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Drei weise Affen

nichts sehen, nichts hören, nichts sagen
von

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VIER

VIER
 


 

Ihre Hände zitterten nicht. Ihre Stimme war ganz klar, ganz ruhig. Ihre Augen fixierten abwechselnd die rothaarige Polizistin und den Mann, der neben ihr saß. Er stellte die meisten Fragen, sah nett aus, Dreitagebart und abgekaute Fingernägel, aber er lächelte. Wie die Rote. Sollte wohl beruhigend wirken, dabei brauchte sie gar keine Beruhigung.

Daphne gefiel das Sichtbarsein.

„Du bist eine wichtige Zeugin“, sagte der Polizist, Kommissar Flug hieß er. Flug. Wie Fliegen. Er sah sie ernst an und sprach erst weiter, als Daphne nickte. „Aber eins muss dir klar sein: das war unterlassene Hilfeleistung – und das ist strafbar.“

Sie nickte. Wieder.

Wusste sie.

Er zögerte nicht, bevor er weiter sprach. Flug redete einfach und Daphne hatte das Gefühl, dass er sie mochte. Dass er sie ernst nahm. „Wenn du also vor Gericht aussagst, dann wird dich die Gegenseite darauf festnageln…“

Gericht.

Es kam ihr vor wie ein schlechter guter Traum, so langsam. Sie hatte sich entschieden, für einen Augenblick ihre Unsichtbarkeit abzulegen und jetzt sah es so aus, als würde sie für immer sichtbar werden. Sie hatte einen Schritt gemacht.

Und hatte eine Lawine losgetreten.

„Sie ist noch minderjährig“, warf die Rote ein. „Wenigstens etwas.“ Sie zwinkerte Daphne zu. Noch nie hatte ihr jemand zugezwinkert.

Seltsames Gefühl.

Diese ganze Sache verselbstständigte sich. Aber vermutlich hatte Daphne auch zum ersten Mal die Fäden in der Hand, oder zumindest einen. Sie hatte ihre Geschichte erzählt, alles berichtet, was in der Nacht geschehen war.

Fast alles.

Felix war nicht vorgekommen, Ray auch nicht. Sie wusste nicht, ob sie damit einverstanden gewesen wären. Wahrscheinlich nicht.

Daphne tat es aber schließlich nicht für sie. Sondern für Marlon. Und für sich selbst, weil sie dann vielleicht endlich wieder in den Spiegel sehen konnte, weil sie dann vielleicht endlich die Chance hatte. Zu leben.

Leben wurde so unterschätzt.

„Dann wär’s das wohl“, sagte Flug. Er stand auf, Daphne zögerte noch einen Wimpernschlag zu lang – Gewohnheit, Gewohnheit – und drückte sich dann auch langsam aus ihrem Stuhl. Schüttelte die Hand des Polizisten, er hatte einen sehr festen, rauen Händedruck und der Ring an seinem Finger presste sich kühl in Daphnes Haut.

Sie lächelte ihn an. Versuchte es.

„Wir melden uns.“ Flug wandte sich zum Gehen, nickte der Roten, ihm zu folgen, aber sie blieb. Bei Daphne.

Eigentlich hieß sie Feldmann, aber der Name erschien Daphne so unpassend. Zu hart, harsch, zu nichtssagend. Sie war der erste Mensch, der sie wahrgenommen hatte. Nicht nur als das kleine Mädchen, minderjährig, sondern. Als Ebenbürtige.

Lange musterte die Rote sie, bevor sie sprach. Auf der einen Seite war das unangenehm, vermutlich weil sie noch nicht ans Angesehenwerden gewöhnt war. Auf der anderen Seite musste Daphne feststellen, dass wahrscheinlich niemand so recht an diese Art von Angesehenwerden gewöhnt war. Und das machte es schon fast normal. Ließ sie sich normal fühlen, so fern das überhaupt möglich war.

„Ich würde dich gerne etwas fragen“, sagte die Rote plötzlich. „Du musst nicht antworten, es… interessiert mich nur.“

Daphne runzelte die Stirn, zuckte mit den Schultern.

