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Götterhauch

Löwenherz Chroniken III
von

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In der Nacht

Joel kam nicht oft zu Besuch bei den Lionhearts, was nicht nur daran lag, dass er sich nicht mit Alona verstand, sondern auch die beiden Töchter eher argwöhnisch betrachtete, was von den beiden erwidert wurde – auch wenn das bei Leens gleichgültigem Gesicht eher eine Ermessensfrage war.

Normalerweise störten ihn keine Schüler, egal wie seltsam sie waren, immerhin hatte er mit diesen nichts weiter zu tun, aber gerade die Kinder seines besten Freundes fielen ebenfalls in diese Sparte.

Während des Abendessens war die Stimmung eher angespannt, aber immerhin schwieg jeder, besonders Alona. Erst im Anschluss, als die beiden Mädchen auf ihren Zimmern waren, begannen die Erwachsenen mit einer Diskussion, die bald in eine lautstarke Auseinandersetzung mündete, die sich stets im Kreis bewegte und auch nicht enden wollte, als Joel sich schließlich verärgert verabschiedet und die Haustür hinter sich zugeworfen hatte.

Heather, die in ihrem Bett lag, an die Decke starrte und dem Gespräch lauschte, verlor bald die Übersicht darüber, was ihre Eltern besprachen, da sich der Streit nach Joels Fortgang rasch verselbstständigte und sie sich gegenseitig Dinge an den Kopf warfen, die nichts mehr mit dem Ursprungskonflikt zu tun hatten.

Es war selten, dass sie sich stritten, umso heftiger wurden ihre Auseinandersetzungen dann aber auch.

In solchen Nächten war es Heather unmöglich, zu schlafen. Sie fürchtete keineswegs um die Ehe der beiden, sie glaubte nicht, dass sie sich trennen würden, schon allein wegen dem Bild, dass das nach außen vermitteln und deswegen beide von diesem Schritt abhalten würde – aber es belastete sie dennoch. Die Spannung, die danach immer tagelang in der Luft lag, das Schweigen zwischen ihren Eltern und die betont unterkühlten Blicke, mit denen sie dann herumliefen, nur um sich demonstrativ aus dem Weg zu gehen...

Aber Heather ließ sich das nicht anmerken, es würde einfach nicht zu ihr passen, emotional zu werden, selbst gegenüber ihren Eltern. Ob es Leen irgendwie kümmerte, wusste sie nicht. Ihre Zwillingsschwester war selbst für sie manchmal ein Buch mit unzähligen Siegeln. Im Moment schlief sie zum Beispiel vollkommen ungestört im Nebenzimmer, trotz des andauernden Streits in der Etage unter ihnen, so viel konnte Heather sagen, wenn sie sich genug konzentrierte. Oft war es ihr möglich Gedanken und Gefühle ihrer Schwester aufzufangen – es sei denn, es ging um Alexander.

Der Junge und die Zeit, die sie gemeinsam teilten, schien etwas zu sein, was Leen lieber als ihr Geheimnis für sich behalten wollte, weswegen sie sämtliche Gedanken und Gefühle ihn betreffend in einer entlegenen Ecke ihres Selbsts versteckt hielt und nicht einmal ihrer Zwillingsschwester Zugriff darauf erlaubte.

Es machte Heather ein wenig neidisch, wenn sie ehrlich war. Sowohl auf Alexander, der ihr die Schwester wegnahm als auch auf Leen selbst, die dieses Gefühl immerhin ebenfalls spürte. Dass es sich um Liebe handelte, wenngleich die ganz eigene Form der beiden, war ihr immerhin klar, auch wenn sie diese selbst nur aus Filmen kannte.

Heather war es bislang nicht vergönnt gewesen und das senkte ihre Stimmung noch ein wenig mehr – bis wieder auf das Streitgespräch aufmerksam wurde, als plötzlich Anthonys Name fiel, da er von Alona als derjenige genannt wurde, der ihr überhaupt verraten hatte, dass Joel Monster für den Unterricht beschwor und sie kurz darauf auch alle anderen Probleme der letzten Zeit auf diesen Jungen schob.

Heather dachte sich zwar, dass ihre Mutter es nicht so meinte und sie im Überschwang der negativen Gefühle lediglich einen Sündenbock brauchte – normalerweise musste Joel dafür herhalten – aber dennoch ließ sie das im Moment nicht los und machte es ihr erst recht unmöglich, zu schlafen.

Er hatte ihre Warnung ignoriert und war nun mit Marc und Rena befreundet, schien ansonsten aber nicht weiter gefährlich bislang. Mit Sicherheit hatte er weder Joels Fähigkeiten absichtlich erwähnt, noch sonst in irgendeiner Art und Weise mit Fleiß für Ärger gesorgt.

