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Bilder unserer Zeit

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Die Münze entscheidet? (2002 / 07)

26. Kapitel - 2002 (Juli)
 

Süßlicher Geruch liegt in der Luft, steht ganz im Gegensatz zu den bitteren Gefühlen, die in meinem Inneren gären. Müde fahre ich mir über die Augen, starre in die dampfende Teetasse vor mir, als ob ich in den trüben Tiefen des roten Gebräus auch nur irgendetwas lesen könnte. Ich wäre für jede Hilfe dankbar, aber dieses Mal wird es so was nicht geben.
 

Der Stoff meiner Jogginghose kratzt unangenehm über meine Haut und langsam zeichnet sich eine Gänsehaut auf meinen Armen ab. Ich habe mir nicht die Mühe gemacht mir ein Shirt überzuziehen. Ohne jeden Sinn drehe ich die Tasse herum, lasse den Henkel nun nach links zeigen und lehne mich anschließend weit in den Sessel zurück.
 

Die sechste Nacht in der ich nur knapp vier Stunden geschlafen habe. Der Alltag laugt mich aus und ich wünsche mir ich könnte die Tage einfach nur an mir vorbeiziehen lassen. Aber mein Körper hält mich wach, konfrontiert mich mit dem Problem, das ich so krampfhaft zu verdrängen versuche.
 

Ich seufze leise, schließe die Augen und genieße das Dunkel, dass sich vor mir auftut. Gleichzeitig schrecke ich jedoch vor dieser Ödnis zurück, die es meinen Gedanken erlaubt frei aus mir auszubrechen. Nur mühsam halte ich sie im Zaum, dränge sie zurück und starre mit einem Mal wieder an die Decke.
 

Ich kenne das Chaos. Jede Nacht hat es mich bisher eingeholt, denn irgendwann während all der Schlaflosigkeit bin ich nicht mehr Herr über mich selbst und die Erinnerungen brechen über mich herein, wie eine einzige große Flutwelle. Ich werde fortgespült zu anderen Tagen, dir mir nun so unfassbar vorkommen wie der Dunstnebel, der morgens über der Erde liegt.
 

Gab es tatsächlich einmal Tage an denen ich mit Chris einfach glücklich war?

Wie lange das schon zurück zu liegen scheint, und dabei ist es kaum eine Woche her. Wir haben uns im Arm gehalten, miteinander gescherzt und gelacht und während ich in der Küche stand, ist er auf dem Sofa eingeschlafen. Wenn ich abends völlig erschöpft nach Hause kam, wartete er manchmal auf mich, übernachtete bei mir und ihn nur in meiner Nähe zu wissen, nahm mir den Druck und die Anspannung von den Schultern.
 

Gott, ich vermisse ihn! So sehr!
 

Mit einem gequälten Laut werfe ich meinen Oberkörper nach vorne, fange mich gerade noch rechtzeitig auf, ehe ich auf dem Boden lande. Heiße Tränen laufen mir über die Wangen und ich kann ein Schluchzen nicht mehr unterdrücken. Ich presse mir die geballten Fäuste gegen die Stirn, als ob das all diese Erinnerungen vertreiben könnte. Mein Herz pocht schmerzhaft in meiner Brust und ich wünsche mir nichts sehnlicher, als das ich es endlich herausreißen könnte.
 

Ist es tatsächlich erst zwei Wochen her, dass Chris mir freudestrahlend erzählt hat das er nach seinem bestandenen Abitur gerne mit mir in Urlaub fahren würde? Und habe ich damals nicht vor lauter Verlegenheit gelacht, was ihn zum Schmollen gebracht hat? Er war sicherlich zwei Stunden böse auf mich an diesem Tag, doch nachdem ich mich ernsthaft entschuldigt hatte, war sein Ärger verraucht und wir lagen gemeinsam auf der Couch. Seine Hand hatte sich unter mein Hemd verirrt und war ganz warm. So warm... ein sanftes Streicheln auf meiner Haut und dazu sein liebevolles Lächeln, die Ideen die er hatte und die ehrliche Freude, die all das in mir weckte.
 

Noch einmal schluchze ich laut auf, höre wie die Tür zu meiner rechten aufgemacht wird und höre die gedämpften Schritte, die auf mich zukommen. Thomas setzt sich auf die Sessellehne, legt einen Arm um meine bebenden Schultern und lehnt seinen Kopf an meinen.
 

Er versucht erst gar nicht mich zu beruhigen, er weiß, dass es mir gut tut mir all den Kummer von der Seele zu weinen. Nicht nur den über den Verlust von Chris. Wie lange ist es her, dass ich offen geweint habe? Wann lasse ich Gefühle schon einmal so offen zu? Schwäche.
 

Ich kralle meine Finger in den Stoff von Thomas’ Schlafanzugoberteil. Der Halt tut mir gut, auch wenn er meine Tränen nicht stoppen kann. Dafür bräuchte ich jemand anderen. Jemanden, der mich mit seinem Lächeln vom ersten Moment an fasziniert hat.
 

„Ich vermisse ihn“, stoße ich atemlos hervor, lasse mich nun doch auf den Boden sinken und spüre eher beiläufig wie Thomas sich neben mich setzt, sein Arm noch immer um mich gelegt.
 

„Ich weiß“, sagt er schlicht und seine Stimme klingt so verzerrt wie ich mich im Moment fühle. Etwas ist aus den Fugen geraten als Chris beschlossen hat, mich alleine zu lassen. Ich kann ihn und seine Entscheidung verstehen und doch... akzeptieren kann ich sie nicht. Dieser Tag im Krankenhaus, ein einziger Alptraum von Anfang an. Jetzt, wo all diese Dinge geschehen sind, wünsche ich mir, dass ich niemals zu Chris nach Hause gegangen wäre.
 

Warum nur musste ich seine Mutter damit konfrontieren? Chris hätte es nie erfahren, wenn ich leiser gewesen wäre, oder nicht einmal auf die Idee gekommen wäre all das wissen zu wollen. Was bringt es mir, dass ich nun die Gewissheit habe, dass mein Vater eine geheime Affäre hatte, die nicht länger als eine Geschäftsreise dauerte?
 

Ich hätte all das nie erfahren brauchen. Ich hätte diesen verdammten Brief einfach in den Müll schmeißen können, schließlich ist es nichts Neues, dass mein Vater nur seine eigene verquere Befriedigung gesucht hat. Er wollte es mir unter die Nase reiben, dass er selbst auf dem Sterbebett noch die Kraft hat mir weh zu tun.
 

Thomas hält mich unbeirrt fest an sich gedrückt, als ich das nächste Stadium meiner Trauer erreiche und mich in selbstzerstörerischer Art winde, blindlings um mich schlage und all diesen angestauten Gefühlen Raum machen will. Alle Dinge die mich an Chris erinnern, will ich beseitigen. Leider sind das in meiner Wohnung so ziemlich alle Sachen. Chris hat viel zu viel Zeit hier mit mir verbracht und mir fallen alleine hundert Augenblicke ein in denen wir gemeinsam auf dem Sofa gesessen oder gelegen haben. Alles ist so voll mit ihm... als wäre mein Leben ein Schwamm, der seine durchdringende Nässe gänzlich in sich aufgesogen hat.
 

„Ich kann nicht mehr“, seufze ich schließlich, meine Augen jucken und fühlen sich geschwollen an. Langsam lehne ich mich zurück, sinke gegen den Sessel in meinem Rücken und werfe Thomas einen vorsichtigen Blick zu, den er ruhig erwidert.
 

„Glaub ich dir“, antwortet er mit dem leichten Anflug eines Lächelns im Gesicht. „Ich wäre auch fertig, wenn ich fast mein ganzes Wohnzimmer auseinander genommen hätte.“
 

„Schläft Jamie noch?“, frage ich matt nach, merke jedoch im gleichen Moment, dass mich die Antwort gar nicht wirklich interessiert.
 

