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Bilder unserer Zeit

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Was ich will und was ich kann (2002 / 06)

25. Kapitel - 2002 (Juni)
 

Im Nachhinein kann ich nicht mehr sagen, was mir die Kraft gab, gleich zu Beginn die Konfrontation zu suchen. Mir wurde das Herz mit aller Gewalt herausgerissen, der Triumph über den Schatten meines Vaters hatte sich in eine schmachvolle Niederlage verwandelt und ich hatte nicht wirklich das Gefühl, dass meine Beine mich noch tragen würden. Alle Kraft war aus mir gewichen und der erst vor so kurzer Zeit neu gefundene Lebenswille verloschen.
 

Dennoch machte ich mich vom Krankenhaus gleich auf den Weg. Ich wusste, dass mit dem Sterben meines Vaters nur noch eine einzige Person in der Lage war mir zu erklären was ich wissen wollte. Zumindest zu einem Teil.
 

In der Bahn war es zum Glück nicht mehr so eng wie noch einige wenige Stunden zuvor, die Rushhour war vorbei, und die Arbeitstätigen waren endlich zu Hause angekommen und konnten sich auf ihr freies Wochenende freuen. Bei einer Haltestelle warf ich einen Blick auf die Uhr und stellte fest, dass es bereits kurz nach neun war. Gegen Viertel vor Zehn wäre ich erst am Ziel, was mir viel Zeit zum nachdenken ließ.
 

Doch ich habe keine Gedanken. Mein Kopf ist leer und alles zieht an mir vorbei, als gäbe es die Dinge einfach nicht. Die Ängste und Sorgen die mich noch gestern geplagt hatten, waren heute unwichtig geworden. Es gab nichts mehr, was mir etwas bedeutete, außer der Antwort auf meine Frage. Die Erde hätte in diesem Moment gerne von einem Feuerball zerstört werden können, es wäre mir egal. Meine Welt war vor wenigen Minuten untergegangen.
 

Aufkeimende Tränen blinzle ich weg, starre wortlos nach draußen, beobachte die Menschen und beneide sie um ihre Normalität. Die Bahn ruckelt sich langsam durch die Stadt und es kann mir nicht schnell und auch nicht langsam genug gehen. Unentschlossen stehe ich herum, halte mich an einer der Stangen fest und es kommt mir vor, als wäre dies der einzige Halt den ich noch habe.
 

Sinnlose Bilder schießen mir durch den Kopf.
 

Nächster Halt: Joseph-Bräuer-Straße
 

Ich starre auf die Papiere in meiner Hand, besehe mir das Logo genau, blättere dann Seite für Seite um, lese die verhängnisvollen Worte und die Wut erkämpft sich meinen Körper erneut.
 

Ich bin wütend auf meinen Vater, auf mich selbst und das verkorkste Leben das ich führe. Ich verfluche den Tag an dem ich von Zuhause davongelaufen bin. Es ist das allererste Mal, dass ich mir wünsche, ich wäre dort geblieben. Mit Zack hätte ich zufrieden sein können und Jamie wäre der Bruder gewesen, den ich mir immer gewünscht habe. An diesem Tag, da bin ich mir ganz sicher, ist mein Leben endgültig den Bach runter gegangen.
 

Nächster Halt: Rosenweg
 

Die Türen öffnen sich lärmend und ich trete in die abgekühlte Abendluft. Ein Mädchen drängt sich an mir vorbei, wirft mir einen bösen Blick zu, ehe sie wieder in ihr Handy spricht. Eilig läuft sie vor der Bahn auf die andere Straßenseite und dann genau in die Richtung, in die ich auch will. Vielleicht liegt es an ihr, dass ich den Weg so schnell hinter mich bringen kann, denn sie führt mich direkt bis zum Haus. Und während sie telefonierend weitergeht, stehe ich vor der verschlossenen Türe und betrachte abwesend den Klingelknopf.
 

Ich strecke meine Hand danach aus, balle die andere zur Faust, spüre das Papier an meiner bloßen Haut und schlucke den galleartigen Kloß hinunter, der in mir aufsteigt. Dann drücke ich den Knopf. Ich höre das Läuten im Innern des Hauses. Ich drücke wieder, und wieder, und wieder und dann noch einmal. Auch als ich bereits die Schritte hören kann, lasse ich den Knopf nicht los. Ich kann einfach nicht.
 

Die Tür wird aufgerissen und Frau Berger steht mit funkelnden Augen vor mir, den Bademantel lose um die Schultern hängend. Das schwarze Nachthemd das sie trägt, umschmeichelt ihre Beine, doch dafür habe ich nur für kurze Zeit einen Blick übrig.
 

„Herr Montega“, sagt sie verächtlich, schnaubt unwillig auf, zieht den Bademantel zurecht und gürtet ihn vorne zu.
 

Wortlos reiche ich ihr die Papiere, die sie mir zögernd abnimmt. Fahrig streicht sie sich einige Haarsträhnen nach hinten. Sie überfliegt die Zeilen, die ich bereits auswendig aufsagen kann, so sehr haben sie sich in mein Hirn gefressen. Ihre Augen weiten sich, ihre Lippen öffnen sich in einem lautlosen Erstaunen. Als sie an den schrecklichen Worten angekommen ist, legt sie ihre Hand auf ihre Brust und schließt verzweifelt die Augen und ich kann ihr ansehen, dass sie leidet.
 

„Woher haben Sie das?“, haucht sie atemlos.
 

