Unwelcome thoughts
Ich wusste nicht genau, warum ich die Abgeschiedenheit des Friedhofes mochte.
Vielleicht, weil mich an diesem Ort nur Stille umgab.
Hier belästigten mich keine fremden Menschen mit ihrer Anwesenheit, keiner interessierte sich für mich und niemand zwang mir ein Gespräch auf.
Diejenigen, die ich traf, hatten nicht mehr als ein höfliches Nicken übrig und waren ansonsten damit beschäftigt, ihren toten Angehörigen oder Freunden zu gedenken.
Mit einer Gießkanne in der Hand schlenderte ich den weg entlang, der mich zu dem Grab führte, dem ich vor längerer Zeit meine Aufmerksamkeit geschenkt hatte.
Der Kies knirschte unter den Sohlen meiner Schuhe.
Ich hob den Kopf, beschattete mir die Augen und betrachtete den strahlend blauen Himmel.
Der Regen hatte endlich aufgehört und die düsteren Wolken ließen die Sonne durch.
Heute war ein schöner Tag.
Und das erste Mal seit Monaten konnte ich diese innerliche leere nicht fühlen, die mich um den Verstand gebracht hatte.
Trotzdem konnte ich nicht leugnen, dass dieser Frieden trügerisch zu sein schien.
Seit zwei Jahren kam ich nicht mehr zur ruhe, weil die Angst, vor dem Leben, in meinem Herzen unerbittlich Einzug hielt.
Wieso war ich an jenem Tag, als ich diesen schweren Autounfall gehabt hatte, nicht gestorben?
"Weil du dich an das Leben geklammert hast, Angel", sagte eine klare Stimme, die mir eine Gänsehaut über den Rücken jagte.
Mir gefror das Blut in den Adern.
Hatte er gerade auf meine Gedanken geantwortet?
Unsinn.
Vorsichtig, quälend langsam, wandte ich den Kopf, mit der Hoffnung, dass ich mich nur verhört hatte.
Doch als ich mich vollständig umgedreht hatte, starrte ich in diese giftgrünen Augen, die so Geheimnisvoll und unwiderstehlich gucken konnten.
Genervt und bereit ihm sein begehrenswertes lächeln aus dem Gesicht zu schlagen, ballte ich die Fäuste und biss die Zähne zusammen.
Meine Finger juckten.
"Wieso laufen Sie mir nach?", fragte ich barsch und trat von einem Fuß auf den anderen. "Haben Sie einfach nur chronische Langeweile oder sind Sie Lebensmüde?"
"Weder noch", erwiderte er weich, streckte seine zartgliedrigen, langen Finger aus und nahm mir die Gießkanne unaufgefordert aus der Hand. "Darf ich dir für eine weile Gesellschaft leisten?"
Ich rollte mit den Augen und hob die Schultern. "Gibt es niemanden, dem Sie sonst auf die Nerven gehen können?"
"Ich habe weder Freunde noch Familie", meinte er und ging in die Richtung, die ich zuvor eingeschlagen hatte.
Vielleicht weil er wusste, dass ich ihm folgen würden.
Deswegen überzeugte er sich nicht davon, ob ich hinter ihm war.
Mit den Händen in den Hosentaschen, einen finstern Blick und einem lautlosen Fluch, lief ich hinter Alec her.
Wie ein Hündchen, dass sich ein Leckerli erhoffte.
Sicherlich hatte er die gleiche Überlegung.
"Sie sind lästiger als ein Sack Flöhe, Draycott", knurrte ich übelgelaunt.
"Aber dafür beiße ich nicht."
Er blieb vor einem Grabstein stehen.
Überrascht blinzelnd zweifelte ich an meinem Verstand, hatte aber damit den eindeutigsten Beweis dafür, dass mit diesem Kerl etwas nicht stimmte.
Ein frösteln überfiel meinen Körper.
Argwöhnisch sah ich ihn an.
"Instinkt." Eine fragwürdige Ausrede. Er zuckte seine breiten Schultern. "Ich kenne dich und weiß mehr über dich, als du ahnst, Angel."
Mein Herz setzte einen Schlag aus und ich begann zur Salzsäule zu erstarren.
Alle Alarmglocken heulten in meinem Verstand auf und forderten streng Beachtung.
Wieso?
Und doch wirkte Alec zu lieb und zu sanft, als das ich ihn hätte Misstrauen können.
Meine Faszination drängte mich dazu, dass ich den Wunsch verspürte, ihm die schwarzen, glänzenden Strähnen aus dem fein geschnittenen Gesicht zu streichen.
Erneut hatte ich mich in seinen bezaubernden Augen verloren.
Wie Hypnotisiert gaffte ich ihn an.
Und erst als er sich hörbar räusperte erwachte ich aus der Trance, in die ich gefallen war.