„Denke schon. Oder er traut sich einfach nicht raus.“
 

Ich nicke knapp, lege dann meinen Kopf auf meinen Armen ab und seufze hörbar auf. Jegliche Kraft ist aus mir gewichen, doch das ist auch schon alles. Es hat sich nichts verändert, trotz meiner Tränen. Ich fühle mich noch immer so ausgelaugt wie bisher und nun schmerzt mein Kopf nicht nur wegen der trüben Gedanken die darin wohnen.
 

„Glaubst du...“, setze ich an, überlege es mir dann aber doch anders. Thomas ist nicht der Richtige um diese Frage zu stellen, dass wissen wir beide. Trotzdem wäre ich froh, wenn ich die Antwort kennen würde.
 

„Gib ihm Zeit“, murmelt mein bester Freund neben mir, streicht mir sanft über den Rücken. „Er wird mit seiner Mutter darüber sprechen und erst wenn er weiß, was das alles für ihn und seine eigene Familie bedeutet, kann er darüber nachdenken, was aus euch beiden wird.“
 

„Ich weiß ja... aber... Gott, wenn er es nur nie erfahren hätte!“, rufe ich verzweifelt aus.
 

„Und dann?“, stellt Thomas eine sehr irritierende Gegenfrage.
 

„Dann wäre alles geblieben wie vorher“, antworte ich matt, werfe ihm dabei einen fragenden Blick zu, den er mit ernster Miene erwidert.
 

„Das denke ich nicht“, sagt er schließlich. „Wenn du das alles in dich hinein gefressen hättest, dann wärst du nicht mehr in der Lage gewesen normal mit Chris umzugehen. Ein dunkles Geheimnis das zwischen euch steht, ich glaube, ihr wärt daran kaputt gegangen.“
 

„Wir gehen auch jetzt daran kaputt“, werfe ich trotzig ein und deute dabei auf das Offensichtliche.
 

„Vielleicht“, meint Thomas nur. „Vielleicht auch nicht. Das wird sich erst zeigen.“
 

„Elender Optimist“, brumme ich unfreundlich, doch ich merke, wie sich ein erstes zaghaftes Lächeln auf meinen Zügen abzeichnet. Auch Thomas’ Augen blitzen mir nun schalkhaft entgegen und er schlägt mir freundschaftlich auf die Schulter.
 

„Na komm, wenn wir eh schon wach sind, dann können wir auch was essen. Mir hängt der Magen in den Kniekehlen“, entscheidet mein bester Freund, steht dabei auf und zieht mich mit sich nach oben. Ich nehme meine Teetasse vom Tisch und trinke sie in einem Zug leer, auch wenn der Tee an sich schon kalt ist.
 

Es tut gut gemeinsam mit Thomas den Tisch zu decken, neues Wasser aufzukochen und sogar Frühstückseier vorzubereiten. Als ich das dritte Brettchen auf den Tisch lege bin ich erleichtert, denn ich sehe nun ganz offensichtlich vor mir, das ich nicht alleine bin. Thomas ist da, Jamie auch. Letzterer tapst verschlafen in die Küche, als wir gerade dabei sind die Brötchen aufzuschneiden, die Thomas von seiner Mutter mitgebracht hat.
 

„N’morgen“, brummt Jamie, lässt sich auf einen Stuhl fallen und stiert wie hypnotisiert in die leere Tasse vor ihm. „Kaffee?“, fragt er hoffnungsvoll.
 

„Ist gleich durchgelaufen“, antwortet Thomas und stellt den Brötchenkorb auf den Tisch.
 

„Hast du gut geschlafen?“, wende ich mich an meinem Bruder, dem ich schon einmal die Milch und den Zucker gebe.
 

„Besser als du auf jeden Fall“, kommt es hinter vorgehaltener Hand, als Jamie sich zu einem Gähnen herablässt.
 

„Das ist nicht schwer“, meine ich versöhnlich, wende mich dem Herd zu, schütte das Wasser aus dem Topf und angle vorsichtig die hartgekochten Eier daraus, lege sie in eine Schüssel, ehe ich den kalten Wasserhahn aufdrehe und sie in dem kühlen Nass ertränke.
 

„Reden wir darüber?“, will Jamie wissen, nickt Thomas dankbar zu, als dieser ihm die Tasse endlich mit Kaffee vollschüttet.
 

„Nicht beim Frühstück“, beschließt mein bester Freund und ich bin erleichtert über diese Ansage. Auch wenn ich mich bereits ein wenig besser fühle habe ich nicht das Verlangen danach schon jetzt über die ganze Angelegenheit zu sprechen und sie auszudiskutieren. Denn immer noch bin ich mir selbst nicht ganz im Klaren darüber, wie ich Chris gegenüber treten soll.
 

Wir essen schweigend vor uns hin. Insgesamt gesehen sind wir wohl einfach noch zu müde und erschöpft um großartig Diskussionen zu führen, auch wenn wir alle wissen, dass es unausweichlich ist. Mit einem Blick zur Uhr stelle ich fest, dass wir erst halb fünf haben und einen Moment lang tut es mir leid, die anderen so früh aus dem Bett getrieben zu haben. Gleichzeitig frage ich mich aber auch, ob Chris genauso schlecht geschlafen hat wie ich und in diesem Moment vielleicht sogar an mich denkt.
 

Später räumen Thomas und Jamie die Küche wieder auf, während ich mich im Schlafzimmer umziehe. Heute tut es eine einfache Jeans, eines meiner zahlreichen schwarzen Shirts und ein warmer Pullover. Den werde ich im Laufe des Tages wohl wieder ausziehen, aber im Moment ist mir noch kalt. Als ich fertig bin statte ich auch dem Badezimmer noch einen kurzen Besuch ab, ehe ich mich wieder zu den anderen geselle, die mittlerweile im Wohnzimmer sitzen und sich flüsternd unterhalten. Allerdings verstummt das Gespräch bei meinem Eintreten, noch ehe ich auch nur eine Silbe aufschnappen konnte.
 

„Alles in Ordnung?“, hake ich etwa misstrauisch nach, wandere mit meinem Blick zwischen den beiden hin und her. Seit mir Thomas damals erzählt hat, dass Jamie mir nur etwas vorgegaukelt hat, ist das Verhältnis zwischen den beiden merklich kühler geworden. Sie scheinen sich gegenseitig in meiner Nähe zu dulden, mehr allerdings auch nicht.
 

„Ja, alles klar“, antwortet Thomas, deutet dabei ein Lächeln an und klopft auf den freien Sitzplatz neben sich. „Fühlst du dich besser?“
 

„Ein bisschen“, gestehe ich, lasse mich neben meinem besten Freund nieder.
 

„Schön. Jamie wollte dir nämlich etwas sagen.“
 

Mein Bruder wirft Thomas einen leicht gequälten, aber auf jeden Fall Wut durchtränkten Blick zu, ehe er seine Aufmerksamkeit auf mich lenkt.
 

„Ich hätte es gerne zu einem anderen Zeitpunkt getan, aber da Thomas so versessen darauf zu sein scheint dabei zu sein...“, fängt er an zu reden, wirft meinem besten Freund dabei giftige Blicke zu. „...ich wollte dir nur sagen, dass Chris nicht mein Bruder ist, ganz gleich was der Test sagt.“
 

Überrascht hebe ich eine Augenbraue, schweige mich aber aus, denn so wie ich Jamie kenne, wird er mir gleich erklären was genau er damit meint. Thomas hat inzwischen die Augen zu gemacht und lehnt mit dem Kopf an einem Kissen, das er sich in den Nacken geschoben hat.
 

„Ich mag Chris“, fährt Jamie nach einem kurzen Zögern fort. „Aber ich mag ihn als einen Freund, nicht mehr. Ich kann auch nicht plötzlich in ihm meinen kleinen Bruder sehen. Ich für meinen Teil werde ganz normal mit ihm umspringen, so wie vorher auch, für den Fall, dass er sich nicht von uns abkapselt. Das wollte ich dir nur sagen.“
 

„Und weiter!“, mischt sich Thomas ein, macht eine entsprechende Geste mit der Hand.
 

