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Drei weise Affen

nichts sehen, nichts hören, nichts sagen
von

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FÜNF

FÜNF
 


 

Tage später.

Sommerlicht schien durch die Fenster und da draußen war die Welt so groß wie selten zuvor. Ray hörte die Vögel oben in der Luft und die Autos unten auf der Straße. Sein Blick klebte auf dem schmalen Streifen Gras, der den grauen Asphalt von dem Straßenkiosk trennte.

Da wäre er jetzt gerne.

Viel zu früh war er hergekommen, stand sich jetzt die Beine in den Bauch. Aber er hätte es keine Sekunde länger in der Schule ausgehalten, war so schnell gerannt wie er nur konnte. Und hatte die Blicke noch Kilometer weiter auf seinem Rücken gespürt. Auf seinem Rücken, den Schultern, den Händen.

Die in seinem Kurs hatten ihn angesehen wie… wie… er wusste nicht einmal ein Wort dafür, es war alles zu seltsam.

Was war er?

Ein Held, nur weil er den Mund aufgemacht hatte?

Ein Schläger, nur weil er etwas getan hatte?

Ein Feigling, weil er nichts hatte verhindern können?

Wer war er? Diese Frage stellte sich zum ersten Mal. Und Ray konnte sie nicht beantworten. Konnte das überhaupt irgendjemand.

Als er Schritte auf der Treppe hinter sich hörte, drehte er sich um. Ihr schien kurz der Atem zu fehlen, sie waren im dritten Stock. Von jedem anderen hätte Ray ein Lächeln erwartet, aufmunternde Worte, die ihr Ziel nur verfehlten. Vielleicht auch ein paar Flüche, weil Ray nicht auf sie gewartet hatte, obwohl sie zusammen hatten herkommen wollen.

Von jedem anderen.

Daphne war nicht jeder andere und Ray erwartete nie etwas. Nicht von ihr, nicht von irgendwem.

Sie stellte sich neben ihn ans Fenster, schien den Himmel zu betrachten, blau über der stahlsteinernen Stadt. Ihre Hände zitterten ein bisschen, schlossen sich um die Kante des Fensterbretts.

„Wie heißt du eigentlich?“, fragte Ray. Kam sich unsagbar dämlich dabei vor. Weil sie doch so viel gemeinsam hatten, erlebt hatten, weil sie… verdammt dämlich.

„Daphne“, sagte sie. Hauchte sie, aus ihrem Mund klang es wie ein einziger Atemzug. Sie lächelte. Ihn an. Sah schüchtern dabei aus, und hübsch. So hellhübsch, hätte er nie für möglich gehalten. Immer noch war sie ein bisschen blass, so um die Nase herum, und durchsichtig wie ein Geist.

Ein stilles Lachen, ein Leuchten in ihren Augen, als sie den Mund öffnete.

„Was ist?“, murmelte Daphne. Gott, der Name passte so gut zu ihr.

Ray zuckte mit den Schultern. Und mit einiger Verspätung antwortete er „Nichts.“.

Sie nickte. Wandte sich wieder dem Fenster zu. War so anders als alle, die er kannte, bemerkte Ray. Nicht nur anders geworden im Lauf der letzten Wochen. Damit wäre er ja klar gekommen.

Anders. Ungewöhnlich wäre wohl der passende Ausdruck. Und damit konnte er nicht umgehen.

„Du bist nicht so für Smalltalk, hm?“, meinte er. Unten auf der Straße fuhr ein Polizeiauto vorbei. Einfach so. Ray spürte, wie sein Herzschlag sich beschleunigte. Der Motor in ihm drin.

„Nein“, entgegnete Daphne schlicht. „Du heißt nicht wirklich Ray, oder?“

Interessanter Themenwechsel, dachte Ray und schüttelte den Kopf. Sie sah noch immer aus dem Fenster, er sah sie an. Noch immer, schon wieder. Keine Ahnung, es fiel ihm nur plötzlich auf.

