen Nacken. Mit einer sanften Geste bedeutete sie Yuki, sich von seinem Nacken zu lösen. Im nächsten Augenblick konnte Kei wieder direkt in Yukis Augen sehen. Ihr Blickkontakt währte allerdings nicht lang, bevor Kei Yuki zu sich zog und seine Lippen mit seinen eigenen empfing. Diesmal war es auch Kei, der ihren Kuss vertiefte und Yukis Zunge mit der seinen zum nächsten Tanz aufforderte. Ihr Kuss schien gar nicht mehr enden zu wollen und doch war er hinterher zu schnell verflogen.

Die beiden Küssenden trennten sich ohnehin erst im allerletzten Moment vor ihrem möglichen Erstickungstod. Und auch dabei brachten sie gerade genug Abstand zwischen ihre Gesichter, um atmen zu können. Yuki war ihm dabei immer noch so nah, dass Kei sich fast einbildete, die Wärme seiner Lippen immer noch auf den seinen spüren zu können. Es war gerade so, als hätten sie ihren Kuss gar nicht unterbrochen.

„Hab ich dir eigentlich schon mal gesagt, dass ich dich liebe?“ lächelte Yuki atemlos.

„Und ich dir?“ grinste Kei genauso atemlos zurück.

„Ich liebe dich, Kei.“

„Ich liebe dich auch, Yuki.“

Beide schienen sich einen Wettkampf zu liefern, wer glücklicher strahlen konnte. Sie sahen einander tief in die Augen und konnten nur an diesen das strahlende Lächeln des anderen ablesen. Kei sah ein Funkeln in Yukis Augen, das jedem Stern vor Neid erblassen lassen konnte, und auch die niedlichen, kleinen Lachfalten unter ihnen.
 

„Hmh-Hmh.“

ein lautes Räuspern aus Richtung der Tür tötete die romantische Stimmung mit einem Schlag. Sofort hielten Kei und Yuki wie zu Salzsäulen erstarrt inne. An Yukis Schulter vorbei wanderte nur Keis Blick zur Tür hinüber, ohne dass er seinen Kopf aus seiner Starre lösen konnte.

Kiku stand mit trotzigem Ausdruck vor der Tür, die ins Esszimmer führte. Sie hatte die Hände in die Hüften gestützt und tippte mit einem Fuß ungeduldig auf den Boden.

„Ist ja mal wieder typisch! Ihr lasst uns auf das Abendessen warten, während ihr hier in aller Seelenruhe esst.“

„Wir essen doch gar nicht.“ verteidigte sich Kei sofort.

„Quatsch! Ich hab genau gesehen, dass Yuki dich grad vernaschen wollte.“

Kiku hob eine Hand und winkte mit drohend erhobenem Zeigefinger. Während Keis Wangen ein gesundes Rot annahmen, hörte er neben sich Yuki leise lachen. Einerseits wollte er dafür sauer auf Yuki sein, aber andererseits liebte er Yukis Lachen und… Pfeif drauf! Kei lachte einfach mit.
 

An diesem Abend kehrte Ryu vom Ratsgebäude aus nicht direkt nach Hause zurück, sondern machte noch einen Umweg. Ihm waren ein paar Beschwerden zu Ohren gekommen, denen er nachgehen wollte.

Nachdem dem Rat der Zalei die Wahrheit über Meister Adoys Machenschaften bekannt geworden waren, hatte sich vieles verändert. Der ersten großen Enthüllungs-Sitzung war bald eine zweite gefolgt, in der Ryu und Lan nicht nur ihre Vorwürfe wiederholt und erweitert hatten, sondern auch Pierre noch weitere Punkte angeführt und alles mit Beweisen unterlegt hatte. Seitdem wurde in fast jeder neuen Sitzung des Rates weiteres, neues Material zu Tage gefördert.

Als erste Handlung nach der Enthüllung hatte der Rat Meister Adoy unter Arrest gestellt. Der alte Meister fristete sein Dasein nun in einem Terrarium innerhalb der Anlagen des Rates. Schnappi war in ein Altersheim eingeliefert worden, wo sie Gerüchten zufolge mit ihrer Langsamkeit und ihrem ewigen Schweigen die Pfleger langsam in den Wahnsinn trieb.

Mit seinem zweiten Beschluss hatte der Rat den Ausschluss von Ryu und Lan zurückgenommen. Ryu war seitdem fester denn je mit dem Rat verbunden, denn er war in derselben Sitzung als Meister Adoys Nachfolger an die Spitze des Rates der Zalei gewählt worden. Dieser Aufgabe kam er sehr gewissenhaft nach.

Lan dagegen hatte auf seine Reaktivierung mit einem Entlassungsgesuch reagiert. Nicht nur innerhalb des Rates war er damit auf völliges Unverständnis bis hin zu großem Entsetzen gestoßen. Immerhin hatte der Rat mehrfach betont, dass Lans verlorenes Talent seiner Ratsmitgliedschaft nicht im Wege stand.

Anders als bei Yuki hatte Ryami nicht einfach nur Lans telepathische Pforte versiegelt, sondern komplett seine Zalei-Fähigkeiten gestohlen. So hatte es auch wesentlich länger als bei Yuki gedauert, bis Lan wieder auf die Beine gekommen war. Tage und Wochen, die Pierre an seiner Seite verbracht hatte. Danach hatte Lan nicht nur die Fähigkeit zum Körpertausch verloren, sondern jede Verbindung zu seinem Pferd Onyx, das damit nicht viel mehr war als ein überdurchschnittlich wichtiges Haustier. Ob Lans Leben dennoch noch mit Onyx verbunden war, wusste zwar niemand, allerdings wollte es so bald auch niemand herausfinden.

Warum er den Rat verlassen wollte, hatte Lan ganz einfach begründet: weil er seine Aufgabe als erfüllt ansah. Er war vor drei Jahren nur deshalb Ratsmitglied geworden, weil er Adoys Machenschaften aufdecken wollte. Nachdem das nun erledigt war, hatte Lan einfach keine Lust mehr auf dieses pseudoparlamentarische Theater. Er hatte sich ohnehin nie besonders für Regeln und „Politik“ interessiert.

Allerdings hatte Ryu ihn nach tagelangen Vorträgen doch noch überreden können, sein Wissen und seine Fähigkeiten zumindest auf eine andere Weise in den Dienst der Zalei-Gemeinschaft zu stellen. Das wiederum hatte nun genau mit den Beschwerden zu tun, denen Ryu an diesem Abend nachgehen wollte.
 

Ryu drückte den Klingelknopf und musste nicht lange warten, bis ihm die Tür geöffnet wurde.

„Ryu, mon amour!“ strahlte ihn Pierre an.

„Hallo. Ist Lan bei dir?“ fragte Ryu pro forma und wusste dabei genau, dass es so sein musste.

„Nein!“ rief eine Stimme aus dem Wohnzimmer, die nur Lan gehören konnte.

Pierre grinste und hob unschuldig die Schultern. Mit einer Geste bedeutete er Ryu einzutreten und schloss die Tür hinter ihm. Ryu konnte nur immer wieder über Pierres Wohnung staunen. Nicht nur auf sein eigenes Äußeres legte der Franzose großen Wert, sondern auch in seiner Wohnung musste jedes noch so kleine Tischtuch perfekt auf das gesamte Interieur abgestimmt sein. Alles war unheimlich stilvoll. Pierre vereinte dabei sein Faible für antike Möbel nahezu perfekt mit einer Sammelleidenschaft für glitzernde Glasobjekte und große schwarz/weiß-Fotografien. Am erstaunlichsten fand Ryu dabei allerdings, dass jedes Zimmer trotzdem sehr wohnlich war und nicht im Geringsten wie ein Museum wirkte.

Pierre warf seinen kunstvoll geflochtenen Zopf hinter seine Schultern und führte Ryu durch den Gang ins Wohnzimmer, indem er mit seinen Leofellpantoffeln über den Teppich schlurfte. Im Gang lag Pierres Kobra Antoinette. Vermutlich schaffte es auch nur Pierre, mit einer giftigen Riesenschlange im achten Stock eines Hochhauses mitten in der Innenstadt zu wohnen und niemals Ärger mit den Nachbarn zu bekommen. Der Teufel wusste wie er das anstellte.

Ein wenig hatte Pierre immer noch unter dem Mittel von K.R.O.S.S. zu leiden. Das Mittel hätte ihn eigentlich im Körper seines Carn einsperren sollen. Da er den Pfeil jedoch sofort herausgezogen hatte, war die Dosis zum Glück so gering geblieben, dass das Mittel schon bald nachgelassen hatte. Allerdings fiel Pierre seitdem der Körpertausch sehr schwer, und vor allem plagten ihn nach der Rückkehr in seinen eigenen Körper jedes Mal höllische Schmerzen im ganzen Leib. Dieser Effekt des Mittels hatte in den letzten Monaten leider kein bisschen nachgelassen. Aber angesichts des Schicksals, das ihn hätte erwarten können, musste Pierre wohl dennoch heilfroh sein.
 

Im Wohnzimmer saß Lan im Schneidersitz auf der Couch. Als Ryu eintrat, konnte er gerade noch sehen wie Lan den Fernseher ausschaltete und die Fernbedienung zurück auf den Beistelltisch legte. Dann drehte sich Lan zu ihm um und grinste ihn frech an, als er ihn mit „Hi“ knapp begrüßte.

Ryu setzte sich auf Pierres Geheiß in den Sessel links neben der Couch, während Pierre selbst sich neben Lan auf die Rückenlehne der Couch niederließ.

„Du solltest deine Klappe ‘alten, wenn isch disch verleugnen soll.“ lachte Pierre.

„Und du solltest Ryu nicht immer ‚amour‘ nennen. Ich kann zwar kein Französisch, aber ich weiß, was das heißt.“

„Oooooh, du bist eifersüschtig! Wie süß!“ freute sich Pierre sichtlich und zerzauste Lans Haar noch mehr - falls man Lans unzähmbaren Struwwelkopf überhaupt noch mehr zerzausen konnte.

„Ich bin nicht eifersüchtig. Aber du musst dich nicht aufführen wie eine Schlampe.“ knurrte Lan, ohne es ernst zu meinen.

Er wusste ganz genau, dass Pierre nicht ernsthaft an Ryu interessiert war, ganz zu schweigen von irgendwelchen anderen Typen. Trotz aller Sprücheklopfereien würde Pierre nie fremdgehen. Und außerdem fand Lan Pierres Akzent und die gelegentlichen französischen Wörter viel zu edel, um auch nur ansatzweise den Verdacht zu erregen, Pierre wäre eine Schlampe. Lan fand seinen Akzent sexy, das wusste Pierre ebenso gut wie Lan selbst.

„Was soll isch maschen? Isch komme aus Frankreisch, dem Land de l’amour.“

In einer divenhaften Pose legte Pierre eine Hand auf seine Brust und setzte einen leidenden Gesichtsausdruck aus. Doch Lan verschränkte nur unbeeindruckt die Arme vor der Brust.

„Und ich bin Rockmusiker. Was würdest du machen, wenn ich nach jedem Konzert mit drei Groupies in der Umkleide verschwinde? Hmh?“

„Das würdest du nischt tun.“

„Woher willst du das wissen?“

„Du ‘ättest es die letzten drei Jahre tun können, ohne dass isch etwas dagegen ‘ätte sagen können. Aber du ‘ast nischt.“

„Vielleicht hab ich ja.“

„Non. Isch ‘ätte es dir an der Nasenspitze angese‘en.“ zwinkerte Pierre und tippte mit einem Finger federleicht auf besagte Nasenspitze.

Ryu beobachtete die Szene, die die Bezeichnung Beziehungs„streit“ eigentlich gar nicht verdient hatte, mit einem amüsierten Lächeln. Drei Jahre lang hatten Lan und Pierre ihm eine letztendlich sogar beinahe tödliche Feindschaft vorgespielt. Dabei waren sie in Wirklichkeit seit Jahren ein Paar gewesen. Obwohl Ryu die beiden in den letzten Monaten oft zusammen gesehen hatte, konnte er dennoch auch jetzt nur ungläubig den Kopf schütteln. Er konnte einfach nicht fassen, dass ihm drei Jahre lang niemals auch nur der geringste Zweifel an der Schauspielerei seiner Freunde gekommen war. Ganz unwillkürlich streifte Ryus Blick die unscheinbaren Schmuckstücke an den Händen seiner Freunde, die ihm die ganze Zeit über entgangen waren.
 

„Wie auch immer.“ beendete Lan die Debatte schließlich. „Ryu, warum hast du mich denn gesucht?“

„Deine Mitarbeiter haben sich bei mir beschwert. Sie sagen, du tauchst nur jeden zweiten Tag im Büro auf, wenn überhaupt. Und dann bist du der Letzte, der kommt, und der Erste, der geht. Sie haben mich gebeten, mit dir zu reden.“

„Oh Mann! Ich hab einfach keine Lust auf diesen Mist. Ich wollte mit Adoy aufräumen, das ist erledigt. Für den Rest brauchen sie mich doch gar nicht.“

Lan ließ sich missmutig gegen die Rückenlehne fallen und schloss dabei die Augen. Pierre lächelte mild, als er kommentarlos auf Lan heruntersah. Ryu atmete laut aus.
 

Wie Ryu und Lan es in ihrem ersten Vortrag im Rat gefordert hatten, war eine unabhängige Untersuchungskommission eingerichtet worden. Diese war allerdings nicht nur vorübergehend geschaffen worden, um die Machenschaften von Meister Adoy und K.R.O.S.S. aufzudecken. Es war vielmehr geplant, die Kommission dauerhaft als unabhängiges Gremium beizubehalten, um die Tätigkeiten des Rates und der gesamten Verwaltung in der Zalei-Gemeinschaft zu kontrollieren. Außerdem prüfte die Kommission die bestehenden Vorschriften und wie die Macht des Rates beschränkt werden musste. Auf diese Weise, hoffte man, konnte sich das Drama nicht wiederholen.

Nachdem Lan deutlich gemacht hatte, dass er den Rat auf jeden Fall verlassen wollte, konnte Ryu ihn überreden, den Vorsitz dieser Kommission zu übernehmen. Lan sollte den weiteren Mitarbeitern nicht nur das erzählen, was er bisher über Meister Adoy und K.R.O.S.S. in Erfahrung gebracht hatte, sondern ihnen auch Tipps geben, wie sie sich am besten durch Meister Adoys Unterlagen wühlen konnten. Nachdem er seine Mitarbeiter einige Wochen lang zuverlässig angeleitet hatte, hatte sich aber Lans Papierkram-Phobie wieder zurückgemeldet und er befand sich seitdem auf der Flucht.

„Das Kapitel ist erst dann abgeschlossen, wenn alles aufgeklärt ist, was Adoy und K.R.O.S.S. angerichtet haben. Wir wissen nicht, wie viele Leichen die noch im Keller haben. Und du bist von Anfang an derjenige gewesen, der in vorderster Front gegen beide gekämpft hat. Man könnte sagen, du bist der Held der Zalei-Revolution. Ein lebender Märtyrer sogar.“

„Machst du dich über mich lustig?“ skeptisch hob Lan eine Augenbraue und sah Ryu aus den Augenwinkeln an.

„Nein, ich versuche, dich zu motivieren. Ich mein das total ernst. Du bist ein Vorbild und allein deine Anwesenheit hilft den Mitarbeitern der Kommission.“

„Aber ich bin ein Held in Rente.“

Lan gähnte gelangweilt und streckte beide Arme müde nach oben. Wie zufällig schlang er sie danach um Pierres Taille, der immer noch auf der Rückenlehne der Couch saß. Gleichzeitig legte Lan den Kopf zurück und sah zu Pierre hinauf. Zunächst etwas überrumpelt lächelte Pierre schließlich und erwiderte Lans Berührung, indem er mit einer Hand über Lans Kopf, durch sein struwweliges Haar und über seine Wange strich.

„Versteh mich nicht falsch. Ich weiß selbst, dass wir noch nicht fertig sind, bis alles restlos aufgedeckt und aufgearbeitet ist. Aber dazu brauchen die Leute mich nicht. Das können sie ohne mich sogar viel besser. Ich bin mehr für Fronteinsatz als für Schreibtischermittlungen zu gebrauchen, wie du weißt.“

Natürlich wusste Ryu das. Bei ihrer Rebellion hatte Lan sich mit Freuden in die Gefahrenzone begeben, um Informationen zu beschaffen. Aber das Auswerten derselben hatte er immer Ryu und seinem Vater überlassen.

Richtig, Ryus Vater, Taro. Pierre hatte ihn natürlich aufgrund von Meister Adoys Auftrag nicht wirklich umgebracht. Taro war stattdessen mit Freuden Pierres Vorschlag gefolgt, sich zwischenzeitlich im Ausland versteckt zu halten. Er hatte sich also tatsächlich wieder einmal aus dem Staub gemacht und sich seitdem auch nur einmal kurz gemeldet, nachdem er von Adoys Sturz erfahren hatte. Ryus Groll gegen seinen Vater hatte dadurch nun nicht gerade abgenommen.
 

