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Das Feuer Eos

...Hamburg, 1890...
von

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22.6.1890
 

„Nestor, Nestor, wann wirst du dir dieses, dieses exasperating ‚Sie’ abgewöhnen?“

„An dem Tag, an dem Sie aufhören, mich Nestor zu nennen, ich hasse diesen Namen.“

Bela klappte erschrocken den Mund zu, da hatte sein Mundwerk sich schon wieder geregt, bevor sein Gehirn mitgedachte hatte. Er fühlte sich einfach zu wohl im Umfeld Lord Farins, musste er zugeben – wie sollte er da auf seine verräterische Zunge Acht geben?

„Aber das ist dein Name,“ bekam er denn auch zu hören. „Wie soll ich dich denn sonst nennen?“

„Ich werde... Dirk genannt.“ Fast hätte er ‚Bela’ gesagt. Herrgott nochmal, Konzentration, Bela, dachte er. „Meinen Vornamen höre ich erheblich lieber als meinen lästigen Nachnamen.“

„Na schön, Dirk.“ Lord Farin hielt ihm höflich die Hand hin. „Ich bin Jon. It is a pleasure to meet you, my dear friend. Würde mein Vater jetzt sagen.“

„Jon,“ Bela ließ den Namen probeweise auf der Zunge zergehen und erwiderte den festen Händedruck. „Dich nennen sicher nicht viele so, oder?“ fragte er nach einer Weile, plötzlich mutig.
 

Die beiden machten einen Spaziergang an der Binnenalster, es war ein wunderbarer Sonntag im Sommer und die Sonne sackte gerade langsam hinter die Häuser der Hansestadt.

„Nein,“ Farin schüttelte nachdenklich den Kopf und schaute über das Wasser. „Es ist schon seltsam,“ sprach er weiter, „meine Kommilitonen aus Cambridge, meine Freunde aus England, selbst die Menschen hier... ich könnte zwei oder drei Personen, perhaps, außer meiner Mutter, nennen, die mich Jon rufen. Mein Vater würde mich sicher sofort nach Hause holen, um mir die Flausen aus dem törichten Kopf zu treiben, wenn er wüsste, dass ich ausgerechnet meinem Valet erlaube, mich so zu nennen.“
 

Bela war erschrocken vom vertraulichen Ton, den sein Gegenüber anschlug, und trotzdem fühlte er sich geschmeichelt und seltsam gerührt. Grimmig schüttelte er innerlich den Kopf. Es konnte nicht sein, durfte nicht sein, dass er sich zu ihm... hingezogen fühlte. Natürlich, er wusste seit langem, dass er Männern – wie Frauen – nicht abgeneigt war und lebte das, in seinem anderen Leben, das ihm im Augenblick seltsam fremd vorkam, in düsteren Spelunken oder bisweilen auch seinem Zuhause, einem geräumigen Dachgeschoss in der Neustadt, aus, wann immer ihm der Sinn danach stand. Aber dieser Mann. Nein. Ihn hatte das Verbotene schon immer gereizt, vielleicht war es das, dachte er, das ihn so verquere Gedanken fassen ließ.
 

Farin, Jon, blickte ihn derweil, plötzlich lachend an. „Wir sollten das feiern! Us both, wir zwei gegen den Rest der Welt,“ sagte er, „ich wollte schon immer mal St. Pauli erkunden!“

Bela war sprachlos. Lord Farin trank nicht, niemals, und er hatte ihn niemals dabei ertappt, wie er einem Mädchen auch nur hinterherschaute. Und jetzt wollte er in den größten Sündenpfuhl der Stadt eintauchen? Als Botschafter?

„Jon,“ setzte er an, der neue Name nach wie vor fremd auf seinen Lippen. „Ich weiß nicht, ob...“

„Natürlich ist das eine gute Idee. Wir gehen zurück zum Haus, du leihst mir etwas unauffälligeres,“ er gestikulierte zu seinem Zylinder und seinem viktorianischen Anzug, „zum Anziehen und ich lade dich dafür den ganzen Abend ein.“

Bela sah in die vor Schalk blitzenden Augen und konnte nicht nein sagen.
 