„Und weiter“, fügt sich Jamie grummelnd. „habe ich auch keinerlei Probleme damit, dass du mit Chris zusammen bist. Die hatte ich vorher schließlich auch nicht und da sich für mich nichts ändert, sehe ich darin keinen... Inzest.“
 

Das letzte Wort ist wie ein Donnerschlag und Jamie schaut sofort betreten zu Boden. Bisher habe ich mich selbst immer um diesen Ausdruck herumgedrückt, doch nun, da er ausgesprochen wurde, kann ich mich nicht mehr gegen ihn sperren. Ja, rein objektiv betrachtet wäre es Inzest wenn ich mit Chris... schlafen würde.
 

„Danke, Jamie“, bringe ich schwach hervor, senke jedoch den Blick, als er zu mir aufsieht.
 

„Egal wie du dich entscheidest, Rapha, ich will einfach nur, dass du glücklich bist“, flüstert Jamie mit belegter Stimme, drückt kurz meine Schulter, ehe er aufsteht und sich verabschiedet. Er geht wieder zu Martina zurück, denn dort befindet sich seine eigene Baustelle. Ihre Beziehung hat erste Risse bekommen und nun ist mein Bruder darum bemüht seine Frau wieder milde zu stimmen.
 

Als Jamie schließlich gegangen ist, schlucke ich schwer und werfe einen fast scheuen Blick zu Thomas, der abwesend an die Decke starrt.
 

„Weißt du schon was du tun willst?“, fragt er mich leise.
 

„Nein“, gebe ich zu. „Ich weiß nur, dass ich ihn nicht aufgeben will.“
 

„Das ist gut“, befindet Thomas. „Eine Verbesserung.“
 

„Ich wünschte ich könnte mit ihm reden. Wir könnten uns gemeinsam eine Lösung überlegen und...“
 

„Ausprobieren ob eure Gefühle noch dieselben sind“, beendet er für mich den Satz, als ich mit einer hilflosen Geste abbreche. Ich nicke als Antwort.
 

„Im Krankenhaus“, fange ich zu erzählen an und Thomas hört mir aufmerksam zu, was ich an seinen zusammengezogenen Augenbrauen und den gefalteten Händen erkennen kann. „Ich habe ihn geküsst. Es hat mich einfach wahnsinnig gemacht, dass er mich nicht angesehen, mich nicht berührt hat und... ich habe ihn zum ersten Mal weinen gesehen. Gott, das hat mir das Herz gebrochen.“
 

„Und der Kuss?“, hakt Thomas sanft nach.
 

„Er war genauso berauschend wie immer“, murmle ich verlegen. „Aber ich konnte die Bilder von meinem Vater einfach nicht aus meinem Kopf vertreiben. Ich habe ihn vor mir gesehen, seine Augen, alles. Und ich habe mich gefragt ob Chris ihm irgendwie ähnlich sieht. Und dann ging es nicht mehr... ich konnte Chris nicht mehr festhalten.“
 

„Ich denke ihr braucht Zeit. Natürlich denkst du darüber nach und suchst deinen Vater in ihm, aber... wenn du dich entschieden hast was dir wirklich wichtig ist, dann wird das mit der Zeit aufhören und ihr könnt wieder normal miteinander reden.“
 

„Was mir wichtig ist?“, frage ich leise nach.
 

„Seit ich dich kenne, warst du auf der Suche nach dem Mann, der dein Vater ist. Sein Verlangen ihn zu ergründen und kennen zu lernen hat dich angetrieben und du warst wie besessen davon dich von ihm zu unterscheiden“, erklärt mir Thomas seine Gedanken, die ich in dieser Art zum ersten Mal höre. „Deine Vergangenheit hat dich nicht losgelassen und du hast dich darin geflüchtet, wann immer dir jemand zu nahe kam. Auch bei mir oder Erich war das nicht anders. Du hast dich uns zwar immer mehr geöffnet, aber bis heute hältst du mir ganz entscheidende Dinge vor.“
 

„Thomas ich...“, setze ich an, doch er hebt die Hand und lässt mich damit verstummen.
 

„Als Chris gekommen ist, war das anders. Du hast versucht ihn auszusperren, dich von ihm zu distanzieren, bist ihm aber gleichzeitig näher gekommen und ich war überrascht wie offen du mit ihm umgegangen bist. Chris weiß viel mehr über dich, als ich. Er versteht wie du tickst und denkst und warum du fühlst, wie du fühlst.

Ich habe es immer versucht, aber wenn du mich abgeblock hast, kam ich nicht mehr an dich ran und musste schweigend zusehen, wie du dich selbst gehasst hast. Aber Chris... der hat es immer wieder geschafft zu dir durchzudringen und nicht zuletzt deshalb, weil du ihn gelassen hast. Trotzdem...“
 

Hier mach Thomas eine kurze Pause, legt sich den Arm über die Augen und ich bemerke wie ein heftiges Beben durch seinen Körper geht. Mit Entsetzen und Erstaunen stelle ich fest, dass Thomas zu weinen angefangen hat. Langsam begreife ich wie sehr ich ihn all die Jahre verletzt habe und wie schwer es für ihn gewesen sein muss immer wieder von mir weggestoßen worden zu sein.
 

„Was ist dir wichtiger, Raphael? Du musst dich entscheiden, denn du kannst auf Dauer nicht so weiter machen. Willst du deinen Vater suchen oder willst du mit Chris zusammen sein?“
 

„Was hat das eine mit dem anderen zu tun?“, frage ich verwirrt nach.
 

„Alles“, antwortet Thomas bestimmt, nimmt den Arm wieder runter und schaut mir fest in die Augen. „So wie die Dinge jetzt sind, kannst du nicht bei Chris bleiben. Er wird dich ablehnen und dich zurückstoßen.“
 

„Warum?“
 

„Weil er schwach ist“, erklärt Thomas. „Die Erkenntnis, dass sein Vater nicht sein leiblicher Vater ist und das seine Mutter ihn jahrelang belogen hat, ebenso sein Großvater, den er mehr als alles auf der Welt liebt, hat ihn tief verletzt. Außerdem ist er sich sicherlich darüber im Klaren, dass er nicht mehr mit dir zusammen sein kann, weil ihr nun offiziell Halbbrüder seid.

Bisher hast du dich auf Chris verlassen, er hat dich aufgebaut und wieder aufgefangen, ganz egal wie es ihm dabei ging. Er war stark. Für dich und wegen dir.

Aber nun, da eure Beziehung als Inzest verurteilt werden kann... warum sollte er für dich stark sein? Er wird dich zurückweisen, weil er Angst vor all dem hat was in der Zukunft auf euch wartet. Jetzt liegt es an dir.

Du musst dich entscheiden. Für deinen Vater oder für Chris, denn nur so kannst du die innere Stärke entwickeln die du brauchst. Wenn du mit Chris zusammen sein willst, dann liegt es nun an dir vorbehaltlos für ihn da zu sein. Er wird dich verletzen und es dir nicht einfach machen, aber wenn du ihm zeigst, dass du nach wie vor uneingeschränkt an seiner Seite stehst, dann, und da bin ich mir sicher, werdet ihr das schaffen und glücklich werden.“
 

Nach dieser langen Rede bin ich sprachlos und maßlos überfordert. Ich starre Thomas an als sei er ein Außerirdischer von einer fernen Galaxie, der sich gerade in mein Wohnzimmer gebeamt hat. Mein Freund verzieht seine Lippen zu einem schiefen Grinsen. Scheinbar ist ihm das Ganze furchtbar peinlich.
 

„Seit wann bist du denn unter die Psychologen gegangen?“, will ich schließlich wissen und knuffe ihn freundschaftlich in die Seite.
 

„Das... wollte ich dir schon lange mal sagen. In Teilen jedenfalls“, gesteht er leise.
 

„Ich habe dir sehr weh getan, nicht wahr?“, frage ich zaghaft nach.
 

Thomas hebt unschlüssig die Schultern, sackt ein wenig in sich zusammen, ehe er nickt.
 