„Und was willst du stattdessen machen? Den ganzen Tag bei Pierre auf der Couch hocken? Du glaubst doch wohl selbst nicht, dass du das aushältst.“ lachte Ryu.

„Warum nicht? Ich hab auch noch die Band, die ich leider in den letzten Monaten total vernachlässigt hab. Vielleicht schaffen wir ja doch noch den Durchbruch, wer weiß.“ Lans Blick wandte sich von Ryu ab und wanderte zurück zu Pierre. Ein kaum hörbares Seufzen kam über Lans Lippen, bevor er weitersprach. „Vor allem… hab ich, nein, haben wir dieser ganzen Sache drei Jahre gewidmet. Drei Jahre! Wir haben drei Jahre unser persönliches Glück hinten angestellt. Drei Jahre lang hab ich den Mann nicht gesehen, den ich liebe. Und am Ende wären wir sogar beide fast gestorben, ohne uns überhaupt je wiederzusehen.“

„Lan…“ flüsterte Pierre nun hörbar und sichtlich gerührt.

„Also, wenn ich jeden Tag bei Pierre auf der Couch hocken kann, dann mach ich das. Wir haben einiges nachzuholen.“

Pierre lehnte sicher herunter, wobei seine Hand, die zuvor auf Lans Wange geruht hatte, nun über dessen Hals und über seine Brust gleichermaßen tiefer wanderte. Lans Arme schlossen sich gleichzeitig fester um Pierres Taille. Einen Moment später fühlte Lan schon Pierres lange Haarsträhnen, die seine Wangen, seinen Hals und sogar seine Brust kitzelten, wo diese nicht vom Stoff seines T-Shirts bedeckt war. Kurz darauf trafen sich ihre Lippen in einem kurzen, aber sichtlich liebevollen Kuss. Ein bisschen amüsant sah die Szene für Ryu allerdings aus, da sich die beiden verkehrt herum trafen.

„Auf der Couch also…?“ wiederholte Pierre Lans Worte mit einem zweideutigen Lächeln, nachdem sich ihre Lippen wieder getrennt hatten.

„Von mir aus auch auf der Couch.“ erwiderte Lan Pierres Lächeln. „Ist aber wenig spektakulär, oder?“

„Was ‘ältst du dann davon? Isch ‘elfe dir mit deiner Kommission, wenn isch nischt in der Praxis bin. Immer’in war isch Adoys reschte ‘and und ‘ab ihn ausspioniert. Dann ist dir vielleischt auch nischt so langweilig mit dem Papierkram, n’est-ce pas?“

„Hmh… Ich weiß nicht…“ grummelte Lan und wunderte sich, wie Pierre nun auf dieses Thema gekommen war.

„Das wär doch ein Deal.“ warf Ryu ein. „Wenn du es mit einer Arbeit als Tierarzt vereinbaren kannst, wär deine Hilfe echt klasse, Pierre.“

„Ganz einfach. Du bist in deinem Studium langsam so weit, dass du bei mir ordentlisch mitarbeiten kannst. Also entlastest du misch in der Praxis und isch ‘elfe Lan. Oui?“

„Stimmt, daran hab ich noch gar nicht gedacht. Das klingt machbar.“ nickte Ryu.

„Ich hab aber trotzdem keine Lust…“ protestierte Lan schwach.

„Ah, vas-y. Das wird bestimmt lustig. Wir werden Kollegen und können noch viel mehr Zeit mit einander verbringen als jetzt.“

Pierres Hand strich nun über Lans Brust und Bauch, wie um ihn wachzurütteln. Nach einem Moment des Überlegens signalisierte Lans Gesichtsausdruck Pierres Erfolg. Immer noch etwas schmollend nickte er schließlich einverstanden.

„Et après könnten wir es machen auf Adoys Schreibtisch.“ zwinkerte Pierre und ließ seine Gegenüber im Unklaren, ob dieser Vorschlag wirklich nur ein Scherz war.

„Uh! Den letzten Satz hab ich nicht gehört.“ winkte Ryu ab. „Aber für den Rest, vielen Dank.“

Damit verabschiedete sich Ryu auch schon. Er wusste, dass er zu Hause beim Abendessen erwartet wurde. Außerdem beschlich ihn das Gefühl, dass Lan und Pierre noch etwas vorhatten an diesem Abend.
 

Das Abendessen verlief gewohnt spannend. Während Kei, Yuki, Kiku, Taki und Ryu am Esstisch ihre Pasta genossen, beobachtete Minuit das Geschehen mit großen Augen kopfüber von der Vorhangstange aus. Robin lauerte entweder unter dem Tisch auf eventuell herunterfallende Nudeln oder ließ sich gleich dreist bettelnd neben Kei auf der Eckbank nieder, nur um sofort von seinem Zalei des Platzes verwiesen zu werden. Nicht dass Robin sich sonderlich für Keis Maßregelungen interessiert hätte, in diesem Fall war er seinem Herren wohl nicht ganz unähnlich.

Jack ging sogar noch einen Schritt weiter. Wenn Kiku ihn aus den Augen ließ, sprang er über die Schränke, turnte an der Vorhangstange herum, wobei er sich gelegentlich ein paar Flügelhiebe von Minuit einfing, oder er wagte sogar den Sprung an die Hängelampe, die fast direkt über dem Esstisch baumelte. Auch nur zwei Minuten stillzusitzen, schien von Jack wie immer viel zu viel verlangt. Da halfen auch Kikus Beteuerungen nicht viel, dass sich ihr Äffchen in den letzten Jahren ohnehin schon sehr gebessert habe. Entsprechend lebendig war auch dieses Abendessen wieder einmal verlaufen.

Nachdem alle Teller geleert waren, und Kei das Geschirr in die Küche getragen hatte, saß die WG plus Gast noch eine Weile zusammen und unterhielt sich.

„Du perfektionierst deine Pasta immer weiter.“ grinste Ryu in Keis Richtung, so dass sich dieser fragte, ob er hinter dem Kompliment möglicherweise eine kleine Stichelei vermuten sollte.

„Kei hat sie heute auch mit gaaaanz besonders viel Liebe gekocht.“ betonte Kiku mit breitem Grinsen.

„Lass das!“ fauchte Kei kleinlaut zu Kiku hinüber, als er seine Wangen aufglühen spürte.

„Wieso? Es stimmt doch. Mit der heißen Umarmung hättet ihr euch glatt den Strom für den Herd sparen können.“

„Yuki hat mir nur geholfen, die Tomatensoße abzuschmecken!“

„Also, irgendwas Rotes hat er abgeschmeckt. Aber ich glaub nicht, dass das die Tomatensoße war.“

Während Keis Wangen sich farblich langsam der streitgegenständlichen Tomatensoße anglichen und Kiku mit zunehmender Begeisterung in dieser Wunde bohrte, fühlte Taki anscheinend mit Kei, denn sie blickte verlegen im Raum umher, als sie nach einer Idee rang, das Thema zu wechseln. Yuki, der vorsichtig schwieg und sich Mühe gab, sein amüsiertes Lächeln vor Kei zu verbergen, um diesen nicht noch weiter zu reizen, tauschte über den Tisch hinweg einen kurzen Blick mit Ryu aus.

Beide Brüder schienen sich einig zu sein, dass spätestens die Rückkehr ihrer beiden Schüler zu alltäglichen, kindischen Neckereien wie diesen, ein untrügliches Zeigen war, dass alles wieder wie früher sein musste. Alle vertrugen sich wieder, jeder Groll, jede Angst und jeder Zweifel waren vergessen. Allerdings kam es Ryu so vor, als wären Kikus Sprüche noch einen kleinen Tick beißender geworden. Schließlich konnte sogar der sonst so stoisch ernste Ryu ein leises Lachen über Kikus letzten Kommentar nicht mehr zurückhalten.
 

„Wie geht es deiner Schwester? Gibt es irgendwas Neues?“

Mit seiner besorgten Frage an Taki erlöste Yuki endlich seinen Freund, denn nur einen Augenblick später fand Kiku die Antwort ihrer Freundin interessanter als Kei zu ärgern. Kei signalisierte Yuki seine Dankbarkeit, indem er wortlos unter dem Tisch seine Hand nahm und ihre Finger verhakte.

„Leider nicht. Sie lebt, aber liegt noch im Koma. Wir wissen immer noch nicht, welches Mittel sie getroffen hat.“ seufzte Taki mit gesenktem Blick.

„Das tut mir leid…“

„Nein, Yuki! Es ist wirklich nicht deine Schuld!“ wehrte Taki mit entschlossener Geste ab. „Meine Schwester hatte ursprünglich nur Gutes vor, aber irgendwann ist sie zu weit gegangen. Wahrscheinlich hätte sie schon viel früher jemand aufhalten müssen. Aber… wann sie vom rechten Weg abgekommen ist… ich weiß es nicht… Ich hab es nicht bemerkt, bis es zu spät war.“

Nachdenklich hatte Taki den Blick gesenkt. Mehrere der Anwesenden taten es ihr gleich.
 

Taki hatte ihnen vor einigen Wochen unter bitteren Tränen von ihrer Kindheit erzählt und warum Ryami so geworden war wie sie geworden war. Ein begabtes, aber verstoßenes Kind, das sich nach nichts mehr gesehnt hatte als nach einem Platz in der Gesellschaft, einer Familie und einem sicheren Zuhause. Ryami wollte allen Zalei eine solche Sicherheit und ein solches Zuhause bieten. Sie wollte sie vor der Unterdrückung und Ausgrenzung durch die „gewöhnlichen“ Menschen schützen. Alle sollten gleich sein: Menschen wie Zalei.

Doch irgendwann, unbemerkt von ihrer Umgebung, war ihr Ziel umgeschlagen. Zalei sollten nicht mehr nur sicher vor der Unterdrückung und Ausbeutung durch gewöhnliche Menschen sein. Sie sollten sich nicht verstecken oder anpassen müssen, um unbemerkt in der Gesellschaft zu leben. Ryami hielt die Zalei nicht mehr nur für gleichwertig, sondern den gewöhnlichen Menschen überlegen. Eine Überlegenheit, die sie durch ihre Organisation K.R.O.S.S. demonstrierte und ihre Beachtung einforderte. Die Forschungen ihrer Organisation sollten den Zalei helfen, den ihnen bestimmten Platz über den gewöhnlichen Menschen einzunehmen.

Dabei hatte Ryami während all der Zeit den unschuldigen Traum aus den Augen verloren, den sie geträumt hatte, als ihr strahlender Ritter sie aus der Einsamkeit ihres Gefängnisses befreit hatte. Ebenso wie sie die Frage vergessen hatte, die sie ihm mit tränenerstickter Stimme gestellt hatte „Bin ich denn kein Mensch mehr?“.
 

****
 

Liebe Leserinnen und Leser,
 

es ist vollbracht. Die Geschichte von "Snowdrops and Chocolate" ist endlich abgeschlossen. Nach acht Jahren habe ich es endlich geschafft, die Geschichte zu beenden. Es ist das allererste Mal, dass ich so eine lange Geschichte tatsächlich abgeschlossen habe.

Es ist kein 100%iges Friede-Freude-Eierkuchen-Ende, aber es scheint mir angemessen, und es rundet die Geschichte hoffentlich gut ab. Ehrlich gesagt, ist das Ende aber sogar etwas positiver geworden als eigentlich geplant. Laut meinem (verworfenen) Plan hätten nämlich Ryu und Lan gar nicht überleben sollen, und Yuki und Pierre wären auch nicht so glimpflich davon gekommen. ^^°

Die Antworten auf jede einzelne noch offene Frage hab ich euch absichtlich nicht ausdrücklich vorgekaut. Ich traue euch zu, dass ihr sie zwischen den Zeilen selbst herauslesen könnt. Und falls nicht, steh ich natürlich für Rückfragen zur Verfügung. ;D

(Ich muss allerdings gestehen, dass ich trotz aller Mühen wahrscheinlich auch nicht restlos alle Fragen plausibel beantworten können werde, da ich vor acht Jahren ziemlich planlos mit der Geschichte begonnen hab und seitdem nicht alles "retten" konnte. ^^°)
 

An dieser Stelle möchte ich mich ganz, ganz herzlich bei euch allen bedanken.

Vielen Dank an alle, die „Snowdrops and Chocolate“ in der Zeit von der ersten Doujinshi-Seite im Jahr 2003 bis zum letzten Fanfic-Kapitel 2011 verfolgt haben!

Vielen Dank für alle Favorisierungen, Abonnements und vor allem euer Feedback! Ohne eure Unterstützung hätte ich sicher schon vor sehr langer Zeit meine Motivation, die Geschichte abzuschließen, verloren.

Vielen Dank auch an meine „Schwarzleser“. Ich hab kein Fanfic-Tofu und kann deshalb die Klicks nicht sehen. Aber nachdem die Zahl der Favoriten steigt, und das Doujinshi immer noch sehr oft angeklickt wird, schließe ich, dass es euch gibt. ;D

Abschließend ein ganz besonders großes DANKE an die liebe Micha, die seit einer Weile die Kapitel für mich korrekturgelesen, sie mit Kommas geschmückt und dem Text seine Grammatik gerettet hat (Micha, die Heldin des Genitivs! XD). Keiner hat die Geschichte in all der Zeit so regelmäßig und engagiert verfolgt wie du. Vielen Dank dafür! (Extra für dich hab ich sogar den verkeksten Fanservice in diesem Kapitel unzensiert beibehalten. ^///^)
 

In diesem Sinne noch ein abschließendes: VIELEN DANK!

Vielleicht lesen wir uns irgendwann in einer anderen Fanfic wieder! ^__^

Sequel - Schneeglöckchen und Schokolade

Seit ein paar Nächten war es wieder so kalt geworden, dass unbemerkt vom Tageslicht Schneeflocken vom pechschwarzen Himmel herunter rieselten. Auch an jenem frostigen Morgen im Februar fiel Keis Blick auf eine glitzernde weiße Decke, als er die Jalousien heraufzog. Missmutig kommentierte er das malerische Bild mit einem knurrenähnlichen Brummen. In dieses stimmte sein Fuchs Robin wenig später ein, als Kei ihm die Terrassentür öffnete, die in den Garten führte.

Etwas widerwillig setzte Robin eine Pfote vor die andere und beobachtete mit demselben Knurren wie sie im Schnee versanken. Der Schnee lag nicht hoch. Tatsächlich war es gerade genug, um die winterlich verdorrten Grashalme zuzudecken, und im Lauf des Tages würde die Sonne ihn vermutlich ohnehin wegzaubern. Vor zehn Jahren hatte Robin sich nicht die geringsten Gedanken gemacht, als er bei Schnee und Eis wie bei Sonnenschein durch sein Revier gestreift war. Inzwischen hatte der Fuchs aber reichlich Zeit gehabt, sich an ein bequemes Leben als Haustier zu gewöhnen. Er genoss das allmorgendliche Toben im Garten, genauso aber das anschließende Faullenzen auf der Couch.

Robin sprang schon im Garten herum, hin und wieder anhaltend, um sich den Schnee aus dem Fell zu schütteln, als mit behäbigen Tapsern und ohne jede Eile ein Dachs die Schwelle der Terrassentür durchschritt. Dieser Dachs war erst seit vier Jahren domestiziert worden und tat sich noch hin und wieder schwer, sich in seine neue Rolle als Haustier zu fügen. Obwohl die Fähe auf den Namen Frau Holle hörte, bedachte sie den Schnee doch mit einem geringschätzigen Schnauben, als sie ihre Schnauze in das Weiß tunkte.
 

Kei nahm zur gleichen Zeit den Milchtopf vom Herd und setzte ihn zwischen die Packung Erdbeer-Cornflakes und die noch leere Müslischüssel auf den Esstisch. Auf dem Rückweg zum Küchentresen drehte er eine kleine Schleife, um ein beherztes „Yuki, aufstehen! Es ist gleich viertel nach!“ in den Hausgang zu rufen.

Ohne den Erfolg seines Weckrufs abzuwarten, griff Kei nach dem Brot und schnitt ein paar alles andere als gleichmäßig dicke Scheiben herunter, die er anschließend mit Schinken und Käse belegte. Ein paar Minuten später hörte er das Schlurfen von Kinderfüßen in zu langen Jeans auf dem Parkett und ein verschlafenes „Guten Morgen, Mama.“ hinter sich. Kei atmete laut aus und warf dem Mädchen einen strengen Blick über die Schulter zu. „Morgen! Ich bin nicht Mama! Wenn überhaupt ist Yuki Mama.“

Unbeeindruckt ließ sich Momoi auf ihrem Stuhl nieder und versuchte, ihr Kichern mit Cornflakes zu übertönen, die sie in ihre Müslischüssel rieseln ließ.
 

