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Heldenzeit

Spiegelverkehrt & Kryptonit & Vulkado | Oneshot- Sammlung
von

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Kein Träumer

Fabian ist kein Träumer. Das war er noch nie. Er ist das, was die Leute einen ›Nerd‹ nennen, und wenn man es oft genug gehört hat, dann nennt man sich irgendwann selbst so. Nicht, dass Fabian irgendwas dagegen gehabt hätte, als Nerd bezeichnet zu werden. Letztendlich kommt das Wort aus der englischen Bezeichnung Knurd. Drunk. Nur rückwärts. Für Leute, die keinen Alkohol trinken. Natürlich benutzen die Menschen, die Fabian einen Nerd nennen, diesen Begriff nicht deswegen, weil er sehr selten Alkohol trinkt. Es ist wegen seiner herausragenden Computerkenntnisse und seiner Brille und damals in der Schule war es wegen seiner Hochwasserhosen und weil er Star Wars mochte. Star Wars mag er immer noch. Er ist noch sehr viel besser mit Computern geworden seit damals und mittlerweile verdient er damit sogar eine Stange Geld. Er trägt zugegebenermaßen keine Hochwasserhosen mehr und manchmal tauscht er seine Brille gegen Kontaktlinsen. Aber er ist immer noch derselbe Fabian wie damals. Derselbe Nerd wie damals mit sechzehn, als er sich unrettbar in ein Mädchen vollkommen außerhalb seiner Liga verguckt hat.
 

Ihr Name war Sina und sie war eines von diesen Mädchen… na ja. Eigentlich nicht. Es gibt diese netten Mädchen, die mit jedem befreundet sein wollen und zu jedem nett sind, weil es zum Image gehört. Nebenbei sehen sie auch noch ganz gut aus. Sina wurde von allen Mädchen gehasst und von allen Jungs angehimmelt. Sie war nie zu jedem nett und sie wollte nie von jedem gemocht werden. Und sie sah verteufelt gut aus. So gut, dass man fast glauben konnte, dass sie nicht von dieser Welt war. Sie hatte diese wahnsinnig vollen Lippen und diese stechenden, funkelnden Augen. Und blasse, makellose Haut. Und rotbraune Locken. Fabian ist immer noch der festen Überzeugung, dass er noch nie in seinem Leben ein hübscheres Mädchen gesehen hat als Sina. Sein jüngerer Bruder schwört auf Megan Fox, aber so sehr Fabian auch versucht, irgendeine übermäßig geschminkte Hollywood-Schauspielerin schärfer zu finden, als Sina… es funktioniert nie. Und es hat auch damals mit sechzehn nicht funktioniert, als er versucht hat sich einzureden, dass seine ungesunde Hingabe für dieses Mädchen komplett übertrieben ist.
 

Sina war damals entweder allein in der Schule unterwegs oder sie war von einer Traube Jungs umgeben. Fabian hat sie so oft beobachtet, dass er sie in- und auswendig kannte. Sie hat den Kopf immer ein bisschen höher gehalten als nötig, so als wollte sie der Welt zeigen, dass sie sie mal am Arsch lecken kann. Aber Sina hat nie ihre Gefühle versteckt. Wenn sie jemanden nicht mochte, dann hat sie das gezeigt. Wenn sie schlecht drauf war, dann hat sie nicht künstlich gelächelt. Egal wie sehr die anderen Mädchen sie auch als gekünstelt und gewollt und übertrieben bezeichnet haben, Sina war die ehrlichste Haut in Fabians gesamter Schulzeit. Natürlich konnte er ihr das nie sagen. Wie beeindruckend er sie fand. Und immer noch findet, wenn er es recht bedenkt.
 

