Kampfansage
„Wer von euch war das!?“
Landis hatte Nadia und Aidan in ihrem Zimmer im Gasthaus aufgesucht, lief aufgeregt hin und her und wedelte immer wieder mit dem Brief, den der Küchenjunge ihm geschrieben hatte.
Die Zwillinge schüttelten ihre Köpfe. „Wir waren das nicht. Wir dachten, du hättest eine Warnung geschrieben. Frediano tauchte plötzlich mit dem Brief auf...“
Landis blieb abrupt stehen. „Frediano tauchte damit auf?“
Aidan nickte. Landis runzelte seine Stirn.
Dann bedeutet das womöglich, dass Frediano die Ankündigung gefälscht hat. Aber warum?
Nadia verschränkte die Arme vor der Brust. „Nolan hat mir gesagt, dass Frediano unbedingt Sicarius Vita vernichten will.“
„Er hat dir das gesagt?“
Sie erzählte ihm von ihrem Gespräch mit ihm, bevor er unerwartet in den Palast geholt worden war, da Frediano sämtliche Kavalleristen um sich versammelt hatte.
„Ich verstehe“, sagte Landis schließlich. „Frediano weiß also wirklich, wer hinter der Gruppe steckt. Sonst wäre ihm das sicherlich egal.“
Die Zwillinge warfen sich besorgte Blicke zu. „Und nun?“
Seufzend ließ Landis sich auf eines der Betten fallen. „Kureha hat mir zwar erzählt, was ich wissen wollte, aber das bringt nichts, wenn Frediano es nicht auch noch einmal zugibt. Tote machen sich schlecht auf der Zeugenbank. Aber wenn er sich so selbstsicher ist, wird er es niemals sagen.“
„Das scheint unser kompliziertester Auftrag bisher zu werden“, bemerkte Nadia.
Aidan nickte zustimmend. „Warum machen wir es nicht einfach wie immer?“
Landis schwieg auf diese Frage.
Die Zwillinge warfen sich erneut Blicke zu.
Schließlich stand Landis wieder auf. „Okay. Ich werde mir etwas überlegen. Irgend etwas müssen wir immerhin machen, nicht?“
Die Geschwister nickten.
„Gut, dann werde ich jetzt wieder gehen. Wir sehen uns noch.“
Er verließ den Raum.
Aidan seufzte. „Ich dachte, das würde ganz einfach werden.“
„Landis hatte uns vor Frediano gewarnt. Wir wussten, dass er durchtrieben ist.“
Er nickte. „Ja... leider.“
Aber ich hätte nicht gedacht, dass er so extrem ist...
Oriana stellte das leergetrunkene Glas wieder auf den Tisch.
Richard sah sie forschend an.
Normalerweise kam Milly allein zu ihm, an diesem Tag hatte Oriana sie gebracht. Aber einen genauen Grund dafür hatte sie noch nicht genannt.
Milly spielte bereits im Wohnzimmer, während ihre Mutter und Richard in der Küche saßen.
„Nun sag schon“, drängte er schließlich ungeduldig. „Warum wolltest du mit mir reden?“
Oriana seufzte leise. „Es geht um Sicarius Vita... ich habe beschlossen, wieder in den Kampf zu ziehen, um die Gruppe endgültig zu vernichten.“
„Ist das dein Ernst? Du willst an Fredianos Seite...?“
Sie nickte. Ihr Blick schweifte zum Fenster. Gedankenverloren sah sie hinaus.
Erneut musterte er sie fragend.
Ich habe ja bereits von dieser Ankündigung gehört... aber warum will Oriana jetzt plötzlich wieder in den Kampf ziehen? Das verstehe ich nicht.
„Ich will die Königsfamilie schützen“, erklärte sie. „Es geht mir nicht um Frediano, Stolz oder sonst etwas. Es geht mir um die Königin, den Prinzen und die Prinzessin und außerdem...“
Sie hielt inne, machte eine Pause und sah auf ihre Hände, die sie nervös ineinander verkrampft hatte. „Außerdem will ich beweisen, dass Kenton Unrecht hat, dass Landis nicht... zu denen gehört.“
Richard runzelte seine Stirn.
Es geht ihr um Landis. Nur deswegen will sie in den Kampf ziehen.
„Aber was, wenn er doch etwas damit zu tun hat?“
Oriana sah ihn fassungslos an. „Glaubst du etwa auch, dass Landis zu denen gehört!?“
Er gab ihr mit einer Geste zu verstehen, dass sie sich beruhigen sollte. „Das wollte ich damit nicht sagen. Ich meine nur, dass du dich nicht darauf versteifen solltest, dass er unschuldig ist. Die Möglichkeit, dass er etwas damit zu tun, ist immerhin noch vorhanden, nicht? Es gefällt mir genausowenig wie dir, aber du musst es in Betracht ziehen.“
Sie senkte schweigend den Blick.
