Ankündigung
Old Kinging lag mehrere Kilometer südlich von New Kinging und war die ehemalige Hauptstadt des Landes. Ein Dämonenangriff vor 53 Jahren hatte die Stadt und besonders den alten Palast verwüstet und in eine Ruine verwandelt.
Anschließend waren die Überlebenden der Königsfamilie auf ihren Sommersitz gezogen. Mit der Zeit waren die Einwohner ihnen gefolgt und so war New Kinging entstanden.
Inzwischen war Old Kinging verwaist und seit es Gerüchte über seltsame Erscheinungen gab, traute sich niemand mehr in die Nähe der Stadt.
Für Landis war sie dennoch das Ziel.
Mit langsamen Schritten lief er durch die verwaiste Stadt. Er hatte keinen Blick für die Ruinen oder leerstehenden Häuser, dafür hatte er sie vor seiner Ankunft in New Kinging zu oft gesehen und auch gründlich durchsucht.
Eine Bewegung aus dem Augenwinkel ließ ihn innehalten.
Oh-oh... verdammt.
Er sah auf den Boden und entdeckte einen kaum sichtbaren Draht unter seinem Fuß. Ganz offensichtlich hatte er eine der Fallen ausgelöst.
Ich hab Yarah gesagt, sie soll keine neuen Fallen aufbauen.
Für mehrere Sekunden verharrte er in seiner Position, er holte tief Luft. Schließlich sprang er zurück.
Der Draht schnellte hoch, eine mannsgroße Marionette baute sich vor ihm auf.
Landis seufzte. „Mann, Yarah, lass das endlich. Ich bin es nur.“
Ein Kichern erklang von der Marionette, im nächsten Moment zerfiel sie bereits in ihre Einzelteile und wurde von fast unsichtbaren Drähten wieder fortgezogen.
Er mochte die Marionetten nicht, aber sie waren immerhin sehr nützlich, weswegen er Yarah erlaubt hatte, sie weiterhin zu benutzen.
Landis setzte seinen Weg in Richtung des Palastes fort.
Tatsächlich schaffte er es, weiteren Fallen durch aufmerksames Beobachten zu entgehen und schließlich das Haupttor hinter sich zu lassen.
Nicht viel hatte sich seit seiner Abreise verändert. Eigentlich gar nichts, wenn er es richtig sah.
Der Springbrunnen spuckte immer noch kein Wasser, die Pflanzen wucherten wild in ihren Beeten und die Statuen waren entweder zerfallen oder total zugewachsen.
Der Haupteingang des Palastes war eingestürzt, so dass er außen herum laufen musste, bis er eine große Öffnung in der Wand fand, die mit einem Tuch verhangen worden war.
Landis betrat das Innere des Palastes und ignorierte die Trümmer, die herumlagen.
Zumindest einen Teil hatten sie bereits aus dem Weg geräumt, als sie sich hier niedergelassen hatten – auch wenn keiner von ihnen wusste, wie lange sie hier bleiben wollten.
Landis war sich auch nicht sicher. Einerseits würde er gern in New Kinging bleiben, bei Oriana, Nolan und seinem Vater – aber andererseits hatte er einen Plan und wenn er diesen ausgeführt hatte, konnte er unmöglich weiter in New Kinging bleiben.
Er seufzte leise, während ihm diese Gedanken durch den Kopf gingen.
Solange hatte er sich auf das Wiedersehen gefreut und dann würde er einfach alles wieder zurücklassen müssen. Das war bestimmt nicht im Sinne von Ephrahim gewesen, dem Anführer der Geflügelten... der Rasse, deren Auslöschung er beigewohnt hatte und von der er den Anstoß für diese Aufgabe bekommen hatte.
In einem Raum im Keller fand er schließlich eine blonde Frau mit zwei langen Zöpfen. Vergnügt pfeifend stand sie mit dem Rücken zu ihm und schien sich etwas zu essen zu machen.