Seit vier Jahren war sie nun Keis Schülerin. Zuerst war sie wenig begeistert gewesen, ihre Familie zu verlassen, um zu einem chaotischen Zaleimeister zu ziehen, der schon bei ihrem ersten Treffen durch fast einstündige Verspätung nicht den besten Eindruck hinterlassen hatte. Ein schwacher Trost war dessen Mitbewohner gewesen, pünktlich und freundlich, aber zu Momois anfänglichem Unbehagen mehr als nur ein Mitbewohner ihres Lehrers. Wie bei jedem Zaleischüler war Momois Leben innerhalb kürzester Zeit völlig auf den Kopf gestellt worden. Nicht nur, dass sie plötzlich eine fremde Kraft in sich kennengelernt hatte, die ihr selbst Angst machte, sie war fortan untrennbar mit ihrem Carn verbunden, der alles andere wollte als ihr braves Haustier zu werden. Als ob das noch nicht verwirrend genug war, hatte sie auch noch eine ungewöhnliche neue Familie bekommen. Inzwischen mochte Momoi ihre neuen „Eltern“ aber sehr.

Auch wenn Kei offiziell ihr Lehrer war, so kümmerte sich das Paar doch gemeinsam um Momoi. Kei war einer der stärksten Zalei überhaupt, hatte der Ratsvorsitzende ihr damals gesagt, als sie auf ihn gewartet hatten. Aber leider war er unzuverlässig, hitzköpfig und manchmal ebenso ahnungslos wie Momoi. Alles, was Momoi über die Philosophie, Geschichte und Gesellschaft der Zalei gelernt hatte, wusste sie deshalb von Yuki. Seit Yukis Kräfte versiegelt worden waren, konnte er selbst keine Schüler mehr ausbilden, unterstützte aber Kei dabei. Der Ratsvorsitzende hatte dem bereitwillig zugestimmt, weil es bis dahin ein Ding der Unmöglichkeit gewesen war, von Kei irgendeinen Ausbildungsbericht vollständig ausgefüllt und termingerecht vorgelegt zu bekommen.
 

„Yuki! Es ist gleich halb acht!“, rief Kei in den Hausgang, während er vom Küchentresen zum Esstisch zurückkehrte. Er stellte die gefüllte Brotzeitdose neben Momoi und verdiente sich dafür ein breit grinsendes „Danke, Mama!“, das er mit einem genervten Schnauben beantwortete.

„Guten Morgen, ihr zwei.“

Kei hatte gerade den Teller mit seinem Frühstück am Platz gegenüber seiner Schülerin abgestellt, sich jedoch noch nicht gesetzt. Da fühlte er wie sich eine Hand auf seine Schulter legte und dann sanft über seinen Rücken strich, während ihr Besitzer um ihn herum trat. In dieser Bewegung streifte er einen kleinen Kuss federleicht auf Keis Schläfe. Etwas überrascht sah Kei Yuki hinterher, als dieser von Minuit verfolgt zur Kaffeemaschine trat. Yuki musste sein Haar wohl ungekämmt direkt nach dem Duschen hochgebunden haben, denn in alle Richtungen standen noch feuchte, weiße Schlaufen und Stacheln aus seinem Haarknoten heraus.

Die Fledermaus griff mit ihren Füßen nach der Vorhangstange über dem kleinen Küchenfenster und wickelte sich in ihre Flügel zu einem kleinen Nickerchen. Minuit hielt sich am liebsten in Räumen mit Gesellschaft auf, war aber ein noch größerer Morgenmuffel als ihr Zalei.

„Guten Morgen, Papa!“, grinste Momoi, während sie sich noch einen Löffel Cornflakes in den Mund schaufelte.

„Morgen... Du bist aber früh auf“, wunderte sich Kei.

Tatsächlich war Yuki für gewöhnlich, wie man es von einem Zalei mit einer Fledermaus wohl nicht anders erwartete, ein ausgesprochener Langschläfer. Er blieb abends lange wach, kam morgens aber dafür nie aus den Federn. Kei war es gewöhnt, mindestens bis halb neun nach seinem Freund rufen zu müssen, bis der sich ganz verschlafen an den Frühstückstisch bequemte. Deshalb war es auch Keis Aufgabe, morgens die Tiere zu füttern, Frühstück zu machen, Momois Pausenbrot zuzubereiten und sie in die Schule zu bringen.

Aber natürlich hatte Kei diese Aufgaben nicht ohne Murren übernommen. Die Rolle des Vernünftigen in der Beziehung stand ihm nicht besonders. Nein, jeden zweiten Tag gab es lange Diskussionen von „Du musst auch im Haushalt helfen!“, „Bring wenigstens den Müll raus!“, „Ich gehe genauso Geld verdienen wie du auch!“, „Sag gefälligst früher Bescheid, wenn du auswärts isst!“, „Ich kann den Chef nicht ständig bitten, früher Feierabend machen zu dürfen, nur weil du so unzuverlässig bist!“ und „Sie ist auch deine Tochter!“, während derer sich Momoi regelmäßig kaputtlachte.

Nach all der Zeit fühlte es sich für Kei an, als wären er und Yuki ein altes Ehepaar. Er liebte das.

In ihrem Leben als Zalei und als geoutetes homosexuelles Paar gab es sonst wenig „Normalität“. Das wurde Kei immer wieder bewusst, wenn er sich mit Atari zum Fußballschauen traf, der inzwischen als Ingenieur arbeitete und mit seiner Frau Mi-chan und zwei kleinen Kindern in einem Reihenhaus mit Garten und Goldfisch lebte. Kei war ebenso glücklich wie stolz, dass seine Familie genauso „normal“ war wie die von Atari.

Was natürlich nicht bedeutete, dass er glücklich darüber war, dass der total eindeutig superweit überwiegende (mit Ausrufezeichen!) Löwenanteil der Hausarbeit an ihm hängen blieb, und dass er als „Mama“ tituliert wurde.
 

„Die Sitzung heute beginnt schon am Vormittag, weil ein paar große Themen anstehen und wir sonst bis späten Abend im Rat wären“, gähnte Yuki, während er vorsichtig im Zeitlupentempo mit seiner bis obenhin gefüllten Kaffeetasse zum Frühstückstisch schlich. „Oder Ryu will mich einfach ärgern, das könnte auch sein. Ich hab mir auch schon Ärger im Büro eingehandelt, weil ich deshalb mal wieder spontan freinehmen musste.“

Vor einigen Jahren schon war Yuki in den Rat der Zalei aufgenommen worden. Anfangs waren viele skeptisch gewesen, nicht zuletzt er selbst, weil er zwar noch über seine schamanischen Kräfte verfügte, aber den Körpertausch seit deren Versiegelung nicht mehr beherrschte. Lange Zeit hatte Yuki sich nicht mehr als richtiger Zalei gefühlt. Inzwischen aber hatten er und die Zaleigemeinschaft sich mit der Situation arrangiert und er war sogar schon zweimal wiedergewählt worden. Seine Kompetenz und sein Verantwortungsbewusstsein zählten letztendlich am meisten.

Kei stand währenddessen an der Seite der Küche, am Fressplatz von Robin und Frau Holle. Er beobachtete seinen Freund über die Näpfe hinweg, die er aufgehoben hatte, um sie mit dem Frühstück der Carn zu füllen. Eigentlich wartete er darauf, dass Yuki seinen Kaffee verschüttete, nur damit er ihn später zwingen konnte, den Boden zu wischen. Genau genommen war es eigentlich immer Yuki, der wischte und putzte - eigentlich war Yuki sogar derjenige, der sich um fast alles im Haushalt kümmerte, was sich bis nach zehn Uhr vormittags aufschieben ließ - aber die Gelegenheit für einen dummen Spruch würde sich Kei trotzdem nicht einfach entgehen lassen. Yuki bemerkte Keis Blick wohl, weshalb er sich mit einem unschuldigen Lächeln und der makellos vollen Tasse auf den Stuhl Momoi gegenüber setzte.

„Dein Glück...“, nuschelte Kei in die Dose mit Robins Futter.

Diesen Kommentar überhörte Yuki gekonnt und schlürfte einen großen Schluck von seinem Kaffee, den bisher nur die Oberflächenspannung in der Tasse hielt.

Nachdem Kei die gefüllten Futternäpfe auf den Boden gesetzt hatte, ging er zur Terrassentür und rief die beiden Carn. Er war es gewohnt, auch sie mehr als einmal zu rufen. Robin gehorchte aus Prinzip erst dann, wenn er seinen Namen dreimal gehört hatte. Dann allerdings kam er wieselflink aus irgendeiner Ecke des Gartens angerannt. Er hielt vor der Tür kurz inne, um sein dichtes Fell vom Schnee zu befreien, und flitze dann ganz knapp an Keis Beinen vorbei direkt auf seinen Fressnapf zu, als versuchte er, seinen Zalei aus dem Gleichgewicht zu bringen. Es war eine Art morgendliches Ritual. Frau Holle ließ sich dagegen alle Zeit der Welt, bis sie sich langsam in Richtung Haus begab. Es war sogar schon vorgekommen, dass sie sich komplett taub gestellt und sich lieber weiter den Löchern gewidmet hatte, die sie begeistert in Yukis Beete grub. Eine morgendliche Trainingseinheit für Momoi war es dann, in den Körper ihres Carn zu schlüpfen und ihn so ins Haus zu bewegen. Kei war nämlich zu faul, dem Dachs persönlich in der Kälte nachzujagen. Heute hatte Momoi aber Glück und konnte ungestört weiterfrühstücken.

Beide Tiere waren schließlich eingetroffen und hängten ihre Schnauzen in ihr Frühstück. Da konnte auch Kei endlich neben Yuki am Frühstückstisch Platz nehmen und sein Brot aufnehmen.
 

„Heißt das, du kannst Momoi heute nicht von der Schule abholen?“

„Wahrscheinlich nicht. Die Sitzung ist bis vierzehn Uhr angesetzt.“

„Das sagst du jetzt erst?! Du bist ja lustig! Ich muss arbeiten!“, protestierte Kei.

„Du kannst doch deine Schicht kurz unterbrechen, Momoi abholen und dann weiterarbeiten“, schlug Yuki vor. „Im Park sind sie doch sowieso gewöhnt, dass du kommst und gehst wann du willst.“

„Und Momoi ist inzwischen ganz allein daheim? Kommt nicht in Frage!“

„Du nimmst sie einfach mit in den Park und ich hol sie dann nach der Sitzung bei dir ab.“

„Das geht nicht, du Scherzkeks. Ich kann kein Kind zur Arbeit mitnehmen.“

„Ach so? Ich dachte, es wäre ein Freizeitpark für Kinder?“, heuchelte Yuki Überraschung.

„Äh... Wie wär's wenn ich einfach allein nach Hause geh und hier auf euch wart? Ich bin doch kein Baby“, warf Momoi mit einem gelangweilten Unterton ein, als wäre es das selbstverständlichste der Welt.

„Das ist total unverantwortlich! Zaleischüler dürfen nicht allein sein. Das solltest du spätestens seit deinem Waldausflug wissen, bei dem Frau Holle so in Panik geraten ist. Du hast ja keine Ahnung, was alles passieren könnte!“

Das Entsetzen über den bloßen Gedanken, seine kleine Toch- Schülerin über Stunden alleine zu lassen, war Kei wie ins Gesicht geschrieben. Im Gegensatz dazu versteckte Yuki hinter seiner Kaffeetasse ein amüsiertes Schmunzeln. Momoi verdrehte nur die Augen und rührte schmollend mit dem Löffel in ihrer Müslischüssel herum. Nur ihre Fingerspitzen lugten dabei aus dem Ärmel ihres immer noch etwas zu großen Pullovers. Eigentlich hatte sie keine andere Reaktion erwartet.

„Sorry... Es kann ja nicht jeder so ein Naturtalent sein und sich von Anfang an so gut mit seinem Carn vertragen wie du“, murmelte sie kleinlaut. „Ich dachte ja nur...“

„Du solltest ni-“, Kei konnte den Satz nicht fortsetzen, als Yuki seine Tasse mit einem dumpfen „Donk“ auf die Tischplatte setzte und ihn unterbrach.

„Kei macht sich nur Sorgen um dich, weil er nämlich ganz genau weiß, wovon er spricht, wenn er sagt, dass es noch weit schlimmer hätte ausgehen können als mit ein paar Kratzern.“

„Yuki...“, zischte Kei, um seinen Freund zu ermahnen, ja nicht weiterzusprechen. „Das gehört hier nicht her. Es geht um Momoi.“

„Gut, sprechen wir über Momoi. Sie ist vernünftiger, schon länger Zaleischülerin und hat ihre Kraft besser unter Kontrolle als mein Schüler, als der damals ganz ohne Aufsicht, regelmäßig ohne mir Bescheid zu sagen und ohne Handy allein ausgegangen ist.“

„Willst du etwa, dass Momoi auch mit allen möglichen Blessuren nach Hause kommt?!“

„Ich wollte auch nicht, dass du mit allen möglichen Blessuren nach Hause kommst.“

„Das war was anderes! Du warst nur eifersüchtig, aber du wusstest, dass du dir um mich keine Sorgen machen musstest.“

„Ach, wusste ich das...?“, Yuki warf Kei einen sehr, sehr skeptischen Blick zu. Dem setzte er seinen Freund für eine gefühlte Ewigkeit aus, bevor er endlich weitersprach. Kei fühlte sich inzwischen, erinnert an so ungefähr ein bis fünfzehn Zwischenfälle, etwas ertappt. „Es geht um Vertrauen, Kei. Du kannst Momoi nicht vor allem beschützen, erst recht nicht vor Erfahrungen, die sie selbst machen muss. Deine Aufgabe als Lehrer ist, sie nach bestem Wissen und Gewissen auf ihr Leben als Zalei vorzubereiten und es sie dann leben zu lassen.“

„Aber ich darf mir ja wohl noch Sorgen um sie machen.“ Nachgeben kam – wie immer – nicht in Frage, auch wenn Kei langsam dämmerte, dass er Yukis Argumenten nichts entgegenzusetzen hatte.

„Du bist heute eine ganz schreckliche Glucke, Mama“, lachte Yuki siegessicher.

Angesichts dieser unfassbaren Frechheit fiel Kei nun tatsächlich schier die Kinnlade runter bis auf die Knie. Vor Schreck verstummt starrte er Yuki in Grund und Boden. Es dauerte einen Moment, bis Kei seine Stimme wiederfand. Dann allerdings konnte er sich gar nicht für einen Fluch entscheiden, so dass er Yuki zunächst mit einem herzlichen „Awigrhlmpf!!“ bedachte. Um sich etwas zu sammeln, schlug Kei eine Hand flach auf den Tisch.

„Na gut! Wir probieren's!“, er atmete einmal tief durch und wandte sich an Momoi, die ihn überrascht aus ihren dunklen Augen ansah. „Du kommst nach der Schule allein zu mir in den Park. Dort holt Yuki dich dann ab, sobald er im Rat fertig ist.“

„E-Echt jetzt...? Cool!“

„Du nimmst aber dein Handy mit.“

„Geht klar.“

„Und du rufst mich an, wenn du losgehst.“

„Okay...“

„Und wenn du im Zug bist.“

„Okay...?“

„Und, wenn d-“, Kei verstummte für einen Moment, als ein Ellenbogen in seine Seite stieß. „Ja ja. Pass auf dich auf und melde dich sofort, wenn irgendwas komisch ist.“

„Okay!“ Momoi konnte ein breites Grinsen kaum unterdrücken.

Zwar war ihr Lehrer nicht so übervorsichtig, dass er sie in Watte packte und gar nicht unbeaufsichtigt aus dem Haus gehen ließ, aber ein wenig gluckte er schon... Anfangs war das in Ordnung und Momoi für die Fürsorge sogar sehr dankbar gewesen. Sie war im Alter von erst 8 Jahren Zaleischülerin geworden und dem war eine harte Zeit vorangegangen mit mehreren Unfällen aufgrund ihres Talents, das sie nicht kontrollieren konnte. Zuletzt hatte sie, beziehungsweise ihr Carn, mit dem sie versehentlich die Körper getauscht hatte, ihren erst wenige Monate alten Bruder verletzt. So sehr wie Momois leibliche Eltern danach ihren kleinen Bruder verteidigt hatten, hatte Kei Momoi verteidigt, als das verängstigte Kind seine Schülerin geworden war. Aber Kei hatte wohl den Punkt verpasst, an dem Momoi ihn nicht mehr als Beschützer brauchte, sondern als jemand, der sie im Bedarfsfall auffing, während sie sich selbst versuchte.

Es war ja so schwer, wenn die Kleinen auf einmal groß wurden!
 

Eine ganze Weile herrschte nun friedliches Schweigen am Frühstückstisch, abgesehen von Momois Knuspern von Conflakes und Keis Fuß, der seinen Energieüberschuss in Tritten gegen das Tischbein abbaute.

„Nimmst du Minuit wieder mit in den Rat?“, fragte Kei ganz beiläufig ohne Yuki anzusehen. Die ganze Planänderung in ihrem Tagesablauf ärgerte Kei immer noch ein wenig, denn er hatte sich eigentlich etwas freie Zeit allein erhofft, in der er etwas planen konnte.