Er hat gemerkt, dass diese Sache zwischen den Mädchen im Jahrgang und Sina sich ziemlich unglücklich entwickelt hat, aber dass es so schlimm war… das hat er nie kommen sehen. Erst als Sina anderthalb Wochen nicht zur Schule gekommen ist und einige Mädchen darüber getuschelt haben, dass sie hoffentlich die Schule wechseln würde und dass sie die Finger von Maximilian lassen sollte – einem ziemlich gutaussehenden Typen aus zwei Jahrgängen über ihnen – da war ihm klar geworden, dass Sina nicht einfach nur krank war. Und die Vorstellung, dass er sie nie wieder sehen würde, hat sich schrecklich angefühlt. Wenn er heute darauf zurück blickt, dann fragt er sich gerne, was passiert wäre, wenn er sich getraut hätte, Sina anzusprechen. Wahrscheinlich nichts. Sie hätte ihm klar gemacht, – ehrlich wie sie ist – dass sie nicht interessiert ist und dann wäre er wieder unsichtbar für sie geworden.

Als Sina zurück zur Schule kam, war das eine Mischung aus Entsetzung und unverhohlener Bewunderung, die Fabian erfahren hat. Ihr hübsches Gesicht war zwar unverändert wunderbar, aber die blauen Flecken und die Schürfwunden und die aufgeplatzte Lippe waren noch nicht ganz geheilt. Und man hatte ihr die Haare abgeschnitten. Sehr kurz. Lauter Getuschel ist ihr den Gang entlang gefolgt und Sina ist trotzdem durch die Schule geschritten als wäre sie die Königin des Jahrgangs. Für Fabian ist sie das ohnehin schon gewesen. Aber auch nach diesem offensichtlichen Versuch der Mädchen, Sina hässlicher aussehen zu lassen… Fabian konnte nicht umhin, sie noch umwerfender zu finden. Soweit Fabian weiß, hat Sina keinem der Jungs je gesagt, wer die Mädchen waren, die das getan haben. Einmal hat er sie zu Dennis sagen hören: »Ist doch egal.«
 

Diese Mädchen, die das getan haben, haben nichts gewonnen. Die Jungs fanden sie auch mit abgeraspelten Haaren und aufgeplatzter Lippe noch interessant. Wenn auch aus anderen Gründen als Fabian. Denkt er sich zumindest. Fast drei Jahre lang ist er Sinas Schatten, ohne dass sie davon weiß. Weil ihm klar ist, dass sie viel größer ist als er. Nicht körperlich gesehen, natürlich. Aber sie ist einfach außerhalb seiner Reichweite. Sie ist außerhalb jeder Reichweite, denkt er sich. Egal mit wie vielen Jungs sie knutscht oder redet oder lacht, keiner von denen ist das, was sie wirklich möchte. Das sieht er ihr an. Aber sie wäre schrecklich einsam, wenn sie die Gesellschaft der Jungs nicht hätte und sie zahlt es den Mädchen heim, die sie verprügelt haben, indem sie genauso weiter macht wie vorher.
 

Selbst nachdem sie ihr Abi in der Tasche haben und nachdem Sina auf dem Abiball das schönste Mädchen von allen ist und nachdem Fabian sich sicher ist, dass er sie nie wieder sehen wird… selbst da ist er sich noch sicher, dass er wahrscheinlich nie ein Mädchen finden wird, das Sina ebenbürtig sein kann. Das ist dumm und das weiß er auch. Aber seit Fabian gesehen hat, wie stark Sina ist, hat er sich viel besser mit sich selbst gefühlt. Sie hat ihm gezeigt, dass er sich nicht unterkriegen lassen sollte von diesen Leuten, die ihn in eine Schublade stecken und ihn meiden und ihn lächerlich finden. Nachdem er Sina das letzte Mal gesehen hat, hat er sich vorgenommen nicht zu träumen. Er ist schließlich kein Träumer. Sina wird nie auf einem Jahrgangstreffen auftauchen, wahrscheinlich geht sie in eine andere Stadt und er wird sie niemals wieder sehen. Und alles andere wäre verkehrte Hoffnung und Träumerei. Und das liegt ihm nicht. Kein bisschen. Aber Fabian muss sich unweigerlich eingestehen, dass Sina ihn doch verändert hat. Sie hat ihn nicht nur stärker gemacht. Sondern auch zum Träumer.
 

