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Die letzte Begleiterin

Auf dem Weg ins Paradies
von

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Mathilda

Vorsichtig lenkte sie nach rechts. Ihre Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Jetzt nur keinen Fehler machen! Ein Fehler konnte sie die Seele kosten. Sie alle. Die junge Frau von knapp zwanzig Jahren steuerte das kleine Boot nach rechts. Noch etwas Dunkelheit, dann sah sie die ersten Mondstrahlen zwischen den engen Felswänden.
 

Geschickt manövrierte sie das Boot zwischen den steilen Klippen durch den tiefen Fluss. "Gleich sind wir im Drachental", verkündete sie den drei Passagieren. Eine Mutter mit ihrer Tochter und ihrem Sohn. Ihr Blick wurde traurig, wenn sie die beiden Kleinen betrachtete. Zwillinge waren es, hatte die Mutter erklärt, gerade mal acht Jahre waren sie alt.
 

Die junge Frau konzentrierte sich wieder auf das tiefe, unergründliche Wasser vor ihr. Noch nie war jemand auf dem Grund dieses Flusses gewesen, hieß es. Sie glaubte es. Wer wollte schon an dieser Stelle ins Wasser springen? Natürlich gab es auch alte Legenden, die berichteten, dass Passagiere hier über Bord gegangen seien. Freiwillig. Ihre Seelen sollen nie wieder ins Leben zurückgekehrt sein.
 

Schließlich hatten sie es geschafft. Ohne eine verlorene Seele ließen sie die Klippen hinter sich. "Mama, Mama, schau mal da!" Der kleine Junge mit dem braunen Haar sah sich staunend um. Sie waren auf einen großen See getrieben, der im Mondlicht glitzerte. Die Umgebung war ruhig und friedlich, wie man es sich kaum vorstellen konnte. Der See mit seiner ovalen Form war ruhig und bis auf die vereinzelten Stellen, die das Wasser im weißen Licht leuchten ließen, pechschwarz. Am Ufer wuchs saftiges dunkles Gras. Die Blumen dicht am Wasser blühten nachts nicht. Rechts konnte man in der Ferne ein kleines Wäldchen erkennen, links sah man die unscharfen Umrisse zweier riesiger Berge. Die Nacht war sternenklar.
 

Die beiden Kinder blickten nach oben und die Mutter erklärte ihnen, wo man die Sternzeichen am Nachthimmel finden konnte. Der Junge jedoch wurde schnell ungeduldig. "Halten wir hier?", fragte er immer wieder. "Ich möchte spielen gehen!"
 

Aber die Frau, die das Boot lenkte, schüttelte mit einem sanften Lächeln den Kopf. "Warte nur ab", antwortete sie immer wieder ruhig, "wenn du Wind spürst, sieh dich aufmerksam um." Extra für ihn hielt sie das Boot an. Sie warteten.
 

Nun, einige Minuten später, zahlte es sich aus. Die kurzen, blonden Haare der Frau bewegten sich leicht in einer kühlen Nachtbrise. Sie drehte sich um und deutete die Klippen hinauf. "Da kommen sie! Seht!"
 

Aufgeregt betrachtete die Familie das kommende Schauspiel.
 

Das Drachental trug seinen Namen nicht umsonst! Im Steilflug stürzten einige Drachen dicht an den Klippen herunter, nur um über der Oberfläche des Sees wild mit den Flügeln schlagend wieder in schwindelerregende Höhen zu fliegen. Die Luft rauschte, die Oberfläche des Sees wurde aufgewühlt. Dicht neben dem Boot erschien ein riesiger, blau-weißer Drache. Er schien aus den Tiefen des Sees zu kommen. Ein paar frisch geschlüpfte Drachenbabies tauchten neben ihm auf. Die Schuppen dieses Drachen glänzten feucht im Mondlicht. Viele der Drachen, die die Klippe heruntergeflogen waren, hatten sich in der Luft versammelt. Sie waren ausnahmslos weiß mit großen Schwingen und einem langen, spitz zulaufenden Schwanz.
 

Plötzlich ertönten Laute. In hohen Tönen kommunizierten die Drachen miteinander. Die Geschöpfe in der Luft flogen im Kreis, der Wasserdrache und seine Babies streckten sich ihnen entgegen. Auf den Wiesen fanden sich auch Drachen ein, große, kleine, mit Flügeln und noch ganz winzige ohne ein Zeichen, dass sie einmal Drachen werden würden! Sie alle sangen ihr Lied.
 