„Wie immer, ja“, antwortete Yuki und wunderte sich wohl über die Frage. Wie gesagt, mochte Minuit Gesellschaft und blieb nicht gern allein zu Hause, während Yuki und Kei arbeiteten und Momoi in der Schule war. „Warum fragst du?“

„Nur so“, zuckte Kei und nahm einen Schluck Orangensaft, bevor er weitersprach. „Ich nehm Robin und Frau Holle dann mit in den Park, nachdem sie heute sonst länger auf dich warten müssten.“

Wenn Kei wusste, dass die beiden Carn nur für eine kurze Weile allein waren, bevor Yuki von der Arbeit nach Hause kam, ließ er sie auch manchmal unbeaufsichtigt. Dabei war „unbeaufsichtigt“ allerdings nicht ganz das richtige Wort, denn inzwischen beherrschte Kei den Körpertausch so sicher, dass er hin und wieder in Robins Körper nach dem Rechten sehen konnte.

„Gute Idee. Danke“, nickte Yuki. „Ich kann die beiden ja dann mit nach Hause nehmen, wenn ich Momoi bei dir abhole.“

„Nimm vorsichtshalber Handschuhe mit.“

Yuki lachte, als er trotz Keis sehr bemüht gleichgültigem Ton die Sorge in seiner Stimme wahrnahm. „Du hast Robin monatelang deine Hände und Füße als Kauknochen benützen lassen und du kommst auch heute noch grün und blau von deinen Stuntshows heim. Aber wenn Momoi oder ich einen Kratzer haben, kannst du auf einmal kein Blut mehr sehen.“

„Das ist ja auch ganz was anderes“, murmelte Kei etwas verlegen. „Euer Blut sollte ich nicht sehen müssen, das gehört in eure Körper.“

Der große Unterschied war... Okay, Momoi wollte Kei einfach beschützen wie eine Löwin ihr Junges. Aber bei Yuki war es etwas anders. Kei fand seine seidigen Haare einfach viel zu kostbar, um ihm auch nur eines davon zu krümmen, und seine wunderschöne, fast porzellanen helle Haut viel zu schön, um sie mit Kratzern oder blauen Flecken zu verletzen. Was wäre das für eine Verschwendung von Perfektion!

Hätte Kei jemals versucht, Yuki diesen Hintergrund seines Beschützerinstinkts zu erklären, hätte Yuki ihm sowieso nicht geglaubt. Seit ihrer Begegnung mit K.R.O.S.S. nahm Yuki stillschweigend an, dass Kei wohl immer noch Angst haben musste, ihn irgendwann wieder verletzt an irgendeinem Parkplatz zu finden. Yuki konnte ja nicht wissen, dass Keis Sinneswandel an jedem Tag nicht vom Trauma seiner Verletzungen her gerührt hatte, sondern weil ihm während Yukis Dornröschenschlaf endlich seine Gefühle für ihn bewusst geworden waren.

Er fragte deshalb gar nicht weiter. Stattdessen flüsterte Yuki mit einem sanften Lächeln auf den Lippen „Ich hab dich auch lieb.“ und strich mit einer Hand liebevoll über Keis Haar.

Er ließ es sich aber nicht nehmen, im Anschluss daran die roten Strähnen ordentlich durcheinander zu wuscheln. Der Rotschopf sah zerzaust einfach zu niedlich aus, erst recht, wenn er sich auch noch aufregte. Kei schimpfte wie ein Rohrspatz, bis Yuki ihn mit einem Kuss zum Schweigen brachte.
 

Gute drei Stunden später erreichte Kei die als alte Mühle getarnte Hütte im hinteren Teil des Fairy Tales Parks. Vor seinem Weg hierher hatte er Robin und Frau Holle in einen abgesperrten Bereich des Parks gebracht, wo sich Ställe und Gehege für Tiere befanden. Dort konnten sie sicher und in Ruhe bleiben bis Yuki sie nach seiner Ratssitzung mit nach Hause nahm. Die Mühle unweit davon war das Gebäude, in dem Kostüme und Requisiten aufbewahrt wurden und in dem sich die Schausteller umzogen.

Gleich vor der Tür wurde Kei von seinem Chef erwartet, der mit tief ins Gesicht gezogenen Brauen und ungeduldig tippendem Fuß beobachtete, wie Kei in den kleinen Weg zur Mühle einbog. Heute war der Chef als Pirat kostümiert, was seinem grimmigen Blick noch unterstrich. Zu seinem Ärgernis nahm Kei nicht einmal die Feststellung „Du bist schon wieder zwanzig Minuten zu spät.“ zum Anlass, seinen Schritt etwas zu beschleunigen. Tatsächlich schien es sogar so, als hätte er seinen Chef über das Rauschen des Mühlrads gar nicht gehört. So flötete Kei ihm im Vorbeigehen nur ein fröhliches „Guten Morgen, Chef.“ entgegen.

„Morgen? Ich geh gleich in Mittag!“, brummte der andere, während er die Arme vor der Brust verschränkte.

„Ich musste meine Schülerin in die Schule bringen. Du weißt doch, wie das ist“, hob Kei unschuldig die Schultern.

Der Park war eine der Einrichtungen, die der Zaleirat unterhielt, um einerseits den Zalei eine Arbeitsstelle zu bieten, die sonst keine Chance auf dem normalen Arbeitsmarkt hatten, und um andererseits Geld zu verdienen, mit dem sich die Zaleigesellschaft finanzierte. Dementsprechend waren die meisten von Keis Kollegen im Park ebenfalls Zalei.

Nicht alle Zalei arbeiteten jedoch in solchen Einrichtungen des Rats. Yuki zum Beispiel hatte, als Keis Ausbildung weit genug fortgeschritten war, studiert und ging jetzt drei Tage die Woche einem – wie Kei fand – stinklangweiligen Bürojob nach. Kei hatte sich entschieden, weiter im Park zu arbeiten, nur inzwischen in fester Anstellung und mit wechselnden Rollen in höherer Verantwortung als er sie als Bonbonverkäufer hatte. Er fand, dass er mit seiner Entscheidung das bessere Los gezogen hatte, auch wenn er Yuki zugegebenermaßen im Anzug durchaus ganz lecker fand. Das allerdings konnte Yuki wohl nur vermuten, wenn Kei ihm nach Feierabend gar nicht schnell genug besagten Anzug vom Leib reißen konnte... Themawechsel!

„Nein, weiß ich nicht. Nach vier Jahren Ausbildung konnte ich meine Schüler für die paar Minuten Schulweg allein lassen. Außerdem hattest du mehr als genug Zeit, um herzukommen, nachdem die Schule angefangen hat.“

„Deine Schüler waren aber schon älter. Außerdem hatte der Zug wegen einer Oberleitungsstörung Verspätung. Und Robin hat meinen Schuh angefressen. Aber jetzt bin ich ja da, also keine Panik.“

„Dir gehen wohl nie die Ausreden aus...“, brummte der Chef hilflos „Also! In einer halben Stunde beginnt das Ritterturnier. Ich erwarte dich dort als Hofnarr. Und sieh zu, dass du Lan auch hin bewegst.“

„Lan?“, wiederholte Kei sichtlich überrascht.

„Ja, Lan. Drachentattoo, schwarzer Ritter, weißt du noch?“

„Lan ist hier?“

„Erstaunlich, aber wahr“, der Pirat wandte sich zum Gehen. „Viel Glück!“

Kei zuckte hilflos mit den Achseln, während er seinem Chef hinterher blickte, der ihn erleichtert pfeifend mit diesem Problem zurückließ. Der Pirat war schon hinter einer Baumgruppe verschwunden, bevor Kei einmal tief durchatmete und seinen Schritt zur Mühle wandte. Glück würde er allerdings brauchen.
 

Es war ein Drama. Kei erkannte in Lan kaum noch den jungen Mann wieder, den er vor zehn Jahren kennengelernt hatte. Während Lan früher seine Umwelt gelegentlich durch seine Temperamentsausbrüche in Trab gehalten hatte, schien er heute völlig außer Kontrolle. Lan kam selten und noch seltener pünktlich zur Arbeit in den Park, sogar noch seltener als Kei. Manchmal verschwand er auch tagelang spurlos. Kei hatte es relativ schnell aufgegeben, Lan dann hinterher zu telefonieren. Ryu hatte es länger versucht, immerhin war Lan sein bester Freund gewesen. Erfolg hatte allerdings niemand gehabt, nicht einmal Pierre.

Anders als bei Yuki, der „nur“ seinen Körper nicht mehr verlassen konnte, war Lans schamanische Kraft komplett gestohlen worden. Es war fast, als wäre Lan nie Zalei gewesen. Weil er früher einer der stärksten Zalei überhaupt, und damit durchaus eine Instanz in der Zaleigesellschaft gewesen war, war er mit seinem Leben als normaler Mensch heillos überfordert. Plötzlich war er nur noch ein Schulabbrecher ohne Ausbildung und mit schlechter Arbeitsmoral, der nirgends außerhalb der Zaleieinrichtungen Arbeit fand, obwohl er diesen gerne den Rücken gekehrt hätte. Desto tiefer der Fall.

Am meisten tat Kei allerdings Onyx leid, Lans Carn. Onyx war allem Anschein nach davon relativ unberührt geblieben. Der Hengst hing genauso an seinem Herren wie vorher und verstand nicht, warum Lan sich plötzlich so von ihm distanzierte. Kei besuchte ihn oft im Stall, in dem er untergestellt war, hinter der Arena, wo die Ritterturniere aufgeführt wurden. Onyx war jedes Mal dankbar für ein paar Streicheleinheiten und einen kleinen Spazierritt, denn der schwarze Hengst ließ außer Lan nur eine Handvoll anderer Personen aufsitzen. Tatsächlich hatte Kei sich schon mental darauf eingestellt, auch heute wieder Lans Rolle im Ritterturnier übernehmen zu müssen. Für den Hofnarren war immerhin leichter ein Ersatz gefunden als für Onyx' Reiter. Zugegeben, als Schwarzer Ritter wirkte Lan aber doch etwas beeindruckender als Kei, der fast einen ganzen Kopf kleiner war. Ganz abgesehen davon war Lan nach wie vor ein exzellenter Reiter, dem Kei nicht das Wasser reichen konnte. Deshalb war Lan trotz seiner Unzuverlässigkeit weiterhin die erste Wahl als Schwarzer Ritter.

Kei war das aber gar nicht so unrecht. Er mochte seine Rolle als Hofnarr ohnehin lieber. Es lag ihm mehr, das Publikum zum Lachen als zum Fürchten zu bringen. In seiner Rolle durfte er vor der Aufführung und zwischen den Akten Streiche spielen und sich über den ganzen Hofstaat lustig machen – abgesehen von der schönen Königin, gespielt von Taki. Nicht, dass es das höfische Protokoll verboten hatte, aber wenn er Taki ärgerte, machte Kiku ihm dafür später die Hölle heiß.
 

Noch einmal atmete Kei tief durch als müsste er sich sammeln, um die Türklinge herunterzudrücken. Mit Schwung schob er die hölzerne Tür auf. Er war gespannt, was für ein Anblick ihn erwarten würde, wie Lan wohl aufgelegt und ob er überhaupt da war.

„Guten Morgen!“, rief Kei bei seinem Schritt über die Türschwelle.

Der Anblick, der sich ihm bot, war wenig spektakulär. Die surrenden, wohl bald erlöschenden Neonröhren erhellten einen Raum, in dem sich zwei Personen befanden. Die eine war eine Kollegin, die Kei mit einem erleichterten Lächeln grüßte, als er eintrat. Sie saß auf der Holzbank vor den Spinden auf der linken Seite des Raums und band gerade ihre Blumenfeeschuhe zu. Vielleicht war sie erleichtert darüber, nicht mehr allein mit dem ganz offensichtlich wieder einmal übellaunigen Lan zu sein. Kaum dass ihre Schuhe zugebunden waren, schloss sie ihren Spind ab und verließ die Mühle mit flinken Schritten. Dabei hüpfte sie elegant über eine Plastikflasche, aus der sich Wasser auf den Boden ergoss und die aussah wie mitten in den Weg geworfen. Kei hatte sofort eine Vermutung bezüglich der Geschichte dieser Flasche, als ihm seine Kollegin im Vorbeihuschen zuflüsterte „Pass bloß auf, was du sagst.“.

Lan saß auf der morschen Bank im hinteren Teil der Mühle, auf der rechten Seite, wo eine Tür in den Kostümfundus führte. Hinter ihm lag eine alte Fleecedecke, unordentlich gegen die Wand geworfen. Er war vornüber gebeugt und stützte sich mit den Unterarmen auf den Knien ab. Zwischen den Fingern seiner rechten Hand erkannte Kei eine Zigarette, ein Anblick, der ihm überhaupt nicht gefiel. Nun ja, eigentlich gefiel ihm Lans Anblick überhaupt nicht besonders. Er sah blass und ungepflegt aus. Mit ärgerlichem Funkeln in den Augen beobachtete er lieber das Kräuseln seines Zigarettenrauchs als wenigstens für einen Moment zu Kei aufzuschauen, um seinen Gruß zu erwidern. Trotzdem gab sich Kei Mühe, mit ihm in Kontakt zu kommen. Seine heutige Strategie war, Lans Laune einfach eiskalt zu ignorieren und ihn so lange wie einen normalen Freund zu behandeln, bis er sich endlich wieder so benahm.

„Schön dass du da bist, wir haben uns ewig nicht mehr gesehen.“

Keine Antwort. Stattdessen hob Lan wie in Zeitlupe seinen Arm und zog an seiner Zigarette.

„Onyx wird sich auch freuen.“

Kei grinste sogar breit, in der Hoffnung, das würde seiner Stimme einen freundlicheren Ton geben. Er zog nebenbei seine Jacke aus, die er an einen Haken über der Bank links hängte. Keine Antwort.

„Du hast nicht ernsthaft hier geschlafen, oder?“

Ganz langsam ging Kei an Lan vorbei in den Raum, in dem die Kostüme aufbewahrt wurden. Er suchte dabei den Augenkontakt, konnte jedoch keinen herstellen. Lans Blick war stur auf den Glimmstängel in seiner Hand fixiert. Nicht nur einen Blick, sondern auch jede Antwort blieb Lan Kei wieder schuldig. Lan schien seine Lippen sogar besonders fest aufeinander zu pressen, um ja nicht in die Versuchung zu kommen, versehentlich zu antworten. Auch während Kei die Kostüme für Hofnarr und Schwarzen Ritter aus dem Fundus suchte und in den Umkleideraum trug, adressierte er immer wieder Fragen an Lan, erhielt aber nie eine Antwort darauf.

„Wie lang warst du denn schon nicht mehr zu Hause? Pierre wird sich Sor-“

„Lass mich bloß in Ruhe mit dem!“

Oh-oh! Vor Schreck erstarrte Kei mitten in der Bewegung, als er gerade Lans Kostüm an einen Haken über der Bank diesem gegenüber hängte. Er hatte nicht damit gerechnet, überhaupt eine Reaktion von Lan provozieren zu können, ganz zu schweigen von so einer. Kei hatte vergessen, dass er diesen Namen in Lans Gegenwart nicht erwähnen sollte. Was genau zwischen dem Paar vorgefallen war, wusste Kei nicht. Er hatte aber von Ryu erfahren, dass die beiden schon seit geraumer Zeit immer häufiger an einander geraten waren, was schließlich vor etwa eineinhalb Jahren in einem riesigen Streit eskaliert war, nach dem Lan urplötzlich abgehauen war. Pierre sah Kei relativ häufig bei den regelmäßigen Tierarztterminen für ihre Carn. Doch auch aus dem Tierarzt war nie mehr herauszubekommen gewesen als dass er Lan nicht mehr sehen wollte. Seitdem vermied Kei es, den einen vor dem anderen zu erwähnen. Gerade fiel ihm auch wieder ein wieso.

Lan war hochgefahren, kaum dass er Pierres Namen gehört hatte. Er schnaufte wütend und seine geballten Fäuste zitterten, weshalb ein paar Ascheflocken langsam auf den Boden zu seinen Füßen rieselten.

Nach einem Augenblick hatte Kei seinen Schrecken überwunden und beschloss, das Spielchen nicht mitzuspielen. In aller Seelenruhe hängte er zuerst Lans, dann sein eigenes Kostüm auf und stieg aus seinen Sneakers (ja, die paar Schneeflocken waren kein Grund für Stiefel).

„Hier ist Rauchen verboten.“

Lan war, sichtlich überrascht über die fehlende Reaktion auf seinen Ausbruch, zu keiner Antwort fähig. Stumm, aber mit unverändert zorniger Miene sah er Kei an.

„Mir ist egal, ob du dich langsam mit Zigaretten umbringst oder dich in Selbstmitleid ertränkst. Aber ich bin Nichtraucher. Also mach das Ding aus!“

Keine Reaktion.

„Lan... Ich bin nicht Ryu, der dir einen schlauen Vortrag über Lungenkrebs und Rücksicht hält. Ich werde dich nicht wegen deines ach so schweren Schicksals mit Samthandschuhen anfassen und wenn's sein muss, reiß ich dir die Zigarette mit Gewalt aus der Hand.“ Kei warf dem anderen einen geringschätzigen Blick über die Schulter zu. „Du siehst im Moment nicht so aus als könntest du's mit mir aufnehmen.“

Einen Moment nun hatten die beiden Männer tatsächlich Augenkontakt. In einem Duell der bösen Blicke schienen sie den angekündigten Kampf auszutragen, bis Lan sich ergab. Er sank schnaubend zurück auf seine Bank und drückte ohne Wiederworte seine Zigarette auf dem Holz aus. Die nun freie Hand nutzte er, um ein wenig Ordnung in sein strähniges Haar zu bringen. Trotz der gerade demonstrierten Wut fiel Kei dabei auf, dass Lan immer noch seinen Ehering trug.