*
 

Sina hat ihn mehr zum Träumer gemacht, als Fabian ursprünglich gedacht hat. Er jagt immer noch einer Illusion nach. Einer ziemlich peinlichen, um genau zu sein. Diese Illusion beinhaltet das absolut unwahrscheinliche Szenario, dass Sina doch einmal auf einem Jahrgangstreffen auftaucht. Sie muss ja gar nicht mit ihm reden, er würde wahrscheinlich ohnehin kein Wort rausbekommen. Und sie würde sich garantiert nicht an ihn erinnern. Aber einfach zu sehen, ob es ihr gut geht und wie sie sich gemacht hat… und vielleicht ein oder zwei Gesprächsfetzen darüber mit anhören, was sie jetzt macht. Wahrscheinlich hat sie einen Sportler als Freund, der sie im Sommer mit zum Segeln nimmt, und… er sollte wirklich nicht nach sechs Jahren immer noch über Sina nachdenken, in denen sie sich nicht gesehen haben. Fabian weigert sich zuzugeben, dass er immer noch eine Schwäche für Sina hat. Und das nach neun Jahren unerwiderter Begeisterung. Er ist wirklich ein Nerd. Ein ganz schlimmer. Vielleicht ist er tief drinnen sogar psychisch gestört, ein Stalker, ein… Fabian seufzt und starrt in den Spiegel.
 

Seine hellbraunen Haare sind mittlerweile zu lang. Er ist zu faul gewesen, um sich ordentlich zu rasieren und hat einige Dreitagestoppeln am Kinn. Seine Augen sind wie immer langweilig, wässrig blaugrau. Wenn er es recht bedenkt, dann sind seine Haare auch eigentlich gar nicht hellbraun. Sondern hellbraunblondgräulich. Undefinierbar. Seine Jeans ist ziemlich ausgeleiert, aber immerhin reicht sie bis hinunter zu seinen Chucks. Seine Freunde bei der Arbeit haben Witzchen gerissen, dass diese Schuhe wohl sein Versuch sind, ein wenig mehr Mainstream zu werden. Eigentlich mag Fabian diese Dinger einfach nur und sie passen ihm so gut wie sonst keine Schuhe. Immerhin sind sie grau, denkt er ein wenig zynisch, das passt bestens. Er hat seine Brille gegen die Kontaktlinsen getauscht und zupft kurz an seinem dunkelblauen, kurzärmligen Hemd. Dann seufzt er und macht sich auf den Weg in den merkwürdigen Schuppen, in dem sie sich heute zum Jahrgangstreffen verabredet haben. Zeitverschwendung, wirklich.
 

Fabian will eigentlich niemanden von den Leuten sehen, die dort hingehen. Seine wenigen Freunde aus der Schule kennt er heute immer noch, zwei von ihnen arbeiten sogar mit ihm zusammen. Die kann er immer sehen, wenn er Lust hat, und es hilft ja nichts, sich etwas vorzumachen… er geht wegen Sina da hin. Wegen einer Sina-Illusion. Denn Sina ist in den letzten vier Jahren nicht gekommen, wieso sollte sie also diesmal erscheinen?

Es ist wie die letzten Jahre auch. Von hundert Leuten sind etwa vierzig Stück gekommen. Und diese vierzig sind vor allem die, die damals so etwas wie die Jahrgangselite gewesen sind. Die, die auf jeder Party waren, die Netten, die Beliebten. Fabian ist dementsprechend vollkommen fehl am Platz. Die einzigen zwei Leute, die nicht ins Schema passen, sind Kerstin und Caro.
 