Es war wunderschön. Die Familie beobachtete dieses Schauspiel gespannt, die junge Frau jedoch hatte es schon so oft gesehen, dass sie sich bald abwandte und einem kleinen Drachen, der sich nahe an das Boot herangewagt hatte, über den Kopf streichelte. Sie erkannte den Kleinen: er war der Wasserdrache, der sich einmal den Kopf an ihrem Boot gestoßen hatte. Ein paar Schuppen standen leicht ab und waren hellblau gefärbt, im Gegensatz zu seinem sonst dunklem Körper. Liebevoll lächlte sie.
 

Das Schauspiel wandte sich seinem Ende zu. Die Drachen flogen der Reihe nach aus dem großen Kreis auf die Wiesen links und rechts neben dem See. Ihre Familien begrüßten sie. Die Frau hatte einmal herausgefunden, dass alle Drachen dies zu einer bestimmten Zeit machten. Je nach Art flogen sie einmal im Jahr hierher und veranstalteten dieses Ritual. Es nahm die jungen Drachen in die Reihe der Erwachsenen auf.
 

Vereinzelt fiepten noch Drachen, doch es waren nur die ganz jungen, die nach Futter verlangten. Die Wasserdrachen hatten sich nun auch zurückgezogen. Der Zauber des Augenblicks war vorbei, jetzt lag eine friedliche Atmosphäre in der Luft und die Reise konnte weitergehen. Noch immer waren die Kinder neugierig auf die Drachen und bettelten, einmal an Land gehen zu dürfen und sie zu beobachten.
 

"Es tut mir Leid", betonte die junge Frau immer wieder, als sie kopfschüttelnd verneinte und auf das andere Ende des Sees zuhielt. Endlich angekommen stiegen die vier Personen aus. Ein Holzzaun war errichtet worden, um die Drachen vor unwillkommenen Besuchern zu schützen. Die Mutter nahm ihre Kinder bei der Hand und ging hinter ihrer Führerin zwischen dem breiten Zaun entlang. Stumm liefen sie über das trockene Gras, durch eine mit vielen, orangefarbenen Laternen erhellte Höhle und schließlich kamen sie an einem endlosen Strand an. Es war der Ankerplatz für viele Schiffe, große wie kleine. Zielsicher hielt die Frau auf ein altmodisches Boot zu. Es hob sich von den anderen Schiffen dadurch ab, dass es aus Holz gebaut war und neben einem glanzvollen, roten Anstrich auch ein aus rotem Samt bestehendes Dach hatte.
 

Über einen kleinen Holzsteg gelangten die Mutter und ihre beiden Kinder zu gut einem Dutzend anderer Passagiere auf das Schiff. "Sie kommen nicht mit?" Verwundert sah die Frau zu ihrer jungen Führerin.
 

Diese schüttelte mit dem Kopf. "Ich war Ihre letzte Begleitung für diese Reise. Den letzten Teil müssen sie alleine zurücklegen." Kurz zählte sie die Personen in dem Boot. "Ihr seid vollzählig. Bitte, wenn Sie am anderen Ufer angekommen sind, steigen Sie aus und halten auf das große Tor vor Ihnen zu. Man kann es nicht verfehlen." Damit stieß sie das Boot ins Wasser. Einen Moment blieb sie stehen, wo sie war, und winkte den Passagieren. Dann ging sie zurück.
 

Sie machte sich auf den Rückweg zu ihrem kleinen Holzboot. Als sie an der Höhle angekommen war, blieb sie neben einem Holzhäuschen stehen, das beim Heraustreten aus dem erleuchteten Tunnel gar nicht aufgefallen war. In diesem Häuschen, das einer Kabine ähnelte, saß ein alter, rundlicher Mann mit grauem Haar und Schnurrbart. "Abend, die Dame", grüßte er gelangweilt.
 

Die Frau lächelte. "Drei Personen, eine Mutter und zwei Kinder", sagte sie dann. Der Alte schob ein paar Scheine herüber. Zufrieden nickte die Frau ihm zu und nach einem Gruß war sie schon auf dem Weg durch die Höhle.
 