„Von meinem Vater“, antworte ich.
 

Ihre Augen fliegen auf, ihr Blick heftet sich auf mich und hinter ihrer Stirn beginnt es zu arbeiten. Unschlüssig hält sie mir die Papiere hin, dann zeiht sie sie wieder zurück, noch einmal überprüft sie deren Inhalt, ehe sie den Arm kraftlos sinken lässt.
 

„Hat er… mit Ihnen darüber gesprochen?“, will sie wissen.
 

„Ich fand den Umschlag des Instituts auf seinem Tisch im Krankenhaus liegen. Er war offen, die Blätter so, wie Sie sie in der Hand halten. Er hat nicht mehr die Kraft mir irgendetwas zu sagen, Frau Berger, mein Vater stirbt in diesem Augenblick“, presse ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
 

„Er stirbt?“, ruft sie erschrocken aus, schlägt sich kurz darauf die Hand vor den Mund und wirft einen nervösen Blick über die Schulter.
 

„Es ist Krebs“, bringe ich nur mühsam hervor. Jetzt, wo ich vor ihr stehe und sie mit diesen Dingen konfrontieren kann, fällt jegliche Selbstbeherrschung von mir ab. Ich will endlich Antworten auf meine Fragen haben und mich nicht länger mit Nichtigkeiten herumschlagen.
 

„Das wusste ich nicht.“
 

„Dafür wussten Sie aber scheinbar ganz andere Dinge“, knurre ich. „Oder irre ich mich?“
 

Sie schweigt. Und es macht mich rasend, dass sie das tut. Energisch gehe ich die letzte Stufe nach oben, packe sie an den Oberarmen und schiebe sie unerbittlich ins Haus hinein. Die Tür werfe ich mit dem Fuß hinter mir zu. Sie wehrt sich, aber sie gibt keinen Laut von sich und ich weiß genau warum; Chris soll nicht wach werden.
 

„Sie wussten es, nicht wahr? Woher sonst sollte mein Vater die Probe gehabt haben um den Test durchzuführen! Spucken Sie’s endlich aus! Wann? Wann ist es passiert?“
 

Ich schüttle sie unsanft hin und her und Frau Berger hat große Mühe damit sich aufrecht zu halten. Schließlich bekommt sie mich am Arm zu fassen und gräbt mir schmerzhaft ihre Fingernägel in die Haut, was mich dazu bringt sie loszulassen.
 

Schwer atmend sieht sie mich an, donnert die Papiere mit der flachen Hand auf die neben ihr stehende Kommode. Ihre Augen blitzen und ich weiß, dass ich sie endlich soweit gebracht habe mir Rede und Antwort zu stehen.
 

„Es war… 1987…“, spricht sie zögerlich, schlingt die Arme um ihren Oberkörper und zittert unter den Erinnerungen, die sie gewaltsam heraufbeschwört. „Die Firma Ihres Vaters arbeitete damals eng mit dem Unternehmen zusammen, in dem ich als Sekretärin tätig war. Bei der Besprechung für ein neues Projekt… begegneten wir uns schließlich.“
 

„Weiter“, dränge ich sie.
 

„Wir lernten uns kennen, waren uns sympathisch und… er verliebte sich in mich.“
 

In ihren Augen kann ich den Schmerz lesen, die Trauer und die Hoffnungslosigkeit. Ich weiß, dass ich ihr Leben gerade ebenso auf den Kopf stelle, wie mein Vater es gerade bei mir getan hat. Geteiltes Leid ist halbes Leid, oder? Doch ich bemerke nichts davon. Es tut noch immer so weh wie zuvor.
 

„Mein Cousin… arbeitete in der Firma Ihres Vaters, was dazu führte, dass wir uns privat sehr nahe kamen. Ich wusste, dass er verheiratet war und ich selbst… ich war im Begriff mich zu verloben…“, spricht sie leise und unter Tränen weiter. „Ich weiß nicht warum ich es tat, aber ich ermutigte Ihren Vater in seinen Bemühungen. Ich genoss seine Zärtlichkeit und… seine Liebe.“
 

„Was war mit Ihrem Mann?“, will ich wissen.
 

„Damals glaubte ich, ihn zu lieben. Es war ein Irrtum. Unsere Ehe war von Anfang an ein Fehler gewesen“, antwortet sie. „Vielleicht habe ich es gespürt, wahrhaben wollte ich es jedoch nicht. Auf einer Betriebsfeier ist es dann geschehen… am Abend zuvor hatte ich mich mit meinem Mann gestritten und…“
 

„Sie haben mit meinem Vater geschlafen“, bringe ich den Satz zu Ende. Sie nickt stumm, schluchzt in ihre Hand hinein. Ergeben schließe ich die Augen, verdränge nur mit Mühe den Impuls wie ein Wilder durch das Haus zu toben. Ich möchte etwas kurz und klein schlagen, am besten Frau Berger zuerst.
 

„Wie ging es weiter?“, presse ich hervor.
 

„Gar nicht. Ich beendete das Verhältnis mit Carlos, kehrte zu meinem Ehemann zurück, gestand ihm und meinen Eltern die ganze Geschichte und kämpfte um eine Ehe, in der ich unglücklich war. Als Chris geboren wurde…“
 

„Es reicht“, unterbreche ich sie schwach, wende mich von ihr ab und stütze mich auf die Kommode. Ich muss ein paar Mal tief durchatmen, ehe ich es wage die Augen wieder zu öffnen. Mein Herz hämmert schmerzhaft in meiner Brust, meine Beine drohen unter mir nachzugeben und ich sehe meine Hände zittern.
 