Kerstin war schon damals während der Schulzeit offen lesbisch und dementsprechend oftmals Gesprächsstoff. Fabian hat überhaupt nichts gegen Homosexuelle, er ist nur ziemlich verwundert, dass Caro und Kerstin Händchen halten. Caro war nie geoutet. Aber als er die beiden fragt, ob er sich zu ihnen setzen darf, sieht er den Ring an Caros Finger und fragt vorsichtig nach, ob sie verlobt ist. Es stellt sich heraus, dass Caro tatsächlich mit Kerstin verlobt ist und dass die beiden mittlerweile seit drei Jahren zusammen sind. Offiziell ist es aber erst seit ein paar Monaten, weil Caros Familie ziemlich katholisch ist. Fabian ist froh, dass er sich mit Caro und Kerstin unterhalten kann. Die beiden sind tatsächlich nur hier, weil sie den Rest der ›Elite‹ ein bisschen schocken wollten. Und dann… nunja. Dann fragen sie natürlich.

»Und wie kommt’s, dass du hier bist?«, will Caro neugierig wissen. Fabian spürt, wie er rot anläuft und Kerstin und Caro wechseln einen gespannten Blick.
 

»Ähm…«
 

Es ist ihm peinlich den beiden zu erklären, dass er seit fünf Jahren darauf wartet, dass Sina auf einem ihrer Treffen auftaucht. Einfach um damit abzuschließen, was er damals für sie empfunden hat. Fabian ist erwachsen, es ist ja nicht so, als würde er sich tatsächlich Hoffnungen machen…

»Wow«, kommt es in diesem Moment von Kerstin und Fabian will sich schon darüber freuen, dass er die Frage nicht beantworten muss. Sein Blick folgt dem von Kerstin und die Luft scheint plötzlich zu beschließen, dass seine Lungen nicht mehr gut genug für sie sind. Fabian kneift sich unter dem Tisch unauffällig in den Oberschenkel, aber er spürt den Schmerz sehr deutlich. Er ist wach. Er träumt nicht.
 

Sina sieht umwerfend aus. Natürlich sieht sie das. Aber sie ist nicht mehr achtzehn wie damals in der Schule. Sie ist jetzt fünfundzwanzig und noch schöner als damals. Fabian hätte nicht gedacht, dass das möglich wäre. Sie trägt ein schlichtes, schwarzes und sehr kurzes Kleid mit tiefem Ausschnitt. Ihre Füße stecken in ebenfalls schwarzen Highheels und ihre rotbraunen, gewellten Haare fallen ihr bis auf die Schultern hinunter. Sinas Mund ist immer noch genauso voll wie vor fünf Jahren. Ihre Augen sind immer noch grüngrau. Sie lächelt immer noch umwerfend. Und Fabians Herz hämmert so heftig in seinem Brustkorb, dass er garantiert gleich einen Herzinfarkt bekommt. Alle starren sie an. All die Mädchen scheinen den Atem angehalten zu haben. Fabian weiß nicht, ob auch die dabei sind, die Sina damals verprügelt und ihr die Haare abgeschnitten haben, aber wenn ja, dann werden sie sich jetzt wahrscheinlich innerlich winden. Die Kerle sabbern einfach nur so deutlich, dass es Fabian wirklich peinlich ist, einer von ihnen zu sein. Sina ist ja nicht einfach nur hübsch. Sie hat diese wahnsinnige Ausstrahlung, die einem den Atem raubt. Wenn sie einen Raum betritt, dann prickelt die Luft.
 

Fabian kann es nicht fassen, dass sie wirklich hier ist. Er starrt einfach nur zu ihr hinüber, als einige Leute zu ihr hinüber gehen, um sie zu begrüßen. Sina umarmt keinen von ihnen, auch wenn einige der Mädchen Anstalten machen, die Arme nach ihr auszustrecken. Sie hält ihren Kopf immer noch ein bisschen höher als nötig.

»Ich nehme an, deswegen bist du gekommen?«, flüstert Caro ihm ins Ohr und er zuckt kaum merklich zusammen, ehe er ihr einen peinlich berührten Blick zuwirft. Sie kichert nur und sagt nichts weiter dazu, wofür er dankbar ist.
 