Heute hatte sie gut verdient. Meist kamen die Personen einzeln. Hoffentlich hatte ihr Boot die ungewohnte Last gut überstanden. Sie untersuchte es sorgfältig. Selbst das Herumspringen des Kleinen hatte ihm nichts ausgemacht. Mit einem Lächeln lenkte sie das Boot am Rande des Sees zurück. Leise lauschte sie den Gesprächen der Drachen, ohne ein Wort zu verstehen. An der Klippe angekommen nahm sie ein kleines Plättchen, das der Alte ihr zusätzlich zum Lohn zugesteckt hatte, und drückte es gegen den kalten Stein. Das Plättchen verschwand darin und die Klippen schienen durchsichtig zu werden. So war der Weg viel leichter und sie brauchte sich keine Sorgen mehr zu machen, dass sie irgendwo anstieß.
 

Auf der anderen Seite der Klippe warteten schon ein paar andere Personen. Ein junger Mann mit langen, blonden Haaren lenkte sein Boot neben ihrem vorbei. "Guten Abend, Mathilda", grüßte er, "schon auf dem Rückweg?"
 

"Grüße dich, Robin, ja, die Familie ist gut angekommen. Viel Glück!"
 

"Danke. Auf Wiedersehen!"
 

Mathilda, so hieß die junge Frau, lächelte glücklich. Sie freute sich immer, Robin zu sehen, auch wenn sie meist nicht lange Zeit hatten, sich zu unterhalten. Sie sprang ins flache Wasser und führte ihr Boot, wie es schon lange Tradition war, die letzten Meter zurück und band es fest. Eine kleine Gruppe tuschelte aufgeregt. Sie gesellte sich zu ihnen. Ihre nassen Füße fühlten sich angenehm an im Sand. "Was gibt es? Ist es wegen einem Gast?"
 

"Aber hallo", kichterte eine Frau Mitte zwanzig mit langem, rotbraunem Haar, "hast du den Mann mit Robin nicht gesehen? Schade, dass so einer hier wegmuss!" Darauf hatte Mathilda gar nicht wirklich geachtet. Sie hatte nur Augen für ihren langjährigen guten Freund gehabt. So nickte sie nur und entfernte sich stumm wieder. Endlich konnte sie in das japanische Teehaus neben dem Frauenhaus, in dem sie wohnte. Hier ruhte sie sich immer aus.
 

Diese Häuser wurden längst nicht mehr ihrer Tradition entsprechend behandelt, in ihnen benahm man sich wie in einem Restaurant. Irgendwann, die Sonne war schon fast am Aufgehen, setzte sich Robin endlich zu ihr. "Guten Morgen", grüßte er.
 

Sie lächelte. "Guten Morgen. Ist deine Fahrt gut gelaufen?"
 

"Ja", antwortete er, "nicht einmal die Drachen haben beim Schwinden der Nacht Ärger gemacht. Der Mann ist heil angekommen." Das freute sie.
 

Wortlos reichte sie ihm ein Glas Orangensaft, das sie bei einer Bediensteten bestellt hatte, als sie Robin von Weitem kommen sah. Dieser nahm es dankend an. "Schon komisch", sagte sie dann, "irgendwie kann ich mich nicht an unsere Arbeit gewöhnen. Ob es an den Drachen liegt?"
 

"Ich weiß es nicht", war die Antwort ihres besten Freundes. Sie beobachteten den Sonnenaufgang, der sich hinter dem im japanischen Baustil errichteten Männerhaus ankündigte. "Auf jeden Fall ist es ziemlich außergewöhnlich."
 

Sie nickte. "Begleiter wird man auch nicht einfach so." Begleiter war das richtige Wort. So wurde ihr Beruf untereinander genannt. Den Ausdruck, den die Lebenden verwendeten, mochte man hier nicht. Sie nannten diese würdevolle und pflichtbewusste Arbeit 'Sensenmann'.
 

Dabei begleiteten sie die Seelen der kürzlich verstorbenen Leute ins Paradies. Man konnte die Seelen auch Geister nennen, das war egal, sie selbst waren auch längst tot, alterten aber nicht und besaßen noch einen festen Körper.
 

Als die Sonne endlich am Himmel stand, machten sich auch Mathilda und Robin auf in ihre Häuser. Beide waren von der Arbeit müde. Heute Abend würde es weitergehen, doch bis dahin hatten sie noch viel Zeit.
 