...
 

Einige Stunden später befanden sie sich im tiefsten Nachtleben der verrufenen Gässchen St. Paulis; Bela in seiner furchtbaren Freizeitkleidung, die er auf Rods Rat hin zur Tarnung in die Stellung mitgebracht hatte: ein zerbeulter brauner Anzug, eine graue, formlose Mütze, ein fleckiges weißes Hemd und kaputte graue Schuhe. Der hochgeborene Lord schritt derweil in einer eng anliegenden, viel zu kurzen Hose Belas, seinen eigenen Reitstiefeln, einem zerschlissenen Mantel seines Butlers Ames und einem zerbeulten grauen Zylinder, den er aus Belas Kleiderschrank gezogen hatte, durch die Gassen. Sie beide sahen über die Maßen albern aus, fand Bela, fielen aber, bis auf die Tatsache, dass Jon so ungewöhnlich groß war, im bunten Volk der Vorstadt nicht weiter auf.
 

Bela wäre vermutlich nach kürzester Zeit hier, in seinem Teil Hamburgs, hoffnungslos betrunken gewesen, hätte Lord Farin nach seinem ersten Gin nicht das Gesicht verzogen und sich auf Tee beschränkt, sehr zum Erstaunen der Schankleute, die sie bedienten. So war Bela wenigstens von Gin auf Bier umgestiegen, konnte seine Umgebung noch einigermaßen erkennen und Farin vorrangig in diejenigen Trinkhallen lotsen, in denen er nicht als „Bela“ bekannt war. Dieser Teil seiner Identität war etwas, das er, nicht mehr ganz fest auf den Beinen hin oder her, lieber vor dem hohen Lord geheim hielt.
 

Mittlerweile befanden sie sich im „Roten Schwan“, einem Etablissement, von dem Bela wusste, dass es nicht nur jegliche Alkoholsorten unter der Sonne und ein allabendliches Bühnenprogramm bot, sondern auch diverse leichte Mädchen, die durch Lord Farins silberne Markstücke angelockt wurden wie die Fliegen.

Der junge Botschafter schien sich köstlich zu amüsieren, er applaudierte lauthals den Damen, die auf der Bühne mit Lassos hantierten („Geradewegs aus Amerika, meine Herren, da staunen Sie, was?“), hatte eine andere halb auf dem Schoß liegen und sah grinsend zu Bela herüber, der neben ihm auf der harten Holzbank kauerte und mürrisch einen Bierkrug in der Hand hielt.
 

„Komm, Dirk, such dir eins dieser bezaubernden Wesen aus, ich bezahl!“

„Danke, schon gut... ich möchte nicht.“

„Nun gut, wie du willst.“ Farins Hände strichen bewundernd über das ausladende Kleid des Mädchens, das er sich ausgesucht hatte – sie war jung, drall, hübsch und für Belas Geschmack viel zu vulgär geschminkt. „Wie ist dein Name, meine Perle?“

Bela wurde schlecht.

„Minna,“ säuselte sie.

„Nun Minna, ich nehme an, ihr habt hier Räume, wo wir ein bisschen Spaß haben können? A little tumble, perhaps?“ fragte er und hielt ihr einige Münzen hin.