Richard wollte ihr über den Kopf streichen, so wie er es früher immer gemacht hatte, als sie noch klein gewesen war, aber er hielt sich zurück, damit sie sich nicht wie ein Kind vorkam.
„Onkel Richard... ich glaube an Landis. Egal, was er getan haben soll.“
Er wollte noch etwas sagen, aber da kam Milly in die Küche herein. „Mama, kann ich heute bei Opa Richard übernachten?“
Oriana sah ihn fragend an, er nickte. „In Ordnung, wenn du das willst, Schatz.“
Milly freute sich sichtlich und verschwand wieder ins Wohnzimmer.
„Ich werde langsam wieder gehen. Tut mir Leid, wenn ich deine Zeit verschwendet habe.“
Richard schüttelte seinen Kopf. „Das hast du nicht, Ria. Denk nur immer daran, vorsichtig zu sein. Manchmal sind die Dinge nicht so wie sie scheinen.“
Sie nickte und stand auf. „Danke, dass du dich um Milly kümmerst, Onkel Richard.“
„Keine Ursache.“
Sie gab ihm einen Kuss auf die Wange, verabschiedete sich von ihm und verließ das Haus – nur um direkt in Landis hineinzulaufen.
„Oh, Oriana“, sagte er lächelnd. „Wie geht’s?“
Einen Augenblick hatte es ihr die Sprache verschlagen, aber sie fand diese schnell wieder: „Oh, gut. Danke der Nachfrage.“
„Alles okay?“, fragte er besorgt. „Hab ich dir was getan?“
Oriana zuckte zusammen. „Nein, natürlich nicht. Tut mir Leid.“
„Gehst du gerade nach Hause? Ich könnte dich begleiten.“
Sie nickte lächelnd. „Gern.“
Gemeinsam liefen sie in Richtung ihres Hauses. Dabei erzählte Oriana ihm, dass sie Milly zu Richard gebracht hatte und das Mädchen dort übernachten wollte. Landis nickte verstehend. „Dann bist du heute allein mit Frediano?“
Sie lachte leise, aber humorlos. „Er hat mir vorhin bereits mitgeteilt, dass er heute auch nicht mehr nach Hause kommen würde. Er sagte, er hätte dringende Verpflichtungen wegen dem Kampf gegen Sicarius Vita.“
Oriana bemerkte seinen plötzlichen Stimmungswandel nicht, obwohl Landis' Lächeln erloschen war. Stattdessen fuhr sie fort: „Ich habe übrigens beschlossen, mich dem Kampf anzuschließen.“
„Was? Wirklich?“
„Oh ja. Wegen der Königsfamilie – und wegen dir.“
Sie erklärte ihm dasselbe wie Richard eben und erwartete gespannt seine Reaktion. Landis hatte den Kopf gesenkt. „Ria... meinst du das ernst? Du vertraust mir?“
Oriana nickte bestimmt. „Oh ja! Kenton hat mir von seinem Verdacht erzählt, aber ich habe ihm nicht geglaubt.“
Landis grinste und beschloss, ein altbekanntes Spiel wieder anzufangen. „Was wäre, wenn ich doch zu Sicarius Vita gehören würde?“
Im ersten Moment war sie über diese Äußerung erschrocken, aber sie erkannte seine Absicht schnell und grinste. „Ich würde glauben, dass du nicht einfach ein Mörder bist, sondern du einen Grund für das alles hast. Und das würde ich solange glauben, bis du mir das Gegenteil beweist – was du hoffentlich nie tun wirst.“
Er lächelte zufrieden. „Ich freue mich, dass du das sagst.“
Sie schwieg, aus Angst, die nächste Frage zu stellen. Doch schließlich überwand sie sich dennoch: „A-aber du gehörst nicht wirklich zu ihnen, oder?“
Er schmunzelte. „Erwartest du auf so eine Frage wirklich eine Antwort?“
„Natürlich nicht.“
Etwas anderes hatte sie auch nicht erwartet. Sie lachte leise. Vor dem Haus blieben sie stehen.
Oriana öffnete die Tür und zögerte. „Lan... willst du mit reinkommen? Ich wäre ohnehin den ganzen Tag allein und... na ja... ich würde gern mal wieder allein mit dir reden.“
„Nun, ich habe Zeit und ich komme gern mit rein.“
Ein erleichtertes Lächeln zierte ihr Gesicht. Sie ging hinein und ließ Landis folgen.
Seit dem Tag seiner Ankunft war er nicht mehr hier gewesen. Ohne Nolan und Richard war das Gefühl, hier zu sein gleich ganz anders. Auch wenn die Atmosphäre zwischen ihm und Oriana kaum spürbar geladen war.
Sie setzten sich zusammen auf das Sofa.