Nach einem kurzen, höflichen Abschied begab sich Mathilda ins Frauenhaus, um sich nach einer ausgiebigen Dusche schlafen zu legen. Vorher sah sie auf den Dienstplan. Ab übermorgen hatte sie Tagschicht, musste die Menschen also am helllichten Tag durch die steilen Klippen und das Drachental führen. Sie freute sich schon.
 


 

Ende.



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Kommentare zu diesem Kapitel (4)

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Von:  SamAzo
2009-09-26T21:17:30+00:00 26.09.2009 23:17
Schöne, kleine, flüssig lesbare Geschichte.
So sieht also der Arbeitstag eines "Sensenmannes" aus. Was man da wohl sonst noch so alles zu Gesicht bekommt?
Vor allem die Drachen haben mir gefallen.^^

Aber was wenn mal jemand ins Wasser springt um zu den Drachen zu schwimmen, oder wenn mal jemand gar nicht mit ihr mit will?

Leider ganz knapp eine Platzierung verfehlt. Dennoch 5KT für die Mühe.

Vielen Dank fürs mitmachen
berni
Von:  squeerin
2009-07-03T10:23:52+00:00 03.07.2009 12:23
Hi,
also ich finde, dass dir hier eine sehr schöne Geschichte gelungen ist. Du erzählst sehr flüssig und schreibst fehlerfrei was angenehm zu lesen ist.
Ich bin der Meinung, dass du die Charaktere der Mutter und ihrer Kinder nicht zu blass gestaltet hast, da die Mutter, sich dessen bewusst das sie alle gestorben sind, sehr schweigsam war und außer dem, dass die Kinder Zwillinge und acht Jahre alt seien, nichts gesagt hat.
Die Kinder allerdings, vor allem der Junge, sind in einem alter in dem man sich noch nicht sehr viele Gedanken über den Tod macht und das Ganze für ein spannendes Abenteuer hält, frei von Trauer und Furcht vor dem was kommen wird. Und das hast du meiner Meinung sehr gut rübergebracht.

lg, squeerin
(KFF)
Von:  Sereg
2009-06-27T13:20:30+00:00 27.06.2009 15:20
Mae Govannen,
die Geschichte war echt gut geschrieben. Dein Schreibstil lässt sich wunderbar lesen und auch das Geschehen hat sich gut verfolgen lassen.
Nur die Charaktere der Personen, welche hinüber begleitet wurden waren etwas zu flach. Warum waren sie so ruhig? Wussten sie nicht, wohin ihre Reise geht? Oder haben sie es einfach noch nicht realisiert?
Aber so an sich war die Geschichte echt gut geschrieben

Atenio, [[Toshio]]
Von:  Schreiberliene
2009-05-19T09:24:20+00:00 19.05.2009 11:24
Hallo,

die Idee zu dieser Geschichte finde ich wirklich sehr schön. Fehler sind mir auch nicht aufgefallen, weder formal noch inhaltlich; allerdings fand ich, dass dein im Grunde angenehmer Schreibstil ab und zu ein bisschen zur Aufzählung verkommen ist. Die vielen Beschreibungen sind gut, denn so kann man sich ein Bild machen, doch nicht immer gelingt es dir, diese Beschreibungen unauffällig einfließen zu lassen. Vielleicht ist das aber auch nur mein persönliches Empfinden- in jedem Fall sind es nur ein paar Stellen, die etwas zu aufgezählt wirken.

Die Charaktere, vor allem die Frau und ihre Kinder, waren mir persönich etwas zu blass, zu stereotyp und wirkten nicht völlig glaubhaft. Das, was wir von Mathilda [?] erfahren, wirkt im Gegensatz dazu viel lebendiger.

Was mir nicht so gefallen hat, war die Stelle gegen Ende, an der du das Geheimnis aufgelöst hast; einfach zu sagen, dass sie Begleiter sind, erschien mir ein bisschen unelegant. Hättest du das eher angedeutet und etwas im unklaren gelassen, hätte das meiner Meinung nach deine Geschichte noch verbessert.

Aber im Großen und ganzen war es gut geschrieben, gut aufgebaut, und vor allem der Beginn war so geschickt gewählt, dass der Leser zwangsläufig vom Geschehen gefesselt wurde.

Was genau Drachen auf dem Weg zum Paradis machen, hat mich allerdings schon zum Nachdenken gebracht; vielleicht muss man dafür mehr im Genre sein als ich es bin.

Also: Hat mir wirklich ganz gut gefallen.

Anna

[KFF]


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