„Haben Sie es ihm gesagt?“, fragt Frau Berger zaghaft und ich muss beinahe auflachen.
 

„Nein“, sage ich stattdessen schlicht.
 

Gemeinsam stehen wir unentschlossen im Flur ihres Hauses. Ich weiß nicht was ich sagen soll, was ich tatsächlich noch wissen möchte und ob ich überhaupt noch darüber nachdenken will. Es tut einfach so weh und jeder vergangene Kuss brennt unangenehm auf meinen Lippen wieder.
 

Wie konnte ich nur jemals denken, dass ich mit Chris glücklich werden könnte?
 

„Sie wussten es also die ganze Zeit“, brumme ich schließlich. „Das ich sein Sohn bin?“
 

„Ich habe es vermutet, aber sicher war ich mir nicht. Er hat mir nie Bilder gezeigt und ich wollte auch nie welche sehen.“
 

Es ist schwer einen neuen Anfang zu finden. Eine Zeit lang denke ich darüber nach, einfach zu gehen. Alles hinter mir zu lassen, aus diesem Leben auszubrechen und nie wieder zurückzuschauen. Was würde mich daran hindern? Ich könnte die Stadt verlassen, meine Wohnung aufgeben, das Studium auch… Jobs findet man immer. Vielleicht könnte ich zu Zack zurückkehren. Ja, vielleicht sollte ich all das machen.
 

Aber als ich einen Blick in Frau Bergers aufgelöstes Gesicht werfe, weiß ich, dass ich es niemals tun werde. Ich kann nicht. Auch wenn es schwer wird, auch wenn ich noch so lange brauchen werde, ich will das alles nicht aufgeben. Nicht wegen eines Fehlers aus der Vergangenheit meines Vaters. Wieso sollte ich an seiner statt büßen?
 

„Haben Sie Chris jemals etwas angedeutet?“
 

„Nein. Mein Mann war ihm ein guter Vater, auch nach dem Ende unserer Ehe und… Chris sieht Carlos nicht ähnlich, das hat mir geholfen es zu verdrängen“, gesteht Frau Berger leise. „Was ist… aus Carlos geworden?“
 

Ich schnaube unwillig und mit einem Schlag ist all die Wut wieder da, die ich bisher erfolgreich zurückgedrängt habe. Bilder eines um sich schlagenden Vaters tauchen vor meinem geistigen Auge auf, ich höre meine eigenen Schreie und das Schluchzen meines kleinen Bruders. Schmerz flammt in meiner rechten Hand auf, ich spüre den rauen Putz der Hauswand wieder, sehe das erschrockene Gesicht meiner Mutter vor mir.
 

„Er schlug mich das erste Mal als ich sechs war“, schmettere ich Frau Berger entgegen, die mich erschrocken anstarrt. „Als ich acht war, wurde Jamie geboren und ich fürchtete um sein Leben, weil unser Vater jeden Tag einen Tobsuchtsanfall hatte. Mit sechzehn bin ich schließlich weggelaufen und hier gelandet. Reiner Zufall… oder auch traurige Ironie.“
 

„Das tut mir…“
 

„NEIN!“, schreie ich laut, reiße die Blumenvase, die auf der Kommode steht herunter. Klirrend geht sie zu Bruch, das Wasser verteilt sich auf dem Teppich, auf den Fliesen. Blütenblätter liegen herum und auch der Vaterschaftstest landet auf der Erde.
 

„Es tut Ihnen nicht Leid, es HAT Ihnen nicht Leid zu tun“, knurre ich sie an, dränge sie immer weiter zurück, bis sie schließlich mit dem Rücken an die Wand stößt. „Ich schere mich einen Dreck um Ihr heuchlerisches Mitleid.“
 

„Heuchlerisch?“
 

„Sie wissen nichts, rein gar nichts von den Dingen die ich erlebt habe. Und ich bin mir sicher, dass es Ihnen auch nicht im geringsten Leid tut, dass Sie meinen Vater sitzen gelassen haben. Es war Ihr Leben, nicht wahr? Sie haben es gelebt und die Konsequenzen Ihres Handelns hat ein anderer getragen.“
 

„Das ist nicht wahr!“, begehrt sie gegen mich auf, funkelt mich wütend an. „Ich trage keine Schuld daran wie Carlos seine Familie behandelt hat. Das war ganz allein seine Entscheidung.“
 

„So? Aber wenn Sie nicht zweigleisig gefahren wären, dann wäre das alles nicht passiert!“
 

„Was wäre wenn!“, schnaubt sie unwillig. „Es ist geschehen und es war in vielerlei Hinsicht ein Fehler, aber ich habe mich deswegen nicht versteckt. Aus diesem Fehler habe ich gelernt und ich habe es besser gemacht. Für Carlos’ Taten bin ich nicht verantwortlich, auch wenn ich sie nicht rechtfertigen will.“
 

„Haben Sie sich auch nur ein einziges Mal gefragt, was Sie meiner Mutter antun? Was Sie auch mir angetan haben?“
 

„Nein“, gesteht sie schwach und ich kann mich kaum noch beherrschen.
 