„Ich würde… es auch niemandem sagen…?“ Die Polizistin lächelte, sah mit einem Mal etwas unbeholfen aus. Sie hatte große Ähnlichkeit mit einem Teenager in diesem Moment.

„Okay“, meinte Daphne. Ihr Lächeln kam vermutlich genauso unsicher rüber, aber sie war ja auch ein Teenager, da durfte sie das. Sie war hier grade zum ersten Mal in ihrem Leben stark gewesen. Stark. Da durfte sie das.

„Du hast gesagt, dass da noch zwei andere waren. Die den Überfall auch gesehen haben. Warum willst du ihre Namen nicht sagen? Sie könnten helfen, sie könnten… helfen.“

Aus irgendeinem Grund überraschte die Frage nicht.

Wie auch? Flug hatte sie das schon gefragt – er war allerdings etwas strikter bei der Formulierung gewesen – und Daphne hatte daraufhin nur den Kopf geschüttelt. Weil es eine Privatsache war, in gewisser Hinsicht. In verrückter Hinsicht.

„Weil es niemanden etwas angeht“, sagte Daphne deshalb.

„Aber dem Opfer würde es sicher wichtig sein.“

„Es zu wissen, wer noch alles nichts getan hat?“, entgegnete sie zweifelnd.

„Punkt für dich.“ Die Rote nickte. „Trotzdem.“

Daphne überlegte. Weil sie es ja nicht sagen musste, sie konnte auch einfach gehen. Die Worte landeten wohl überlegt auf ihrer Zunge.

„Schüler sind grausam“, sagte sie. „Wenn sie etwas sagen würden, könnte es noch mehr Opfer geben. Und außerdem…“ Wenn Felix und Ray herausfänden, was Daphne so sagte, wären sie stinksauer. Zumindest Felix, dachte sie. Ray war da irgendwie schwer einzuschätzen. Ray war im Allgemeinen schwer einzuschätzen.

„Außerdem?“, hakte die Rote nach. Sie schien wirklich interessiert daran und Daphne überlegte, dass sie sich wirklich den richtigen Beruf gewählt hatte. Auch wenn diese harte-Polizisten-Nummer so gar nicht ins Bild passen wollte.

Sie hat sicherlich eine Waffe.

„Wenn ich sie verrate, zwinge ich sie zu etwas. Es ist ihre Sache. Wenn sie nichts tun wollen, werden sie nichts tun.“
 

Lange stand Felix einfach nur da, tat nichts. Er starrte Marlon an, starrte durch ihn hindurch, versuchte es zumindest. Und Marlon starrte zurück.

Es war die beschissenste Situation, die Felix je erlebt hatte. Je erleben würde. Er stand einfach nur da und atmete und sagte nichts, weil er den Mund nicht aufbekam, weil ihm alles so grässlich Leid tat. Weil er sich nicht traute.

Nach ziemlich langer Zeit, so kam es ihm vor, war es Marlon, der redete. Der „Setz dich“ sagte und zu dem Stuhl nickte, der neben seinem Bett stand. Wieder so ein Krankenhausstuhl, aber gepolstert diesmal, als würde das irgendetwas besser machen. Oder einfacher.

Er setzte sich.

„Was willst hier?“, fragte Marlon. Er klang misstrauisch, Felix konnte es ihm nicht verübeln. Er hätte sich selbst auch keinen Meter über den Weg getraut. Kein Stück. Und kein Lächeln, kein Grinsen, kein Garnichts würde das ändern.

Felix sah auf seine Hände, zwirbelte den Saum seines T-Shirts zwischen den Fingern.

„Nichts“, sagte er erst, zuckte mit den Schultern. Bevor er den Blick hob und zurückzuckte, weil der Andere ihn fixierte mit blauen Augen, so kalt. Eisig.