Oriana lehnte sich zurück. „Soll ich dir vielleicht irgendetwas bringen?“
Er schüttelte den Kopf. „Nein, nein. Ich brauche nichts, danke.“
Sie lächelte. „Weißt du, ich würde gern mehr über deine Reise wissen. Ich bin neugierig, immerhin kenne ich nur Cherrygrove und New Kinging.“
Landis nickte verstehend und schloss die Augen. Er erzählte Oriana von den Orten an denen er gewesen war, von verträumten kleinen Dörfern, lebhaften Handelsmetropolen, verzauberten Wäldern, dem funkelnden Meer und glitzernden Flüssen, die sich durch weite Felder schlängelten.
Oriana lauschte ihm interessiert und hingerissen. Während seines Vortrags entdeckte sie in ihm den Landis, den sie früher geliebt hatte. Der kleine neugierige Junge, der sich für die unbedeutend erscheinenden Wunder dieser Welt begeistern konnte.
Entgegen aller Gerüchte und Theorien, die herumgingen, dieser Landis war wirklich der Junge, mit dem sie damals befreundet gewesen war. Er war es und niemand anderes.
Und wieder entflammten die alten Gefühle in ihr. Die Liebe zu ihm, die sie damals nach einem Streit aufgegeben hatte. Ein unbedeutender Streit, der ihr gesamtes Leben verändert und Landis für sieben Jahre aus ihrem Leben verbannt hatte.
Schließlich beendete er seinen Vortrag. „Aber für mich ist kein Ort Heimat, an dem du nicht bist.“
„Oh, Lan...“
Überwältigt von ihren Gefühlen und seinem letzten Satz rutschte sie näher an ihn heran – und küsste ihn. Der erste Kuss seit langer Zeit, den sie von sich aus gab und bei dem sie auch keinen schlechten Nachgeschmack hatte, nicht einmal ihr Hochzeitskuss war ohne diesen Nachgeschmack ausgekommen. Die Handlung überrumpelte ihn, aber als er den Kuss erwiderte, wusste sie, dass er es genau so gewollt hatte. Genau wie sie ihn, hatte er nie aufgehört sie zu lieben.
Warum sollte sie die Dinge unnötig kompliziert machen?
Sie löste den Kuss wieder und sah ihn schüchtern an. „Lan...“
Er erwiderte ihren Blick, wenngleich nicht schüchtern, sondern eher... verlangend.
„Willst du heute Nacht hier bleiben?“, fragte sie.
„Was ist mit Frediano?“, stellte er die Gegenfrage.
„Der ist nicht hier, er ist die ganze Nacht im Palast, um seinen Kreuzzug vorzubereiten. Also?“
Nachdenklich sah er sie an. Oriana konnte nicht sagen, was er im Moment dachte, aber sie wünschte sich, dass er zu dem Schluss kommen würde, den sie sich wünschte. Auch wenn es vielleicht egoistisch von ihr war. Vor über sieben Jahren hatte sie ihn fortgestoßen und nun, wo sie seit Jahren nicht mehr mit einem Mann zusammengewesen war, wünschte sie sich nichts sehnlicher als dass er bleiben und sie die ganze Nacht lieben würde. Sie wusste, er würde nur zustimmen, wenn er denselben Wunsch hegte, selbst wenn er Frediano damit nur eins auswischen wollte.
Ihre Anspannung wich erst, als Landis schließlich nickte. „In Ordnung. Ich bleibe.“
Oriana lächelte erleichtert und küsste ihn noch einmal. Sie würde diese Nacht auskosten als wäre es das erste Mal - und das deutlich spürbare Verlangen in seinem Kuss sagte ihm, dass er das auch tun würde.
Vielen Dank.
Am nächsten Vormittag war Landis bereits wieder mit seiner Arbeit bei Prinz Svarog beschäftigt. Die Erinnerung an die Nacht davor erfüllte ihn immer noch mit tiefer Freude und Zufriedenheit.
Es gab für ihn immer noch Chancen bei Oriana, sogar mehr als er gedacht hatte. Ansonsten wäre es nicht dazu gekommen, dass sie auf diese Art und Weise die Nacht miteinander verbrachten.
Und vielleicht, nur vielleicht, gab es doch eine gemeinsame Zukunft für sie beide, wenngleich er noch nicht wusste, wie diese aussehen könnte.
Svarog bemerkte mit einiger Verwunderung, wie gelöst Landis zu sein schien. „Was ist denn heute mit dir los?“
„Gar nichts, Eure Majestät. Ich habe nur einen sehr guten Tag.“
Nach einer wundervollen Nacht mit meiner einzigen Liebe, fügte er in Gedanken hinzu.