„Sie haben das Leben einer unschuldigen Frau und ihres Kindes willentlich und wissentlich dermaßen zerstört! Und kommen Sie mir nicht mit billigen Ausreden“, unterbinde ich ihren Protest. „Was haben Sie denn erwartet was passieren würde? Nicht jeder hat einen so verständnisvollen Partner wie Sie! Auch wenn Sie nicht wissen konnten, dass mein Vater zu einem solchen Monster mutiert, muss Ihnen doch klar gewesen sein, was Sie mit Ihrer Affäre anrichten!

Vielleicht habe ich das schlimmste nur mögliche Ergebnis erhalten, aber auch alles andere wäre unhaltbar gewesen! Sie haben eine Ehe zerstört!“
 

„In der Carlos scheinbar nicht glücklich war!“, schreit sie mich nun ganz ungeniert an.
 

„UND DAS GIBT IHNEN DAS RECHT EINE FAMILIE AUSEINANDER ZU REIßEN?!“, brülle ich in voller Lautstärke, schlage mit der rechten Hand gegen die Wand in ihrem Rücken, spüre den Schmerz erneut aufflammen und verziehe das Gesicht.

„Das Sie in Ihrer Ehe nicht glücklich waren ist eine Sache, aber es ist eine ganz andere Geschichte, wenn Sie auch noch einen anderen mitreißen. Vielleicht hätte mein Vater sich bald von sich aus von uns getrennt, oder er wäre bei meiner Mutter geblieben und hätte sein glückloses Leben einfach weitergeführt… wer weiß das schon, aber es war nicht Ihre Entscheidung! Sie hätten sich nicht einmischen dürfen!“
 

„Jetzt hören Sie aber auf! Ich trage ganz sicher nicht die alleinige Schuld daran! Carlos war derjenige, der den Kontakt zu mir suchte, er wollte es ebenso wie ich!“
 

„Sie hätten ihn ablehnen können! Warum mussten Sie mit ihm schlafen?!“, bleibe ich unversöhnlich.
 

„Es gab keinen Grund!“, wirft sie ihre Hände in einer verzweifelten Geste in die Luft. „Ich kann Ihnen nicht erklären warum wir es taten. Es war nur dieses eine Mal, aber es hat gereicht um schwanger zu werden! Damals habe ich mir genauso sehr gewünscht, dass ich es nicht getan hätte, so wie Sie heute. Aber es ist passiert! Es ist passiert.“
 

„Ist das alles?“, resigniere ich.
 

„Das ist alles“, stimmt sie mir zu. „Es gibt keine Entschuldigung, das weiß ich. Nachdem ich um meine Schwangerschaft wusste, habe ich Carlos davon erzählt. Ich habe ihm gesagt, dass ich ihn nicht liebe, wir einen Fehler gemacht haben und dass ich ebenso Schuld trage wie er. Er wollte mich nicht gehen lassen, aber ich habe mich von ihm losgesagt. Der Vaterschaftstest war unsere letzte Kommunikation.“
 

„Hat er Unterhalt bezahlt?“
 

„Nein“, wiegelt sie ab. „Ich habe das nicht gewollt.“
 

Schweigend stehen wir uns nun gegenüber, messen uns mit Blicken ab, suchen in den Augen des anderen nach einer Lösung. Doch nichts ist greifbar. In meinem Kopf fliegen die Gedanken wild umher, keinen kann ich packen und ich kann nicht sagen, was ich will. Ich weiß es nicht. Ich kann mir einfach nicht ausmalen wie es weiter gehen soll.
 

„Herr im Himmel“, raune ich schwach, presse mir die Fäuste gegen die Schläfen und schließe verzweifelt die Augen. „Gib mir Kraft!“
 

Unruhig laufe ich von links nach rechts durch den Flur. Ich drehe mich um mich selbst, körperlich, wie auch in Gedanken. Es gibt keinen Ausweg aus diesem Labyrinth, nicht mal einen kleinen Hinweis. Ich bin alleine auf diesem Irrweg und ich weiß beim besten Willen nicht, woran ich mich orientieren soll. Was ist noch richtig und was falsch?
 

„Ich begehre meinen Bruder“, stöhne ich gequält. „Meinen Bruder, Herrgott!“
 

Halbbruder“, wirft Frau Berger ein.
 

„Als ob das einen Unterschied macht“, schnaube ich entrüstet.
 

„Vielleicht sollte es das.“
 

Ich halte kurz inne, tue ihre Worte dann jedoch als eine Art Hirngespinst ab, laufe weiter unruhig durch den Flur. Er ist mein Bruder… das ist alles woran ich denken kann. Ob Halb oder Ganz, spielt dabei doch gar keine Rolle. Chris ist mein Bruder. Und er liebt mich! Er liebt mich! Mein Bruder… mein Halbbruder…
 

„Was wollen Sie jetzt tun? In Bezug auf Chris meine ich“, wendet sich Frau Berger wieder an mich und ich bin wirklich nur einen Wimpernschlag davon entfernt sie anzufallen und ihr ernsthaft wehzutun. Diese Frau macht mich wahnsinnig!
 

„Was soll ich denn tun, hä?“, fauche ich sie an. „Sehe ich so aus als ob ich auch nur den Hauch einer Ahnung hätte was ich jetzt machen soll? Denken Sie nach! Es ist sogar gegen das Gesetzt! So etwas nennt sich Inzest! Es ist illegal!“
 

„Dann wollen Sie es ihm also sagen?“, hakt die verstörte Frau nach, ihr braunes, wirres Haar fällt ihr dabei über die Schulter und in ihren Augen kann ich ihren Sohn erkennen. Sie sind sich so unheimlich ähnlich.
 