Erschreckt wich ich einen Schritt vor ihn zurück und wäre erneut gefallen, wenn er mein Handgelenk nicht ergriffen und mich zurück auf die Füße gezogen hätte.
Obwohl ich vermutete, dass er meine scheinbare Unachtsamkeit ausnutzen würde, wahrte er den Höflichkeit Anstand und kam mir nicht zu nahe.
Er blieb stehen.
Wie eine Statur aus Marmor.
Atmete er überhaupt?
Das war Enttäuschend, dass ich scheinbar keinerlei reiz auf ihn ausübte und ihn mein Anblick völlig kalt ließ.
Er war wirklich der perfekte Gentleman.
Mein Blick haftete auf seinem sinnlichen Mund, der zum Küssen einlud.
Frustriert riss ich mir an den langen, blonden Haaren.
Was zum Teufel dachte ich da eigentlich?
Hatte ich meinen Verstand bei Ebay versteigert?
Ich wollte schreien, mit den Fuß aufstampfen und ihm in den Hintern treten.
Dann hörte ich ihn leise lachen und ich war Augenblicklich Feuer und Flamme.
Meine Wut verschwand.
Wie brachte er das bloß fertig?
Mit zur Seite geneigtem Kopf betrachtete ich die Inschrift auf dem Grabstein, damit ich nicht länger darüber nachdachte, dass ich ernsthaft dazu bereit war, diesem seltsamen Mann zu Vertrauen.
Und sei es bloß wegen des Verlangens, dass ich für ihn empfand.
"Ist das so?", fragte er leicht grinsend.
Völlig Perplex starrte ich ihn an.
Ich verstand nicht, was er gemeint hatte.
Damit stand ich wohl definitiv auf dem Sprichwörtlichen Schlauch.
Oder war es Alec, der in Rätseln sprach?
Ich entschied mich dazu, auf diese Aussage nicht weiter einzugehen und kniete mich vor dem Grab nieder, auf dem frische Blumen in Vasen standen.
"Caithryn Nikles", flüsterte ich gedankenverloren und furchte die Stirn.
Wieso kam mir dieser Name so bekannt vor, obwohl ich ihn noch nie gehört hatte?
"Weckt das vergessene Erinnerungen?"
Ich ließ die Schultern hängen.
Wenn er mich scheinbar gekannt hatte, bevor ich mein Gedächtnis verlor, war es nur logisch, dass er vom dem Unfall und deren Auswirkungen wusste.
Betrübt schüttelte ich den Kopf.
Ich hatte das unbestimmbare Gefühl, dass mir dieser Mensch, der vor einem halben Jahr verstorben war, viel bedeutet hatte.
Mit den Fingern fuhr ich die Konturen des Namens nach, der in den Stein gehauen war.
"Wenn du mich schon früher gekannt hast, dann erzähl mir etwas über mich", rief ich Hoffnungsvoll und sprang wieder auf die Füße. "Sag mir wer ich bin."
Das erste Mal durchbrach er die Mauer, die mich von ihm zu stoßen schien. Er streckte die Hand aus und fuhr mit den Fingerknöcheln über meine Wange. "Ich bedauere dir dies sagen zu müssen, Angel, aber das sind Fragen, die du dir nur selbst beantworten kannst."
Unzufrieden spürte ich, wie mir Tränen über die Wangen laufen wollten.
Ob sie meiner Wut oder der Enttäuschung entsprangen konnte ich nicht sagen.
Die Niedergeschlagenheit spiegelte sich wohl in meinem Blick, den er lächelte sanftmütig.
"Du wirst die antworten finden, die du suchst."
"Woher willst du das wissen?"
Skeptisch verschränkte ich die Arme vor der Brust.
"Willst du mir nicht einfach Vertrauen?", fragte er so unglaublich betörend, dass mir das Herz bis zum Hals schlug.
Wieso übte er eine so unglaubliche Anziehungskraft auf mich aus, dass ich gierig an seinen Lippen hing?
Seine dunkle Schönheit konnte nicht von dieser Welt sein.
Trotzdem war sie Real und greifbar.
Ich wollte mich in seine Arme schmeißen und ihn wild und Hemmungslos küssen.
Wieso wollte er mich eigentlich nicht berühren?
War ich dazu verdammt einen Mann zu Begehren, in dessen Herz ewiger Winter herrschte?
Oder dem ich vollkommen egal war?
Bitte Küss mich
Alec trat einen Schritt auf mich zu.
Seine rätselhaften Augen funkelten im Sonnenlicht.
Sein durchdringender Blick schien meine geheimsten Sehnsüchte zu erforschen.
Mit Daumen und Zeigefinger umfasste er mein Kinn.
Als hätte er mein wortloses flehen verstanden beugte er sich über mich.