„Ich meine ich wusste das ja... deine Familie und all die Scheiße in deinem Leben... aber wie bei Jamie... du hast mich einfach immer wieder zurückgestoßen und dich dermaßen selbst zerfressen, dass es mir so wehtat, dass ich dir nicht helfen konnte. Du bist mir so wichtig, Rapha, aber manchmal hatte ich das Gefühl, dass ich dir ganz egal bin.“
 

„Thomas“, brumme ich tief bewegt, schließe den anderen fest in meine Arme und lege mein Kinn auf seiner Schulter ab. „Du warst mir nie egal, niemals. Ohne dich hätte ich das doch alles niemals durchgestanden. Ich verdanke dir so gesehen mein ganzes Leben.“
 

„Ach, hör auf“, grummelt es aus ihm hervor und ich bin mir sicher, dass er mindestens genauso peinlich berührt ist wie ich. Irgendwie sind wir beide nicht besonders gut in diesen emotionalen Geständnissen.
 

„Danke“, flüstere ich heiser, spüre, wie er mich feste zurück drückt.
 

„Na klar, Kumpel. Ich bin doch immer für dich da.“
 

„Und das weiß ich ehrlich zu schätzen.“
 

„Wirst du darüber nachdenken?“, fragt er mich.
 

„Sogar mehr als dir lieb sein wird“, grinse ich in mich hinein. „Ich werde mich heute überhaupt nicht auf den Unterricht konzentrieren können wegen dir.“
 

„Schmutzige Gedanken, was?“, frotzelt Thomas, drückt sich von mir weg, grinst mich an und damit ist die Welt für diesen Augenblick einfach vollkommen in Ordnung. Ohne meinen besten Freund wüsste ich einfach nicht wohin mit mir und ich kann ihm das niemals alles zurückzahlen. Ich verdanke Thomas so viel und die Freundschaft mit ihm ist mir unsagbar wichtig. Zumindest werde ich mir alle Mühe geben, sie auch in Zukunft zu verdienen.
 

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Wenn man eine wichtige Entscheidung zu treffen hat, muss man eine Münze werfen um sich Klarheit über seine Ziele und Wünsche zu verschaffen. Denn nicht das Ergebnis des Wurfes ist entscheidend, sondern die Klarheit die man in dem Augenblick erlangt, wenn man anfängt auf ein ganz spezielles Ergebnis zu hoffen. Was dann so unendlich schwierig erschien, wird mit einem Mal ganz einfach.
 

Diese Weisheit habe ich von Bernhard, der mich in meiner Traurig- und Trostlosigkeit aufgefangen hat wie kein Zweiter. Jamie und Martina sind zu sehr mit sich selbst und ihrer zerrütteten Ehe beschäftigt und ich mache ihnen keinen Vorwurf daraus. Martina sieht an manchen Tagen genauso ausgezehrt aus wie ich und wir beide sind so etwas wie Verbündete im Geiste. Es ist schwer um eine Liebe zu kämpfen, die so hoffnungslos erscheint. Thomas ist nach wie vor uneingeschränkt für mich da, mit Rat und vor allem Tat. Gemeinsam gehen wir raus, in die Stadt oder auch einfach mal auf eine spontane Städtetour durch die ganzen Nachbarorte. Zusätzlich schleppt er mich zu jedem Familientreffen mit und ich habe so die Gelegenheit mit Marianne und Bernhard über die Sache zu reden. Die beiden sind meine „Eltern“ und mir sehr wichtig. Genau wie bei Thomas will ich nun versuchen offener und ehrlicher zu sein. Marianne ist in Tränen ausgebrochen, während Bernhard mich nur stumm in seine Arme geschlossen hat.
 

So hatte ich mir meine Familie immer vorgestellt. Warum habe ich nur nie erkannt, dass ich sie die ganze Zeit über um mich hatte? Und das obwohl es mir immer wieder gesagt wurde? Doch nach dem Gespräch mit den beiden Erwachsenen, bin ich mir nun im Klaren darüber, dass ich schon immer eine warmherzige und liebevolle Familie hatte, diese immer haben werde. Bernhard sprach von der Zeit der Trennung, die er und seine Frau hinter sich haben, und wie schwer es ihm damals fiel zu entscheiden, ob er zurückkehren oder neu anfangen wollte. Alle Auflistungen der Vor- und Nachteile haben ihm nicht die erwünschte Klarheit gegeben und in einem Moment der schieren Verzweiflung hat er alles bei einem Münzwurf aufs Spiel gesetzt. Und dann wurde im klar, dass er sich mehr als alles andere wünschte, dass die Münze entscheiden würde, dass er zu seiner Familie zurückkehrt. Ihm wurde klar, dass er bei all den Dingen, die falsch liefen, seine Frau und Kinder noch immer liebte und sich ein Leben getrennt von ihnen nicht vorstellen konnte. Das war der Funke, der ihn dazu brachte wieder zu Marianne zurückzukehren und mit ihr gemeinsam alle Probleme Schritt für Schritt anzugehen.
 

Es ist ein kluger Rat. Und er zeigt mir, welch unendliches Vertrauen Bernhard in mich setzt, wie ehrlich er wirklich zu mir ist. Ein Grund mehr, warum ich mich schuldig fühle, dass ich lange Jahre viele Dinge vor den beiden zurückgehalten habe. Aber nun kann ich wirklich, offen und ehrlich von den beiden als „Mutter“ und „Vater“ sprechen, zumindest in meinen Gedanken. In Echt habe ich mich noch nicht getraut, weil ich doch fürchte, dass sie diese Bezeichnung ablehnen könnten. Vielleicht bin ich auch einfach noch nicht soweit. Johannes und Lars, die Zwillinge, stolze vierzehn Jahre alt, tun ihr Übriges um mich aufgenommen und geliebt zu fühlen. Beide spannen mich ein wie nie zuvor, sind interessiert an allem und wir erleben schöne Ausflüge zusammen.
 

Es beginnt zu dieser Zeit, dass ich anfange, die Dinge meiner Vergangenheit zu verarbeiten. Nie zuvor habe ich mich so intensiv damit auseinandergesetzt. Bisher gab es immer nur mich und meine dunklen Gedanken, doch nun spreche ich mit anderen Menschen darüber, mit Thomas, seinen Eltern und hin und wieder auch mit Jamie. Ich gebe mir die Freiheit, zuzulassen und auszuleben was sich in alle den Jahren an Gefühlen in mir angestaut hat. Ich schreie und bin wütend. Ich weine und bin verzweifelt. Ich stagniere und beginne wieder von vorne. Zum ersten Mal schildere ich Marianne und Bernhard das gesamte Ausmaß meiner Kindheit, meine Verbindung zu Zack und dessen „Unfall“. Die Umstände meiner Kindheit spare ich etwas aus, denn ich will die beiden nicht gleich komplett überrollen. Ich portioniere die Informationen schon, jedoch merke ich wie sehr es Marianne und Bernhard erschreckt. Doch entgegen all meiner Ängste sind sie nach wie vor für mich da, wenden sich nicht von mir ab und ich bin ihnen so dankbar wie noch nie zuvor.
 

Nachdem ich diese Gespräche hinter mich gebracht habe und mir dadurch noch einmal viele Dinge klar wurden, formt sich ein neuer Gedanke. Thomas hat mir vor langer Zeit einmal gesagt, dass ich mich für Chris oder meinen Vater entscheiden müsse. Jetzt verstehe ich, dass das eine Frage danach ist, ob ich bereit bin meine Vergangenheit hinter mir zu lassen und mich ganz auf die Zukunft zu konzentrieren, oder ich noch darin gefangen bin und mich erst einmal noch damit auseinander setzen muss. Ich spreche darüber mit Thomas, lange und ausgiebig und komme schließlich zu der Erkenntnis, dass ich nicht nach vorne gehen kann, wenn ich noch die Gewichte meiner Vergangenheit trage. Zuerst muss ich dieses Kapitel endgültig abschließen. Der Tod meines Vaters mag ein erster Schritt gewesen sein, aber noch nicht das wahre Ergebnis. Ich muss mehr tun und in mir reift eine erste Idee was ich unternehmen könnte um das zu ändern.
 