„Yarah?“
Sie fuhr herum. Ihre grün-blauen Augen musterten ihn einen Moment, bevor sie schließlich fröhlich leuchteten. „Ah, Lan, du bist es!“
„Natürlich bin ich es“, meinte er genervt. „Du weißt, dass ich es bin. Du hast mich durch deine Marionette gesehen.“
Sie kicherte wieder. „Oh ja, stimmt. Du hast mich durchschaut. Was machst du hier? Ist irgend etwas passiert?“
Landis erzählte ihr von seiner Unterhaltung mit Aurora im Kerker des königlichen Palastes. Yarah hörte ihm aufmerksam und ungewohnt ernst zu. Hin und wieder nickte sie als Zeichen, dass sie verstand, ohne ihn zu unterbrechen.
„Dann bist du also hier, um mit Kureha zu sprechen“, fasste sie am Ende zusammen.
„Ganz genau. Sie ist die einzige, die mir im Moment helfen kann, um mit dem Bürgermeister zu sprechen. Möglicherweise hat er einige Informationen mehr, die Dorugons Unschuld und Fredianos Schuld beweisen.“
Yarah runzelte ihre Stirn. „Willst du Frediano hinter Gittern bringen? Dein Plan sah doch ursprünglich anders aus.“
„Na ja...“
Sie seufzte. „Du bist weich geworden, nicht? Oh, Junge. Na ja, mir kann es egal sein. Kureha ist im Palastgarten. Ein bisschen frische Luft schadet ihr nicht.“
„Danke, Yarah. Ach ja... ich habe dir gesagt, keine neuen Fallen, klar?“
„Okay, okay.“
Sie wandte sich wieder ab, um sich weiter um ihr Essen zu kümmern.
Landis verließ den Keller und kehrte wieder ins Erdgeschoss zurück.
Yarah hatte früher Theaterstücke mit Marionetten veranstaltet. Mit ein wenig Draht konnte sie diese Wesen quasi zum Leben erwecken. Sie hatte sich der Gruppe nur angeschlossen, weil ihr das zu langweilig geworden war.
Aber nichtsdestotrotz war sie sehr hilfreich – in vielen Bereichen.
Kureha dagegen hatte Landis aus einem Keller befreien müssen. Ihre Familie hatte sie dort aus Furcht eingesperrt. Deswegen genoss sie die Sonne und die frische Luft umso mehr und verbrachte viel Zeit draußen.
Landis betrat den Garten durch die zersplitterten Glastüren und folgte dem angelegten Kiesweg. Zerstörte Marmorstatuen und Springbrunnen standen am Wegesrand, die Hecken waren während des Angriffs niedergebrannt worden und wuchsen nicht mehr nach, weswegen er das schwarzhaarige Mädchen bald entdeckt hatte.
Sie saß auf einer Marmorbank und starrte mit ihren goldenen Augen die Überreste eines einstmals schönen Brunnens an. Um ihren Hals war ein Verband geschlungen, um die Narben zu verdecken, die sie von ihrer Gefangenschaft zurückbehalten hatte.
Landis setzte sich neben sie. „Und? Was hörst du gerade?“
„Viele Menschen waren hier glücklich“, antwortete sie leise.
Sie sprach immer sehr leise, was die anderen bereits gewohnt waren. Auch dass laute Geräusche sie leicht verschreckten, war allen bekannt.
Kureha lächelte leicht. „Was kann ich für dich tun, Landis?“
Wie vorhin Yarah, erzählte er nun auch dem Mädchen von seinem Gespräch mit Aurora im Kerker.
„Der Bürgermeister war ein böser Mann“, sagte sie. „Ich weiß nicht, ob ich mit ihm sprechen kann.“
„Kureha, es ist wirklich wichtig für mich.“
Das Mädchen nickte verstehend. „Ich weiß. Und deswegen werde ich versuchen, dir zu helfen.“
Er atmete erleichtert aus und bedankte sich bei ihr. „Du hilfst mir wirklich ungemein weiter, Kureha.“
Sie nickte nur leicht und stand auf. Mit ihren zwölf Jahren war sie im Stehen genauso groß wie Landis, während er saß.
Sie stellte sich vor ihn und hob ihre Hände. Eine blau schimmernde Kugel erschien zwischen ihren Handflächen. Sie schloss ihre Augen und konzentrierte sich.
Leise Stimmen erklangen aus dem Inneren der Kugel und wurden langsam lauter.