„Nun gut. Ich nehme es jedenfalls freudig zur Kenntnis. Was sagst du zu Fredianos Offensive?“
Landis zuckte mit den Schultern. „Wenn es ihn glücklich macht, dass er das endlich tun darf... Sicarius Vita war ja schon lange sein Ziel, nicht?“
Der Prinz nickte zustimmend, dabei lächelte er leicht. „Ich hoffe, er wird endlich Ruhe geben, wenn er die Mitglieder dieser Organisation hat. Was denkst du, wie viele Mitglieder hat Sicarius Vita wohl? Es müssen ziemlich viele sein, oder?“
Landis schmunzelte. „Vielleicht sind es viel weniger als man denkt. Wer weiß?“
Svarog lachte leise und stand auf. „Nun komm, ich will mir ansehen, was Frediano so auf die Beine stellt.“
Obwohl Landis nicht wirklich danach war, stimmte er zu und folgte dem Prinzen hinaus.
Die letzten Kavalleristen strebten ebenfalls dem Versammlungsplatz zu und unterhielten sich dabei. Doch ihr lockeres Verhalten wirkte auf Landis wie aufgesetzt.
Hatten sie wirklich Angst vor der Konfrontation mit Sicarius Vita?
Es war wohl natürlich, denn niemand schien zu wissen, gegen wen genau sie zu kämpfen hatten - und wieviele es von ihnen gab.
Der Versammlungsplatz befand sich im kleinen Innenhof des Palastes. Es war eine sandige Fläche mit einem Podest an einem Ende. Die Kavalleristen standen davor, bereits aufgestellt in Reih und Glied, obwohl von dem Kommandanten noch nichts zu sehen war. Sie unterhielten sich leise als hätten sie Angst, von einem Lehrer entdeckt zu werden.
Inmitten der Reihen konnte Landis auch Nolan entdecken.
Landis und Svarog waren unter dem Dach stehengeblieben. Sie beide hingen ihren eigenen Gedanken nach.
Während der Prinz sich fragte, ob Frediano Erfolg haben würde, überlegte sein Page, wie er weiter vorgehen sollte. Es waren weitaus mehr Kavalleristen als er gedacht hätte, mindestens fünfzig Leute, eher mehr. Auf Pferden waren sie bestimmt tödliche Waffen.
Wenigstens beteiligten sich die normalen Soldaten und Ritter nicht an diesem Kampf.
Urplötzlich verstummten die Kavalleristen und salutierten. Frediano betrat das Podest, in Begleitung von Kenton und Oriana, die eine Kavallerieuniform trugen.
Was hat Kenton mit der ganzen Sache zu tun? Ach, egal. Er wird schon wissen, weswegen er auch hier ist.
Zufrieden und mit einem Hauch Stolz sah Frediano auf seine Kavalleristen hinunter, dann begann er zu sprechen: „Endlich ist es soweit! Wir, die Kavallerie von Király, wurden endlich mit der Jagd auf Sicarius Vita beauftragt!“
Nervöses Tuscheln in den Reihen der Kavalleristen, sie hatten alle gewusst, dass sie deswegen hier waren, aber dennoch wurde es erst in diesem Moment für alle zur Realität.
„Wir wissen nicht, aus wievielen Mitgliedern die Gruppe besteht“, fuhr er fort. „Aber das wird uns nicht davon abhalten, sie restlos zu vernichten, um den Frieden in Király wieder herzustellen.“
Diesmal waren es Jubelrufe, die auf seine Worte folgten. Landis bemerkte, dass Nolan nicht zu den Jubelnden gehörte. Der Kavallerist stand tief in Gedanken versunken da.
Kenton bemerkte das anscheinend ebenfalls, da er besorgt seine Stirn runzelte.
Plötzlich erklangen laute Stimmen. Ein Soldat stürmte heraus und lief direkt auf Svarog zu. „Eure Hoheit! Eure Hoheit!“
Der Prinz sah ihn an. „Was gibt es? Was soll diese Aufregung?“
Die Kavalleristen sahen ebenfalls hinüber. Anscheinend hatten sie die Anwesenheit von Svarog und Landis bislang gar nicht bemerkt.
Der Soldat salutierte hastig. „Eure Hoheit, die Rebellen haben Eure Schwester entführt!“
„Was!?“
Erschrocken starrte Landis ihn an.
Die Prinzessin... entführt? Von den Rebellen? Oh Mann, die hab ich schon ganz vergessen!
Ich wette, wir müssen sie retten gehen. Hmmm, vielleicht...
„Aber die Rebellen kamen nicht weit.“
„Was soll das heißen?“, verlangte Svarog zu wissen.
„Jemand fing die Rebellen ab – und nahm die Prinzessin mit sich.“
Svarog und Landis tauschten einen Blick miteinander. Der Magen des Pagen fühlte sich flau an, als wüsste er bereits was als Nächstes kommen würde.
„Wer?“, fragte der Prinz.
„Ein Mitglied von Sicarius Vita.“