„Ramon“, sagte Ray. Sagte Ramon. Er hatte den Namen schon so lange nicht mehr in den Mund genommen, dass er ganz vergilbt schmeckte. Einen Nachgeschmack hinterließ.

Es dauerte eine Weile bis Daphne sprach. Und dann zögerte sie mit den Worten, als wüsste sie nicht ganz, wohin damit.

„Auf… dem Schulhof, da… vor ein paar Tagen…“

„Er hat provoziert!“ Ray wusste gar nicht, warum er sich unbedingt verteidigen wollte. „Er hat beschissene Sachen gesagt und…“

„Du hast dich provozieren lassen“, unterbrach Daphne ihn, runzelte die Stirn und wandte sich ihm zu. So plötzlich, dass er nach Luft schnappen wollte. Harte Augen.

„Ich weiß.“

„Gut.“

Schweigen. Bis die dunkle Türe am Ende des Ganges aufschwang und jemand Rays Namen rief. Eine dunkle Stimme und die Augen des Mannes stachen auf ihn ein, als er sich langsam auf ihn zu bewegte. Verflucht, er hatte noch nie in seinem Leben solches Herzrasen gehabt.
 

Tage später.

Und Daphne wünschte sich manchmal wirklich, wieder verschwinden zu können in ihrer Einsamkeit. Nie hätte sie gedacht, dass es auch noch einen Unterschied gab zwischen gesehen und angeglotzt werden.

Wie ein Tier im Zoo.

Es wurde getuschelt, wohin sie auch ging und ihre Blicke klebten an ihr. Wäre es Ray nicht genauso ergangen, hätte sie vermutlich den Verstand verloren.

Manchmal fiel Daphne noch zurück in alte Muster und beobachtete. Wollte beobachten, weil irgendwie funktionierte das nicht mehr richtig, seit sie selbst geradezu verfolgt wurde. Oder sich zumindest so fühlte.

Trotzdem. Waren da immer noch Dinge. Dinge, die sie auffing wie die Sonnenstrahlen, die die letzten Wochen vor den Ferien in ein unwirklich warmes gutes Licht tauchten.

Marlon war immer noch nicht wieder da. Überall kursierten Gerüchte, er wäre gelähmt oder psychisch instabil, aber niemand wusste wirklich etwas. Bis Freya irgendwann die Geduld verlor, es war nicht weiter verwunderlich.

Es war die Pause vor dem Nachmittagsunterricht, die meisten ließen sich den Sommer ins Gesicht scheinen, redeten, aßen, manche machten Hausaufgaben. Daphne saß im Schatten des Schulgebäudes und versuchte, sich auf den Text in ihrem Wirtschaftsbuch zu konzentrieren. Einige Meter von ihr entfernt lachten ein paar Leute aus ihrer Stufe ständig auf, redeten in einer unglaublichen Lautstärke.

Freya war bei ihnen, aber sie blieb still wie gewöhnlich. Ohne Marlon erschien sie immer etwas verloren, seit der Sache mit Ray, Daphne und dem Gericht irgendwie noch mehr.

Daphne verstand nicht genau, wer was sagte, aber plötzlich sprang Freya auf.

„Hört endlich auf mit dem Scheiß!“ Man hörte sie auf dem ganzen Schulhof. „Wenn ihr’s unbedingt wissen wollt: Marlon kommt nächste Woche wieder her. Es geht ihm gut. Er ist nicht krank, er ist verdammt stark.“

Sie atmete. Tief durch.

Um sie herum war es still.

„Wenn ihr ihn einfach besuchen würdet, ihn fragen würdet, wie’s ihm geht, müsstet ihr nicht so einen Schwachsinn erfinden“, zischte Freya. Ja, jetzt war es nur noch ein Zischen, ihre Augen blitzten dabei und ihr Mund verzog sich zu einer hässlich mutigen Kluft. „Aber ihr kommt einfach nicht damit klar, dass er auf Jungs steht.“

Und damit traf sie den Nagel nun mal auf den Kopf.