Landis erinnerte sich daran, dass ihm ihre Fähigkeit ein wenig unheimlich gewesen war. Genau wie vielen anderen Leuten, inklusive ihrer Eltern.
Doch im Gegensatz zu den anderen hatte er sich, allein aufgrund von Auroras Druck, damit auseinandergesetzt und gelernt, dass es nichts zu befürchten gab.
Kureha konnte mit kürzlich Verstorbenen in Kontakt treten, mit ihnen reden und ihre Gefühle wiedergeben. So hatte sie auch mit seiner Mutter gesprochen, kurz nachdem sie gestorben war. Er wusste, weswegen und woran sie wirklich gestorben war. Die anderen hatten ihn angelogen. Doch er konnte es ihnen nicht verübeln - sie kannten die wahren Umstände ihres Todes nicht, sahen nur das Offensichtliche und hatten es als Wahrheit angenommen. Und das Offensichtliche hatten sie ihm nicht entgegenschleudern wollen.
Schließlich erklang die Stimme des Bürgermeisters. Landis erkannte den strengen, grimmigen Ton sofort. Es war wie ein Hauch von Heimat.
Er und Nolan hatten oft Ärger bekommen, weil sie sich nicht an Regeln gehalten hatten, die grimmige Stimme brachte ihn seiner Vergangenheit näher als ihm im Augenblick lieb war.
Die verschiedenen Stimmen aus dem Jenseits sprachen durcheinander, so dass es für Außenstehende unmöglich war, einer bestimmten Stimme länger zuzuhören.
Kureha führte das Gespräch mit dem Bürgermeister in ihrem Inneren. Sie konzentrierte sich so sehr darauf, dass ihre ausgestreckten Arme zu zittern anfingen.
Landis seufzte lautlos.
Er wusste nicht, wie Kureha das aushielt. Ihn irritierten die Stimmen bereits als Außenstehender und ließen ihn fast wahnsinnig werden.
Schließlich verblasste die blaue Kugel wieder. Kureha öffnete ihre Augen. „Landis...“
„Ja?“
Schweigend sah sie ihn an.
Es dauerte immer seine Zeit, bis sie nach einem Totenanruf wieder richtig ansprechbar wurde. Ihr gequälter Gesichtsausdruck tat Landis dabei immer in der Seele weh. Es erinnerte ihn an ein Mädchen, das er als Kind gekannt hatte, Bethany. Sie hatte zu ihrem Freundeskreis gehört. Doch eines Tages war sie schwer krank geworden. Keine Medizin, kein Arzt hatte ihr helfen können.
Gegen Ende hatte sie unter dauerhaften Schmerzen gelitten und dabei denselben gequälten Ausdruck gehabt wie Kureha nach den Totenanrufen.
Aber am Ende hatte Bethany diesen vollkommen entspannten und friedlichen Gesichtsausdruck gehabt. Sie hatte gelächelt, während alle anderen geweint hatten. Er hoffte, dass er das in diesem Zusammenhang nie bei Kureha sehen müsste.
Kureha entspannte sich sich wieder. „Also, ich habe mit ihm gesprochen. Und... er sagte, er hätte das gemacht. Er hatte durch seinen Schwager Kontakt zu diesen Ausländern – und im Gegenzug für seine Hilfe hat Frediano ihm, dem Schwager und den Ausländern viel Geld gegeben.“
Landis machte ein nachdenkliches Gesicht.
Wie ich es mir dachte. Geld genug hat Frediano ja. Und vom Stil her würde es auch zu ihm passen.
„Aber warum? Was hat Frediano im Endeffekt vor?“
Kureha schüttelte ihren Kopf. „Das wusste er nicht. Es ging nur darum, dass Sir Dorugon seinen Posten verliert und Frediano als sein Nachfolger bestimmt wird.“
Er wollte also eindeutig den Posten als Kommandant der Kavallerie. Aber wofür genau? Nur deswegen würde er doch nicht dieses Risiko eingehen...
„Ich habe auch mit Owain gesprochen... dem verstorben König.“
„Dem Mann von Königin Juno?“, fragte Landis.
