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Götterhauch

Löwenherz Chroniken III
von

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Privatdetektiv für ungewöhnliche Fälle

Als Anthony in die leer aussehende Haupthalle trat, fuhr er erschrocken zusammen, als er plötzlich eine Hand auf seiner Schulter spürte. Ein Blick zur Seite verriet ihm allerdings, dass es sich nur um Marc handelte, der ihm zulächelte. „Fertig mit deiner Unterhaltung?“

„Uhm...“ Er sah zwischen ihm und Rena hin und her. „Habt ihr auf mich gewartet?“

„Du hast heute so abwesend gewirkt“, erklärte das Mädchen. „Deswegen dachten wir, es wäre besser, wenn wir ein wenig bei dir bleiben. Hier weiß man nie so genau, wann jemand in Depressionen versinkt.“

Daran zweifelte Anthony keine Sekunde, wenn er sich vorstellte, dass noch andere Leute als er mit so vielen Fragen herumliefen, ohne je eine Antwort darauf zu bekommen – und sie nebenbei noch das Kämpfen lernen mussten.

„Aber wir wollten dich nicht bei deinem Gespräch mit Mrs. Lionheart unterbrechen“, fügte Marc hinzu. „Habt ihr alles geklärt?“

„So ziemlich.“ Er wollte seine Freunde nicht beunruhigen und ebenfalls mit Fragen quälen, deswegen antwortete er lediglich derart knapp. „Was wollt ihr heute machen?“

„Falls es dich nicht stört, möchte ich noch einmal in den Buchladen“, antwortete Rena. „Ich möchte die Bücher abholen, die ich letztes Mal aufgeschrieben habe.“

„Nein, kein Problem.“

Er hatte den Ort in guter Erinnerung, deswegen kümmerte es ihn nicht weiter, als er den beiden schließlich hinausfolgte und den Weg in die Buchhandlung antraten.

Als sie dieses Mal den Laden betraten, waren sie allerdings nicht allein. Hinter dem Tresen stand eine jung aussehende Frau, deren blondes Haar mit einem roten Band hochgebunden war, ihre adrette Kleidung, bestehend aus einer weißen Bluse, einer Weste und einer braunen Stoffhose, verriet sofort, dass sie die Inhaberin dieses Ladens war, auch wenn Anthony sich eine wesentlich ältere Frau vorgestellt hatte, nachdem seine Vorstellung eines älteren Herrn von Marc bereits zunichte gemacht worden war.

Sie unterhielt sich schmunzelnd mit einem Mann im Anzug, der vor dem Tresen stand. Anthony konnte nicht anders als direkt die Stirn zu runzeln, als er ihn sah. Das schwarze Haar, die stechendblauen kalten Augen, das Gesicht... alles an ihm sprach etwas direkt in Anthonys Inneren an. Nein, es sprach nicht ihn an, es sprach Kai an und dieser reagierte, wenn auch nur verschlafen. „Damian...“

„... und er ist genauso furchtbar, wie ich ihn in Erinnerung hatte“, sagte er gerade, als sie hereinkamen.

Auch die Stimme kannte Kai nur allzugut, wie Anthony spüren konnte. Ihm schien, dass der andere versuchte, aufzuwachen, die Kontrolle über ihn zu gelangen, es aber nicht schaffte – nicht zuletzt, weil Anthony es nicht zulassen wollte. Es war nicht die Zeit dafür und Kai war noch dazu viel zu schwach und müde, was immer ihm auch derart zu schaffen machte.

Als die beiden bemerkten, dass Kunden hereingekommen waren, hielten sie inne und sahen zu ihnen hinüber. Während die Frau lächelte, blieb der Blick des Mannes kalt. Er huschte von Rena zu Marc, verharrte auf diesem für einen Moment als würde er ihn erkennen und wanderte schlussendlich zu Anthony, der seine Hände gleich wieder in den Tragegurt seiner Tasche verkrampfen ließ. Er wusste, dass der Mann ihn erkannte, konnte es in seinen Augen lesen, er sah das Glitzern darin als sein Gegenüber feststellte, dass er sein Ziel erreicht hatte. Der Mann hob den Regenschirm, den er in seiner Hand hielt und schwang ihn über seine Schulter.