„Nein, nein… Oh nein…“, schüttle ich energisch den Kopf. „Das ist Ihre Aufgabe, nicht meine. Das lasse ich mir nicht auch noch unterschieben. Stehen Sie gefälligst zu dem was Sie getan haben!“
 

„Ich warne Sie, spielen Sie sich nicht als mein Richter auf!“, droht sie mir unverhohlen.
 

Wutschnaubend wende ich mich von ihr ab, setze zu einer neuerlichen Runde über den eingesauten Teppich an, bleibe jedoch abrupt stehen, als ich sehe, wer auf dem unteren Treppenabsatz steht und uns mit großen Augen betrachtet. Frau Berger bemerkt mein Stocken, schaut sich ebenfalls um und zieht erschrocken die Luft ein, als sie ihren Sohn erkennt.
 

Christ steht ganz unbeweglich da und ich frage mich fieberhaft, seit wann er dort ist oder wie viel er tatsächlich gehört hat. Ich verfluche mich, dass ich nicht leiser war. Seine Augen wandern unruhig zwischen mir und seiner Mutter hin und her, seine ganze Haltung ist angespannt und ich erkenne ein leichtes Zittern. Es tut so weh ihn zu sehen.

Ihm so nahe zu sein und zu wissen, dass es mir verboten ist ihn zu berühren, ist das Qualvollste was ich je erlebt habe. Ich will meine Hand nach ihm ausstrecken, ihn in meine Arme ziehen und ihm sagen, dass alles gut ist, ich ihn niemals loslassen werde, aber… wie könnte ich ihm dieses Versprechen geben, wenn ich ihn nun mit ganz anderen Augen betrachte?
 

Das Bild meines Vaters flammt vor mir auf und ich suche ihn in Chris. Anzeichen davon, dass wir zwei Brüder sind. Genetische Merkmale die uns beiden gegeben sind. Ich taste seinen gesamten Körper ab, suche Gleichheiten und zähle dabei die Unterschiede. Klar denken, kann ich allerdings nicht mehr und ich sehe immer wieder meine Mutter vor mir, wie sie Jamie als Baby auf dem Arm getragen hat.
 

Erinnerungen verschwimmen mit der Realität und aus Jamie wird Chris. Ich kann die beiden schon nicht mehr voneinander trennen, frage mich, wie es wohl gewesen wäre, wenn mein Vater uns verlassen hätte. Carlos Berger anstatt Carlos Montega. Wäre er glücklich gewesen? Wäre er Chris ein guter Vater gewesen? Liebevoll? Aufmerksam?
 

Eine Familienidylle entsteht vor meinem inneren Auge und Übelkeit steigt in mir hoch, wenn ich daran denke, was alles hätte passieren können. So viele Möglichkeiten und eine erscheint mir schrecklicher als die andere. Aber auch die gegenwärtige Situation ist nicht gerade berauschend und steuert unaufhaltsam auf ihren grausamen Höhepunkt zu.
 

„Was hat das zu bedeuten?“, höre ich Chris leise fragen und weiß nicht genau, ob er damit mich oder seine Mutter meint. Eine Antwort erhält er allerdings keine. Noch einmal schaut er zwischen uns beiden hin und her, dann richtet sich sein Blick auf den Boden. Er sichtet die zerbrochene Vase, sieht den Bogen Papier und steuert zielstrebig darauf zu.
 

Einen Moment lang will ich ihn davon abhalten es zu lesen, es auch nur anzufassen, aber dann kann ich ihn einfach nicht berühren. Meine Hand nach ihm auszustrecken ist unmöglich geworden.
 

Seine Augen huschen unruhig über die Zeilen und ich sehe die wachsende Unsicherheit und Unruhe in seinem Blick. Trotzdem liest er tapfer weiter, stockt erst, als er das Ergebnis überfliegt. Seine Lippen formen stumm die Worte, die schwarz auf weiß gedruckt worden sind und dann kann er sich nicht dazu entschließen uns anzusehen.
 

„Ist das wahr?“, fragt er unbestimmt in den Raum hinein und ich sehe Frau Berger nicken.
 

„Ja“, bekräftigt sie schwach, wendet sich ab, präsentiert ihrem Sohn und mir ihren bebenden Rücken. Sie hat wieder zu weinen angefangen.
 

„Warum hast du es mir nie gesagt?“, will Chris leise wissen und ich bewundere ihn ein wenig für sein Durchhaltevermögen.
 

„Weil ich Carlos nicht geliebt habe. Ich wollte bei deinem Vater bleiben und… er hat dich nie als ein fremdes Kind angesehen. Du bist der Sohn deines Vaters!“
 

„Wessen Vaters…?“, haucht Chris verstört, fährt sich mit der Handfläche über die Augen und atmet einmal tief ein und aus. „Carlos… Montega…“
 

Der Klang von Vaters Namen aus Chris’ Mund ist schmerzhafter als alles zuvor. Ich zucke krampfhaft darunter zusammen, vergrabe meine Hände in meinen Hosentaschen, weiche dem Blick meines… weiche Chris’ Blick aus und versuche krampfhaft nicht daran zu denken, wie gerne ich ihn jetzt einfach nur in den Arm nehmen würde.
 

„Wann hast du es erfahren?“, richtet Chris sich nun an mich.
 

„Heute Abend.“
 

„Wie geht es ihm?“
 

Diese Frage überrascht mich und bringt mich dazu, Chris nun doch anzusehen. Er jedoch starrt weiterhin auf den Fußboden. Seine Hände zittern wie Espenlaub.
 