„Brav“, lobte Kei und schälte sich aus seinem Sweatshirt. „Und jetzt zieh dich um, wir müssen in einer Viertelstunde in der Arena sein.“

Vielleicht war es die Nachwirkung des vorangegangenen Duells. Lan seufzte tief, stand dann aber auf und nahm folgsam sein Kostüm vom Haken, an dem Kei es aufgehängt hatte. Schon ein wenig stolz auf sich beobachtete Kei unauffällig, wie Lan ganz artig seine zerrissene Jeans und das abgetragene Bandshirt gegen seine Rüstung tauschte und auf seinen Auftritt als Schwarzer Ritter vorbereitete. Dass Lan dabei immer noch wütend schnaufte und die Brauen so tief ins Gesicht gezogen hatte, dass die Falten zwischen ihnen drohten, sich chronisch in sein Gesicht zu graben, war für ihn dabei nebensächlich. In erster Linie zählte, dass Lan überhaupt kooperierte.

Gleichzeitig schlüpfte Kei in sein Hofnarrenkostüm und verstaute seine Straßenkleidung und Wertsachen in seinem Spind. Nur ein kleines Kästchen, das er hütete wie seinen Augapfel, steckte er lieber in die Hosentasche seines Kostüms. Sicher war sicher.
 

Absolut pünktlich auf die Minute erreichte Yuki den großen Sitzungssaal, in dem der Rat der Zalei tagte. Die Tür stand noch offen, weshalb der Vorsitzende die heutige Sitzung noch nicht eröffnet haben konnte. Schon vom Ende des Gangs dorthin konnte Yuki das Stimmengewirr seiner Ratskollegen hören und nahm anhand von dessen Lautstärke an, dass die meisten schon eingetroffen waren. Yuki beschleunigte seinen Schritt deshalb ein wenig. Einen Moment später schlug auch Minuit schneller mit den Flügeln, um ihren Herrn wieder einzuholen. Sie schimpfte ihn mit einem Sturzflugmanöver fürs Davonlaufen, mit dem sie von Yuki wenigstens eine kleine Entschuldigung provozierte.

Yuki erreichte die Tür zum Sitzungssaal gerade rechtzeitig, um nicht ausgesperrt zu werden. Der Vorsitzende hatte gerade die Hand auf die Klinke gelegt und war im Begriff, die schwere Tür zuzuziehen, als er Yuki sah.

„Guten Tag! Du bist ja tatsächlich pünktlich“, drückte er seinen Respekt aus.

„Hallo, Ryu“, grinste Yuki etwas verlegen. „Deine spontane Terminänderung hat mir aber trotzdem Ärger sowohl im Büro als auch daheim eingebrockt. So schnell ist es schwer, eine Betreuung für Momoi zu finden.“

An seinem Bruder vorbei trat Yuki in den Saal, gefolgt von Minuit. Kaum dass die Fledermaus durch den Spalt geschlüpft war, zog Ryu die Tür zu. Er und Yuki setzten ihre Unterhaltung auf dem Weg zu ihren Sesseln im Kreis der Ratsmitglieder fort. Dabei unterbrachen sie ihre Worte hin und wieder, um ihre Ratskollegen zu begrüßen.

„Sorry, ich weiß. Aber mir war es wichtig, dass wir das Thema heute auf jeden Fall durchkriegen. Wir mussten Taro auch spontan zu seiner Oma bringen.“

Mit Taro war hier natürlich nicht Ryus und Yukis Vater gemeint, sondern Ryus fünfjähriger Sohn. Dessen Großvater war nach kurzer, aber schwerer Krankheit gestorben. Er hatte noch erfahren, dass sein Sohn und seine Schwiegertochter ein Kind erwarteten, aber die Geburt seines Enkels leider nicht mehr erlebt. Yuki wusste, dass Ryu und ihr Vater sich ausgesprochen und ihren Frieden gemacht hatten. Aber dass Ryu sogar seinen Sohn nach ihm benannte, war schon eine Überraschung gewesen.

Lisha, mit der Ryu seit inzwischen schon fast acht Jahren verheiratet war, war übrigens niemand anders als die rothaarige stellvertretende Vorsitzende, die Ryu seinerzeit aus dem Rat ausgeschlossen hatte.

„Meine Mutter würde sich bedanken, in ihrem Alter eine aufgedrehte Zaleischülerin und einen Dachs babysitten zu dürfen“, überlegte Yuki laut.

„Alles hat seine guten und seine schlechten Seiten“, schloss Ryu und spielte wohl darauf an, dass sein Sohn ohne das Talent eines Zalei geboren worden war.
 

Als Yuki und Ryu auf ihren Sesseln platzgenommen hatten, verstummten langsam die Gespräche im Saal. Die Ratsmitglieder richteten ihre Blicke auf ihren Vorsitzenden und warteten, bis dieser die heutige Sitzung eröffnete. Nachdem er sich ihrer ungeteilten Aufmerksamkeit sicher war, erhob sich Ryu, um seine Begrüßung stehend zu halten. Ryu hatte sich durch seine jahrelange harte Arbeit nicht nur zu einem hochrangigen Zalei gemausert, sondern war auch ein Ratsvorsitzender, der den Respekt der ganzen Zaleigesellschaft genoss. Allein schon durch seine Ausstrahlung, seine Haltung im guten Anzug und mit entschlossenem Blick beherrschte er den Saal. Umso mehr tat er es, als er mit seiner sehr tiefen und ruhigen Stimme zu sprechen begann. Kaum dass er das Wort erhoben hatte, wurde es mucksmäuschenstill im Raum.

„Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich danke Ihnen für Ihr Erscheinen und entschuldige mich noch einmal für die kurzfristige Terminänderung. Wie Sie der Tagesordnung entnehmen konnten, die Ihrer Einladung beilag, befasst sich der Rat der Zalei heute mit einem durchaus pikanten Thema. Es geht um die Einstellung der früheren K.R.O.S.S. Forschungen.“

Ryu legte hier eine rhetorische Pause ein, denn entsprechend der Pikanterie des Themas, hatte sich ein Gemurmel im Saal eingestellt. Erst als dieses etwas abgenommen hatte, sprach Ryu weiter.

„Damit auch die erst kürzlich gewählten Mitglieder des Rats denselben Stand haben, darf ich die bisherigen Ereignisse knapp für Sie zusammenfassen. Vor zehn Jahren wurde nach dem Untergang der Organisation K.R.O.S.S. umfangreiches Material über unsere Gesellschaft und den Zaleischamanismus zu Tage gefördert. Darunter befanden sich geheime Forschungen zur Manipulation des Zaleitalents, unter deren Folgen einige unserer Mitzalei bis heute leiden.“

Um den Blicken der anderen im Saal auszuweichen, senkte Yuki den Kopf und sah auf den Boden vor sich. Er hatte gelernt, mit seiner Situation umzugehen. Obwohl er zwar das Fliegen vermisste, ging es ihm doch ganz gut. Yuki besaß sein schamanisches Talent noch, auch wenn er seinen Körper nicht mehr verlassen konnte. Natürlich würden sich alle Augen angesichts von Ryus Worte auf ihn richten, doch eigentlich war er relativ gut davongekommen. Er war er selbst geblieben. Ein Glück, dass nicht alle Opfer von K.R.O.S.S.s Experimenten teilten.

„Da einzelne Mitglieder dieses Rats beteiligt gewesen waren, richtete er einen Kontrollstab ein, der fortan die Aktivitäten des Rats der Zalei überwachte. Als später die Ausmaße der Aktivitäten von K.R.O.S.S. bekannt wurden, wurde darüber hinaus eine Unterabteilung dieses Stabs gebildet, der sich der Aufarbeitung der Forschungen von K.R.O.S.S. widmete. Das Ziel ihrer Arbeit war insbesondere die Suche nach einem Heilmittel für die Geschädigten.“

Trotz seiner Bemühungen, ein Pokerface zu wahren, konnte Yuki nur skeptisch schnauben. Er hatte sich von Anfang an keine Hoffnungen gemacht, den Körpertausch irgendwann wieder zu beherrschen. K.R.O.S.S. hatte seine Daten viel zu gut verschlüsselt und seine Spuren zu gut verwischt. Niemand außer Ryami hatte vermutlich jemals über alle Informationen verfügt und Ryami hatte sie mitgenommen – nicht ins Grab, aber dorthin, wo auch immer sie jetzt war. Für Yuki war es nicht nur moralisch fragwürdig, sondern auch Zeitverschwendung, sich mit den Papierbergen aus der K.R.O.S.S.-Zentrale zu beschäftigen.

„Aufgrund des Beschlusses dieses Rats wurde dem Forschungsstab ein Budget für Forschungen über die Dauer von zunächst fünf Jahren zugesichert. Diese Zusage wurde später um zwei weitere Jahre verlängert.“

Unhörbar für die anderen Ratsmitglieder seufzte Yuki leise. Dieser Verlängerungsbeschluss war zu einer Zeit gefasst worden, in der Kei ebenfalls dem Rat angehört hatte. Yuki war zwar bewusst, dass Kei mit seiner Stimme vor allem ihm helfen wollte, aber sie hatte damals einen gehörigen Streit zwischen dem Paar ausgelöst. Sicher hatte auch der seinen Teil dazu beigetragen, dass Kei nach einem kurzen Gastspiel recht schnell wieder aus dem Rat ausgeschieden war. Aufgrund seines großen schamanischen Talents und seines Anteils am Ende von K.R.O.S.S. war er gewählt worden, nachdem er Sitzungen aber regelmäßig geschwänzt hatte, eingeschlafen war oder die Tagesordnung öffentlich als stinklangweiligen Blödsinn bezeichnet hatte, hatte der Vorsitzende ihm nach wenigen Monaten den Rücktritt nahegelegt. Ryu bewunderte zwar wie so viele Keis enormes Talent, war jedoch genervt von dessen Sorglosigkeit und Unzuverlässigkeit. Heute befand er sich zwar nicht mehr im Rang unter Kei, doch zugegebener Maßen war Ryu auch etwas eifersüchtig gewesen, dass er selbst sich diesen Rang hatte hart erarbeiten müssen, während Kei diese Kraft in die Wiege gelegt war. Natürlich hatte er aber nicht deshalb Kei das Ausscheiden aus dem Rat empfohlen, sondern wegen seiner wiederholten Verstöße, die er etwa mit „Wie konnte ich nur annehmen, dass du irgendwann erwachsen wirst.“ kommentiert hatte.

„Da dieser Beschluss in zwei Monaten ausläuft und damit die Fördermittel für weitere Forschungen nach dieser Frist eingestellt würden, hat die Leiterin des Forschungsstabs einen Antrag auf eine weitere Verlängerung eingereicht. Das Papier wurde Ihnen mit der Einladung zugeleitet. Bevor ich es Ihnen vorlese, schlage ich aber vor, die Verfasserin persönlich anzuhören.“
 

Nachdem sich kein Widerstand in den Reihen der Ratsmitgliedern regte, veranlasste Ryu in seiner Vorsitzendenfunktion die Anhörung der Leiterin des Forschungsstabs. Er nahm nun auch endlich in seinem Sessel an der Stirnseite des Sitzungssaals Platz, während die junge Frau hereingeführt wurde.

Es war eine Frau, die er nur zu gut kannte, nämlich seine eigene ehemalige Schülerin. Kiku hatte nach der Schule eine ungewöhnliche Kombination von Studien der Biochemie und Psychologie abgeschlossen und sich schon während dieser an der Aufarbeitung der Unterlagen von K.R.O.S.S. beteiligt. Vielleicht weil sie selbst dem Irrweg dieser Organisation gefolgt war, vielleicht auch weil mehrere ihrer Freunde geschädigt worden waren, schien es ihr ein ganz persönliches Anliegen zu sein, Wiedergutmachung leisten zu können, indem sie ein Heilmittel entdeckte.

Kiku war sichtlich aufgeregt, als die Absätze ihrer Stiefeletten auf dem Marmorboden laut verkündeten, dass sie in die Mitte des großen Saals trat. Um ihre Nervosität zu überspielen, grinste sie frech und winkte zu ihrem ehemaligen Lehrer und dessen Bruder, aber Yuki erkannte, dass ihre Hand dabei ein wenig zitterte. Auch ihr Äffchen Jack, das auf ihrer Schulter saß, schaukelte ein wenig hin und her.

„Sehr geehrter Rat der Zalei“, begann Kiku, nachdem ihr das Wort erteilt worden war, „Wie Sie wissen, leistet unser Forschungsteam seit inzwischen fast sieben Jahren harte Arbeit, um das verlorene Wissen wiederzufinden, das die Organisation K.R.O.S.S. auf Kosten unserer Gesellschaft erlangt hat. Dabei haben wir schon so einige Erfolge verbuchen können, besonders was die Natur und Messbarkeit des schamanischen Talents angeht. Gleichzeitig arbeiten wir unermüdlich daran, den Opfern der früheren K.R.O.S.S.-Experimente helfen zu können. Die Zusammensetzung der verabreichten Substanzen war hochkomplex und ausschließlich der früheren K.R.O.S.S.-Leiterin bekannt. Auch wenn wir schon weit gekommen sind, benötigen wir noch mehr Zeit. Ich bitte Sie deshalb im Namen des ganzen Forschungsstabs und im Interesse der Opfer von K.R.O.S.S., Ihre finanzielle Unterstützung zu verlängern.“

Mit ihren letzten Worten deutete Kiku einen Knicks an. Gespannt sah sie sich in den Reihen der Ratsmitgliedern um, in deren Gesichtern sie von selbstverständlicher Zustimmung über Mitleid für die Opfer und Verachtung für K.R.O.S.S. bis hin zu strikter Ablehnung jede Haltung lesen konnte.

Ausgerechnet Yuki ergriff als erster Vertreter des Rats das Wort.

„Abgesehen davon, dass mich die Formulierung „im Interesse der Opfer“ etwas stört, will ich auch eine Frage stellen“, Yuki setzte sich mit geraden Rücken auf, während er ein paar weiße Strähnen hinter seine Schultern warf. „Bei der Gründung des Kontroll- und auch des Forschungsstabs ging es dem Rat damals in erster Linie darum, mit den alten Praktiken abzuschließen, die zum bekannten Desaster geführt haben. Sollte unser Interesse deshalb nicht sein, endlich die Akte K.R.O.S.S. ein- für allemal zu schließen? Dazu gehört auch, nicht mehr ständig in ihren Unterlagen zu wühlen oder sogar alte Forschungen fortzusetzen.“

„Unsere Forschungen entsprechen keineswegs denen von K.R.O.S.S.“, Kiku hob abwehrend die Hände. „Unsere Praktiken sind allesamt legal und wir arbeiten grundsätzlich nicht mit Versuchen an Lebewesen, weder menschlichen noch tierischen. Wir untersuchen die chemischen Zusammenhänge und Reaktionen von biologischen, psychologischen und parapsychologischen Phänomenen ausschließlich unter Laborbedingungen.“

„Ich kenne eure Forschungen und ich will euch auch keine illegalen Experimente unterstellen“, winkte Yuki ab. „Mir geht es um die Frage, ob sich die Gemeinschaft der Zalei nicht moralisch mitschuldig macht, wenn sie die Forschungen von K.R.O.S.S. anerkennt und sogar fortsetzt. Oder um es noch krasser auszudrücken: erteilt die Gemeinschaft der Zalei dann nicht rückwirkend ihr Einverständnis mit den Praktiken von K.R.O.S.S.?“
 

Für einen Moment herrschte betroffenes Schweigen im Saal, gefolgt von verunsichertem Getuschel. Auch Kiku selbst musste einmal trocken schlucken und sich räuspern, bevor sie antworten konnte.

„Auf keinen Fall! Die ganze Gesellschaft der Zalei, dieser Rat und unser Stab distanzieren sich ganz ausdrücklich von K.R.O.S.S. und seinen Methoden. Aber Yuki! Nur weil die Erkenntnisse durch ungesetzliche Praktiken erlangt wurden, willst du sie wegwerfen, obwohl man mit ihnen vielen Menschen helfen könnte?“

Nur weil…? K.R.O.S.S. hätte niemals über diese Informationen verfügen dürfen, genauso wie vielleicht auch wir oder irgendjemand anders nicht darüber verfügen sollte. Vergessen wir nicht, um welche Art von Erkenntnissen es hier geht!“, nun lehnte sich Yuki in seinem Sessel vor, um seinen Worten mehr Gewicht zu verleihen. „Es geht um Wissen, wie man das Bewusstsein gewaltsam aus dem Körper treibt, wie man das Bewusstsein gewaltsam im eigenen oder einem fremden Körper einsperrt, wie man schamanisches Talent versiegelt, löscht oder stiehlt. Ich halte es durchaus für eine sehr gute Lösung, wenn dieses Wissen einfach verloren bleibt.“

„Das ist deine Meinung, Yuki. Wenn du deine Chance auf Heilung deiner Moralvorstellung opfern willst, kannst du das gerne tun. Darüber haben wir ja schon früher geredet. Aber sprich bitte nicht für andere Opfer, die tagtäglich leiden und ein Heilmittel dankbar annehmen würden, egal aus welcher Quelle.“
 

Kiku atmete schwer. Sie musste sich sehr beherrschen, nicht die Stimme zu erheben. Jack auf ihrer Schulter spürte wohl ihre Erregung und ihren Missmut, denn er maulte auf seine Art nach.