Anthonys Blick wanderte zu dem Griff des Schirms. Es war kaum zu sehen, aber er erkannte deutlich, dass ein zusätzlicher Knopf daran angebracht war, der Finger des Mannes schwebte darüber, bereit darauf zu drücken. Zwar konnte er nicht mit Sicherheit sagen, was geschehen würde, falls der Schalter gedrückt wurde, aber er wusste, dass er das gar nicht erleben wollte.

Rena kümmerte sich nicht um den Mann, sondern wandte sich direkt an die Frau: „He, Joy. Stören wir gerade?“

„Nicht im Mindesten“, versicherte die Angesprochene. „Ich habe die Bücher, die du haben wolltest herausgelegt, Rena.“

Dabei griff sie unter den Tresen, um etwas hervorzuholen.

Marc stieß Anthony an und deutete zu der Frau hinüber. „Das ist Joy de Silverburgh, die Schwester von Ryu. Du erinnerst dich, der Kellner im Café?“

Das violette Haar und die leblosen Augen waren ihm tatsächlich gut in Erinnerung geblieben. „Ja, tue ich. Aber ich wusste nicht, dass er eine Schwester hat.“

„Oh, er hat zwei. Aber Seline sieht man eher selten.“

Joy, die ihre Unterhaltung mitbekam, lachte spöttisch. „Wäre auch zu viel verlangt, wenn man wollte, dass sie arbeiten ging. Madame besteht immerhin darauf, dass sie eigentlich Kaiserin sein sollte.“

Anthony warf Marc einen fragenden Blick zu, dieser zuckte allerdings mit den Schultern.

„Es ist unwichtig“, erwiderte Joy, die auch das mitbekam. „Das musst du also nicht auf deine Liste der unbeantworteten Fragen setzen.“

Macht sie sich gerade über mich lustig?

Ihre Stimme klang zwar nicht im Mindesten nach Spott, aber ihre Worte verrieten zumindest, dass sie über seine Ratlosigkeit Bescheid wusste. Statt allerdings empört zu sein, wich er einen Schritt zurück. Selbst er konnte spüren, dass es besser war, es sich nicht mit dieser Frau zu verscherzen.

Der Mann wiederum zog plötzlich sein Handy hervor, richtete es auf Anthony und den neben ihm stehenden Marc und drückte eine Taste, worauf ein leises Klicken erklang, das er sich nicht erklären konnte.

Glücklicherweise nahm Marc es ihm gleich ab, dass er danach fragen musste: „He, Mister! Was wollen Sie mit dem Foto?“

Handys können fotografieren? Das wusste ich gar nicht.

Er war bereits einmal fotografiert worden, aber mit einer richtigen Kamera und keinem Handy. Vielleicht sollte er seines einmal auf all seine Funktionen überprüfen.

Marc stemmte den linken Arm in die Hüfte und sah den Fremden auffordernd an. Dieser ließ sich allerdings nicht im Mindesten einschüchtern, nicht zuletzt weil er um einiges älter schien als der Junge. „Du bist ein Campbell, oder?“

Unverhohlener Hass und Abscheu loderte in den Augen des Fremden auf. Offenbar war er nicht sonderlich gut auf diese Familie zu sprechen, Anthony wollte gar nicht wissen, was sie ihm wohl angetan haben mochten.

Einen kurzen Augenblick lang verließ sämtliche Farbe Marcs Gesicht, doch im nächsten Moment seufzte er bereits schwer. „Ich werde meinen Namen ändern, wenn ich 18 bin.“

„Sei nicht so hart zu ihm, Vincent.“ Joy hatte endlich alle Bücher auf dem Tresen gestapelt und nahm Renas Karte entgegen, um die Bezahlung vorzunehmen. „Marc ist ein guter Kerl, er hat seiner Familie den Rücken gekehrt und spendet jede Menge Geld an einen Opferverein.“

„Als ob Geld irgendetwas wiedergutmachen könnte“, erwiderte Vincent.