„Er wird bald sterben“, antworte ich so ruhig wie nur möglich.
 

„Ich will ihn sehen.“
 

Frau Berger und ich fahren gleichzeitig zu Chris herum, der sich nun langsam erhebt, die Papiere wieder zurück auf die Kommode legt und mir dann einen schnellen Blick zuwirft.
 

„Nein, Chris, nein“, wispert seine Mutter atemlos, streckt die Hand nach ihm aus, der er ausweicht.
 

„Fass mich nicht an!“, zischt er gefährlich und sie zuckt zurück, als habe sie sich verbrannt. Ich habe Chris noch nie so gesehen. Wütend und völlig außer sich. Anders als ich gedacht habe, weint er jedoch nicht. Er geht an mir vorbei zur Haustüre, nimmt sich ein paar Schuhe aus dem kleinen Regal und zieht sie an. Weinend steht Frau Berger da, starrt ihrem Sohn hinterher wie er die Türe öffnet und hinausgeht, ohne ihr noch einmal in die Augen gesehen zu haben.
 

Unschlüssig stehe ich im Flur herum. Ich weiß nicht, ob ich noch etwas sagen sollte. Frau Berger jedoch bleibt stumm und so entscheide ich mich schließlich dafür zu gehen. Draußen krame ich nach meinem Handy, wähle Martinas Nummer und bin erleichtert, dass ich sie noch erreiche.
 

„Wo bist du?“, fragt sie.
 

„Bei Chris. Holst du uns ab?“
 

„Bin sofort bei euch.“
 

Zu Chris sage ich kein einziges Wort. Ich wüsste nicht was. Ich selbst kann noch immer nicht glauben, was ich heute erfahren habe und ihm wird es wohl ähnlich gehen. Er muss verarbeiten, dass er einen anderen biologischen Vater hat, als er bisher angenommen hatte. Von der Tatsache mal ganz abgesehen, dass wir von heute an miteinander verwandt sind.
 

Es dauert rund eine Viertelstunde bis Martina endlich bei uns ist, und die ganze Zeit über haben wir kein einziges Wort miteinander gewechselt. Die Stille ist erdrückend und ich bin froh, als ich mich auf den Beifahrersitz sinken lassen kann. Auf mein Geheiß fährt Martina in Richtung Krankenhaus. Unterwegs erzählt sie mir, dass Jamie noch immer dort ist und sie selbst in der Zwischenzeit dafür gesorgt hat, dass meine Mutter nach Hause gegangen ist. Die Pflegerin sei bei ihr gewesen.
 

Den Rest der Fahrt verbringen wir schweigend. Immer wieder wirft mir Martina nervöse Blicke zu und ich sehe die Frage in ihren Augen. Sie und Jamie wissen noch immer nicht, warum ich so plötzlich aus dem Krankenhaus verschwunden bin, doch ich bin mir sicher, dass ihnen Doktor Richards zumindest von meinem Wutanfall berichtet hat.
 

Auf dem Krankenhausparkplatz angekommen, steigen Martina und ich sofort aus, Chris jedoch braucht noch einen Moment, ehe er uns folgen kann.
 

„Der behandelnde Arzt hat erwirkt, dass wir jederzeit vorbeikommen können. Ich denke er wusste, dass du noch einmal kommen würdest“, berichtet mir Martina und ich nicke ihr zu. Ich bin ihr dankbar, dass sie da ist. Wortlos greife ich nach ihrer Hand und sie drückt die meine ganz fest.
 

Der Aufzug kommt mir noch enger vor als sonst und ich bin froh, dass ich nur zwei Stockwerke damit fahren muss. In dem Metall spiegelt sich Chris’ Gesicht wieder und ich kann die Verzweiflung darin erkennen, wenn auch nur verschwommen. Ich merke, dass er den Abstand zu mir sucht und wirklich verübeln kann ich es ihm nicht.
 

Vor dem Zimmer wartet bereits Jamie auf uns, der mich mit einem besorgten Blick mustert. Unschlüssig bleiben wir gemeinsam vor der Tür stehen.
 

„Möchtest du alleine rein gehen?“, frage ich Chris sanft und scheine ihn damit aus seinen Gedanken zu schrecken. In einer verzweifelten Geste hebt er die Schultern. Noch immer kann er mich nicht ansehen. „Warte kurz hier.“
 

Mit diesen Worten bedeute ich Martina und Jamie, mir in das Zimmer zu folgen. Als sich die Türe hinter uns schließt, breche ich zusammen, sinke völlig kraftlos gen Boden, lasse meinen aufgestauten Gefühlen freien Lauf und weine mich an der Schulter meiner Schwägerin aus.
 

„Was ist denn passiert, Rapha?“, will Jamie wissen, hockt sich vor mir auf die Knie, legt seine Hände auf meine Schultern und rüttelt ein wenig an mir.
 

„Er ist… unser Bruder…“, schluchze ich haltlos. „Mein Bruder… Gott… unser Bruder…“
 

„Wen meinst du?“, fragt Martina verstört, ehe sie ihren Blick verstehend auf die Tür richtet. „Oh mein Gott!“
 

„Was? Was ist? Wer ist unser Bruder?“, bleibt Jamie ahnungslos, schaut verwirrt zwischen uns hin und her.
 