Freya wirbelte herum und bevor sie davon stürmte, warf sie Daphne noch einen Blick zu. Undeutbar, aber sie nickte, kaum merklich.

Die Anderen brauchten eine Weile bis sie sich erholt hatten. Dann ging das Flüstern los, wie Daphne es nicht anders erwartet hatte. Keine fünf Minuten später setzte Ray sich neben sie. Wie sie es nicht anders erwartet hatte.

„Das hat noch gefehlt“, meinte er.

„Natürlich“, sagte sie wie selbstverständlich, senkte den Blick wieder auf ihr Buch. „Hast du Marlon noch mal besucht?“ Aus dem Augenwinkel sah sie, wie Ray den Kopf schüttelte.

„Ich glaube nicht, dass er uns sehen will.“

Der Text sagte irgendetwas von der Wichtigkeit der Ausbauung internationaler Wirtschaftbeziehungen, aber Daphne verstand kein Wort mehr. Resigniert seufzend klappte sie das Buch zu, musterte Ray von oben bis unten. Er sah anders aus als sonst, heller irgendwie. Und obwohl Pause war, hing er nicht in der Raucherecke herum. Der Glimmstängel fehlte auf eine seltsame Art und Weise.

Ray ohne Zigarette. Wie Freya ohne Marlon.

„Ich glaube, dass Felix bei ihm war“, sagte Daphne. Sie hatte lange darüber nachgedacht, warum Felix noch verschlossener wirkte als normalerweise. Ihr und Ray gegenüber zumindest, er klebte förmlich an Luka und Panne und seinen anderen Kumpels. Lachte viel.

Es sah grässlich falsch aus.

Ray runzelte die Stirn. Er hatte ihr erzählt, was er über Felix dachte. Eigentlich hielt er nicht besonders viel von ihm. Felix hatte nicht gegen Franky und Chris ausgesagt.

Feigling. Manchmal war es so offensichtlich, was Ray gerade im Kopf herum ging.

„Dann hat er ja doch was getan“, grinste er, freudlos.

„Es war ziemlich mutig.“

Überrascht hob er die Brauen. „Mutig? Und was waren dann wir, du und ich?“

„Spiel dich nicht so auf“, wies Daphne ihn ruhig zurecht. „Für ihn war es mutig.“ Sie zögerte. „Und er sieht verändert aus.“

Ziemlich weit von ihnen entfernt saß Felix, Ray warf ihm einen abfälligen Blick zu. Fast wäre Daphne wütend geworden; manchmal verstand sie ihn einfach nicht.

„Ramon…“

Er unterbrach sie harsch. „Weißt du, ich kapier diesen Kerl nicht. Er tut so cool und als wären er und seine Freunde der Mittelpunkt des Universums. Aber er kriegt die Klappe nicht auf und deshalb kriegen wir alles ab. Wir, Daphne, wir zwei…“

Sie verstand ihn einfach nicht. Sie hätte nicht gedacht, dass er mit der geballten Aufmerksamkeit so schlecht umgehen konnte.

Aber das war das Opfer, das sie geben mussten. Auch wenn Daphne es eher als Geschenk ansah.

Denn eigentlich – eigentlich, ja – gefiel ihr ihre Sichtbarkeit ganz gut. Freya hatte ihr zugenickt. War ein gutes Gefühl gewesen.
 

Stunden später.

Nur Stunden. Felix’ Zimmer kam ihm von Tag zu Tag mehr wie ein Gefängnis vor. Wie eine Falle, wenn er hier saß, mit Luka und Panne. Er versuchte wirklich, nicht an Marlon zu denken. Oder an Ray oder Daphne. Er versuchte es.

Aber.