Marcs Mundwinkel zuckten, aber er verzichtete auf eine Replik, vermutlich weil er nicht wusste, was er sagen sollte oder weil er ebenfalls der Meinung war, dass er es sich nicht mit jemandem verscherzen sollte.

Anthony versuchte, seine Gedanken zu sammeln, damit er für seinen Freund eintreten konnte – aber Rena kam ihm zuvor. Überraschend fest als ob sie nichts erschüttern könnte, blickte sie Vincent entgegen. „Es ist besser als wenn Marc einfach dasitzen und so tun würde als ginge ihn das alles nichts an. Mag sein, dass diese Spenden nur ein Tropfen auf den heißen Stein sind und sie seine Familie nicht davon abhalten, dass sie weiterhin das tut, was sie tut. Aber im Moment bleiben ihm nicht viele andere Wege – und wenn Marc erst einmal seine Ausbildung beendet hat, wird er auch andere Mittel finden, da bin ich mir ganz sicher.“

Die Spannung war während der eingetretenen Stille im Anschluss deutlich greifbar. Anthony und Marc blickten Rena an, der eine wollte am liebsten applaudieren, der andere in Tränen ausbrechen. Joy sah schmunzelnd zu Vincent, der nach wie vor vollkommen unbewegt Renas Blick erwiderte.

Doch plötzlich – und Anthony spürte sofort, dass es eine äußerst seltene Gelegenheit war – verzogen sich seine Lippen zu einem Lächeln. „Ganz schön keck. Man merkt, dass du eine Chesst bist, junge Lady.“

Rena lächelte ebenfalls. „Sie kennen mich?“

„Als Privatdetektiv ist es unabdingbar, dass ich wichtige Personen kenne.“

Mit seiner freien Hand zog er eine Karte hervor, die er Anthony reichte, auch wenn dieser ein wenig weiter entfernt von ihm stand als Rena. Nur zögernd löste er die Hände vom Tragegurt seiner Tasche und nahm die Karte entgegen.

„Vincent Gene Valentine“, las er vor. „Privatdetektiv für ungewöhnliche Fälle.“

Darunter standen Telefonnummern und etwas, das ähnlich wie eine Internetadresse aussah. Ihn interessierte aber mehr, was unter ungewöhnliche Fälle zu verstehen war.

Marc, der ebenfalls auf die Karte gesehen hatte, hob den Blick wieder, um Vincent zu mustern. „Sie sehen gar nicht aus wie ein Detektiv. Wo ist Ihr Trenchcoat?“

„In der Reinigung“, erwiderte der Mann mit trockenem Humor. „Detektive besitzen nämlich prinzipiell nur einen, weil sie sich nicht mehr leisten können.“

Joy lachte leise. „Oh, du hast Humor entwickelt. Interessant.“

Als auch noch Marc zu lächeln begann, wäre Anthony am Liebsten direkt aus dem Laden gestürmt. Er traute Vincent nicht, auch wenn er spürte, dass dieser ihm zumindest im Moment nichts tun wollte. Und weil er ihm nicht traute, konnte er keine Sympathie für ihn spüren und er wollte auch nicht, dass seine Freunde ihn mochten. Schlagartig fühlte er sich wieder einsam, als ob alle auf einer anderen Seite standen als er und er eigentlich vollkommen unerwünscht war.

Aber er wollte auch nicht egoistisch sein und ihnen Vorschriften machen, vielleicht reagierte er ja auch nur über. Bedrückt ließ er ein wenig den Kopf sinken und steckte die Karte ein, auch wenn er das vollkommen unbewusst tat.

„Was haben Sie jetzt mit dem Foto vor?“, fragte Marc neugierig.

Vincents Lächeln erlosch. „Das ist meine Sache. Du kannst ja deine Eltern anrufen, wenn du es wissen willst.“

„Was wollen meine Eltern mit einem Foto von Tony?“

Der Detektiv zuckte mit den Schultern. „Das hat mich nicht zu interessieren.“

Marc runzelte die Stirn, stellte aber keine weiteren Fragen. Rena nahm die Bücher endlich an sich und bedankte sich bei Joy, die lächelnd abwinkte. „Du bist meine beste Kundin, ich habe dir zu danken. Und macht euch nichts aus Vincents finsterer Art, er jagt Kindern nur gern Angst ein, damit sie ihm nicht zu nahe kommen.“

Er warf ihr einen finsteren Blick zu, den sie allerdings nur mit einem Schmunzeln erwiderte.