Seinen kühlen Atem fühlte ich auf meiner Haut und ich begann leicht zu zittern.
Erregung schoss mir durch die Adern und breitete sich bis zu meinen Zehenspitzen aus.
Meine Wimpern legten sich auf meine Wangen.
Im auffrischenden Wind begann ich zu frieren, während ich darauf wartete, dass er die letzten Zentimeter überwand, die uns trennten.
In gespannter Vorfreude blieb ich reglos stehen.
Stattdessen fühlte ich nur, wie er mir durch die Vorderhaare strich.
"Bis wir uns wiedersehen …", flüsterte er geheimnisvoll.
Wie eine sanfte Brise verschwand Alec genauso schnell wie er aufgetaucht war und ich blieb wieder einmal verunsichert und ärgerlich zurück.
Meine eigene Reaktion machte mich Zornig.
Sein Verhalten verstörte mich.
Ich bemerkte die Blicke der Passanten und bekam einen hochroten Kopf.
Leise fluchend goss ich die Blumen auf dem Grab.
Hatte mir dieser Typ eigentlich irgendwelche Drogen verabreicht, dass ich nicht schreiend vor ihm weglief?
Zum Beispiel ein Beruhigungsmittel für Pferde?
***
Im Schneidersitz saß ich auf dem Teppich und las in dem Buch, dass ich mir aus der Bibliothek ausgeliehen hatte.
Eigentlich geklaut.
Ich kicherte erheitert.
Neben mir stand eine Dose CocaCola zusammen mit einer Tüte Chips.
In dem kurzen Pyjamaoberteil begann ich zu frieren.
Ich spürte einen sanften Wind.
Ich wandte mich um und runzelte die Stirn.
Warum war die Balkontür offen?
Ich war mir hundert prozentig sicher, dass ich sie geschlossen hatte.
Leise schimpfend stand ich auf, verschränkte die Arme vor der Brust und versuchte das zittern zu ignorieren, dass meine Muskeln befiel.
Gerade als ich die Vorhänge zuzog hörte ich ein leises lachen, dass mir nur allzu vertraut war.
Das konnte doch nicht sein, oder?
Wie von der Tarantel gestochen wirbelte ich herum und glaubte einem Herzinfarkt nahe zu sein.
Alec saß auf meiner Couch und betrachtete mich amüsiert.
Mir fiel der Kiefer bis zum Boden.
Seltsamerweise sagte ich etwas, deren Bedeutung ich nicht verstand und das mich verwirrte.
"Kannst du nicht die Tür benutzen, wie ein normaler Mensch?"
Seine wunderschönen Augen blitzten vergnügt auf. "Hast du mich vermisst, Angel?", fragte er mit seiner samtstimme und ignorierte meinen Einwand.
Mit Bewegungen, die bis ins kleinste Detail durchdacht zu sein schienen, stand er langsam auf und näherte sich mir.
Ich schnurrte.
Warum zum Teufel schnurrte ich wie eine Katze, die hinter dem Ohr gekrault wurde?
Er drängte mich gegen die Wand und stützte seine Hände neben meinem Kopf ab.
Ich wollte schreien, um mich schlagen und Panisch nach einer Fluchtmöglichkeit suchen, aber ich war unfähig auch nur einen Finger zu rühren.
Wieso wollte mir mein eigener Körper nicht gehorchen?
Ich starrte ihn an und mir trocknete die Kehle aus.
Sein Atem streifte meine Wange.
Wollte er das Spiel vom Nachmittag fortsetzen?
Reichte es ihm nicht aus, dass ich mich selbst zu einer Woche gründlichen Hausputz verdammt hatte, aufgrund meiner Reaktion?
Nein, er wollte, wonach ich verlangte.
Gegen meinen Willen legte ich meine Arme um seinen Nacken und schmiegte mich an seine muskulöse Brust.
Er neigte den Kopf.
Ich strich mir mit der Zungenspitze über die Lippen, schloss die Augen und hob ihn mein Gesicht entgegen.
***
Entsetzt riss ich die Augen auf, fuhr aus dem Kissen hoch und sah mich hektisch um.
Mein Blick wanderte durch den Raum.
Dunkelheit lag über meinem Schlafzimmer.
Nur das gleichmäßige Ticken meiner Wanduhr durchbrach die Stille.
Ich legte die Hand auf die Stirn und atmete befreit auf.
Das war nur ein Albtraum.
Kein Grund zur Sorge.
Ich brauchte nichts zu befürchten.
Ich stutzte.
Wann hatte ich mir eigentlich solche Fantasien erlaubt?
Trotzdem schaltete ich die Nachttischlampe ein.
Es dauerte eine weile bis es mir gelang mich zu entspannen.
Dennoch fiel ich in einen unruhigen Schlaf.
Fortsetzung Folgt ...