„Ich find es immer noch krass“, sagte Panne, hob den Kopf von der Geschichtsaufgabe, die er grade beantwortete. Luka zerbrach sich den Kopf an der französischen Übersetzung und Felix löste Mathe. Wollte zumindest.

Verdammt.

„Schon“, murmelte Luka, kaute am Ende seines Stifts herum. Er hörte gar nicht richtig zu.

„Ich meine“, redete Panne weiter und löste sich endgültig vom Absolutismus. Stürzte Felix ins Verderben, ohne es auch nur ansatzweise zu bemerken.

„Ray kennt Marlon doch gar nicht. Ist im Abschlussjahrgang, dem könnte der doch am Arsch… also, der interessiert den doch gar nicht.“ Er zuckte mit den Schultern, runzelte die Stirn. „Er hätte nichts sagen müssen. Und dieses Mädchen, diese… wie heißt die noch mal? Egal, die jedenfalls auch nicht.“

„Die ist bei uns in Französisch“, sagte Luka. Legte seinen Stift weg, er sah genervt aus. „Könnten wir uns jetzt wieder darauf konzentrieren? Wegen dem Schwuchtelgerede lass ich mir nicht meine Note versauen.“

Panne sah ihn lange an, als wollte er noch etwas erwidern, verdrehte dann aber zu Felix gewandt die Augen, grinste und widmete sich wieder Geschichte.

Fünf Minuten, länger hielt Felix es nicht mehr aus. Die Zahlen ergaben zum ersten Mal seit Jahren keinen Sinn mehr, die Formeln wirbelten durch seinen Kopf wie in einem Windkanal. Er rappelte sich auf, murmelte etwas von wegen „was zu trinken holen“. Stürzte aus dem Zimmer und die Treppe hinunter in die Küche.

Seine Hände zitterten, seine Beine waren weich wie flüssiges Wachs, bebend und schwach und heiß.

Feigling, rauschte der Wasserhahn, als Felix ihn aufdrehte und kaltes, eiskaltes Wasser in ein Glas fließen ließ.

Verräter, brummte der Kühlschrank. Lügner.

MarlonMarlonMarlonMarlonMarlonMarlonMarlonMarlonMarlon…

Das Glas rutschte aus seinen Fingern, zerschlug klirrend auf den Fliesen. Die Scherben glitzerten im Licht, das durch das Fenster fiel, das Wasser drum herum glänzte matt wie ein ungeputzter Spiegel.

Felix krallte sich an der Küchenzeile fest. Die Arbeitsplatte war sein Anker, die Welt um ihn verdrehte sich und er… er… starrte auf die Glasscherben am Boden.

Scherben.

„Warum hast du nichts getan? Warum hast du zugelassen, dass das passiert? Warum?“ Warum, warum. Er wusste es doch selbst nicht, wusste nicht, warum. Wusste nicht, was ihn so verrückt machte in den letzten Wochen. So verrückt, dass er nicht mehr wusste, wo oben war, wo unten.

Wusste nichts mehr.

Freak, schrie sein Kopf. FREAK.

Ob Marlon wohl das gleiche…?

„He, Mann, du brauchst ganz schön lang zum… was ist denn hier passiert?“ Luka stand vor ihm, vor den Scherben, runzelte die Stirn.

„Nichts“, meinte Felix nur. Hätte besser die Klappe gehalten, weil seine Stimme ganz kratzig klang, ganz rau und heiser. Lukas Gesicht verzog sich noch mehr.

„Wirst du schon wieder krank?“, fragte er, kam noch ein paar Schritte näher, bis Felix die Hände hob – schwankte, hoffentlich nicht zu auffällig – und ihn stoppte.

„Schon gut“, sagte er, hastig, haspelnd. „Du… pass bloß auf.“

Nicht näher.