„Reden“, schob er hinterher, zu hastig, ließ seine Zunge über das eine Wort stolpern. „Nur Reden.“

Marlon zog die Brauen zusammen. Seine Mundwinkel zuckten und das Grinsen blieb, ein Lächeln noch. Fein und herablassend fast. Er lächelte. „Über was?“

Schulterzucken. Auf die Erde starren. Den Kopf schütteln, damit vielleicht ein paar brauchbare Gedanken heraus fielen, einfach so.

Es tut mir leid.

Ohne es zu merken, hielt Felix die Luft an. Seine Hände zitterten mit einem Mal so heftig, dass er sie in seine Jeans krallen musste. Durchatmen. Fehlanzeige.

Tut mir leid.

„Freya kommt jeden Tag vorbei“, sagte Marlon plötzlich. Beinahe schien es so, als wollte er das Schweigen überbrücken, als sagte er nur etwas, um etwas zu sagen. Beinahe so, als wäre er so nervös wie Felix.

Ob er Angst hat vor mir?

„Seit ich wach bin zumindest, jeden Tag nach der Schule. Ein paar von den Mädchen waren auch schon da, aber die bleiben nie lange. Ist ganz gut so, die sind… ziemlich nervig…“

Er stockte.

Von den Jungs war noch keiner da, dachte Felix. Deshalb. Deshalb war Marlon so. Gewissen, es überschwappte ihn, eine Welle von Gewissen. Bitter. Er wollte etwas sagen, wollte wirklich, aber sein Mund war so verdammt staubtrocken und das Schlucken wollte nicht funktionieren und seine Zunge war so schwer und…

„Es tut mir leid“, sagte Felix.

„Ist nicht deine Schuld.“

Ihre Blicke trafen sich. Ja, da war Angst in seinen Augen, und da war Misstrauen. Was er wohl in Felix’ Augen sah, fragte er sich und wollte es sich gar nicht fragen.

„Doch“, beharrte Felix. Sein Herz klopfte. Schmerzhaft schnell. Aber er musste es jetzt sagen, er musste einfach. Sonst würde er sich immer so fühlen, sonst würde er nie… Marlon…

„Quatsch, du…“

„Ich war da.“

Marlon sah ihn an. Langsam, ganz langsam, breitete sich Verstehen auf seinem Gesicht auf. Auf seinem zerschlagenen, farbig schillernden Gesicht. Marlon sah ihn an und verstand, seine Züge erinnerten an eine Statue.

Bewegungslos. Hart.

Aus Stein.

Was?“, sagte er. Wisperte. Es zerschnitt die Luft. Felix antwortete nicht. Besser nicht reden. Nicht mehr, er hatte alles gesagt.

Alles. Gesagt.

„Du warst da?“, wiederholte Marlon, er war schneller vom Bett gesprungen, als Felix reagieren konnte, er stand vor ihm, über ihm, nackte Füße auf dem kalten Boden. Er sah so wütend aus.

„Warum hast du nichts getan? Warum hast du zugelassen, dass…“ Er zog sein T-Shirt ein Stück nach oben und sein Bauch war so nah. Ein Verband, weiß und fest, gebunden bis hoch zu seiner Brust. „… dass das passiert? Warum?“ Marlon packte ihn an den Schultern, grob und fest und Felix wusste, dass er es verdient hatte.

Dann ließ Marlon ihn los.

„Raus“, sagte er, drehte sich weg von ihm. Das war also die kalte Schulter. „Verschwinde.“
 

Ray war nicht gerade klein. Er überragte ohnehin schon den Großteil seiner Stufe um mindestens einen Kopf, aber Franky und Chris gehörten nicht dazu. Pech.

„Was willst du damit sagen?“

Zur Hölle. Der Kerl presste die Wörter zwischen den Zähnen hervor, er stand jetzt so dicht vor ihm, dass winzige Spucketröpfchen auf seiner Nase landeten. Es war egal. Das war im Preis mit inbegriffen. Und irgendjemand musste dafür zahlen. Ray war bereit. Irgendwie.

„Was, Ray? Was?“, knurrte Franky. Noch standen er, Aurel und Phil entfernt von ihm, weiter weg als Chris zumindest. Aurels Augen huschten ständig über die Menge der Schüler, die sich um sie herumgruppiert hatten, tuschelnd, lauschend. Sehend.