Ja, sie hatte schon vor Jahren mit Yuki diese Diskussionen geführt. Tatsächlich hätte sie ihm – vielleicht – schon lange helfen können, wenn er nur bei den Forschungen mitgearbeitete hätte. In Yukis Fall war sein schamanisches Talent an sich unangetastet geblieben, jedoch seine telepathische Pforte versiegelt worden. Nach allen Daten von K.R.O.S.S., die der Forschungsstab inzwischen zugänglich gemacht hatte, fehlte nicht mehr viel, um ein Serum zu entwickeln, das diese Versiegelung aufheben konnte. Nur lehnte Yuki leider aus moralischen Gründen jede Zusammenarbeit kategorisch ab. Er hielt es für ethisch falsch, auch nur annähernd denselben Weg zu beschreiten wie K.R.O.S.S. und war dabei zu keinem Kompromiss bereit.

Bei den anderen Opfern von K.R.O.S.S. sah es dagegen ganz anders aus. Lans schamanische Kraft war komplett gestohlen und Ryami übertragen worden. Um Lan zu helfen, musste man nicht nur seine Kraft wiederfinden, sondern anschließend auch wieder auf ihn zurückübertragen. Dazu musste man aber zuerst Ryami retten. Inzwischen wusste der Forschungsstab, dass Ryamis Bewusstsein wohl gewaltsam aus ihrem Körper getrieben und dieser anschließend versiegelt worden war. Damit war es ihm zum aktuellen Zeitpunkt nicht nur unmöglich, Ryami sondern auch Lan zu helfen. Ryami lag seit bald zehn Jahren in einem Krankenhaus im Koma und wurde nur durch Maschinen am Leben erhalten. Taki gab die Hoffnung jedoch nicht auf, dass ein Durchbruch in Kikus Forschungen ihrer Schwester eines Tages das Leben retten würde. Diesen Wunsch hätte Kiku ihrer Freundin nur zu gern erfüllt.

Während Ryami ihre Haltung nicht kommunizieren konnte, Lan so ziemlich alles völlig egal war und Yuki die Fortsetzungen der Forschungen strikt ablehnte, unterstützte Pierre diese sehr. Anfangs hatte Kiku angenommen, dass Pierre deshalb weniger moralisch und mehr praktisch an die Sache herangegangen war, weil er selbst Mediziner war. Mit der Zeit hatte sie aber verstanden, dass es dem Tierarzt, obwohl er sich anfangs noch alle Mühe gegeben hatte, seine Leiden kleinzuspielen, richtig schlecht ging. K.R.O.S.S. hatte ihm ein Mittel verabreicht, das sein Bewusstsein aus seinem Körper trieb und diesen anschließend versiegelte, so dass es nicht zurückkehren konnte. Dafür war die Dosis glücklicherweise zu gering gewesen, aber es hatte gereicht für die Dauerkarte einer wilden Achterbahnfahrt und damit verbundene Leiden. Die Wirkung schien sogar mit der Zeit immer unberechenbarer zu werden. Um Pierre helfen zu können, musste die teilweise Versiegelung seiner telepathischen Pforte gelöst und die Wirkung des Mittels aufgehoben werden, das sein Bewusstsein aus seinem Körper trieb. Hätte Yuki sich zu einer Zusammenarbeit mit dem Forschungsstab überwinden können, hätte also auch Pierre zumindest teilweise davon profitieren können. Wenn Yuki doch nur nicht so ein verdammt sturer Gutmensch wäre!

Kiku stand in regelmäßigem Kontakt mit dem Tierarzt. Gerade letzte Woche erst hatte sich Pierre einen Tag Zeit genommen, um sie bei ihren Forschungen zu unterstützen. Bei dieser Gelegenheit hatte Kiku wieder einmal unmittelbar die Spätfolgen dieses Mittels von K.R.O.S.S. beobachten können. Sie war eine der wenigen, die wussten und verstanden, warum der Tierarzt immer häufiger versuchte, den Schmerz und die Erinnerung in Alkohol zu ertränken.

Kiku hätte ihm nur zu gern geholfen. Für sie war es aber deutlich schwerer, zwei Heilmittel auf einmal zu entwickeln, deren Wirkungen sich nicht gegenseitig blockierten. Kiku war zuversichtlich, dass sie es schaffen konnte, aber es kostete eben mehr Zeit und Geld. Deshalb war sie darauf angewiesen, dass der Rat ihr heute beides bewilligte.
 

„Du hast recht, Kiku. Ich bin heute nicht hier als Opfer von K.R.O.S.S., sondern als Mitglied dieses Rates. Als solches bin ich der Meinung, dass es unsere Verantwortung und unsere Pflicht ist, ein gefährliches Wissen wie dieses zum Schutz aller Zalei zu vernichten, und uns ganz klar von den früheren Verbrechen von K.R.O.S.S. zu distanzieren, indem wir nicht in dessen Fußstapfen treten, um seine Forschungen fortzusetzen“, wiederholte Yuki seinen Standpunkt.

„Es gibt Menschen, die unter diesen früheren Verbrechen leiden und auf Hilfe hoffen. Diese Hoffnung willst du wegen deiner Prinzipien enttäuschen“, erwiderte Kiku, noch immer hörbar geladen. „Aber was noch schlimmer ist: es gab bereits einmal eine Organisation, die dieses gefährliche Wissen erlangt und damit diese Verbrechen begangen hat. Wer sagt uns denn, dass so etwas nicht wieder passen kann? Und dann stehen wir wieder da, ohne dieses Wissen, ohne Heilmittel, ohne Hoffnung. Ist das nicht noch viel unverantwortlicher?“

„Diese Forschungen sind ein Spiel mit dem Feuer. Wir sind der Gesellschaft der Zalei und ihrem Schutz verpflichtet.“

„Ganz genau!“
 

Tatsächlich ging die ganze Diskussion um Moral, Ethik und Praktikabilität der Forschungen mit ihrem ganzen Für und Wider noch eine ganze Weile hin und her. Dem Stand der Sonne nach war es schon nach Mittag. Yuki und Kiku blieben die ganze Zeit über die Hauptakteure, auch wenn sich mehr und mehr weitere Ratsmitglieder in die Diskussion einklinkten. Es wurden viele Aspekte angesprochen und erörtert, doch letztendlich war das ganze Thema in seiner Komplexität nicht mit einer eindeutigen Haltung zu beantworten.
 

„Wir haben wohl genug über die Hintergründe und Haltungen gehört“, brach Ryu die Diskussion schließlich ab. Er strich ein paar schwarze Haarsträhnen aus seinem Gesicht und richtete sich in seinem Sessel auf. „Wenn du um Verlängerung der Unterstützung bittest, um welche Größenordnung und Dauer sprechen wir da, Kiku?“

Erleichtert, sich nicht weiter mit der Sturheit dieses Moralapostels von Yuki auseinander setzen zu müssen, richtete sich Kiku an ihren ehemaligen Lehrer. Mit einem Finger schob sie elegant ihre Brille nach oben. Yuki stützte dagegen den Kopf in eine Hand, während er mit der anderen über Minuits Kopf strich, die wenig zuvor auf der Lehne seines Sessels gelandet war.

„Die bisherige monatliche Summe für zwei weitere Jahre,“ gab Kiku an.

Auch wenn Yuki nach wie vor kein Interesse zeigte und sie nicht sagen konnte, ob sie Lan und Ryami jemals würde helfen können, so wollte sie wenigstens Pierres Schicksal erleichtern. Dafür sollten zwei weitere Jahre der Forschungsarbeit ausreichen. Vielleicht würde sie dann sogar auch Meister Adoy helfen können, der Kikus Meinung nach nach zehn Jahren in einem Terrarium aufgrund seiner guten Führung Milde verdient hatte. Ryu nickte nüchtern, bevor er sich ans Gremium wandte.

„Gibt es noch weitere Rückfragen, Ergänzungen oder Anträge zu diesem Tagesordnungspunkt? Andernfalls gehen wir zur Abstimmung über, bevor wir uns dem nächsten Tagesordnungspunkt zuwenden.“

In der folgenden Abstimmung beschloss der Rat mit knapper Mehrheit von fünf zu sieben Stimmen, den Forschungsstab für weitere zwei Jahre finanziell zu unterstützen. Kiku bedankte sich daraufhin überschwänglich beim Rat, bevor sie dessen Mitglieder ihrer weiteren Tagesordnung überließ. Auf ihrem Weg hinaus ließ sie es sich jedoch nicht nehmen, in einem unbeobachteten Moment Yuki triumphierend die Zunge rauszustrecken.
 

Zu dieser Zeit hatte die heutige Rittershow schon ein jähes Ende gefunden.

Zuerst hatte nichts vermuten lassen, dass ein Unglück bevorstand. Kei war mit viel Spaß seinem Job als Hofnarr nachgegangen und hatte das Publikum auf den sich füllenden Rängen unterhalten, bis die Show begonnen hatte. Der Hofstaat war eingezogen, danach die edlen Ritter, die sich in einem Turnier hatten messen wollen. Plötzlich hatte dann der berüchtigte Schwarze Ritter mit seinem furiosen Auftritt auf seinem schwarzen Ross das königliche Fest gesprengt. Er war durch das Tor galoppiert, einmal rundum durch die Arena gejagt und hatte seinen schwarzen Hengst direkt vor die Bühne des Königspaares gelenkt, wo der sich wiehernd aufgerichtet hatte. Wie bei jedem ersten Auftritt des Antagonisten war ein Raunen durch die Menge gegangen. Kei hatte diesen Teil der Show von der Seite hinter der Bühne des Königspaares beobachtet. Für die Minuten, in denen Lan in seiner schwarzen Rüstung auf Onyx‘ Rücken saß, war er ganz und gar der Alte. Er provozierte den König und die anderen Ritter mit tiefer, fester Stimme und ritt wie der Teufel.

Das Drehbuch sah vor, dass der Schwarze Ritter beim Turnier im Duell gegen den edlen königlichen Ritter unterliegen sollte. Zunächst hatten die Ritter sich beim Lanzenstoßen duelliert. Eigentlich hätte Lan erst beim vierten Ritt aus dem Sattel gehoben werden und sich danach noch mit dem Schwert weiter mit dem königlichen Ritter schlagen sollen, während sein Ross aus der Arena lief. Der andere hatte ihn aber schon beim dritten Ritt so ungünstig mit der Lanze getroffen, dass Lan vom Pferd gestürzt und dummer Weise auch Onyx kurzzeitig zu Boden gegangen war. Onyx hatte sich daraufhin aufgebäumt und war so aus der Arena galoppiert wie er es sonst nach dem vierten Ritt getan hatte. Lan war inzwischen wieder aufgestanden und hatte sein Schwert gezogen. Die Choreographie des Duells mit dem königlichen Ritter hatte er noch zusammengekriegt, aber Kei war Lans Taumeln nicht entgangen und auch nicht, dass er sich dem königlichen Ritter etwas früher hatte ergeben müssen als gewohnt. Das Publikum, das das Drehbuch freilich nicht kannte, hatte davon nichts gemerkt und applaudierte.
 

Etwas später nun hatte Kei sowohl den Schwarzen Ritter als auch dessen Pferd in den Stall gebracht. Das war nicht ganz einfach gewesen, denn beide hatten etwas abbekommen und hinkten. Onyx hatte sich nach einer Weile, die er in seiner Box gestanden hatte, auf den strohbedeckten Boden niedergelassen. Er nutzte die Gelegenheit, um sich ein paar Streicheleinheiten von seinem Herren zu ergaunern. Kei hatte Lan nämlich direkt neben der Box auf den Boden platziert, wo er nun Onyx‘ Kopf auf seinem Schoß fand. Geistesabwesend und lauthals schweigend strich Lan über das samtige schwarze Fell.

Dass Lan hinkte, war nicht zu übersehen gewesen, aber er hatte sich auf Keis Nachfrage hin nicht so recht festlegen können, ob nun sein Knie verdreht oder sein Knöchel verstaucht war. Kei hatte daraufhin beschlossen, den anderen einfach in die Ecke zu setzen und ihm einen Eisbeutel in die Hand zu drücken. Anscheinend hatte sich Lan zunächst für das Knie entschieden. So oder so, nachdem Lan noch hatte aufstehen und die Show zu ihrem vorgezogenen Ende durchstehen können, ging Kei nicht von einer ernsten Verletzung aus.

Kei wartete inzwischen auf den Tierarzt, den er für Onyx gerufen hatte. Natürlich war das niemand anders als Pierre. Deswegen hielt Kei es auch für eine sehr schlechte Idee, sich jetzt zurückzuziehen. Am liebsten allerdings hätte er sich wieder einmal unerlaubt von der Arbeit entfernt, um nach seiner Schülerin zu suchen. Ein Blick auf die Uhr verriet ihm nämlich, dass sie schon längst hätte hier sein müssen. Und überhaupt! Yukis Sitzung sollte doch auch schon langsam beendet sein! Aber eine unbeaufsichtigte Konfrontation von Lan und Pierre konnte Kei nicht verantworten. Deshalb blieb er und wartete mit Lan und Onyx.
 

Noch so einige Male tickte der Minutenzeiger seine Runden, bevor der erwartete Tierarzt die Stalltür öffnete. Manche Dinge änderten sich nie, und dazu gehörte definitiv das in Stein gemeißelte Gesetz, das Pierre nie – aber auch wirklich niemals – pünktlich war. Auf hochhackigen Stiefeln, die sicher nicht zufällig perfekt zum Leder seines Arztkoffers passten, trat er aber endlich ein. Pierre hatte heute wohl einen guten Tag, denn er wirkte recht gesund. Sein Teint sah frisch aus und er hatte auch sein Haar gerichtet. Pierre trug seine blonde Mähne inzwischen deutlich kürzer als früher, gerade so lang, dass sie in großen, gestuften Locken sein Gesicht umrahmte. Antoinette, die wie eine Stola über seinen Schultern lag, federte mit seinen Schritten mit.

„Bon-“, begann Pierre mit einem Lächeln, das augenblicklich verschwand, sobald sein Blick den Schwarzgekleideten in der Ecke traf. Genervt die Augen verdrehend beendete er seinen Gruß „-jour.“

„Hi, Pierre! Danke dass du so schnell gekommen bist. Es gab einen Unfall bei der Rittershow.“

Kei war zum Eingang des Stalls geeilt, um Pierre vorsichtshalber den Rückweg abzuschneiden, sollte der sich bei Lans Anblick aus dem Staub machen wollen. Eine reine Vorsichtsmaßnahme. Pierre atmete laut aus, schien aber keine Fluchtgedanken zu hegen. Auch Lan hatte das Gesicht verzogen und starrte demonstrativ in eine andere Richtung.

„Isch hätte gleisch wissen sollen, dass heute nischt du geritten bist, sondern Lan. Lan kann ja auch absolut gar nischts mehr“, spottete Pierre provozierend.

„Hey! Das stimmt doch nicht“, winkte Kei beschwichtigend mit den Armen „Lan ist echt toll geritten. Der andere hat nur die Choreographie verpeilt. Deshalb ist Onyx gestürzt.“

„Naturellement. Es sind immer die anderen.“

Kei führte Pierre zu Onyx‘ Box hinüber, was es den beiden Streithähnen schwer macht, einander zu ignorieren. Jetzt wo er dem Franzosen näher kam, bemerkte Kei erst den verräterischen Geruch von Alkohol. Pierre machte in diesem Moment keinen alkoholisierten Eindruck, aber es erinnerte Kei daran, dass er diesen Geruch nicht zum ersten Mal in seiner Gegenwart wahrnahm.

Lan biss fest die Zähne zusammen, als könnte er sich dadurch davon abhalten, Pierres Provokationen mit Beleidigungen zu beantworten. Seine Züge spiegelten jedoch deutlich seinen Ärger.

Pierre dagegen ignorierte den anderen zunächst vollständig. Nachdem er seine Arzttasche abgestellt hatte, ließ er Antoinette auf den Boden gleiten. Er brachte Onyx dazu, aufzustehen und untersuchte den Hengst, ohne dabei ein Wort oder auch nur einen Blick an dessen Reiter zu verlieren.

„Normallement würde isch ja den Zalei bitten, in den Körper seines Carn zu schlüpfen und mir zu sagen, wo es wehtut. Aber in diesem speziellen Fall geht das ja nischt.“

Pierre streute aus purer Boshaftigkeit Salz in die Wunde und beobachtete mit einem verstohlenen Blick über die Schulter seinen Erfolg. Fältchen um seine eisblauen Augen verrieten sein Lächeln. Blass und mit tiefen Augenringen lehnte Lan an der Wand, immer noch bemüht, nichts zu sagen. Aber sein Zorn war nicht zu übersehen. Für einen Moment fürchtete Kei schon, dass Lan sich auf Pierre stürzen würde, um ihm mit bloßen Händen den Kopf abzureißen. In diesem Moment war er froh, dass Lan beim Turnier gestürzt und allein körperlich nicht in der Lage dazu war.
 