Nachdem ich mir darüber im Klaren bin, ist es nur noch eine Frage der Zeit. Diese verbringe ich hauptsächlich damit meinen Alltag wieder aufzunehmen, meine Kurse zu besuchen, nötige Vorkehrungen zu treffen und mich gründlich auf meinen neuen Lebensabschnitt vorzubereiten. Als die für mich so wichtigen Informationen eintreffen, bin ich nervös und aufgeregt. Es wird Zeit für meinen Münzwurf. Es steht nur noch eine Frage aus. Bin ich bereit Chris aufzugeben, aus all den guten Gründen, die ich in Sekundenschnelle finden kann, oder ist mir das Glück, das ich an seiner Seite erfahren habe, wichtig genug es auf einen Versuch ankommen zu lassen, mich den Konventionen dieser Gesellschaft entgegen zu stellen?
 

Thomas ist an diesem Abend bei mir und wir haben zunächst über meine Zukunftspläne geredet, ehe er mir die Frage nach Chris gestellt hat. Nun stehe ich auf, fische eine Euromünze aus meinem Geldbeutel und halte sie Thomas hin, der mich verwirrt ansieht.
 

„Kopf heißt, dass ich es mit Chris versuchen werde. Ich werde mit ihm reden und unserer Beziehung eine Chance geben. Zahl heißt, dass ich es nicht tue, sondern versuchen werde ihn zu vergessen.“
 

„Das willst du nicht wirklich von einem Münzwurf abhängig machen, oder?“, fragt mich Thomas ungläubig, doch ich lächle ihm nur zu und werfe die Münze. Jetzt wäre in einem Film eine Slowmotioneinstellung angebracht, aber im echten Leben dreht sich die Zeit genauso schnell weiter wie zuvor und als ich die Münze auffange, stoße ich einen schweren Seufzer aus.
 

„Was ist es?“, will Thomas neugierig wissen, und ich zeige ihm das Ergebnis. „Das willst du nicht wirklich machen… Rapha, das ist dämlich!“
 

„Ich weiß“, antworte ich einfach nur. „Deswegen tue ich ja auch das, was ich eigentlich will.“
 

Thomas kommt nicht ganz mit mir mit, aber er versteht, was ich mit dieser Aussage meine und nickt mir zu. Nachdem das getan ist, packen wir alle meine Sachen zusammen, schleppen sie runter ins Auto und dann fährt er mich zu Chris‘ Haus.
 

Dort angekommen, drückt er mich einmal feste an sich, dann steige ich aus und sage ihm, dass ich ihn anrufe, sobald ich fertig bin. Er nickt mir zu und verspricht mir, da zu sein, wenn ich ihn brauche. Als er davonfährt, wird mir zum ersten Mal mulmig zu Mute, doch ich denke an Bernhards Worte und daran, dass das Ergebnis meines Wurfs wirklich nichts zu sagen hatte. Es hat mir nur geholfen zu erkennen, was ich eigentlich fühle.
 

Ich klingle zweimal schnell hintereinander und als mir Frau Berger öffnet, lege ich schnell eine Hand an die Tür für den Fall, dass sie mir diese vor der Nase zuschlagen will. Doch nichts dergleichen passiert. Sie sieht mich müde und abgekämpft an, wartet auf ein Wort meinerseits und rührt sich nicht von der Stelle. Auch wenn ich sehe, dass es ihr nicht gut geht und ich weiß, dass auch sie es nicht immer einfach hatte, empfinde ich kein Mitleid für sie. Sie mag nicht die alleinige Schuld tragen, vielleicht tut das niemand, aber dennoch mache ich sie für Vieles verantwortlich. Immerhin schien sie geahnt zu haben wessen Sohn ich war und hat es dennoch zugelassen, dass Chris sich mit mir anfreundet. Den Sinn dahinter habe ich nicht begriffen, doch um ehrlich zu sein habe ich auch nicht danach gefragt.
 

„Ich möchte zu Chris“, sage ich ruhig.
 

Ich erwarte fast ein wenig Widerstand, doch sie nickt nur und lässt mich endlich ins Haus eintreten. Sie umschlingt ihren Körper schutzsuchend mit ihren Armen und blickt zu Boden. Von der starken, strengen Frau, die ich kennen gelernt habe, ist nichts übrig geblieben.
 

„Wir haben uns gestritten“, erzählt sie leise. „Er hat mich zum ersten Mal richtig angeschrien und… er hat seinen Vater angerufen, also… meinen Ex-Mann. Sicherlich wollte er wissen ob das alles wahr ist und wie mein Ex-Mann zu ihm steht. Ich weiß nicht ob ihn das überzeugt hat oder nicht. Er redet nicht mehr mit mir. Kein Wort in all der Zeit.“
 

„Es ist nicht leicht für ihn“, sage ich rau. „Für keinen von uns.“
 

„Ich weiß“, schluchzt sie auf. „Alles was ich wollte war, dass Chris glücklich wird, eine heile Familie hat und es keinen Unterschied macht, dass er das Ergebnis eines Seitensprungs ist. Er hat einen Vater. Einen, der ihn liebt. Mehr wollte ich nie.“
 

„Wenn man ein Leben lang belogen wurde, ist es nicht leicht zu verzeihen“, antworte ich, blicke dabei an ihr vorbei. „Ich kenne dieses Gefühl nur zu gut. Warum hast du es mir nicht eher gesagt? Warum hast du damals gemeint, dass ich sein Freund sein sollte?“, frage ich sie nun und merke kaum, dass ich sie duze. Das alles ist so persönlich, dass ich auf Formalitäten keinen Wert mehr lege.
 

„Ich wollte es einfach nicht wahr haben. Wie groß war die Chance, dass du Carlos‘ Sohn bist? Ich habe Bilder gesehen, als du noch ein Kind warst. Eine Ähnlichkeit war da, aber dann habe ich nur gedacht, dass das Zufall ist. Wir sind hierher gezogen, vor Chris‘ Geburt. Ich wusste nicht wo Carlos‘ lebte, habe mich nie dafür interessiert. Die Firma, in der er damals arbeitete, hatte ihren Sitz in einer anderen Stadt, weswegen ich immer geglaubt habe, er habe dort gewohnt.“
 

„Er ist immer zwei Stunden hin und her gependelt“, sage ich nun.
 

„Ja“, seufzt sie resigniert. „Daran habe ich nie gedacht. Chris ist glücklich gewesen mit dir und deinen Freunden. In der Schule hat er nie Anschluss an seine Mitschüler gefunden und die Leute im Studio sind… nun, manche sind sicherlich nett, aber ich habe immer ein Auge auf sie gehabt und die meisten sind einfach nur abgehoben und vergnügungssüchtig. Kein Umgang für ihn. Als er aber dich kennenlernte habe ich gespürt, dass er zum ersten Mal Menschen gefunden hat, bei denen er sich wohlfühlt. Freunde, die ihn verstehen und bei denen er sicher ist. Das habe ich mir gewünscht und dabei alle Zweifel bei Seite gefegt, die ich deinetwegen hatte. Ich wollte einfach nicht, dass das wahr ist.“
 

„Es ist aber wahr.“
 

„Ja. Leider.“
 

Danach schweigen wir uns an. Ich kann sie verstehen. Ein wenig zu mindestens. Aber ich will ihr hier und jetzt keinen Platz in meinen Gedanken einräumen, denn ich habe eine ganz andere Sache auf die ich mich konzentrieren muss. Später werde ich genug Muße haben auch über Frau Berger nachzudenken. Ich wende mich also von ihr ab und steige die Treppe hinauf, bleibe vor seinem Zimmer kurz stehen um mich zu sammeln, klopfe dann an. Es kommt kein Ton von drinnen, also drücke ich die Klinke einfach herunter und bin erleichtert, dass Chris sich nicht eingeschlossen hat. Im Zimmer ist es stockdunkel und ich kann seine Silhouette am Fenster ausmachen. Er sitzt auf dem Fensterbrett und starrt nach draußen auf die Terrasse.
 