Kureha nickte.
Seine Majestät starb vor 18 Jahren, kurz nach der Geburt von Prinzessin Selene, am Biss einer giftigen Schlange – so wird zumindest gemunkelt. Könnte doch etwas anderes dahinterstecken? Oder war der Schlangenbiss von jemandem geplant?
„Er sagte, es wäre kein Unfall gewesen... die Schlange wäre vorsätzlich in den Wald und an seinen Ruheplatz gebracht worden.“
„Frediano kann es aber nicht gewesen sein“, meinte Landis schmunzelnd. „Der war da gerade mal acht Jahre alt.“
Lächelnd schüttelte sie ihren Kopf. „Der war es auch nicht. Aber dafür sein Vater.“
„Aber warum?“, fragte Landis. „Und wie konntest du überhaupt mit ihm reden? Sein Tod ist 18 Jahre her.“
„Manchmal kommt es vor, dass ein Toter sich so sehr anderen mitteilen will, dass er es schafft, mit mir oder einem anderen Medium Kontakt aufzunehmen. Owain gehört wohl dazu.“
Landis nickte verstehend. „Natürlich. Alle glauben, dass die Schlange ihn zufällig erwischt hätte. Und Kommandant Caulfield wirkte auch untröstlich genug, dass ihm jeder glaubte, dass es auch für ihn ein schwerer Schlag gewesen wäre.“
Wie perfide. Die Caulfields scheinen diese hinterhältigen Pläne im Blut zu haben.
„Du musst Frediano damit konfrontieren“, sagte Kureha. „Wenn du in New Kinging bleiben willst, musst du ihn dazu bringen, dass er zugibt, was er getan hat. Dann musst du ihn nicht...“
Sie hielt inne, als sie schnelle Schritte hörte.
Yarah blieb neben ihnen stehen. „Da bist du ja, Lan. Ich habe eine dringende Nachricht – von Aidan.“
Sie wedelte mit einem Zettel in der Luft herum.
„Wieso? Was ist so wichtig?“, fragte Landis leicht genervt.
Eigentlich hatte er gehofft, dass er mit Kureha noch über seine Wünsche hätte reden können, aber so ging das wohl doch nicht.
„Also, was ist los?“, fragte er noch einmal, als Yarah keine Anstalten machte, weiterzureden.
„Es wird dir nicht gefallen, Lan. Aber...“
„Sicarius Vita hat uns einen Anschlag angesagt?“
„Korrekt, Eure Majestät.“
Königin Juno wirkte über diese Nachricht und den Brief in ihrer Hand nicht sonderlich erfreut. Die sonst so jung wirkende Königin hatte ihre Stirn gerunzelt und sah Kenton und Frediano, die ihr die Nachricht überbracht hatten, an.
Der Brief kündigte einen baldigen Anschlag auf die Königsfamilie an. In jeder Stadt waren einem Angriff eine solche Ankündigung vorausgegangen.
Juno schätzte das sehr, es hatte ihr bislang den Eindruck vermittelt, dass Sicarius Vita nicht skrupellos war, vielleicht sogar einen Grund für ihr Handeln hatte. Aber die Königin sah sich keiner Schuld bewusst und es gab keine Erklärung für diese Ankündigung.
Womit hatten sie das nur verdient?
„Kommandant Caulfield, was gedenkt Ihr zu tun?“
Frediano hob den Blick und lächelte selbstsicher. „Eure Majestät, wenn Ihr mir erlaubt, so werde ich das Versteck von Sicarius Vita ausräuchern. Es zu finden wird kein Problem für mich sein.“
„Eure Selbstsicherheit gefällt mir. Nehmt Eure Truppen und zerschlagt Sicarius Vita ein für allemal. Wir haben sie viel zu lange tun lassen, was sie wollten.“
Er verneigte sich tief. „Selbstverständlich, Eure Hoheit. Ich werde tun, was immer in meiner Macht steht, um diesen Auftrag zu Eurer Zufriedenheit auszuführen.“
Königin Juno nickte, deutlich erleichtert. „Ich lege alles in Eure Hand, Kommandant. Enttäuscht mich nicht.“
„Niemals, Eure Majestät.“