„Mich hat es nicht gestört“, bemerkte Rena, verabschiedete sich und verließ den Laden wieder.

Anthony und Marc dagegen standen immer noch da und blickten Vincent an, als wäre es ihnen unmöglich, sich von der Stelle zu bewegen – und zumindest Ersterer hatte tatsächlich das Gefühl als wäre es auch so, nicht zuletzt weil Vincent ihm wieder direkt in die Augen sah. In seinem Blick lag eine unausgesprochene Drohung, nein, es war... eine Bitte. Anthony überkam das Gefühl, dass der Detektiv ihn mit aller non-verbaler Gewalt um etwas bat. Aber er verstand nicht, worum.

Zum Fragen blieb ihm allerdings auch keine Zeit, denn er konnte plötzlich spüren, dass Marc ihm am Ärmel zupfte. „Komm, lass uns gehen.“

Ein wenig eingeschüchtert verabschiedeten sich beide und gingen dann ebenfalls hinaus.

Vincent runzelte die Stirn, als die Tür sich hinter ihnen wieder geschlossen hatte. „Das war er also.“

„Mh-hm. Der Göttliche... live sieht er wesentlich besser aus als auf dem Monitor.“

„Ich finde, er sieht eher harmlos aus. Überraschend harmlos.“

Er ließ den Schirm wieder sinken und die Spitze davon laut auf dem Boden auftreffen. Joy neigte ein wenig den Kopf. „Was hast du denn erwartet? Einen Berserker? Ich hab dir doch gesagt, dass er eher süß erscheint.“

Er ignorierte ihren letzten Satz. „Ich weiß nicht. Dieser Russel hat mich glauben lassen, dass dieser Kerl uns jeden Moment alle in der Luft zerfetzen würde.“

„Vielleicht sollte Russel ihn dann auch einmal treffen, damit er sieht, dass nichts zu befürchten ist.“

„Ja, vielleicht... Vielleicht sollte er das wirklich.“
 

„Der Kerl war unheimlich“, bemerkte Marc, als sie endlich wieder zu Rena aufgeschlossen hatten.

Sie lief recht zielstrebig und ohne sich die schweren Bücher in ihrer Tasche anmerken zu lassen.

Anthony nickte zustimmend, ein wenig erleichtert darüber, dass sein Freund offenbar doch nicht sonderlich viel Sympathie für den Fremden empfand, aber das Mädchen zuckte nur mit den Schultern. „Ich weiß nicht. Ich fand den gar nicht so übel – ein bisschen steif vielleicht, aber nicht weiter gefährlich.“

„Oh ja!“ Marc legte einen Arm um ihre Schulter, als ihm etwas einfiel. „Danke, dass du für mich eingetreten bist! Du bist echt die Beste!“

Anthony spürte einen kurzen Stich von Eifersucht. Wenn er es nur geschafft hätte, seinen Mut zu sammeln, um selbst für Marc einzutreten... aber vielleicht war es auch besser so, dass er diese Rolle Rena überlassen hatte. Er sah zu ihr hinüber und bemerkte, dass sie ein wenig verlegen lächelte, ganz entgegen ihrer sonst so direkten Art. „Ach, das war doch nichts weiter. Irgendjemand muss dich doch in Schutz nehmen, wenn du das schon nicht allein hinkriegst.“

Die Worte klangen verletzend, aber ihr zärtlich neckender Tonfall verriet, dass sie es nicht so meinte und Marc schien das genau zu spüren oder er kannte sie bereits lange genug, dass er das wusste.

„Danke, Rena“, wiederholte er noch einmal mit einem ehrlichen Lächeln.

Es war das erste Mal, dass Anthony das Gefühl bekam Liebe sehen zu können und in diesem Moment war er nicht nur auf Rena eifersüchtig, der es galt, sondern auch auf Marc, der es fühlte.