„Hallo Chris“, sage ich schwach, denn nun, da ich ihm wirklich gegenüberstehe, nach all den vergangenen Wochen, schwindet meine Kraft und Entschlossenheit. Ich habe Angst, dass er sich schon gegen uns entschieden hat. Doch er bleibt stumm, wendet mir noch nicht einmal den Blick zu. Langsam taste ich mich vor, doch als ich noch immer keine Reaktion erhalte, als ich ihn zum zweiten Mal anspreche, ringe ich mich dazu durch, direkt zu ihm zu gehen. Ich berühre ihn an der Schulter und er zuckt heftig zusammen, so abgeschottet war er in seinen Gedanken. Seine Augen weiten sich erschrocken, als er erkennt, wer ich bin.
 

„Rapha“, flüstert er leise und der Klang meines Namens ist ein Pfeil in meiner Brust. Gott, wie sehr ich ihn vermisst habe.
 

„Hallo Chris“, sage ich noch einmal und lächle ihn schwach an.
 

„Was tust du hier?“, will er wissen und zieht sich ein wenig vor mir zurück.
 

Augenblicklich, gehe ich einen Schritt nach hinten, lasse ihm Freiraum. Vorsichtig öffne ich einen der Vorhänge um ein wenig Licht rein zu lassen. Chris sieht müde aus, aber auch schrecklich leer und hoffnungslos. Seinen Augen fehlt der übliche Glanz und ich bemitleide ihn schrecklich für all die Dinge, die er durchmachen musste.
 

„Ich bin hier um mit dir zu reden“, antworte ich zaghaft, gehe noch weiter zurück und setze mich auf sein Bett. „Wenn du mir zuhören würdest.“
 

Einen Moment lang denkt er darüber nach, dann jedoch nimmt er die Füße von der Fensterbank und wendet sich mir zu. Er nickt einmal, dann senkt sich sein Blick gen Boden. Davon lasse ich mich nicht entmutigen, sondern atme einmal tief durch und beginne mit einer Rede, die ich vorbereitet und gut einstudiert habe. Dennoch fühlt es sich an, als wäre ich ganz unvorbereitet in dieses Gespräch gegangen, so nervös bin ich.
 

„Seit ich herausgefunden habe, dass wir Halbgeschwister sind, habe ich viel nachgedacht. Über uns, aber auch über mich und mein Leben, meine Vergangenheit. Ich habe vielen Menschen, dir eingeschlossen, sehr weh getan, weil ich es nie geschafft habe, mit den Dingen von damals abzuschließen. Aber ich habe beschlossen, dass ich so nicht mehr weitermachen, sondern mich den Dingen stellen will.“
 

Nervös knete ich meine Hände, wage es nicht den Blick von ihnen zu heben, aber ich merke, dass Chris mir aufmerksam zuhört. Sein ganzer Körper ist angespannt und mittlerweile starrt er auch nicht mehr auf den Boden, sondern auf meine zittrigen Finger, die keinen Halt zu finden scheinen.
 

„Bernhard hat mir gesagt, dass man bei wichtigen Fragen in seinem Leben eine Münze werfen muss um zu erkennen, was man sich eigentlich erhofft. Ich habe die Münze zweimal geworfen. Beim ersten Mal habe ich mich gefragt, ob ich in der Lage sein werde mein Leben von nun an zu leben, ohne ständig in meiner Vergangenheit zu versinken und dieses Kapitel ein für alle Mal zu begraben. Die Antwort für mich war ein klares Nein.“
 

Hier sieht Chris mir direkt ins Gesicht und ich fange seinen ängstlichen Blick auf.
 

„Ich kann meine Augen nicht davor verschließen und die quälende Frage danach wer mein Vater wirklich war, ist mit seinem Tod höchstens stärker geworden. Ich habe mich dafür entschieden, mich mit den Dingen auseinanderzusetzen so gut ich es vermag. Ich will aufarbeiten, was geschehen ist und sehen, ob ich dadurch nicht doch etwas Frieden finden kann. Deswegen habe ich einen Privatdetektiv angeheuert die Familie meines Vaters zu finden. Er hat herausgefunden, dass meine Großmutter noch lebt, ebenso seine Schwester und einige andere Verwandte. Allerdings leben sie nach wie vor in Spanien, was ich mir schon fast gedacht habe. Ich werde also nach Spanien fliegen und versuchen mit ihnen Kontakt aufzunehmen.“
 

„Wann?“, fragt Chris leise.
 

„Übermorgen.“
 

Bei dieser Antwort springt Chris ruckartig auf und scheint auf mich zugehen zu wollen, doch er stoppt sich im letzten Moment und steht unschlüssig vor mir, vergräbt seine Finger in seinem Shirt und sieht mich stumm an, beißt sich dabei auf die Lippe.
 

„Das hier ist anders als damals mit Zack“, fahre ich mit leicht brüchiger Stimme fort. „Dieses Mal laufe ich nicht einfach weg. Und… ich würde mich freuen, wenn du mit mir kommen würdest. Für dich ist das alles sehr plötzlich gekommen, deswegen weiß ich nicht wie du zu der Sache stehst, aber… theoretisch wären das auch deine Verwandte und wenn du wolltest, könnten wir zusammen…“
 

„Nein“, unterbricht mich Chris barsch. „Das sind nicht meine Verwandte. Meine Oma ist tot. Und ich habe einen Großvater und…“
 

Ich sehe ihn schweigend an und weiß, dass ihm das alles zu viel ist. Das habe ich kommen sehen und deswegen überrascht mich sein Ausbruch nicht. Doch ich wollte meinen Fehler von einst nicht wiederholen, als ich Zack einfach zurückgelassen habe. Auch an dieser Tatsache habe ich einmal mehr gemerkt, wie viel Chris mir tatsächlich bedeutet.
 

„Okay“, sage ich schließlich. „Es ist ein Angebot, kein muss.“
 

„Danke“, presst er mit Tränen in den Augen hervor. „Dass du gefragt hast, Rapha.“
 

Ich nicke ihm aufmunternd zu und bringe sogar ein kleines Lächeln zu Stande.
 

„Ich wollte nicht fliegen ohne dich wenigstens gefragt zu haben.“
 

„Wie lange wirst du fort bleiben?“, fragt Chris leise.
 

„So lange wie es dauert. Mit Erich habe ich alles Organisatorische abgesprochen und auch Thomas ist involviert. Während meiner Abwesenheit vermiete ich meine Wohnung, beziehungsweise Thomas tut das für mich.“
 

Chris kann daraufhin nur schwach nicken und sackt ein wenig in sich zusammen. Ich nehme allen Mut zusammen, strecke meine Hand nach ihm aus und bekomme die seine zu fassen, die ich sanft festhalte. Er zuckt erschrocken zurück, doch er lässt seine Hand in meiner liegen und starrt mich nur mit großen Augen an.
 

„Das war die erste Entscheidung“, spreche ich weiter. „Das zweite Mal habe ich die Münze unseretwegen geworfen. Ich wollte wissen, ob ich uns als Paar aufgeben sollte.“
 

Nervös tritt Chris von einem Fuß auf den anderen, doch nun greife ich auch nach seiner zweiten Hand, ziehe ihn zu mir und sehe ihm fest in die Augen.
 

„Die Münze wäre dafür gewesen. Aber ich bin dagegen“, erzähle ich ihm. „Ich kann dich nicht aufgeben Chris, nicht einfach so. Du bedeutest mir sehr viel und ich bin mit dir so glücklich wie noch nie zuvor. Diese ganze Zeit ohne dich hat mir klar gemacht, dass ich dich um nichts in der Welt missen möchte.“
 

Chris laufen mittlerweile die Tränen über die Wangen und auch ich selbst bin längst nicht mehr so ruhig wie am Anfang. Ich kämpfe mit meiner Selbstbeherrschung, doch schließlich komme ich gegen den Sturm in meinem Inneren nicht mehr an und folge nur noch meinem Herzen. So wie Chris es mir einmal geraten hat. Und zum ersten Mal spreche ich es wahrhaftig aus.
 