Es dauerte nicht lang, bis Pierre das Problem in einer Verletzung an Onyx‘ linkem Vorderlauf ausgemacht hatte. Der Hengst signalisierte durch lautes Wiehern, dass es die schmerzende Stelle war, als Pierre erneut darüber strich.

„Ah voilà. Onyx war schon immer kooperativer als sein Zalei.“

„Was willst du eigentlich von mir?“, zu jedermanns, vermutlich auch Lans eigener, Überraschung schwang nicht halb so viel Aggression in seiner Stimme mit, wie er erwartet hatte. Seine Stimme klang zwar ärgerlich, aber auch so ausgelaugt wie es seinem Aussehen entsprach.

„Gar nischts!“, Pierre drehte sich nun tatsächlich vollständig zu Lan um und sah ihn direkt an. „Du hast es wirklisch geschafft, dass isch gar nischts mehr von dir will, außer dass du endlisch deinen Hintern zum Gerischt bewegst und deinen verdammten Namen unter dieses Papier setzt!“

„Papier…?“, fragte Kei ahnungslos.

„Scheidung“, antwortete Lan so knapp wie nur möglich.

Inzwischen hatte Pierre seine Arzttasche geöffnet, einige Werkzeuge und Mittelchen daraus entnommen und begann, Onyx‘ Wunde zu versorgen.

„Ihr wollt euch scheiden lassen?“, wiederholte Kei.

„Oui, ist das so überraschend? Wir streiten ja nur noch. Aber Lan ist seit Monaten nischt in der Lage, einen Kalender zu lesen oder seinen Namen zu schreiben. Pauvre petit Lan, kann überhaupt nischts mehr.“

Lan antwortete zunächst nicht. Aber Kei erkannte, dass sich die sonst so versteinerte Miene veränderte. Er glaubte sogar zu erkennen, wie die Wut nun Traurigkeit wich. Die beiden Männer waren nicht nur wütend aufeinander. Da steckte wohl deutlich mehr dahinter.

Natürlich war Kei nicht entgangen, dass die beiden Männer schon lange nicht mehr das verliebte Ehepaar gewesen waren, das vor Glück fast platzte. Die teilweise sehr lauten Auseinandersetzungen und die kleinen und großen Boshaftigkeiten waren nicht zu übersehen gewesen. Mit derselben Leidenschaft, mit der sie sich früher geliebt hatten, machten sie jetzt einander das Leben schwer. Was konnte nur passiert sein, dass diese große Liebe sich zu dem hier entwickelt hatte?

„Beim Termin vor zwei Monaten hat uns der Richter wieder nach Hause geschickt, weil du sternhagelvoll warst, Pierre. Du kannst nicht nur mir die Schuld geben, dass wir immer noch verheiratet sind.“

„Ich glaub das alles gar nicht“, gab Kei hilflos zu, als er sich gegen das Holz neben Onyx‘ Box lehnte. „Ihr habt euch doch so geliebt! Ihr habt so viel für einander geopfert, Jahre auf einander gewartet und hättet euer Leben für den anderen gegeben. Die erste Zeit nach Adoy hätte ich nicht gedacht, dass auch nur ein Blatt zwischen euch passt.“

Keis Worte hatten die Männer tatsächlich in ein nachdenkliches Schweigen gehüllt.
 

„Was ist nur mit euch passiert?“

„Es ist einfach zu viel“, ausgerechnet Lan antwortete nun mit zittrigem Ton. „Ich bin mir selbst zu viel, Pierre ist sich selbst zu viel und zusammen sind wir einander erst recht zu viel.“

„Aber so endet doch keine Liebesgeschichte!“, protestierte Kei. „Was ist aus „in guten wie in schlechten Zeiten“ geworden?“

„… Es konnte ja keiner ahnen, wie schlecht die schlechten Zeiten werden würden…. Außerdem hat Pierre ja seine neue Liebe, Wein…“, hauchte Lan mehr als er sprach. Dabei legte er den Eisbeutel nun auf seinen Kopf, möglicherweise um seine Augen dahinter zu verbergen, deren Blick immer unfokussierter wurde.

„Dann beende es doch endlisch, mon dieu! Na los! Geh zum Gerischt und zieh endlisch einen Schlussstrisch! Zut! Tu uns beiden den Gefallen!“

Zornig schleuderte Pierre den Tupfer zu Boden, den er eben in der Hand gehalten hatte. Dabei bemerkte Kei, wie verräterisch ein Ring an besagter Hand im Sonnenlicht aufblitzte, das durch die Fenster drang. In einem schweren Schritt auf Lan zu hatte Pierre sich erhoben. Sein Gesicht zeigte kaum noch Verletzung, nur blanke Wut.

Er wollte wohl noch ein paar weitere Kommandos oder Beleidigungen nachsetzen, doch stattdessen entfuhr ihm nur ein schmerzverzerrtes „Haah“. Eben noch war Kei erschrocken herumgefahren, um Pierre zurückzuhalten. Doch jetzt fiel ihm die Aufgabe zu, ihn zu stützen. Der Tierarzt sackte plötzlich kraftlos zusammen. Er atmete schwer, zitterte und zischte irgendwelche Flüche zwischen die Zähne hindurch, die Kei nicht recht verstehen konnte. Unter Schmerzen verkrampften sich alle Glieder des Franzosen, während er mit sich rang. Vermutlich dauerte das ganze Schauspiel weniger als eine Minute, doch Kei schien es wie eine Ewigkeit. Schließlich fiel Pierres Körper leblos in seinen Arm.
 

Kei brauchte noch einen Moment, bis er begriff, was passiert war. Das Mittel, das K.R.O.S.S. Pierre verabreicht hatte, wirkte aufgrund der zu geringen Dosis nicht dauerhaft, aber völlig unberechenbar. Diese unkontrollierbare Wirkung schien sogar mit den Jahren immer schlimmer zu werden. Aus heiterem Himmel fühlte Pierre dann ein Kribbeln ähnlich wie das von eingeschlafenen Füßen, das sich in seinem ganzen Körper ausbreitete. Anschließend wurde er so wie eben gegen seinen Willen zum Körpertausch gezwungen. Pierre konnte das nicht kontrollieren und sich nicht wehren, meistens sah er es nicht einmal kommen. Nach all den Jahren hatte er nur bemerkt, dass es öfter passierte, wenn er übermüdet oder gestresst war. Oft passierte es auch, wenn er betrunken war. Allerdings flüchtete sich Pierre auch immer wieder in seinen Wein, um den Schmerzen zu entgehen. Ein Teufelskreis.

Nach einer Weile konnte Pierre wieder in seinen eigenen Körper zurückkehren, doch nachdem das Mittel von K.R.O.S.S. auch seine telepathische Pforte halb versiegelt hatte, war das mit großer Anstrengung und noch größeren Schmerzen verbunden. Auch nach der Rückkehr in seinen Körper nahm das schmerzhafte Kribbeln erst langsam ab. Es machte jedes Muskelzucken zu einer Qual.

„War das…?“, fragte Kei heiser, während sein Blick zu der schwarzen Kobra wanderte, die sich ein paar Meter weiter über den strohbedeckten Boden schlängelte.

„Ich.“

„Was?“, Kei warf Lan einen verwirrten Blick zu. Der andere hatte inzwischen die Augen geschlossen und presste den Eisbeutel fester gegen seinen Kopf.

„Das war ich. Ich hab ihn wütend gemacht, deswegen ist’s passiert. Meine Schuld, weil ich ihn immer aufrege“, Lans Stimme begann zu zittern. „Oder weil ich ihn errege… oder weil er nicht genug Schlaf bekommt. Oder weil ich da bin, oder weil ich eben nicht da bin.“ Aus halbgeöffneten Augen warf Lan Kei einen traurigen Blick zu, seine Augen wurden glasig und glänzten als ob sich langsam Tränen in ihnen sammelten. „So generell ist es eigentlich immer meine Schuld.“

„Pierre gibt dir die Schuld?!“

„Ja, es ist meine Schuld. … Sie hätten Pierre gar nicht erwischt, wenn er nicht meinetwegen im Ratsgebäude gewesen wär.“

Okay… Kei wusste ja, dass Lan sich gerne in Selbstmitleid suhlte, vor allem in Bezug auf seine verlorene Kraft, aber das war ihm jetzt neu. Es war offensichtlich auch Pierre neu, denn Kei beobachtete, wie sich die Schlange neugierig aufrichtete.

Inzwischen hatte Kei in dieser Angelegenheit seine eigenen Schlüsse gezogen. Beide Männer trugen immer noch ihre Eheringe, beide fanden immer wieder irgendwelche Ausflüchte, um nicht zum Scheidungstermin zu erscheinen, und beide waren schon immer ausgesprochene Dramaqueens gewesen.

„Äh… Ich glaub, du spinnst“, war deshalb Keis ganz klare Diagnose dazu. „Wie lang dauert das hier denn so üblicher Weise?“

„Eine Minute, eine Stunde, ein Tag… kommt drauf an“, seufzte Lan. „Kann man eh nicht ändern.“

„Man kann alles ändern.“
 

Kei legte den leblosen Körper des Franzosen vorsichtig ab. Mit einer Hand griff er nach dessen Hand, während er die andere auf den Körper der schwarzen Schlange legte. Sich selbst setzte er im Schneidersitz zwischen die beiden und schloss die Augen. Er atmete langsam und tief ein.

Nicht ohne Grund nannten sie Kei einen der stärksten Zalei überhaupt. Ryami hatte ihm damals den Anstoß gegeben, als sie sein Bewusstsein zwangsweise auch in andere Körper gedrängt hatte als in seinen oder Robins. Kei war natürlich bei weitem nicht so stark wie Ryami es damals gewesen war. Aber er hatte gelernt, telepathischen Verbindungen zu folgen, wenn er den betroffenen Schamanen berührte und der es ihm gestattete. Es hatte Jahre gedauert, aber dank Yukis und Minuits Unterstützung, hatte Kei diese Fähigkeit kontrollieren gelernt. Ganz einfach war es nicht und auch bei weitem anstrengender als der Körpertausch mit seinem eigenen Carn.

Dementsprechend dauerte es einige Minuten, bis Kei sein Ziel erreicht hatte. Er schaffe es schließlich, Pierres Bewusstsein in seinen Körper zurückzugeleiten. Aber dabei spürte er auch die Barriere der unvollständigen Versiegelung. Kei wunderte es nicht, dass Pierre sie ohne Hilfe erst nach einer ganzen Weile und nur unter großer Qual passieren konnte. Es gelang ihm diesmal gleich, sie zu überwinden, aber die Anstrengung war beiden Zalei ins Gesicht geschrieben.

Kaum dass Kei seine Trance gelöst hatte, fiel er vornüber und stützte sich mit beiden Händen auf dem kalten Boden ab. Er rang nach Luft. Pierre dagegen wand sich stöhnend und mit schmerzverzerrtem Gesicht. Seine Augen waren fest zusammengepresst und seine Hände zu Fäusten geballt.

Lan beobachtete die Szene ausdrucks- und regungslos. Er lehnte an der Wand, den Eisbeutel an seinem Kopf, und atmete schwer. Hin und wieder blinzelte er angestrengt, wenn das Bild vor seinen Augen unklar wurde oder sich zu drehen begann.
 

„Du… Du bist ein Vollidiot!“, beendete Pierre schließlich das Schweigen. Mit viel Mühe stützte er sich auf einen Arm und drückte sich langsam nach oben, so dass er Lan ansehen konnte. „Isch hatte irre Schmerzen, als isch das gesagt habe. Das hab isch doch nischt wirklisch so gemeint!“

Für einen Moment überlegte Kei, ob er Pierre vielleicht hoch helfen sollte. Aber er entschied sich vorerst dafür, einfach so zu tun als ob er gar nicht da wäre. Für einen kurzen Moment streifte sein Blick den schwarzen Hengst vor sich. Offensichtlich teilte Onyx seinen Gedanken, denn er hielt sich trotz seiner nur halbversorgten Verletzung mucksmäuschenstill.

Währenddessen war Pierre mit viel Mühe aufgestanden. Seine Knie zitterten ein wenig unter seinem Gewicht und Kei wunderte sich, wie er sich überhaupt auf den hohen Absätzen halten konnte. Mehr als das schaffte Pierre es aber sogar auch, ein paar Schritte auf Lan zuzugehen.

„Mit solschen Schmerzen kann isch nischt klar denken und sage Dinge, die mir später sehr leid tun. Isch hab dir nie die Schuld an dem gegeben, was passiert ist, Lan. Nie!“

Immer noch stumm, aber dafür mit vielsagendem Ausdruck beobachtete Lan den anderen. Überraschung, Erleichterung und Schmerz sprachen aus den weit geöffneten Augen, aus deren Winkel sich nun tatsächlich eine einzelne Träne stahl.

„Aber du hast zu mir gesagt, du kannst das alles nischt mehr. Weil deine Kraft gestohlen wurde, hast du nischt mitansehen können, wenn isch die Körper tauschte. Du bist gegangen, als isch disch gebraucht habe, und du bist nischt wiedergekommen. Du hast misch mit einem simplen „Isch kann das nischt mehr“ einfach im Stisch gelassen!“

„W-weil… weil ich überhaupt nichts tun konnte. Nichts. Überhaupt nichts. Jeden Tag hast du gekämpft, hattest Schmerzen…. Du bist immer öfter zu deinem Wein gekommen und nicht zu mir… Du hast mir die Schuld gegeben“, Lan schloss die Augen und atmete tief ein. Der Eisbeutel rutschte über seine Stirn und fiel zu Boden. Dabei gab er den Blick auf das blasse Gesicht und die glitzernden Tränen in Lans Augenwinkel frei. „Ich war dir keine Hilfe, stattdessen hab ich immer wieder deine Anfälle ausgelöst… Das hab ich nicht mehr ausgehalten. Ich dachte,… du und dein Wein, ihr seid besser dran, wenn ich dich nicht mehr ständig aufrege…“

„… Du bist vielleicht ein Idiot“, nun kamen auch Pierre die Tränen. „Der Wein ist ein sehr schleschter Ersatz für disch. Die Schmerzen waren erträglischer, wenn du da warst. Es war alles erträglischer, wenn isch wusste, dass isch bald in meinem Körper wieder aufwache und du misch dann im Arm hältst.“

„… Das kann ich auch ohne meine Kraft noch…“, flüsterte Lan kaum hörbar.

„Oui, das kannst du.“

Pierre lachte schwach und sank vor Lan auf die Knie. Der andere beugte sich ein wenig vor und nahm ihn mit offenen Armen in Empfang, bevor er ihn an sich zog. Sich ganz in die Umarmung fallen lassend legte Pierre den Kopf an Lans Schulter und schloss langsam die Augen. Er erlaubte es sich zum ersten Mal seit Monaten, sich in der Gegenwart eines anderen völlig fallenzulassen. Monate waren vergangen, aber sofort erinnerte er sich an die Wärme der Umarmung und den vertrauten Geruch des Mannes, der ihn festhielt. Das unregelmäßige Atmen und leise Stöhnen aufgrund der Schmerzen, ebenso wie das Haltsuchen seiner Hände im Stoff von Lans Kostüm, es war diesmal in Ordnung. Es war in Ordnung für Pierre, diese tröstende Nähe zu suchen, und es war in Ordnung für Lan, ihm nicht mehr geben zu können als diese Nähe. Sie war weit mehr Trost und Hilfe als Pierre seit vielen Monaten erfahren hatte.

Lan war wieder gegen die Wand zurückgefallen und hatte die Lider geschlossen. Die plötzliche Bewegung nach vorne, Pierre entgegen, hatte sein Schwindelgefühl von vorhin nur noch verstärkt. Geistesabwesend spielten seine Finger mit den blonden Locken des anderen. Ihm war gar nicht bewusst gewesen, wie sehr er sie vermisst hatte.

Später würde Piere Onyx‘ Verletzung weiter versorgen und sich auch um Lan kümmern, der sich bei seinem Sturz keine Knieverletzung, sondern eine leichte Gehirnerschütterung zugezogen hatte. Aber fürs Erste erlaubten sich beide Männer einmal, einfach nur den Moment und ihre Versöhnung zu genießen.
 

Spätestens jetzt fühlte sich Kei ganz schön fehl am Platz. Mit einem erleichterten Lächeln auf den Lippen stand er auf und schlich auf Zehenspitzen rückwärts aus dem Stall. Die Tür zog er so leise wie nur möglich zu, bevor er sich umdrehte und einen tiefen Zug der frischen Luft einsog.

„Die brauchen dich wohl nicht mehr.“

Erschrocken Kei fuhr herum, als er diese Stimme mit dem amüsierten Unterton hörte. An einen Zaun neben dem Weg gelehnt fiel sein Blick auf Yuki. Natürlich gesellte sich Kei sofort gerne zu seinem Freund und begrüßte ihn mit einem langen Kuss.