Die nächsten zwanzig Minuten verbringt Fabian damit Sina dabei zu beobachten, wie sie mit den Leuten redet, die sie wahrscheinlich nie wieder sehen wollte. Aber sie lässt sich überhaupt nichts anmerken. Dass sie hierhergekommen ist, ist vor allem für die Mädchen wie ein Schlag ins Gesicht. Fabian sieht es in ihren Mienen, dass sie Sina am liebsten wieder wegschicken würden, weil sie jetzt die volle Aufmerksamkeit aller männlichen Gäste hat. Aber keine von ihnen hat den Schneid Sina wirklich zu zeigen, dass sie sie hier nicht haben wollen. Nachdem Sina sich kurz mit Dana unterhalten hat – eines der unangenehmsten Mädchen in Fabians Erinnerungen – dreht sie sich um und entdeckt seinen Tisch, an dem er mit Kerstin und Caro hockt. Seine Wangen werden heiß und sein Herz stolpert und scheint dann einfach still zu stehen, als Sina zu ihnen herüber kommt. Sie lächelt.
 

»Kann ich mich zu euch setzen?«, fragt sie ohne Umschweife. Kerstin und Caro erwidern das Lächeln, Fabian kann einfach nur mit leicht geöffnetem Mund dasitzen und sich wie ein Idiot benehmen. Er wird keinen Ton rauskriegen. Was hat er sich dabei gedacht Sina noch mal sehen zu wollen? Zum Abschluss seiner vergangenen Schwäche für sie? Von vergangen kann plötzlich überhaupt keine Rede mehr sein, es ist wieder als wäre er sechzehn und Sina säße im Physikunterricht eine Reihe vor ihm, sodass er ihr Parfüm riechen kann. Um Himmels Willen, er ist ein dermaßen peinlicher Stalker…

»Und, was machst du hier, Fabian?«

Seine Welt wankt einen Moment ganz gewaltig. Fünf Jahre ohne Sina, sieben auf einer Schule und vier, in denen er sie stumm angehimmelt hat und sich sicher war, dass sie nicht weiß, dass er existiert. Aber sie kennt seinen Namen.
 

»Du kennst meinen Namen?«

Na toll. Fabian würde sich gern die Zunge abbeißen, stattdessen wird er knallrot. Sina lacht leise.

»Klar. Du hast das beste Abi von den Jungs im Jahrgang gemacht und ein Angebot für ein Stipendium gekriegt. Und du hast dich immer um die ganzen Computer in der Schule gekümmert«, antwortet sie verschmitzt und wendet sich dann dem Kellner zu, der zu ihnen an den Tisch gekommen ist.

»Ein großes Wolters, bitte«, bestellt Sina. Fabian hat in der Zwischenzeit Gelegenheit beeindruckt davon zu sein, dass Sina tatsächlich weiß, dass er sein Abitur mit 1,2 abgeschlossen hat. Sein bester Freund Simon war zweitbester mit 1,6. Von den Mädchen haben auch zwei 1,0 geschafft… Seine Gedanken sind nicht wirklich zurechnungsfähig.
 

Zu Fabians Glück beginnen Sina und Caro eine Unterhaltung über die geplante Hochzeit und Fabian hat die Möglichkeit sich zu ordnen und zuzuhören. Offensichtlich hat Sinas große Schwester auch kürzlich geheiratet und Sina wird jetzt Tante. Er kann seinen Kopf nicht wirklich kontrollieren, aber er stellt sie sich unweigerlich mit Baby im Arm vor. Großartig. Er ist offiziell ein Psychopath. Als Sina ihr Bier bekommt, fällt der Kellner fast in ihren Ausschnitt und Fabian kann es ihm nicht verübeln. Trotzdem wirft er dem jungen Mann einen vorwurfsvollen Blick zu und beobachtet dann, wie Sina das Bier an ihre Lippen setzt und einen Schluck nimmt. Vielleicht ist er besessen oder so was.