„Ich liebe dich“, bringe ich mühsam hervor. „Mehr als jemals einen Menschen zuvor.“
 

Dann ist es vorbei und ich rutsche vom Bett, knie mich vor Chris und umklammere seine Hände ganz fest, reibe mein Gesicht an ihnen und genieße die Wärme seiner Haut, erzittere unter dem Beben, das seinen ganzen Körper schüttelt.
 

„Ich liebe dich“, wiederhole ich verzweifelt. „Und es ist mir egal, was ein alberner Bluttest dazu sagt. Du bist nun mal der Mensch mit dem ich glücklich bin und mit dem ich mir zum ersten Mal eine richtige Zukunft vorstellen kann. Wenn ich Marianne, Bernhard, Thomas und die Zwillinge meine Familie nennen darf, obwohl wir nicht blutsverwandt sind, warum sollte sich dann zwischen uns etwas ändern, nur weil wir es sind? Das will ich nicht einsehen.“
 

„Rapha“, fleht Chris nun, versucht sich aus meinem Griff zu lösen. „Hör auf!“
 

„Nein“, sage ich bestimmt, stehe auf und bringe Chris dazu, mich anzusehen. „Du musst mir zuhören und verstehen was ich dir sage, Chris. Ich gebe nicht auf, hörst du? Nicht dieses Mal! Ich habe mich dafür entschieden um dich zu kämpfen, um uns. Ich lasse mir nie wieder jemanden wegnehmen, der mir so viel bedeutet. Für mich ändert sich durch den Test gar nichts.“
 

„Aber du haust doch ab, oder nicht?“, wirft Chris ein, windet sich in meinem Griff.
 

„Nein. Ich hau nicht ab. Aber ich kann dir, und vor allem mir, nie wieder in die Augen sehen, wenn ich jetzt nicht versuche die Schatten meiner Vergangenheit zu begraben. Erst wenn ich damit wirklich abgeschlossen habe, kann ich mit dir zusammen sein. Erst dann. Es ist mir wichtig und ich weiß einfach, dass es mich weiterbringt, wenn ich mich dem nun endlich stelle. Ich will dir ebenbürtig sein, Chris, deiner würdig.“
 

„Wie meinst du das?“
 

„Ich habe dir mal gesagt, dass ich deinen Mut bewundere. Und du meintest, du hättest nur getan was du für richtig hältst. Und diese Entscheidung, halte ich für richtig. Von dir habe ich gelernt wie wichtig es ist seine Träume und Ziele zu verfolgen und sich auch gegen alle Widrigkeiten durchzusetzen. Ich dachte immer, ich könne das auch, aber in Wahrheit bin ich nur davongelaufen. Jetzt aber fange ich endlich damit an das zu tun, was ich für richtig halte.“
 

„Ich weiß nicht was ich tun soll…“, schluchzt Chris auf und das ganze Ausmaß seiner Verzweiflung macht sich in seinem Gesicht bemerkbar. Unwirsch wischt er die Tränen fort, die jedoch einfach nicht aufhören wollen. „Woran soll ich noch glauben? Was ist richtig? Ist es nicht falsch, dich zu lieben? Ist Jamie jetzt auch mein Bruder? Was ändert das? So viele Fragen… und ich scheine keine Antworten zu finden.“
 

„Hey“, rufe ich ihn sanft und wische ihm über das tränennasse Gesicht. „Ich weiß besser als jeder andere wie sich das anfühlt. Es ist furchtbar grausam und ich wünschte, dass du all diese Dinge nie erfahren hättest. Aber es ist passiert und nun müssen wir damit fertig werden. Ich habe die gesagt was ich denke. Ich werde dich nicht aufgeben und auch meine Reise nach Spanien wird nichts an der Tatsache ändern, dass ich hoffe, eines Tages mit dir zusammen sein zu können. Wenn du bereit dazu bist und auf mich warten kannst, denn ich weiß nicht wie lange ich brauchen werde um alles zu verarbeiten. Für mich wird das auch nicht leicht.“
 

„Wie kannst du mich nur lieben? Jetzt noch?“, fragt Chris verzweifelt.
 

„Gerade jetzt, Chris“, lächle ich ihn liebevoll an. „So stark wie nie zuvor, weil ich erst jetzt bemerkt habe, was ich verlieren könnte. Aber ich weiß selbst, dass ich die Dinge nicht beschleunigen kann. Du brauchst deine Zeit um herauszufinden, ob du ebenso dazu bereit bist wie ich, uns beiden noch eine Chance zu geben. Auch deswegen reise ich ab. Wenn ich hierbliebe würde ich dich sicherlich bedrängen und das will ich vermeiden. Du sollst alle Zeit bekommen, die du brauchst. Ich werde immer für dich da sein, egal was ist.“
 

„Aber Spanien… du sprichst gar kein Spanisch“, wirft Chris schluchzend ein.
 

„Dann werde ich es lernen“, sage ich schlicht.
 

Als Chris jetzt in meine Arme stürzt, fange ich ihn bereitwillig auf, halte ihn fest an mich gedrückt und streichle ihm sanft über den Rücken. Ich lasse ihn so lange weinen wie er es braucht, wiege ihn dabei sanft hin und her und lehne meinen Kopf an seine Schulter an, genieße seine Nähe und die Gefühle, die in mir aufsteigen. Ich liebe Chris. Das ist mir jetzt so klar wie nie zuvor. Und ich schäme mich nicht, dass zuzugeben.
 

„Chris, du bist mein Halbbruder“, beginne ich schließlich erneut. „An dieser Tatsache kann ich nichts ändern. Aber… ich weigere mich, dem einfach so nachzugeben. Wir sind nicht zusammen aufgewachsen, wir sind uns fremd gewesen, und haben nach unserem Verständnis verschiedene Eltern. Glaubst du nicht, dass das genug Gründe sind, auf unsere DNA zu pfeifen und uns weiterhin nur als… Liebhaber zu sehen?“, frage ich ihn, stolpere dabei über das bedeutende Wort mit dem ich zugebe, dass ich mehr sein will, als nur sein platonischer Freund.
 

„Ich weiß es nicht“, gibt Chris zu. „In meinem Kopf dreht sich alles. Meine Mum, mein Großvater… alle haben mich angelogen, es mir verheimlicht und… ich kann nicht aufhören daran zu denken, dass… ich der Sohn von einem solchen Scheusal sein soll.“
 

„Hm“, mache ich nur, fische dann in meiner Hosentasche nach meinem kleinen Andenken. Als ich Chris die Münze reiche, werden seine Augen ganz groß und er starrt mich verunsichert an. „Wie gesagt, wenn man eine Münze wirft, wird einem schnell klar, was man sich wirklich wünscht und erhofft. Ich hab Zeit gebraucht, ehe ich sie werfen konnte, vor allem beim zweiten Mal, weil ich mich doch vor der Antwort gefürchtet habe. Wenn du bereit bist, dann kannst du sie ja auch bei jeder wichtigen Frage benutzen. Und so eine nach der anderen abarbeiten. Du musst nicht gleich bei der schwersten anfangen.“
 

Unsicher dreht Chris die Euromünze in den Händen. Auf ihrer Rückseite ist Juan Carlos zu sehen, mit dem Schriftzug España.
 

„So weißt du immer, wo du mich findest“, raune ich ihm zu. „Ich bin nicht aus der Welt Chris, du kannst mich anrufen, oder mir schreiben, sobald ich eine Adresse habe. Wenn ich gutes Internet finde, dann können wir miteinander chatten und… du kannst jederzeit gerne zu Besuch kommen.“
 

Nun bin ich derjenige, der verunsichert ist. Ich drücke Chris an mich und atme seinen herrlichen Duft ein. Schon jetzt vermisse ich ihn schrecklich.
 