„Chris“, erklärt ihm seine Frau. „Chris ist euer Bruder.“
 

„WAS?!“
 

Die Verwirrung steht den beiden ins Gesicht geschrieben, doch ich habe nicht die Kraft es ihnen ausführlich zu erklären. Das zaghafte Klopfen an der Tür ist ebenfalls ein Grund, warum ich den beiden nicht jetzt darlege wie es dazu gekommen ist. Mühsam rutsche ich nach links, gebe somit die Tür frei, die Jamie für Chris öffnet.
 

Vorsichtig schaut dieser in den Raum hinein, doch sein Blick wird beinahe sofort von der Gestalt unseres Vaters gefangen genommen, der mit geschlossenen Augen daliegt. Ehrlich gesagt wäre ich froh, wenn er nicht mehr atmen würde, aber die rasselnden Geräusche bescheinigen mir etwas anderes.
 

Martina ist diejenige, die Chris an der Hand nimmt und gemeinsam mit ihm bis zum Fußende des Bettes geht. Flüsternd spricht sie auf Chris ein und ich kann gerade noch so verstehen, dass sie im erklärt warum der alte Mann so aussieht wie es nun mal eben der Fall ist. Bisher wusste Chris nur, dass mein Vater Krebs hatte und dementsprechend angeschlagen aussieht, aber ins Detail gegangen bin ich nie. Das Bild erschreckt ihn offensichtlich.
 

„Woher willst du das wissen?“, wispert mir Jamie ins Ohr. „Wie kommst du darauf?“
 

„Ich habe den Vaterschaftstest gesehen. Er liegt bei Chris zu Hause.“
 

„Aber wie…?“
 

„Jamie, bitte“, flehe ich schwach. „Später.“
 

Brummend gibt Jamie dem nach. Er beobachtet ebenso wie ich, wie Chris langsam das Bett umrundet, einen genauen Blick auf die Gestalt darin wirft und schwer schlucken muss. Ich kann nicht lesen was in Chris vorgeht und ehrlich gesagt bin ich auch froh darum. Egal was es in diesem Moment auch immer ist, ich kann es einfach nicht ertragen.
 

Schier endlos lange Minuten steht Chris einfach da, betrachtet stumm das Profil des sterbenden Mannes, saugt scheinbar jedes noch so winzige Detail der runzligen Haut in sich auf. Sein Atem ist gepresst und angestrengt, seine Hände sind zu Fäusten geballt und auf seiner Stirn zeichnen sich tiefe Furchen ab.
 

Dann, urplötzlich, dreht Chris sich um, stürmt zur Tür, reißt sie auf und rennt wortlos auf den Flur hinaus. Wie hypnotisiert starren Jamie, Martina und ich ihm nach, ehe ein heftiger Ruck durch meinen Körper geht und ich Chris nachsetze. Er ist bereits an der Treppe angekommen, stemmt sich gegen die Tür, drückt gegen sie, anstatt zu ziehen und ich bin mir nicht sicher, ob er wirklich noch die Kraft dazu hat, wegzulaufen.
 

Als er meine Schritte hört, hebt er den Kopf und es zerreißt mir augenblicklich das Herz, als ich den tiefen Schmerz in seinen Augen lesen kann. Pure Verzweiflung spiegelt sich in seinen braunen Iriden wieder und die Machtlosigkeit ergreift erneut von mir Besitz. Ich kann nichts tun um ihm zu helfen… ich kann ihm den Schmerz nicht nehmen… die Realität nicht verändern…
 

Unschlüssig stehen wir uns gegenüber, keiner spricht ein Wort und zumindest Chris’ Atem geht schwerfällig. Immer wieder schütteln ihn Schluchzer, die er mehr oder minder erfolgreich niederkämpft. Die Tränen laufen ihm trotzdem haltlos über die Wangen.

Ich will ihn umarmen! Ihn spüren lassen, dass ich noch immer da bin, derselbe bin wie noch vor wenigen Stunden! Und vielleicht will ich mir auch einfach nur selbst beweisen, dass sich ein Kuss nicht anders anfühlen würde… sind wir nicht noch immer dieselben Menschen? Mit den gleichen Gefühlen füreinander…
 

„Ich…“, spricht Chris leise, wendet den Blick gen Boden. „Ich… weiß nicht… was… weiß nicht was ich machen soll. Was bedeutet das?“
 

Deine Mutter hatte eine Affäre mit meinem Vater, denke ich, oder vielleicht hatte mein Vater eine Affäre mit deiner Mutter. Doch diese Worte bleiben ungesagt. Es bedeutet nichts. Wer den Anfang getan hat ist unwichtig. Es zählt nur, dass es passiert ist. Und wieder beschleicht mich das Gefühl, dass ich mich nicht verantwortlich fühlen will, wenn es nicht meine Schuld gewesen ist.
 

Niemand hat uns gesagt, dass wir miteinander verwandt sind, dass es falsch ist uns zu lieben. Niemand hat Chris gesagt, dass er das Herz seines Halbbruders erobern würde und niemand hat mir gesagt, dass ich mein Glück in seinen Armen finden würde.

Und obwohl ich weiß, dass wir denselben Vater haben, halte ich an diesem Gedanken fest. Daran hat sich nichts geändert. Chris ist mein ganz persönliches Glück und ich will mit ihm zusammen sein. Aber ob wir das können?
 