„Aber ja, oben,“ sagte sie und ließ das Geld eilig in der Rocktasche verschwinden. „Zu dem Preis kann Ihr Freund auch mitkommen, wenn er mag.“

„Oh nein,“ beeilte sich Bela abzuwehren, „ich...“

„Nichts da,“ wiegelte Farin ab. „Du kommst mit, musst auf mich aufpassen, schließlich bist du in meinem, äh, employment, arbeitest du für mich.“
 

Bela fragte sich kurzzeitig, ob er protestieren sollte – und ob Jon nicht doch heimlich weiter getrunken hatte. Am Ende jedoch fügte er sich in sein Schicksal. Denk an den Job, verdammt, denk an den Job, mahlte es in seinem Kopf, während er zusah, wie Farin die Hure die Treppe hinauf führte und ihn ungeduldig hinter sich her winkte. Du musst den Diamanten stehlen, dann kannst du dir ein gutes Leben machen und nie wieder an ihn zurückdenken, hämmerte es in seinem Hirn, während er in eine kleine Kammer gelotst wurde.
 

Der junge Lord nahm ihn beiseite und flüsterte in sein Ohr, nachdem er Minna befohlen hatte, sich schon einmal auszuziehen: „Es tut mir Leid, dass ich dich hier hineinziehe, Dirk. Ich traue dem Laden nicht. Sie wirken... greedy,... zu gierig, obwohl ich absichtlich keine meiner Goldstücke ausgegeben habe. Es ist, als könnten sie riechen, wer ich bin.“

„Vielleicht hast du Recht,“ sagte Bela nachdenklich, „man kann wohl nicht vorsichtig genug sein, wenn man der britische Botsch...“

„Shhht! Sprich es nicht aus. Vielleicht sehe ich Gespenster, but anyway, ich habe dich lieber hier bei mir, falls dem nicht so ist.“

„In Ordnung. Ich, ähm, ich stelle mich dort an die Wand und halte die Tür im Auge. Hm, lasst euch nicht stören.“
 

Bela fügte die Tat zum Wort und stellte sich, demonstrativ vom Bett abgewandt, vor die Tür und fragte sich, wo Farin die rauen Sitten gelernt hatte, die er hier zur Schau stellte. Die wenigsten Männer praktizierten den Beischlaf gern im Beisein anderer, aber die Geräusche, die er hinter sich hörte, wiesen eindeutig darauf hin, dass der Botschafter damit kein Problem hatte.

Er fühlte sich leer, während er danach trachtete, eventuell verdächtigen Lauten auf dem Flur zu lauschen und dabei möglichst gut alles, was hinter ihm geschah, auszublenden. Im Falle der Hure und dem Klatschen von Fleisch auf Fleisch gelang ihm das ohne weiteres – er war daran gewöhnt, sich in den schäbigeren Ecken der Stadt aufzuhalten, und dort war es durchaus üblich, dass direkt neben einem kopulierende Leiber sich aneinanderpressten, während man selbst ausschließlich darauf aus war, einen nicht zu verschnittenen Brandy zum bezahlbaren Preis zu bekommen.

Nur das leise Stöhnen des jungen Lords hallte tausendfach verstärkt in seinen Ohren, ließ ihn kurzzeitig wünschen, er hätte sich eines der Mädchen gegriffen, nur um neben Farin, Jon, seine Erlösung finden zu können, während er diesen leisen Lauten, die ihm durch und durch gingen, lauschte.
 

Dann hörte er es. Männerstimmen auf dem Flur.

„Sie sind in Minnas Zimmer, der hohe Herr und sein Begleiter.“

„Ja, ich bin sicher, sie haben gutgefüllte Geldsäcke dabei.“

Ein dreckiges Lachen ertönte, dann sprach wieder die erste Stimme: „Da magst du Recht haben. Wir warten noch auf Franz, dann gehen wir hinein.“

Wieder dreckiges Lachen.
 

Bela drehte sich um, wollte seinen Begleiter auf die Gefahr der Lage aufmerksam machen. Und erstarrte. Die Hure, Minna, kniete auf dem Bett und drückte ihr Gesicht in ein Kissen, während Farin sie, fast gänzlich bekleidet, von hinten nahm. Erschrocken weiteten sich die graunbrünen Augen des Botschafters, als er Bela so plötzlich genau in die Augen sah, er stöhnte, ein weiterer dieser unglaublichen Laute, und hielt seinen Blick fest, bis er mit einem heiseren Keuchen vom Mädchen unter ihm abließ und in die Kissen fiel.
 