„Wie lang bist du schon da?“

„Ein paar Minuten. Aber als ich kurz in den Stall geschaut hab, wollte ich nicht stören und hab in der Zwischenzeit die Carn abgeholt. Ich wollte lieber hier draußen warten“, lachte Yuki etwas verlegen.

Erst jetzt bemerkte Kei die Tiere auf der anderen Seite des Weges, die Yuki beobachtet hatte. Auf der Wiese dahinter waren Frau Holle gerade mit Graben und Robin mit der Pirsch durch ein paar Sträucher beschäftigt. Es sah ganz so aus als hatte Robin in einem verdorrten Blatt, das im sanften Wind hin und her geworfen wurde, ein neues Spielzeug gefunden.

„Ja, bestimmt besser so…“, Kei lachte mit. „Die zwei sind vielleicht dämlich. Streiten jahrelang und wollen sich scheiden lassen, obwohl sie sich immer noch lieben. Hoffentlich werden wir nie so.“

„Hmh…“

„Was?“

„Ach nichts.“

„Was?!“

„Ach, ich dachte nur, dass es bei denen heute bestimmt noch heiß hergeht. Versöhnungssex und so…“

„GAH!! Warum frag ich eigentlich?!“

Kei schlug die Hände über dem Kopf zusammen, während Yuki sich über die Röte auf seinen Wangen sichtlich amüsierte. Auch nach all den Jahren konnte man Kei mit solchen Aussagen noch völlig aus der Bahn werfen. Leider fand Yuki das auch nach all den Jahren immer noch so niedlich, dass er es regelmäßig provozierte.

Doch schließlich hatte sich Kei wieder gefangen und sah seinen Freund mit todernster Miene an.

„Wieso bist du eigentlich schon da und Momoi nicht? Was wenn ihr was passiert ist?!“

„Ihr ist nichts passiert und sie ist bestimmt schon auf dem Weg. Mach dir keine Sorgen, Mama.“

„Wie soll ich mir denn keine Sorgen machen?!“

„Ich hab ihr Minuit hinterher geschickt.“

„Was…?“

„Minuit folgt Momoi von der Schule bis hierher und hat Order, sofort zu einem von uns zu kommen, wenn irgendwas passiert.“

„… Gar nicht blöd. Aber wie was das mit deinem Vortrag über Vertrauen?“, warf Kei seinem Freund einen ebenso verletzten wie bewundernden Blick zu. „Und merkt Momoi das nicht?“

„Nein, keiner hat Minuit bisher je bemerkt.“

Einen Moment überlegte Kei. So sehr ihm die Idee gefiel, räumte sie doch nicht seine letzten Zweifel aus.

„Bist du wirklich sicher, dass alles okay ist…?“

„Schau doch nach“, lächelte Yuki und streckte Kei seine Hand hin. Kei wollte schon zugreifen, als Yuki seine Hand noch einmal wegzog. „Aber warn Minuit vor.“

„Ich warn sie immer vor“, schmollte Kei, als er nach Yukis Hand griff.

Auch nach all den Jahren und trotz Nachhilfestunden von Yuki und Minuit, hatte Kei nie fliegen gelernt. Wenn er also in Minuits Körper eindrang und sie sich gerade in der Luft befand, stürzte sie unwillkürlich ab. Deshalb musste Kei darauf achten, den Körpertausch zweimal durchzuführen, wobei das erste Mal nur einen Sekundenbruchteil lang als Warnung diente. Damit wusste Minuit, dass sie für einen Moment landen musste. Während Kei ihr die Zeit dazu gab, setzte er sich auf den Zaun und lehnte sich gegen Yukis Schulter, der bereitwillig einen Arm um ihn legte. So konnte Yuki den Körper seines Freundes halten, während sein Bewusstsein diesen verließ, um in Minuits einzudringen. Die Fledermaus pausierte derweil auf einem Ast eines Baums neben einem Feld, an dem Momoi gerade vorbeiging.

„Und?“, fragte Yuki neugierig nach Keis Rückkehr.

„Sie ist schon kurz vor dem Park“, atmete Kei zufrieden auf. „Das ist echt praktisch mit Minuit. Bestimmt konntest du früher auch selbst… Moment mal!“

Kei sprang auf und baute sich direkt vor Yuki auf so hoch er konnte. Er stützte die Hände in die Seiten und setzte sein ernstestes Gesicht auf.

„Hast du mir früher etwa auch Minuit nachgeschickt?“

„Niemals.“

„Wirklich?!“

„Natürlich nicht. Du hast doch selbst gesagt, ich wusste, dass ich mir um dich keine Sorgen machen musste.“

„… Yuki!!“

Das war einfach zu süß! Diese Mischung aus Wut und Scham auf Keis Gesicht, zusammen mit der Röte auf seinen Wangen. Und dann auch noch im Hofnarrenkostüm. Yuki konnte einfach nicht anders als zu lachen. Natürlich schimpfte und protestierte Kei, doch das schien Yukis Lachanfall nur noch schlimmer zu machen.
 

Irgendwann wurde es Kei zu bunt und er stapfte wütend davon. Er kam allerdings nur ein paar Schritte weit, bevor etwas seine Aufmerksamkeit auf sich zog. In der Wiese vor sich hatte er ein paar kleine weiße Blüten entdeckt, die an satt grünen Stängeln aus dem spärlichen Gras ragten. Sie waren gesäumt von den letzten Schneefleckchen, die sich noch standhaft der Wärme der Sonne widersetzten. Neugierig kam Kei näher und erkannte, dass es die ersten Schneeglöckchen dieses Jahres waren. Unwillkürlich legte sich ein Lächeln auf seine Lippen.

Tapfere kleine Blümchen, die sich durch die harte, gefrorene Erde kämpften, um den nahenden Frühling anzukündigen. Wenn Kei sie sah, wusste er, dass der Winter bald vorbei war. Überhaupt waren sie für ihn ein Zeichen dafür, dass jede schwere Zeit irgendwann endete und das Leben weiterging.

Kei war noch ganz in Gedanken, als sich von hinten ein Paar Arme um seine Mitte legten. Kurz darauf spürte er wie Yukis Atem in sein Haar blies. Kei lehnte sich zurück bis er mit dem Rücken gegen Yukis Körper stieß. Seine Hände suchten die von Yuki, um ihre Finger zu verschränken. Doch statt der warmen, schlanken Finger ertasteten sie etwas kaltes und hartes.

Überrascht sah Kei nach unten und erkannte ein kleines, in rot-silbernes Papier verpacktes Schokoladenherz. Es war ganz genau so eines wie Yuki ihm damals im Garten geschenkt hatte und dem ihr erster Kuss gefolgt war.

„Yuki…?“, wunderte sich Kei über dieses Geschenk.

„Heute ist Valentinstag, Schussel.“

Bevor Kei irgendetwas antworten konnte, löste Yuki seine Umarmung gerade weit genug, um einmal um Kei herumzutreten. Bevor Kei so recht wusste, was geschah, fühlte er schon Yukis Lippen auf seinen. So weich und warm, Kei schloss die Augen. Yuki legte währenddessen seine Arme fester um ihn und zog ihn noch näher. Kei wurde völlig mitgerissen und vergaß beinahe alles um sich herum. Er fühlte die Wärme von Yukis Händen durch sein Kostüm, ebenso dass die eine langsam seinen Rücken hinauf wanderte und seinen Nacken strich. Wie als Antwort darauf gruben sich Keis Hände fester in den Stoff von Yukis Jacke. Doch dann fiel ihm siedend heiß etwas ein und er kämpfte sich aus dem Kuss frei.

„W-Warte! Moment! Warte…“, keuchte er, selbst nach Atem ringend.

Mit großen Augen sah Yuki seinen Freund an und wunderte sich, was diese plötzliche Zurückweisung wohl zu bedeuten hatte. Kei kramte inzwischen in seinen Taschen.

„I-Ich hab’s nicht vergessen. Also, doch… Ich hab’s schon vergessen… irgendwie. Dass es einen Valentinstag gibt, hab ich nicht vergessen, aber ich hab vergessen, dass er heute ist“, gab er mit einem verlegenen Achselzucken zu.

„Das ist okay, ich hab nicht damit gerechnet, dass du dieses Jahr dran denkst.“

„Doch, hab ich!“, betonte Kei, offenbar fündig geworden. „Ich wollte das aber eigentlich richtig machen und was vorbereiten oder so… Aber na ja… Dann halt nicht.“

„Was meinst du denn?“

Inzwischen wunderte Yuki sich nun wirklich über das seltsame Gestammel. Bevor er aber über irgendeine logische Erklärung dafür nachdenken konnte, hielt Kei ihm plötzlich ein kleines, schwarzes Kästchen unter die Nase. In dessen Mitte glänzte ein schlichter, aber elegant geschmiedeter Ring golden im Sonnenlicht.

„Willst du mich heiraten?“, brachte Kei schließlich heiser heraus, in einer merkwürdigen Mischung aus Überzeugung, genau das richtige zu tun, und Angst, es total zu vermasseln.

Für einen Augenblick versagte ihm die Stimme. Er räusperte sich in der Hoffnung, dadurch seine Stimme von ihrem unsicheren Klang zu befreien, bevor er weitersprach. Es gelang ihm nicht ansatzweise. „E-eigentlich wollte ich dir den Ring mit einer Liebeserklärung geben, aber… egal, wie oft ich angefangen hab, irgendwas aufzuschreiben, hab ich nie Worte gefunden, die annähernd das ausgedrückt hätten, was ich dir sagen wollte. … Das klingt bestimmt total dämlich, ist es vermutlich auch… Ich hab keine Worte für das, was wir haben und noch weniger für das, was es mir bedeutet… was du mir bedeutest. … A-aber was ich ganz, ganz sicher weiß, ist ich liebe dich. Auch wenn diese paar läppischen Wörter viel zu wenig sind für das hier. Ich liebe dich. Ich will nie wieder ohne dich sein. … U-und ich hoffe, du gibst mir für den Rest meines Lebens Zeit, dir alles zu zeigen, was ich nicht in Worte fassen kann.“

Völlig überrumpelt blickte Yuki auf das Schmuckstück. Er hatte ja mit so einigem gerechnet, natürlich in erster Linie damit, dass Kei wie jedes Jahr nicht an den Valentinstag gedacht hatte, aber damit ganz sicher nicht. Er war absolut, komplett und vollständig sprachlos. Weder zu einem Wort, noch zu einer Regung, ja nicht einmal zu einem Blinzeln, war er fähig.

„D-du solltest schon irgendwas sagen… irgendwas wenigstens… Sonst mach ich mir Sorgen.“

Kei fühlte, dass die Röte auf seinen Wangen intensiver wurde. Je länger Yuki nur stumm mit diesem erschrockenen Blick auf den Ring starrte, desto mehr fühlte er die Angst in sich aufsteigen. Hatte er es jetzt wirklich vermasselt?

„Ja.“

„Ja…? Ja zu was sagen oder ja zu Sorgen machen…?“

„Ja, ich will dich heiraten“, erlöste Yuki seinen Freund schließlich. Die Überraschung in seinem Ausdruck wich Rührung und überschäumender Freude. „Ich liebe dich, Kei!“

Das blieben für die nächsten Minuten die letzten Worte, die das nun frisch verlobte Paar wechselte. Denn dann nahmen Sie ihre Umarmung wieder auf und intensivierten sie. Yukis Arme schlossen sich fest um Kei und Keis Hände hielten Yuki nicht weniger fest. Es schien fast, als wollten sie einander nie wieder loslassen. Ein Kuss folgte dem anderen und ein Liebesbekenntnis dem nächsten.
 

Kei hatte schon seit einiger Zeit gewusst, dass er den Rest seines Lebens mit Yuki verbringen wollte. Er hatte den Gedanken, das mit einem Versprechen und einem Ring zu besiegeln, auch schon eine ganze Weile gehegt. Auch den Ring hatte er schon vor Wochen besorgt. Aber er hatte gehofft, Yuki einen richtig schön romantisch vorbereiteten Antrag machen zu können… wobei Kei allerdings keine wirklich konkrete Vorstellung gehabt hatte, wie der hätte aussehen sollen. Letztendlich zeigte sich aber, dass genau dieser Moment in seiner Schlichtheit wunderschön war. Alles schien perfekt: Schneeglöckchen, Schokolade und eine Liebe, für die jedes Wort zu klein war.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Vielen Dank fürs Lesen! x3
Wahrscheinlich hat sich der eine oder andere gewundert, wo denn so plötzlich nach all den Jahren ein Update herkommt (oder es hat keiner gemerkt, auch recht xD). Eine ganz fiese, üble, plüschig süße Gang von Plotbunnies hat mich gezwungen, dieses Sequel zu schreiben. Seit dem letzten Kapitel von SaC sind etwa 10 Jahre vergangen. Wer gerne ein Bild von Keis kleiner Familie sehen würde, dem kann ich diese Seite anbieten.
Mit diesem Sequel hier ist die Geschichte von SaC nun wirklich, ganz ernsthaft, endgültig abgeschlossen.
Vielen Dank noch einmal an alle, die „Snowdrops and Chocolate“ im Lauf der Jahre begleitet haben! X3 Komplett anzeigen

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Kommentare zu dieser Fanfic (171)
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Von:  C_iwi-chi
2015-02-21T23:59:38+00:00 22.02.2015 00:59
Huhu!
Man, war ich überrascht, als ich gesehen hab, dass ein neues Kapitel von SaC draussen ist. Nachdem die Story ja abgeschlossen war habe ich wirklich nicht damit gerechnet!

Ich kann nur sagen: klasse geschrieben! Das der Heiratsantrag von Kei ausgeht (bzw. dass es überhaupt einen gibt) hätte ich nicht gedacht. Aber das war total süß! Jetzt sind Sie mit Momoi eine nette, kleine Familie^^
Lan und Pierre sind schon zwei... Aber schön, dass Sie sich am ende doch noch vertragen haben.

Hab mich echt mega gefreut, nochmal was von SaC Lesen zu können!
Lg Ciwi
Antwort von:  Petey
22.02.2015 16:42
Vielen lieben Dank fürs Lesen und den lieben Kommentar! x3
Von:  Sakura_Kuromi
2014-10-01T23:38:56+00:00 02.10.2014 01:38
„Wir essen doch gar nicht.“ verteidigte sich Kei sofort.

„Quatsch! Ich hab genau gesehen, dass Yuki dich grad vernaschen wollte.“

-> So lustig xD
Von:  Sakura_Kuromi
2014-10-01T00:37:09+00:00 01.10.2014 02:37
Er will also später sich einfach herausreden,d ass Yuki ihn Ko geschlagen hat, wo er sich doch nicht mal alleine aufsetzen kann xDD
Antwort von:  Petey
01.10.2014 22:43
Oh nein! Du hast Keis perfekt durchdachten Plan durchschaut... ;D
Antwort von:  Sakura_Kuromi
01.10.2014 22:48
genau !
*schaut triumphierend*
Also in solchen Momenten muss ich immer wieder über Kei lachen xD
Aber als er mit Robin gassi gehen wollte und Robin vergessen hatte war immer noch das beste xD
Von:  Sakura_Kuromi
2014-09-30T12:10:57+00:00 30.09.2014 14:10
Ich weiß ich habe es schon einmal geschrieben aber xD
Dieses Zitat bringt mich jedes mal aufs neue zum Lachen xD
Von:  Sakura_Kuromi
2014-09-30T11:07:10+00:00 30.09.2014 13:07
xD
Egal wie oft ich die Stelle mit Ryami lese, ein paar Tränchen stehlen sich immer über mein Gesicht T_T
Arme Ryami
Von:  Sakura_Kuromi
2014-09-29T16:48:48+00:00 29.09.2014 18:48
Und jetzt bist du dran. Sitz. xD Wirklich genial die Stelle xD
Von:  zorua-
2014-09-23T05:33:06+00:00 23.09.2014 07:33
@Mitte Seite 5
Könnte am Alkohol liegen :3
Von:  Sakura_Kuromi
2013-12-25T03:24:24+00:00 25.12.2013 04:24
...Für den Bruchteil einer Sekunde überlegte Kei, ob Yuki nicht vielleicht ein Vampir war. Immerhin hatte er sogar eine Fledermaus…...
*lachflash*
Das ist einfah zu genial xD
Und ich muss sagen: Ich bin froh, dass ich die Fanfiction erst jetzt gelesen habe, wo sie fertig ist. Ich währe wahrscheinlich gestorben wenn ich auf die nächsten Kapitel hätte warten müssen...
Wirklich eine wahnsinnige tolle geschichte ♥
Von:  Sakura_Kuromi
2013-12-25T02:10:26+00:00 25.12.2013 03:10
Der letzte Satz... Ich habe es seit Kapiteln gedacht
*triumphierend schaut*
Nur dachte ich der Bruder stecke auch mit drin...
Von:  Sakura_Kuromi
2013-12-25T00:50:57+00:00 25.12.2013 01:50
Ich hätte zu einigen Kapiteln kommentare abzugeben aber...
Keine Zeit, muss weiter lesen...
Alles ist so spannend und mitreißend. Armer Yuki >o<

*ungeduldig auf die nächste Seite schaut*


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