»Oh, zu dem Lied will ich tanzen«, sagt Caro plötzlich aufgeregt und zerrt Kerstin ohne Widerstand zu akzeptieren in Richtung Tanzfläche. Fabian ist sich der Blicke von allen anderen bewusst. Er sitzt hier mit Sina. Sina. Allein. Sie trinkt ein Bier und er starrt sie an und alle anderen starren ihn an, weil sie wahrscheinlich erwarten, dass er gleich etwas schrecklich Dummes macht. Er erwartet es ja selbst auch. Irgendwie.
 

»Und, was hast du mit deinem Stipendium angefangen?«, erkundigt sich Sina freundlich bei ihm und scheint vollkommen ungerührt angesichts der Tatsache, dass vierzig Paar Augen auf ihnen ruhen, als wären sie spannender als ein Blockbuster.

»Ich bin immer noch ein Computernerd und verbringe meine Arbeitszeit vor Monitoren, aber es macht mir immer noch genauso viel Spaß wie früher und… ich verdien ziemlich gut damit«, platzt es aus Fabian heraus. Er hat irgendwie das Gefühl, als müsse er Sina darüber informieren, dass er wirklich nicht das Kaliber Kerl ist, mit dem sie sich sonst so unterhält. Aber Sina lächelt nur und nimmt noch einen Schluck Bier.

»Cool. Ich liebe meinen Computer, ich wäre aufgeschmissen ohne ihn. Vorletzte Woche ist er mir mitten in meiner Abschlussarbeit abgestürzt. Gott sei Dank hatte ich alles gesichert. Und nachdem ich ihn aufgeschraubt hatte, hat sich das Problem relativ schnell finden und beheben lassen«, informiert sie Fabian und streicht sich eine Strähne ihrer rotbraunen Haare aus dem Gesicht.
 

Fabian sieht sie an wie eine Erscheinung. Bevor ihm klar wird, dass das womöglich beleidigend klingt, hat er es schon gesagt.

»Du… reparierst deinen eigenen Rechner?«

Sina lacht schon wieder. Es klingt viel zu sehr nach Musik in seinen Ohren. Er wollte doch hierherkommen, um das alles abzuschließen, nicht um sich noch mehr in Sina zu verknallen. Das darf doch alles nicht wahr sein.

»Ich arbeite mit Computern. Ich studier Kommunikationsdesign und ohne diese Dinger bin ich aufgeschmissen. Wäre ja noch schöner, wenn ich jedes Mal hysterisch werden würde wegen sowas. Trinkst du nichts?«

Fabian blinzelt und schüttelt dann den Kopf. Sein inneres Auge ist immer noch mit der Vorstellung beschäftigt, wie Sina ihren Rechner aufschraubt, ohne den PC vorher aus- und wieder anzuschalten. So wie andere Leute das gern versuchen, die keine Ahnung von Technik haben und denen irgendwas kaputt gegangen ist.
 

»Nein. Ich steh nicht so auf Alkohol«, antwortet er. Die meisten Leute finde so etwas merkwürdig…

»Oh. Ok.«

Fabians Gehirn fühlt sich an wie Zuckerwatte. Sinas tiefer Ausschnitt macht ihn arg nervös. Alles an Sina macht ihn nervös. Ein Räuspern lässt ihn zusammen schrecken und er schaut auf. Sören – einer dieser Kerle, die damals cool waren und sich immer noch cool finden – steht neben dem Tisch und grinst Sina an. Sie hebt eine Augenbraue.

»Möchtest du tanzen?«

Wenn Fabian nicht er selbst und ein bisschen selbstbewusster wäre, dann würde er jetzt sagen, dass Sören sich verziehen soll, weil er sich hier gerade mit Sina unterhält. Da er aber der ist, der er ist, betrachtet er nur krampfhaft Sinas Bier und wünscht sich ein größeres Ego, mit dem er Sina zum Tanzen auffordern könnte.