„Ich bin kein Mädchen, Alter“, schüttelte Luka den Kopf und grinste verhalten. Es sah so verdammt falsch aus in diesem Moment. „Die paar Scherben…“

„Ich mach das schon!“ Er machte einen großen Schritt über die Pfütze hinweg und sah sich unkonzentriert nach der Kehrschaufel um, die musste doch hier irgendwo sein. Irgendwo, sicher.

„Du bist komisch in letzter Zeit“, meinte er plötzlich. Felix blieb stehen, steif und festgefroren. Mitten im Sommer.

Luka klang misstrauisch.

„Quatsch“, murmelte Felix, aber er rührte sich immer noch nicht. Konnte nicht.

„Kein Quatsch.“

Natürlich nicht. Er war sein bester Freund. Wie hatte Felix auch nur denken können, dass Luka nichts auffallen würde? Wie hatte er nur?

Gewollt.

Aber. Aber. Aber.

„Seit n paar Wochen biste so schräg drauf.“

Wieder: „Quatsch.“ Er hob jetzt den Kopf und grinste, als wäre alles gut, als wäre alles perfekt. Normal halt.

„Okay“, murmelte Luka, mehr oder weniger verwirrt, eher mehr, gerade als Felix die Kehrschaufel fand und sich daran machte, die Scherben in den Mülleimer zu verfrachten. Wo sie hingehörten. Scherben gehörten in den Müll.

Er ließ zu, dass Luka sich zu ihm beugte und half. Konnte irgendwie nichts dagegen machen, obwohl er es grade nicht ertrug, nichts mehr ertrug.

„Panne labert wieder nur Scheiße“, sagte Luka irgendwann, im Plauderton.

Als wäre. Alles. Normal.

Verrückt, oder?

„Hm“, machte Felix.

„Als müsste man um die Tucke so einen Auflauf machen. Ist doch egal. N bisschen krank war die Aktion ja schon.“

„Schon.“

„Aber er hätte sich ja selber verteidigen können.“

Konnte er nicht, dachte Felix. Konnte er nicht.

„Der hat’s halt nicht drauf, der…“

„Luka…“

Hör auf. Hör auf. Wer sollte aufhören? Luka oder Felix? Felix? Er war so erschöpft, er konnte nicht mehr. Konnte sich nicht mehr.

Verteidigen.

„Was?“, hakte Luka nach. Sein Gesicht war genau vor dem Felix’, so scheiße nah, dass ihm schlecht werden wollte.

Konnte nicht mehr. Wollte nicht mehr. Scheiß auf alles.

„Du kennst Marlon. Der ist voll in Ordnung, also…“

„Er ist ne Schwuchtel, Felix. Ne Tunte, ein Ar…“

„Scheiße, Luka!“ Felix stand auf, Luka mit ihm und… es war vorbei, er sah es in seinen Augen. In diesen Augen.

„Verteidigst du ihn?“, fragte Luka. Kniff die Augen zusammen, als müsste er sein Bild von seinem besten Freund neu einstellen. Scharf stellen. Als würde er ihn nicht erkennen. „Was soll das?“

„Ich… ich war da.“

„Wo?“

„Als Franky und… als sie Marlon zusammengeschlagen haben“, sagte Felix. Heiser. Leise. Luka starrte ihn an.

„Warum hast du nichts gesagt?“

Warum. Schon wieder dieses Wort, wieder. Es schien ihn zu verfolgen. Warum, Felix? Warum?

„Als wüsstest du das nicht“, murmelte er.

Zu seiner Überraschung lachte Luka auf, laut und selbstsicher. Sicher.

„Dass du…? Schwachsinn, du doch nicht, Feli, du doch nicht.“ Er lachte. Lachte.

Er sah so schön aus, wenn er lachte.

Er packte ihn an der Schulter, aber sein Grinsen verschwand, als Felix zurückzuckte. Sich losriss.

„Und wenn doch? Fuck, was wenn doch?“, knurrte er. Musste wegsehen, musste hinsehen. In Lukas Gesicht, in das Gesicht seines besten Freundes. Das sich verzog, eine Grimasse wurde, eine Maske. Kalt. Kälter.