Bislang hatte er sich nie Gedanken um so etwas gemacht, aber in diesem Augenblick wünschte er sich sehnlichst, ebenfalls einmal Liebe fühlen zu können.

Aber wie ging man so etwas an? Er sollte unbedingt einmal im Internet nach Dingen recherchieren, die mit Liebe zu tun hatten. Wenn all seine Fragen geklärt wären, hätte er dann gleich die nächste Sache, der er sich widmen könnte.

„Wollen wir essen gehen?“, fragte Rena plötzlich, der die Situation sichtlich unangenehm war – aber wohl nur weil Anthony ebenfalls anwesend war, Marcs Berührung schien ihr nämlich absolut nichts auszumachen.

Die beiden Jungen stimmten lächelnd zu. Nach dieser unheimlichen Begegnung von eben hatten beide nun Hunger, in der Hoffnung, das alles schnellstmöglich wieder zu vergessen.

Anthony war sogar recht egal, wo sie dieses Essen einnehmen würden – obwohl er ziemlich sicher war, dass er derjenige sein würde, der Marc einladen müsste.
 

Joel und Raymond waren bereits ebenfalls mit Essen beschäftigt. Wie üblich saßen sie nach Ende des Unterrichts gemeinsam im ansonsten verlassenen Lehrerzimmer und unterhielten sich nebenbei nicht nur über den Tag an sich oder die Schüler, sondern auch über ihre gemeinsame Vergangenheit, wie in diesem Moment.

„Hätte ich gewusst, wie nervig es sein kann, diesen Unterricht abzuhalten, hätte ich mich früher nicht über unseren Kampfpraxis-Lehrer beschwert“, murrte Joel, ehe er von seinem Sandwich abbiss und bedächtig kaute.

„Ich habe dir immer gesagt, dass er seinen Job mit bestem Wissen und Gewissen erfüllt“, erwiderte Raymond mit einem Schmunzeln. „Aber du meintest immer nur, dass ich aufhören soll, mit dem Feind zu sympathisieren.“

Joel seufzte theatralisch. „Ja und jetzt sieh uns an – du bist der Anführer der Feinde und ich bin ebenfalls einer von denen. Was ist nur aus uns geworden?“

Er schüttelte gespielt betrübt den Kopf, während Raymonds Lachen darüber sofort erstarb, als er die Person erkannte, die plötzlich hereinkam. Eigentlich wollte er sie lächelnd begrüßen, aber ihr Gesicht verriet ihm, dass es besser war, wenn er nichts sagte und stattdessen lieber den Kopf zwischen die Schultern zog und hoffte, dass ihr Zorn nicht ihm galt.

Ihr Blick blieb zu seinem Glück auf Joel geheftet, selbst als sie ein eher dünnes Buch an sich nahm, das einer der Lehrer für die Unterstufe auf seinem Tisch liegengelassen hatte und damit zielstrebig auf den arglosen Mann zuging.

Joel warf Raymond lediglich einen fragenden Blick zu, als er dessen Furcht bemerkte – und gab in der nächsten Sekunde einen Schrei von sich, der eher von Überraschung als Schmerz zeugte. Alona hatte immerhin nicht mit sonderlich viel Wucht zugeschlagen.

Dennoch hielt er sich den Hinterkopf und wandte sich ihr mit empörten Blick zu. „Was sollte das denn?“

Das war die Rache für unsere erste Begegnung, Chandler“, antwortete sie, holte noch einmal mit dem Buch aus und schlug ihm damit noch einmal auf den Kopf. „Und das ist für deine Unterrichtsmethode. Und das“ – sie schlug noch einmal zu – „dafür, dass du mir nichts davon gesagt hast!“

Nach diesen drei Treffern erhob Joel sich, damit er sie überragte und sie ihn nicht erneut schlagen konnte. „Woher weißt du davon?“

„Du versuchst nicht einmal, es abzustreiten?!“, fragte sie wütend. „Ist doch egal, woher ich es weiß! Warum tust du das? Willst du unbedingt sterben?“