»Nein«, sagt Sina schlicht. Sörens Grinsen verfliegt und er räuspert sich erneut. Fabian sieht, dass sein Selbstbewusstsein schrumpft. Sina sieht ihn geradeheraus an. Andere Mädchen sagen ›Nein‹ mit einem Kichern, als ob sie es eigentlich gar nicht so meinen.

»Ok. Darf ich dir dann wenigstens noch was zu trinken spendieren?«

Sören sieht nicht so aus, als wolle er sobald aufgeben, aber Sina mustert nur stirnrunzelnd ihr halbleeres Glas Bier.
 

»Ich hab noch genug. Außerdem macht es keinen Unterschied, ob du mir was bestellst, oder deine Wettschulden bei Freddy bezahlst, weil ich nicht mit dir tanzen will. Aber du kannst ihm ausrichten, dass ich mit ihm auch nicht tanzen würde«, sagt sie ungerührt und nimmt noch einen Schluck Bier. Sören sieht einen Moment lang so aus, als würde er nicht so recht wissen, ob er Sina gerade richtig verstanden hat. Dann dreht er sich um und zieht murmelnd von dannen. Fabians Welt ist plötzlich sehr viel farbiger als noch vor zwanzig Sekunden.

Freddy, Sören und ein paar Mädchen sehen schon wieder zu ihnen hinüber und Sina seufzt entnervt.

»Ich glaube, ich hab genug provoziert für einen Abend«, sagt sie entschuldigend in Fabians Richtung und hebt ihr Bierglas erneut an die Lippen. Er kann kaum so schnell gucken, da ist das Bier leer und Sina leckt sich etwas Schaum von der Oberlippe. Sein Magen kribbelt.

»Möchtest du noch einmal mit mir tanzen und dann woanders hingehen? Wo man reden kann ohne blöd angestarrt zu werden?«, fragt sie aus heiterem Himmel und lächelt Fabian an.
 

Er fragt sich einen Moment lang, ob sie das nur macht, um Sören und Freddy eins auszuwischen. Aber sie sieht nicht so aus, als würde sie sich dazu zwingen mit Fabian zu tanzen.

»Ich kann nicht wirklich…«, fängt Fabian unsicher an und ihm ist schrecklich heiß. Aber Sinas Lächeln wird breiter und sie steht auf und streckt ihm die Hand hin. Oh Gott. Er wird jeden Augenblick einen glücklichen Tod sterben. Ihre Hand ist zierlich aber sie hat einen festen Händedruck, als sie ihn in Richtung Tanzfläche zieht, wo Kerstin und Caro immer noch eng umschlungen stehen und sehr innig knutschen. Fabian glaubt ›Privat Dancer‹ von Tina Turner zu erkennen. Er kann sich aber nicht wirklich auf die Musik konzentrieren, weil Sina ihre Arme um seinen Nacken schlingt und sich im Takt der Musik mit ihm zu drehen beginnt. Fabian ist heilfroh, dass sie nicht versucht irgendeinen Standardtanzkram auszuprobieren, denn das kann er wirklich nicht. Er hat nie einen Tanzkurs gemacht.
 

Seine Hände auf Sinas Hüfte fühlen sich an, als gehörten sie gar nicht ihm. Fabian revidiert. Er ist vielleicht doch ein Träumer. Ein großer sogar. Wenn es nach ihm ginge, würde der Tanz gar nicht aufhören. Er ist immer noch genauso unrettbar in Sina verschossen wie vor neun Jahren. Das sollte ihn vielleicht beunruhigen, aber eigentlich verwundert es ihn nicht. Und wenn das heute Abend eine winzige Chance für ihn ist, Sina doch besser kennen zu lernen, dann will Fabian sie nutzen. Er holt tief Luft, auch wenn ihm das mit seinem Herz, das offensichtlich seine Luftröhre blockiert, schwer fällt. Und dann fragt er etwas heiser.