„Ich muss das tun, Chris. Um endlich Frieden zu haben.“
 

„Ich weiß“, flüstert er schwach, dreht die Münze unruhig zwischen seinen Fingern. „Aber was ist, wenn ich mich nicht für uns entscheiden kann?“
 

„Dann muss ich mich wohl oder übel damit abfinden“, seufze ich und schaue ihm traurig ins Gesicht. „Auch wenn ich nicht hoffe, dass es dazu kommt.“
 

Eine ganze Weile schweigen wir einander an, berühren uns nur ganz zaghaft. Chris geht soweit, dass er seine Hand an meine Wange legt und mir mit dem Daumen einmal über die Lippen streicht, aber mehr wird daraus nicht und auch ich beschränke mich darauf, seine Hände zu streicheln. Bevor nicht auch Chris sich entschieden hat, hätte alles andere keinen Sinn.
 

„Ich denke darüber nach. Danke für die Münze“, sagt Chris schließlich und es klingt nach dem finalen Abschluss. Also lasse ich seine Hände los, streiche ihm sanft durch die Haare und sehe ihn eindringlich an.
 

„Ich werde auf dich warten“, versichere ich ihm zum Schluss noch einmal.
 

Dann drehe ich mich um und lasse ihn allein. Ich halte mich davon ab noch einmal zurück zu blicken, denn ich könnte es nicht länger ertragen, ihn so zu sehen. Ich wünsche mir den fröhlichen, beinahe sorglosen Chris zurück, der mich so verzaubert hat. Aber dieser Chris wird gerade erwachsen und stellt sich seiner ersten Lebenskrise. Wie viel von ihm danach übrig sein wird, werde ich sehen.
 

Auf dem Weg nach draußen, komme ich an Frau Berger vorbei, die am Treppenabsatz scheinbar auf mich gewartet hat. Wir sehen uns noch einmal lange in die Augen, suchen in dem anderen etwas, dass es uns verzeihen ließe, was wir durch die Hand des anderen erleiden mussten. Ob sie es bei mir gefunden hat weiß ich ebenso wenig, wie ich weiß, ob ich ihr eines Tages verzeihen kann. Draußen angekommen, rufe ich Thomas an, bitte ihn mich abzuholen und komme ihm ein Stück entgegen. Gemeinsam fahren wir nach Hause.
 

Zwei Tage später fahren Familie Vogel, Jamie, Martina und ich zum Flughafen. Trotz all meiner Hoffnung bin ich nicht überrascht, dass Chris nicht hier ist. Ich kann es ihm nicht verübeln und verstehe, dass er noch nicht bereit war mich zu sehen. Als ich meine Reisetasche aufgegeben habe, beginnt das Warten und natürlich auch schon das Verabschieden.
 

Johannes und Lars reden auf mich ein, dass ich ihnen was Cooles mitbringen soll und fragen immer wieder, wann ich denn nach Deutschland zurückkomme. Ich drücke die beiden ganz fest, als mein Flug das erste Mal aufgerufen wird und verspreche, ihnen regelmäßig zu schreiben und zu versuchen berühmte Spanier zu treffen. Jamie und Martina wünsche ich nur das Beste und hoffe, dass sie ihre Differenzen überwinden können. Die Umarmungen sind hier kurz, aber herzlich und Jamie erinnert mich daran mich bei ihm zu melden, wenn ich einmal heimische Verpflegung brauche. Thomas kann am Ende einfach nicht mehr ruhig bleiben und wird ziemlich emotional, ebenso wie ich. Aber nun ist endlich alles gut zwischen uns und er verspricht mir hoch und heilig, sich in meiner Abwesenheit um Chris zu kümmern und auch mit Erich Kontakt zu halten, wobei das selbstverständlich ist.
 

Und ganz zum Schluss nehmen mich Bernhard und Marianne jeweils in den Arm und Marianne laufen die Tränen die Wangen hinunter als sie mir sagt, wie stolz sie auf mich ist und dass ich immer gut auf mich aufpassen soll. Ich versichere ihr das und als mein Flug zum zweiten Mal aufgerufen wird und wir bereits am Gate stehen, umarme ich die beiden noch einmal und nenne sie zum ersten Mal Mama und Papa. Das Strahlen, dass sich daraufhin bei den beiden zeigt, macht mich unendlich glücklich und ist das letzte Zeichen, dass ich brauche, um mir einzugestehen, dass es wirklich nicht zählt ob man blutsverwandt ist oder nicht um eine Familie zu sein.
 

Ich winke allen noch einmal zu, ehe ich mich in die relativ kurze Schlange einreihe, meine Bordkarte vorzeige und mich dann auf dem Weg zum Flugzeug mache. Im Shuttlebus, sehe ich noch einmal zurück und gestehe mir ein, dass ich Angst habe. Angst vor dem, was ich in Spanien erleben werde, was ich vielleicht über meinen Vater lernen werde. Vor allem aber habe ich Angst, dass ich Chris verlieren werde. Doch diese Entscheidung ist richtig und ich setze dafür auch aufs Spiel nie wieder mit Chris zusammen sein zu können. Die Geister der Vergangenheit gehören begraben und vergessen, erst dann kann ich wirklich nach vorne sehen.
 

Ende


Nachwort zu diesem Kapitel:
Nach vier langen Jahren ist damit nun also endlich geschafft. Das Ende. So traurig es auch ist, aber dieses Kapitel stellt das tatsächliche Ende von "Bilder unserer Zeit" dar. Diese Geschichte hat mich lange begleitet und ich habe viel mit den Charakteren erlebt und ich finde, dass man deutlich merkt, wie sich mein Schreibstil in dieser Zeit erneut verändert hat.

Rückblickend möchte ich folgende Punkte gerne ansprechen.

- Ich möchte mich bei allen Lesern entschuldigen, die teilweise so lange (jetzt am Ende sogar fast zwei Jahre) auf die neuen Kapitel warten mussten. Diese Geschichte hat mich durch wirklich alle Lebenslagen begleitet und gegen Ende hin, fehlte mir leider der Mut sie wirklich abzuschließen.

- Da meine Kapitel sehr unterschiedlich sind, Ungereimtheiten enthalten und ich manche Szenen einfach gerne noch einmal neu schreiben würde um sie meinem jetzigen Schreibstil anzupassen und die Geschichte dadurch insgesamt einheitlicher zu gestalten, würde ich gerne versuchen, die älteren Kapitel neu zu schreiben. Ob und wann mir das gelingt, weiß ich nicht, aber vielleicht bleibt mir die Muse ja hold.

- Aufgrund weiterer zahlreicher Ideen erkläre ich diese Geschichte noch nicht als abgeschlossen. Ich würde gerne eine Fortsetzung schreiben, die ich in den späteren Jahren ansiedeln würde um zu zeigen was aus Chris, Raphael und all den anderen geworden ist, aber ich sehe leider nicht genug Potenzial dahinter, sondern eher die Gefahr mein Ursprungswerk dadurch nur schlechter zu stellen. Deswegen habe ich mich dazu entschieden, die "wichtigsten" Szenen als eine Art Sequel-Reihe, an diese Geschichte anzuhängen. Ein erster Vorgeschmack bietet meine Geschichte "Vater und Tochter", die bereits auf Animexx online ist und ein wenig von dem Leben zeigt, dass Chris später führen wird.

- Zum wirklich absoluten Schluss, vielen lieben Dank an alle Leser, Kommentarverfasser, Kritiker und Fans für das Durchhaltevermögen (?), die Geduld, die ganzen Hinweise auf meine manchmal verdrehten Details und all die lieben Worte. Es hat sehr viel Spaß gemacht diese Geschichte zu schreiben und ich bin stolz, dass ich es tatsächlich geschafft habe, eine Geschichte dieser Länge zu einem Abschluss zu bringen.

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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  chaos-kao
2013-05-08T14:14:52+00:00 08.05.2013 16:14
Ein trauriges aber würdiges Ende. Wobei es mich schon sehr interessieren würde, wie es mit den beiden weiter geht und ob Rapha die Antworten findet, die er sucht ...

Lg
kao


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