Die schlechtesten Pasteten in ganz London
„Warten sie! Was haben sie es so eilig?“ Mrs Lovettes Stimme klang lauter, als sie es gewollte hatte. Auch ihr Herz schlug merkwürdig schnell. Ihr war furchtbar heiß und sie wusste, dass ihre bleichen Wangen sich röteten.
„Erst erschrecken sie mich fast zu Tode und dann wollen sie einfach verschwinden? Ich dachte sie wären ein Geist! Sezten sie sich doch, ich habe seit Wochen keinen Kunden mehr gehabt. Setzten!“ Sie hielt die Luft an und verkrallte die zitternden Hände tief in dem viel zu mehligen Teig auf der schmutzigen Ladentheke. Ihr Blick blieb auf den steifen Rücken des düsteren Mannes gerichtet, bis seine bleiche Hand sich endlich von der staubigen Türklinke löste. Er drehte sich um und setzte sich auf ihre beharrliche Aufforderungen hin auf die Eckbank am Fenster. Dabei schaute er ihr einen Moment lang direkt in die Augen und Mrs Lovette spürte ein stechendes Gefühl in der Brust, als hätte sie gerade um ein Haar etwas sehr wertvolles verloren.
„Sind sie wegen der Pasteten gekommen?“ Fragte sie rasch und hoffte, dass er ihr die Aufregung nicht anmerkte. Sie setzte ein kokettes Lächeln auf und zerquetschte charmant eine am Tischbein heraufkriechende Schabe mit dem Nudelholz, das sie anschließend an ihrer Schüze abwischte.
„Pfui, diese Viecher sind so widerlich! Verzeihen sie, Sir, aber es ist nicht leicht Ordnung zu halten, bei all den Plagen die heutzutage die Straßen bevölkern. Wenn sie erlauben, mein Herr.“ In Sekundenschnelle hatte sie ihre bestgelungendste Pastete serviert und im Vorbeigehen noch eine Fliege mit dem Tablett erschlagen. „Greifen sie zu, die geht aufs Haus!“
Der Mann sagte nichts. Mrs Lovette kehrte zu ihren Schüsseln zurück und gab vor, geschäfftig den frischen Teig auszurollen, während sie- wie sie hoffte, unauffällig- den schweigsamen Gast beobachtete. Sein verwahrloster und zugleich irgendwie erhabener Anblick irritierte und faszinierte sie. Obwohl er noch kein Wort gesagt hatte, war er ihr unheimlich.
„Bitte probieren sie doch! Man muss schon gekostet haben, um mit Recht verkünden zu können, dass man dieses Rattennest hier nie wieder betreten möchte, denn meine Pasteten sind garantiert die schlechtesten Pasteten in ganz London... Und um ehrlich zu sein, das ist noch eine “
Sein Gesicht zeigte keine Regung. Er nahm die dampfende Pastete in seine rechte Hand und musterte sie von allen Seiten, während er sich mit der linken durch die zerzausten Haare fuhr. Mrs Lovette erkannte an seiner Haltung, dass er sowohl interessiert als auch abgestoßen war und sie sah ebenfalls, dass die Bewegung mit der Hand kein Versuch war, sein Aussehen zu berichtigen, sondern lediglich eine Angewohnheit. Sie senkte den Blick und erzählte weiter, während der Herr sich das Gebäck nun unter die Nase hielt und sofort angeekelt zurückzuckte.
„Na, ich versteh die Leute ja, schließlich bereite ich die Dinger zu! Die bestehen aus Kruste und sonst nichts. Heutzutage sollte man mir das jedoch nicht übel nehmen, bei den Preisen auf dem Markt bringt doch kaum einer mehr eine vernünftige Fleischpastete auf den Tisch. Da muss ich wirklich den Tag loben, als ich ein armes Tierchen sterbend auf der Straße fand. War mein Glückstag!“ Mrs Lovette löste eines ihrer braunen Augen von dem mehligen Teig und sah, wie der fremde Herr mit vor Ekel schrecklich verzerrter Miene tapfer die Pastete seinem Mund annäherte.
„Wollen sie ein Bier? Ach, was frage ich noch. Sie werden etwas zum herrunterspülen brauchen, wenn sie probiert haben.“
Mit einem Seufzer bließ sie ein Spinnennetz aus einem Krug, den sie anschließend randvoll mit Bier füllte und geschickt zum Tisch ihres einzigen Gastes balancierte. Genau in diesem Moment war ein Würgen zu hören und Mrs Lovette entfernte sich umsichtig etwas vom Tisch, um nichts von der ausgespukten, zweifellos schlechtesten Pastete in ganz London abzubekommen. Der fremde Mann nahm ihr das Bier vom Tablett und stürzte es runter, jedoch nicht ohne vorher einen misstrauischen Blick in das Gebräu zu werfen.
„Trotzdem sollten sie nicht bei Mrs Mooney vorbeischauen. Ich sage nur soviel – vor kurzen verschwanden alle Katzen aus der Nachbarschaft! Sowas würde ich nie tun, verstehen sie? Allein bei dem Gedanken wird mir schon schlecht!“ Mrs Lovette warf ihm einen flüchtigen Blick zu und musste feststellen, dass er sie beobachtete. Seine Augen, betont von schweren, grauen Schatten, die von schlaflosen Nächten und Krankheit erzählten, glitzerten auffordernd zu ihr herüber. Doch alles, was Mrs Lovette herrausbrachte war: „Die Katzen sind mir zu schnell, Sir.“ Es klang wie eine Entschuldigung.
„Die Zeiten sind hart, vor allem für eine einsame Frau, wie mich.“
Wahrscheinlich war es nur Einbildung, doch Mrs Lovette glaube für eine Sekunde, oder weniger den leisen Anflug eines Lächelns auf seinem bleichen Gesicht entdeckt zu haben. Ob es nicht hatte durchdringen können, oder ob er es selbst unterdrückte, hatte sie nicht ausmachen können, doch diese erste beinahe vertrauliche Mimik, versetzte Mrs Lovette einen Stoß in die Rippen, dessen Wirkung sie nicht beschreiben konnte.
„Ich würde ihnen gerne etwas besseres anbieten, wenn ich darf, Sir.“
„Vermieten sie das Zimmer über dem Geschäft?“
Mrs Lovettes Herz machte einen erneuten Sprung. Sie streifte nervös den Teig an ihrer Schürze ab und öffnete schwungvoll und mit einem einladenden Quietschen der Scharniere die Tür zu ihren privaten Räumen hiniter der Ladentheke.