»Magst du… Schaukeln?«

Sina lächelt verschmitzt.

»Wer mag Schaukeln denn schon nicht?«, entgegnet sie amüsiert. Die Blicke und das Getuschel der anderen sind ihm ja sowas von egal.

»Ein paar Straßen weiter ist ein Spielplatz«, nuschelt er verlegen.

»Na, dann geh ich mein Bier bezahlen und dann können wir schaukeln gehen«, sagt sie, als das Lied ausgeklungen ist. Fabian sieht ihr nach, als sie zur Bar hinüber geht. Er wird gleich mit Sina im Dunkeln auf einen Spielplatz gehen und schaukeln. Kein Träumer hin oder her, das Träumen hat sich definitiv gelohnt.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Ur
2011-10-04T23:46:14+00:00 05.10.2011 01:46
inkheartop

Ich hatte ja wirklich viel von Fabian erwartet. Er hat diese Erwartungen vollständig erfüllt ;)
Ich mag ihn. Ich mag diese Charaktere, die mit sich selbst im Reinen sind. Und ich mag diese "Schönheitskönigin-Nerd"-Beziehungen (ich finde "Schönheitskönigin" ist das falsche Wort für Sina, aber mir fällt grade kein anderes ein). Sina und Fabian passen da beide sehr gut rein. Und sie passen gut zusammen, weil... hm, ich glaube, sie haben beide nicht denjenigen erwartet, mit dem sie dann letztendlich den Abend verbracht haben. Ich mag's wie das rüberkommt.

Hab ich schon gesagt, dass ich diese Geschichte mag?
Ich mag sie :)

Von:  Ur
2011-10-04T23:46:02+00:00 05.10.2011 01:46
Inu_Julia

Fabian ist zauberhaft :D Wie er Sina so lange anhimmelt und sie es nicht einmal ahnt und sich dann selbst so in ihn verguckt <3 Hach jaaah :D Jetzt liebe ich sie noch mehr XD Sie ist einfach der Inbegriff einer perfekten Powerfrau haha XD Und.. Schaukeln :D Was gibt es schöneres? Und es ist irgendwie total romantisch haha :D
Ich hoffe, dass Fabian auch noch einen größeren Auftritt in der eigentlichen Geschichte hat. Ich möchte ihn und Sina als Pärchen sehen haha <3

Von:  Ur
2011-10-04T23:45:46+00:00 05.10.2011 01:45
abgemeldet

DAS IST SOWAS VON ... niedlich ._. Ich erkenne mich in Fabian wieder. Nerd, Nerd und nochmal Nerd ... Und dann so eine klasse Frau wie Sina .. @_@ ... Kann mich da inkheartop nur anschließen. Es ist eine schöne Erinnerung daran, das es letztlich auf andere Dinge als Schönheit und Hobbies ankommt, um mit Menschen auszukommen. Oder sich gar mögen und lieben zu lernen. Auch ich mag, wie das rüberkommt.

--> GrayFox gefällt das.

Von:  Ur
2011-10-04T23:45:30+00:00 05.10.2011 01:45
Kaoru

Gott, ist das niedlich!

Ich mag Schaukeln auch - hab das Gefühl von Freiheit, fliegen, Luft... schon immer geliebt! Stolpere ich über einen Spielplatz, nehme ich mir oftmals die Zeit, meine Kindheit noch einmal aufleben zu lassen^^;

Ein schönes Kapitel - zeigt einem, dass man sich Träume bewahren und niemals aufgeben sollte. Manchmal lohnt es sich...

Von:  SessyFuchs
2011-10-04T22:54:13+00:00 05.10.2011 00:54
Ich mag ich mag ich mag Fabian *-*

Ich mag ihn dafür, dass er nicht einer dieser sabbernden Idioten ist.
Ich mag ihn dafür, dass er an seinen Träumen festhält und nicht aufgibt.
Ich mag ihn dafür, dass er Schaukeln mag.


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