Er stemmte die Arme in die Hüften. „Ich bin erwachsen, ich kann tun, was ich will. Und ich werde schon nicht sterben. Unkraut vergeht nicht.“

„Das ist der schlechte Zeitpunkt für Witze, Chandler!“

Raymond musste zugeben, dass Alona ihm in diesem Zustand Furcht einflößte. Sie war oft zornig, auch auf ihn, manchmal sogar aus den nichtigsten Gründen. Aber in diesem Moment war sie richtiggehend wütend, er konnte es an ihrem Blick sehen, hörte es an ihrer Stimme und bemerkte es an der Tatsache, dass sie Joel wie früher nur mit seinem Nachnamen ansprach – und nicht zuletzt konnte er selbst durch das unterdrückende Glas seiner Brille sehen, dass ihre dunkelrote Aura geradezu am Kochen war und Joel am Liebsten auf der Stelle verschlungen hätte.

Deswegen konnte Raymond nicht anders als tiefsten Respekt für seinen Freund zu empfinden, der nicht einmal einen Zentimeter zurückwich oder mit der Wimper zuckte.

„Es gibt keinen Grund, dich aufzuregen. Die Illusionen tun den Schülern nichts, ich lebe immer noch und Raymond sorgt auch dafür, dass ich nicht sterbe, das hat er mir versprochen.“

Die Erwähnung ihres Mannes schien sie nicht sonderlich positiv aufzunehmen, sie stieß einen genervten Laut aus. „Willst du, dass er sich den Rest seines Lebens grämt, wenn du tot bist, weil er es eben nicht verhindern konnte? Denkst du eigentlich immer nur an dich!?“

„Ich denke nicht nur an mich! Ray braucht meine Hilfe und deswegen mache ich das auch.“

„Ach, du denkst, du kennst ihn besser als ich?“

„Ich kenne ihn jedenfalls um einiges länger als du!“

Schlagartig wandten beide ihm ihren Blick zu. Raymond zuckte unwillkürlich zusammen und erwiderte die Blicke fragend. „W-was?“

„Was sagst du dazu?“, fragten beide überraschend synchron.

Es fiel ihm schwer, sich für eine Seite zu entscheiden. Tatsächlich war ihm bewusst, dass es möglicherweise nichts gab, was er für Joel tun könnte, falls die Kräfte außer Kontrolle gerieten, aber andererseits brauchte er dessen Hilfe, so sehr es ihm auch widerstrebte.

Da er das aber nicht sagen konnte, immerhin musste einer von ihnen autoritär erscheinen und als ob er wüsste, was er tat, lächelte er leicht. „Ich mag es, wenn ihr euch um mich streitet.“

Im ersten Augenblick sahen beide ihn verdutzt an, doch schon im nächsten Moment begannen beide zu lachen und gleichzeitig fiel die Spannung von ihnen ab. Mit einer solchen Reaktion hatte er zwar nicht gerechnet, aber solange es half, war Raymond froh.

„Das ist unmöglich von dir“, wies Alona ihren Mann zurecht, obwohl sie ebenfalls erleichtert über diesen Umschwung war.

„Ray, wie er leibt und lebt“, bemerkte Joel. „Ich wette, du weißt nicht einmal, was wir beide jetzt so lustig daran fanden, oder?“

„Nicht wirklich“, gab Raymond zu, aber er konnte sich bereits denken, dass er unwissentlich etwas Zweideutiges gesagt hatte. „Aber immerhin habt ihr euch wieder beruhigt.“

Joel und Alona sahen sich für den Bruchteil einer Sekunde erneut an und wandten sich dann demonstrativ wieder voneinander ab.

„Ich denke, wir sollten uns noch einmal in aller Ruhe unterhalten“, fuhr Raymond fort, worauf sich Joels Gesicht sofort erhellte.

„Ja, genau!“, pflichtete er bei. „Jedes düstere Thema wird erträglicher, wenn man kurz zuvor etwas Gutes gegessen hat.“

Raymond musste schmunzeln, als er das hörte und bemerkte, wie Alona ein wenig verlegen den Blick senkte; immerhin war dies eine Weisheit, die seine Frau offenbar unmerklich von seinem besten Freund übernommen hatte und da beide sich nicht sonderlich gut verstanden, gefiel ihr das mit Sicherheit gar nicht.