„Das meinst du nicht ernst“, flüsterte Luka. Zischte es. Kälter.

Er stolperte zurück, ein paar Schritte, als hätte er sich verbrannt. Strich sich übers Gesicht, über den Mund, übers Kinn. Drehte sich um und…

Im Türrahmen stand Panne.

Kurz blieb Luka stehen, dann drängte er sich an ihm vorbei. Felix sah ihm nach, sah Panne an, durch ihn hindurch.

Weg. Er war weg, gegangen.

„Bist du… wirklich… ich meine…“ Panne fixierte einen Punkt hinter Felix. Er sagte nichts. Nichts mehr. Er hatte das Gefühl, genug gesagt zu haben für sein restliches Leben.
 

Jeder wusste es.

In der ersten Stunde war es noch still. Zumindest im Vergleich zu dem, was in den nächsten Tagen sein sollte.

Aber es war kalt. Im Zimmer, die Luft so eisig und Daphne sah ziemlich schnell, woran das lag. Es wunderte sie nicht, nicht besonders. Sie hatte es nur nicht so bald erwartet.

Felix sah einsam aus, saß an seinem Platz am Fenster, den Kopf gesenkt. Daphne kannte diese Haltung, war lange genug selbst so gewesen, ganz genau so. Er wollte sich unsichtbar machen. Und würde es nicht schaffen.

„Irgendwann kommt ein Zeitpunkt, an dem man sich entscheiden muss, ob man unsichtbar sein will“, sagte Daphne in der Pause zu Ray. „Danach gibt’s nichts mehr. Nicht für welche wie ihn.“

Ray nickte. Inzwischen hatte es sich schon herumgesprochen; zwischen Luka und Felix war auch genug Abstand, um das, was als Gerücht angefangen hatte, noch zu bestärken.

Es war ein bisschen wie Verkehrte Welt. Verdreht, verunglückt, abgestürzt. Daphne hätte gerne etwas zu Felix gesagt, irgendetwas, aber ihr fehlten die richtigen Worte dafür. Weil es keine gab dafür. Sie musste es wissen.

„Ich frag mich“, murmelte Ray, kratzte mit der Schuhspitze auf dem Boden herum, senkte die Stimme, „was er jetzt machen wird.“

„Was alle jetzt machen werden. Uns eingeschlossen.“

Er sah sie an. „Was wirst du machen?“

Die Frage, auf die sie keine Antwort wusste. Eigentlich suchte sie schon danach seit Ray ihr von seiner Vermutung erzählt hatte. Was wollte sie tun?

Sichtbarsein war unglaublich kompliziert, sie stellte es immer wieder fest.

„Du?“ Und ihre Mitschüler waren anscheinend genauso wenig daran gewöhnt wie Daphne selbst; sie mussten ihren Namen erst noch lernen.

Daphne drehte sich um, gerade als es zur nächsten Stunde klingelte. Noch immer war Angesprochenwerden eigenartig, seltsam. Noch immer war sie sich nicht sicher, ob Freya jetzt wirklich sie an oder nur durch sie hindurch sah.

„Kann ich… kurz mit dir reden?“

Ray warf ihr einen Blick zu, zuckte mit den Schultern und ging. Mit seinem Ellbogen strich er zufällig über ihren Rücken. Wie zufällig, tatsächlich.

„Was ist?“, fragte Daphne. Ihre Stimme ging fast im Gerede um sie herum unter.

„Ich hab mit Marlon geredet. Endlich mal.“ Erleichterung. „Normalerweise ist er nicht so… schweigsam.“

Daphne nickte. Einfach weil sie das Gefühl hatte, irgendetwas tun zu müssen. War das Konversation? Smalltalk? Schwierig.