Teufel, dachte Bela. Er fühlt es auch. Das kann nicht sein, dachte er gleich darauf, darf nicht sein.
 

Dann erinnerten schnelle Schritte auf dem Flur ihn daran, warum er sich ursprünglich umgedreht hatte.

„Jon... wir müssen weg. Sie scheinen dich wirklich überfallen zu wollen,“ brachte er hervor, eisern entschlossen, den Botschafter lebendig und wohlauf in sein langweiliges, aber sicheres Leben zurück zu bringen.
 

Farin hob den Kopf, auf einmal erstaunlich alert, dafür, dass er sich gerade erst so verausgabt hatte. „Oh,“ sagte er, einen Moment betreten. Dann sprang er aus dem Bett, schloss seine Hose, griff seinen Mantel und trat hinter die Tür, vor der die Männerstimmen gerade berieten, ob sie hineinstürmen oder abwarten sollten, bis die hohen Herren von sich aus hinauskommen würden.
 

„Weißt du hiervon?“ herrschte er Minna an.

„Nein Herr,“ brachte sie verwirrt hervor. „Ich... ich hätte das nicht gewollt.“

„Na schön,“ murmelte Farin, bedacht darauf, die Männer vor der dünnen Tür nicht zu warnen. „Bleib dort auf dem Bett und rühr dich nicht, dann geschieht dir nichts.“

Minna nickte betreten und suchte ihre Kleidung zusammen.
 

„Denen zeigen wir, was wir wert sind,“ murmelte Lord Farin derweil, wartete, bis Bela auf seinen Wink hin neben ihn trat und riss die Tür auf.
 

- TBC -
 

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- Ja, St. Pauli und die Reeperbahn gab es schon – der Sündenpfuhl mit allem, was wirklich Spaß machte, wuchs unaufhaltsam.

- Ein Wort zur Währung: damals gab es noch die Mark, genauer gesagt die Reichsmark, die gerade relativ neu war und die verschiedensten Währungen des deutschen Flickenteppichs abgelöst hatte. Eine Mark waren 100 Pfennige, des Weiteren gab es silberne Ein- und Fünfmarkstücke sowie goldene Zehner und Zwanziger, ebenfalls als Münzen. Eine Mark sind zum Zeitpunkt der Geschichte auf heutige Kaufkraft umgerechnet grob gerechnet 20 Euro.



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Kommentare zu diesem Kapitel (3)

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Von:  YouKnowNothing
2008-08-02T15:25:14+00:00 02.08.2008 17:25
Hey, Hallo! ^^

Ja, auch meine Neugier wurde jetzt geweckt und ich hab die Geschichte mal bis hier hin gelesen. Und, was soll ich sagen? Ich hab es noch keine Sekunde lang bereut. Ich habe sowohl die eigentliche Geschichte als auch die "Geschichtsstunde" förmlich verschlungen und freue mich auf mehr!

Die Idee, die Umsetzung - genial!

LG Sharingan-Moerder
Von: abgemeldet
2008-08-02T12:11:50+00:00 02.08.2008 14:11
Ahaa, grad an der besten Stelle.
Wow, das war wieder ein klasse Kapitel und ich freue mich schon wahnsinnig auf das nächste.
Bitte schreib schnell weiter. Ich hab mich richtig in diese FF verliebt.;)

Großes Lob meinerseits und liebe Grüße
black-wulf
Von: abgemeldet
2008-08-02T11:15:39+00:00 02.08.2008 13:15
wieder ein tolles kapitel!
und farin als jon xD klingt echt seltsam
und jetzt bin ich gespannt wie sie die diebe überwältigen wollen!
schnell neues kapitel hochladen!!! :P

lg
clara


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