Beide Männer sahen Alona auffordernd an, worauf sie seufzend nachgab. „Fein, du kannst zum Abendessen zu uns kommen. Aber rechne mit keinem Festmahl.“

„Keine Sorge, ich weiß, dass dein Essen nur schmeckt, weil du Illusionsmagie benutzt, um das allen vorzugaukeln.“

Empört sah sie erst wieder ihn an, ehe sie Raymond einen wütenden Blick zuwarf. Doch zu seinem Glück legte sie das Buch wieder auf den Tisch und wandte sich ab. „Ich bin auf dem Weg nach Hause, um das Abendessen vorzubereiten.“

Ohne sich zu verabschieden verließ sie mit zornigen Schritten den Raum und knallte die Tür hinter sich zu.

„Musste das jetzt sein?“, fragte Raymond seufzend.

„Ich wollte nicht, dass sie nur auf mich wütend ist.“ Joel warf ihm einen grinsenden Blick zu, aber sein Freund schien davon nicht versöhnt zu werden.

„Du wohnst aber nicht mit ihr zusammen, du bist nicht ständig in ihrer Reichweite.“

„Habt ihr ein Gästezimmer?“

„Äh, sicher?“ Raymond verstand nicht, worauf Joel hinauswollte.

„Dann musst du immerhin nicht auf dem Sofa schlafen.“

Wieder herrschte einen kurzen Moment Schweigen, in dem sie sich beide nur ansahen, dann seufzte Raymond. „Manchmal hasse ich dich.“

Joel grinste auf diese Worte allerdings. „Klar doch. Dann komm, lass uns einpacken und gehen, bevor wir zu spät kommen und deine Frau uns noch verhext.“

„Tu mir wenigstens einen Gefallen: Lass deine Sprüche diesbezüglich heute Abend bitte stecken. Sonst wirst du einen sehr frühen Tod sterben – und das nicht durch diese Kräfte.“

„Verstanden, Chef.“

Joel salutierte lachend und machte sich daran, seine Sachen einzupacken, während Raymond sich betreten Gedanken darüber machte, ob er selbst diesen Abend überleben würde.



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von: abgemeldet
2012-09-01T17:22:17+00:00 01.09.2012 19:22
Woah, Alona ist ja mal echt schlagkräftig! Damit hätte ich nicht gerechnet! ಠ‿ಠ
Mir hat diese "Begegnung" wirklich gut gefallen. Und was will der Privatdetektiv eigentlich mit dem Foto von Tony? Ein wie immer tolles Kapitel, das viel freien Raum für Spekulationen überlässt!

Ich muss unbedingt weiter lesen...
Von:  MarySae
2011-10-27T09:13:41+00:00 27.10.2011 11:13
Hehe, Alona ist echt süß xD
Sie wird mir immer sympathischer xD Sie hat die Jungs echt fest im Griff! Und geht gleich mit gefährlichen Gegenständen auf sie los x3

Ähm ja, die Begegnung von Vincent und Tony war ja amal etwas kurios O.o
Klar, er wollte/ musste unbedingt ein Foto von ihm machen, aber da er nur stumm dastand und blöd guckte, wirkte das Ganze noch seltsamer als sowieso schon O.o
Bin echt gespannt, was es mit dem Foto auf sich hat.
Zumindest düfte Tony keinen sehr intelligenten Gesichtsausdruck haben xD

Rene, die Taffe, hats dem Kerl voll gegeben. Witzig, dass sie ihn ganz ok fand. xD Vllt erinnert sie ihn iwie an sich selbst ^^

Das Ende war ebenfalls sehr interessant, wenn auch überraschend.
Geht auf Joel mit einem Buch los. xD Vllt hätte sie ein schwereres Exemplar nehmen sollen xD
Bin jedenfalls gespannt, wie die Atmosphäre beim Essen sein wird ^^

lg, Linami :D


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