„Na ja, und er hat gesagt, dass…“ Freya zögerte und ihr Blick schwang über Daphnes Kopf hinweg. Sie war diskret, das schon.

„Hör mal“, fing sie neu an, seufzte, „ich hab nichts gegen dich oder Ray, ja? Ich will nur, dass es Marlon gut geht…“

Die meisten Schüler waren aus dem Eingangsbereich verschwunden, nur ein paar trödelten noch oder genossen ihre Freistunde. Freya sah sich trotzdem um, als könne man sie belauschen.

„Ihr steht zu euren Fehlern, aber… Felix war bei Marlon, weiß du?“

„Ich hab’s mir gedacht“, sagte Daphne, aber es überraschte sie doch ein wenig. Dass Freya davon wusste. Denn in diesem Fall musste es eine wichtige Begegnung gewesen sein.

Eine Weile schwieg Freya. Unruhig huschten ihre Augen hin und her, durch die Luft und über den Boden. Vermutlich fragte sie sich gerade, warum sie Daphne überhaupt angesprochen hatte. Denn Daphne selbst wusste es nicht.

„Es tut ihm weh“, meinte Freya, als sie schon gar nicht mehr damit gerechnet hatte. „Die ganze Verhandlung war schon schwierig genug und er hat… Alpträume. Angst.“

AngstAngstAngst. Ein bekanntes Gefühl.

„Ich hätte nicht gedacht, dass Felix… ist wie er. Er denkt es wahrscheinlich auch nicht.“

„Felix ist nicht wie Marlon.“ Daphne schüttelte den Kopf. „Er ist ganz anders. Er kommt damit nicht klar…“

„Denkst du, Marlon kam immer damit klar?“

Darüber hatte Daphne sich noch nie Gedanken gemacht. Überhaupt hatte sie sich relativ wenig Gedanken machen müssen, schließlich hatte sie niemanden gekannt. Niemand hatte sie gekannt.

„Die beiden sind sich so ähnlich“, lächelte Freya. Lächelte, tatsächlich. „Sie wissen es vermutlich nicht mal. Und beide… na ja…“ Sie unterbrach sich und sah Daphne direkt an. „So was darf nicht noch mal passieren.“

„Wird es nicht“, erwiderte sie. Meinte es vollkommen ernst. Nicht solange sie sichtbar war, nicht solange sie unsichtbar war. Nie wieder. „Ich versprech’s dir.“

Freya blieb skeptisch und Daphne konnte es ihr nicht verübeln. Mit ihren Schlägen hatten Franky, Chris, Aurel und Phileas viel mehr Schaden angerichtet, als bei Marlon zu sehen war. So viele Verletzungen.

Vertrauen, Zuversicht.

Normalität.

Alles.

Sie waren schon viel zu spät dran, da kam es auf ein paar Minuten mehr oder weniger auch nicht mehr an. „In was sind sich beide ähnlich?“, hakte Daphne nach, sie gingen gemeinsam die Treppe hinauf, sehr langsam.

„Merkst du das nicht?“ Freya seufzte, stumm, es war ein Luftholen, eine Gedankenpause. Nichts weiter. „Sie sind in denselben Jungen verliebt.“

Sie sagte es, als wäre es ganz normal. Nichts Besonderes.

Und eigentlich war es das ja auch nicht. Oder?



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Zzzonked
2010-06-05T15:19:52+00:00 05.06.2010 17:19
hi momo.
ich finde diese geschichte wundervoll.
ich kann jetzt nicht großartig was sagen, nur, dass ich sie so wundervoll finde, dass sie mich dazu inspiriert hat, etwas zu schreiben. einen liedtext. und weiß nicht... ._. ich finde, deine charaktere haben eine unglaubliche tiefe. dein schreibstil ist wundervoll. die geschichte ist sehr gut überlegt und... ach. es ist einfach mehr als toll und ich danke dir dafür. sorry, dass ich kaum etwas schreiben kann.
merci. takk. gracias. und so.



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