Verstehend?

Vor fünf Minuten hatte es schon geklingelt, aber niemand rührte sich. Niemand außer den Jungs in der Mitte. Ray konnte die Gefahr riechen. Sie tropfte wie Regen auf ihn herab, umklammerte wie Wurzeln seine Beine.

Sie hielt ihn nicht vom Reden ab.

„Ihr sollt es zugeben, Chris“, sagte er. „Ich hab euch gesehen.“

Er hätte schwören können, dass sie bleich wurden, Farbe verloren. Die durchschaubaren Gesichter standen ihnen gut.

„Was? Was gesehen?“ Franky klang wie eine alte, kratzige Schallplatte, die hängen geblieben war an genau der Stelle, die Ray am wenigsten leiden konnte. Er wusste es. Sie wussten es alle, nicht nur weil Ray sich sehr deutlich ausgedrückt hatte. Sehr deutlich. Marlons Name war gefallen.

Und deshalb. Zuckte Ray nur mit den Schultern als Antwort.

Und das. War sein Fehler.

Mit Worten konnten sie umgehen, diese Kerle, mit Flüchen und ausgesprochener Wut, sie waren nicht umsonst auf dem Gymnasium. Aber Sprachlosigkeit, stumme, stille Sprachlosigkeit traf Nerven von denen sie nicht einmal etwas geahnt hatten.

Es brauchte keine Minute, dann lag Ray im Dreck. Schmerzen, da waren Schmerzen, aber nicht besonders heftig und er war kein Weichei.

Verdammt!

Frank beugte sich über ihn. Er hatte zuerst ausgeholt, hatte als Erster die Kontrolle verloren. Während Aurel sogar jetzt noch zögerte, Ray hörte seine Stimme durch das Rauschen in seinen Ohren. Blut wie Donner.

„Franky! Scheiße, da… Lehrer!“

Ob er das beabsichtigt hatte? Wenn er ehrlich war, nein. Dass Lehrer sie sehen würden, daran hatte er gar nicht gedacht, aber es konnte ihm doch nur recht sein. Er versuchte, sich hochzustemmen, der raue Asphalt drückte in seinen Rücken, zog an ihm. Halb hatte er sich schon aufgerichtet, da stieß ein Fuß ihn zurück, ließ es wirken wie ein Versehen. In diesem Moment hätte Ray ihm so gerne die Fresse poliert.

Um ihn herum wurde das Getuschel lauter, schwoll zu einem durchdringenden Brummen an und heraus hoben sich wilde Schimpfwörter, von Franky, von Chris, sogar von den Lehrern, die wohl herbeigeeilt kamen, aber niemand nahm wirklich von ihnen Notiz.

Unsichtbar. Sie waren so unsichtbar.

Ohne es zu wollen, dachte Ray an das Geistmädchen. An Felix, an Marlon. Letztendlich sogar an sich selbst. Alles schien irgendwie verbunden zu sein, Knoten auf einer einzigen Schnur.

Ray dachte.

Es tat weh. Er rappelte sich auf, langsam, aber sicher. Franky starrte ihn an, große, blaue Augen, wütend.

„Gib es zu“, sagte Ray. Egal was die anderen taten, sagten, hören wollten. Egal. Es zählte nur dieser Schmerz, der sich durch seinen Körper hämmerte. Nur das.

Gewissen.

„Nein“, sagte Franky wieder. Es klang zornig. Es klang verzweifelt. Und dann – und Ray würde ihn auf ewig für diese Worte verabscheuen: „Der Arschficker hat es doch verdient.“

Ab da dachte Ray gar nicht mehr. Vermutlich besser so.

Entgegen aller Gerüchte, und davon gab es genug, schlug er nicht gerne. Schlagen bedeutete, dass man sich hatte provozieren lassen und Provokation bedeutete.

Interesse.

Nicht egal.

Jetzt.

Nicht.

Mehr.

Egal.



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