Zweifel steigen in mir auf und ich wende mich von Chris ab, der noch immer an die Tür gelehnt dasteht. Seine Augen huschen unruhig hin und her, unfähig sich auf etwas zu konzentrieren. Einmal mehr fällt mir auf, wie jung er noch ist. Gerade einmal achtzehn. Er hat keinerlei Erfahrung mit Lebenskrisen, während ich schon die ein oder andere hinter mir habe. Das macht es mir auch nicht sehr viel leichter es zu akzeptieren, aber ich weiß worauf ich mich konzentrieren muss. Mein Leben wird auch weiterhin stattfinden.
 

„Ich hätte nicht herkommen sollen“, sagt Chris plötzlich.
 

„Ja“, antworte ich und meine Stimme ist dabei ganz rau.
 

„Ich kann in ihm nicht meinen Vater sehen. Das Bild das ich von ihm habe… die Geschichten… er ist ein Monster.“ Während er das sagt, sieht er mir ganz fest in die Augen. Ich kann nur stumm nicken, fahre mir dabei einmal mit der Hand durch die Haare.
 

„Dein Vater, wird immer dein Vater bleiben, egal was die DNA dazu sagt“, versuche ich ihn zu trösten.
 

Wir sehen uns schweigend an und ich bin mir sicher, dass Chris nun genau dasselbe denkt wie ich. Gilt das auch für uns? Kann es uns egal sein, dass unsere DNA zu Teilen gleich ist?
 

„Und ich?“, frage ich ihn schließlich, sehe ihn unsicher an.
 

„Ich weiß nicht…“, gesteht Chris leise, betrübt und wendet sich erneut ab. Dieses Mal zieht er an der Tür und sie geht quietschend auf. Mit Entsetzen stelle ich fest, dass er gehen will. Einfach so, ohne jedes weitere Wort, ohne mich auch nur ein einziges Mal berührt zu haben!
 

„Chris! Warte!“, rufe ich laut, laufe ihm hinterher, bekomme ihn aber erst auf dem ersten Treppenabsatz zu fassen. Ich sperre ihn zwischen mir und der Wand ein, fahre mit meinen Finger fahrig durch seine Haare, sehe ihm dabei ins Gesicht, das sowohl Angst als auch Verlangen widerspiegelt.
 

„Lauf nicht weg“, bitte ich ihn flüsternd, dränge mich noch etwas näher an ihn heran. Er verspannt sich unter mir, dreht den Kopf zur Seite und wieder laufen ihm Tränen über die Wangen.
 

„Rapha… ich…“
 

„Du hast es mir gesagt“, rede ich verzweifelt auf ihn ein. „Du hast gesagt, dass ich nicht vor dir davonlaufen soll, egal was passiert. Ich bin hier! Chris, ich bin hier!“
 

„Rapha, bitte“, begehrt er schwach gegen mich auf, traut sich jedoch nicht seine Hände auf meine Schultern zu legen um mich von sich zu schieben. Aber ich bin nicht bereit ihn gehen zu lassen. Ich weiß, dass ich selbst Zeit brauchen werde um all das zu verarbeiten, um einen Weg zu finden mit den Dingen klar zu kommen, aber bei allem guten Verstand… ich kann und will einfach nicht mehr ohne Chris sein!
 

„Nein!“, wehre ich seine schwachen Versuche ab, zwinge ihn mit einer Hand dazu, mich anzusehen. „Ich laufe nicht weg, Chris. Egal wie lange es dauern mag, ich will nicht mehr weglaufen. Bitte… sag mir, dass du das auch nicht tun wirst. Lass mich nicht allein!“
 

„Ich kann nicht!“, schluchzt Chris auf, in seinem Blick liegt pure Verzweiflung. „Ich kann… kann das einfach nicht!“
 

„Doch, du kannst!“, beschwöre ich ihn, ziehe sein Gesicht näher zu meinem, küsse seine Wangen, seine Nasenspitze und schließlich, endlich, lege ich meine Lippen auf die seinen. Sie sind ganz feucht von seinen Tränen, schmecken salzig und wässrig, aber das ist mir egal. Es sind seine Lippen und es ist sein zitternder Körper, der in meinen Armen hängt und das ist alles was zählt.
 

Trotz gewisser Gegenwehr, lässt er sich auf mich ein, küsst mich immer wieder, doch seine Arme bleiben leblos, hängen schlaff herunter. Auch ich bin verzweifelt, denn ich spüre, dass es sich noch immer so anfühlt wie früher, so richtig. Es wärmt mich von innen heraus ihm so nahe zu sein, aber die Bilder von meinem Vater schießen wieder dazwischen. Ich finde keine Ruhe… lasse ihn los.
 

Er drängt sich an mir vorbei, wischt sich mit dem Ärmel über die Augen, schluchzt laut auf und stolpert die Treppen hinunter. Kein Blick zurück, keine letzte Berührung. Nur der bittere Geschmack des Verlustes auf meinen Lippen.
 

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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  chaos-kao
2011-08-12T16:17:51+00:00 12.08.2011 18:17
Ich hab's irgendwie schon geahnt ... aber dass es wirklich so ist ... fuck! Armer Rapha, armer Chris ... ich weiß nicht, für wen der beiden es schlimmer ist ... vielleicht für Rapha, weil er schon so viel Scheiße erlebt hat und ihm nun auch seine Liebe entrissen wird ... Würde ich nicht jemanden kennen, der das Unglück auch anzieht wie Scheiße die Fliegen, wäre ich ja geneigt zu sagen, dass es übertrieben ist, dass ein Mensch so viel Pech haben kann, aber so ... ich hoffe, sie bekommen es irgendwie gebacken ...
Lg
kao


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