Und genau diese Aussage von Raymond sorgte schließlich dafür, dass der Streit endete, so wie er es stets tat: Alona rauschte die Treppe hinauf ins Schlafzimmer, wo sie die Tür zuwarf, während Raymond allein im Wohnzimmer zurückblieb, sich auf das Sofa setzte und leise seufzend ins Leere starrte – zumindest hatte er Letzteres oft genug bereits getan. Was ihm dabei durch den Kopf ging, wusste Heather nicht, aber sie wollte es sich auch gar nicht vorstellen, außerdem genügten ihr ihre eigenen Gedanken, die sich nicht beruhigen wollten und sich unablässig darum drehten, dass ihre Eltern sich möglicherweise hassten und nur noch wegen des äußeren Scheins verheiratet waren. In solchen Momenten blendete sie sogar alles aus, was glasklar dagegen sprach.

Schließlich stand sie auf und zog sich wieder an. Sie war viel zu unruhig, um zu schlafen und nur im Zimmer auf und ab zu gehen würde ihrem Körper nicht genügen, sie musste nach draußen und frische Luft schnappen, ungeachtet der Mimikry, die dort herumstreunten. Im Notfall würde sie sich ohnehin verteidigen oder zumindest schnell genug fliehen können, da machte sie sich keine Sorgen.

Da Raymond immer noch im Wohnzimmer saß, blieb ihr nichts anderes übrig als aus dem Fenster zu klettern. Dank des Baumes, der direkt hinter ihrem Fenster stand und seine Äste bei starkem Wind stets gegen ihre Scheibe klopfen ließ als wolle er hereinkommen, um dem Wetter zu entfliehen, war das auch kein größeres Problem. Als Kind hatte sie in windigen Nächten oft Angst bekommen und sich von der furchtlosen Leen beruhigen lassen müssen, aber seit sie älter war, schätzte sie sich glücklich, dass sie nie gebeten hatte, den Baum fällen zu lassen, immerhin war er nun äußerst praktisch für sie.

Sie lief um das Haus herum, trotz des Risikos, dass Raymond sie entdeckte, wenn er zum falschen Zeitpunkt aus dem richtigen Fenster sehen würde. Mit ziemlicher Sicherheit wäre er dann herausgekommen, um sie anzuweisen, wieder ins Bett zu gehen. Aber ein kurzer Blick durch eines der Fenster verriet ihr, dass er bewegungslos auf dem Sofa saß und auf den Boden starrte. Sie verspürte den Impuls, wieder hineinzugehen, um ihn zu trösten, wandte sich dann aber doch ab und lief ziellos durch die verlassen wirkende Stadt.

Wie jede Nacht waren die Straßen wie ausgestorben und das sogar ohne Ausgangssperre. Die besonderen Menschen bevorzugten es, sich in ihren Häusern – oder sonstigen Etablissements – aufzuhalten, wo sie auf jeden Fall sicher waren und die nicht so besonderen schienen auch ohne Warnung zu spüren, dass es besser war, sich nicht draußen aufzuhalten.

Aber auch die Mimikry waren nicht zu sehen, obwohl eine gewisse Spannung in der Luft lag, als ob sie geladen wäre und nur noch ein Funken fehlte, um sie endlich explodieren zu lassen.

Aber vielleicht haben sie genau davor Angst...

Mächtige Menschen waren in der Stadt, Leen hatte es ebenfalls bereits bemerkt und daraufhin genervt mit der Zunge geschnalzt. Sie sah diesem unvermeidlichen Treffen wohl nicht sonderlich positiv entgegen, äußerte sich aber nicht einmal gedanklich dazu.

Oder sie planen etwas.

Eigentlich war es nicht die Art von Mimikry, zu denken und zu planen, sie agierten lediglich auf Instinkt – zumindest bislang. Vielleicht gab es nun eine übergeordnete Intelligenz, die sich ihrer angenommen hatte und ihre Schritte zur größeren Effektivität lenkte.

Aber eigentlich war das eher ein Thema für ihren Vater, der ewig über solche Dinge theoretisieren konnte – etwas, was Alona ihm auch an diesem Abend wieder vorgeworfen hatte – und nicht für sie.

Sie blieb stehen, als sie an den Wohnkomplexen der Schüler angekommen war und ließ den Blick schweifen als wollte sie in ihrer Rolle als Direktorentochter prüfen, ob auch alles in Ordnung war. Hinter den meisten Fenstern herrschte bereits tiefste Dunkelheit, lediglich vereinzelt waren noch Lichter zu sehen oder das Flimmern eines Fernsehers, der vermutlich nur zum Einschlafen gebraucht worden war. Sie wollte sich gar nicht ausmalen, wie wütend ihr Vater werden würde, sobald er wieder die Stromrechnung mancher Wohnungen sah.

Bei einem bestimmten Fenster blieb ihr Blick automatisch hängen. Dass dort noch Licht brannte, irritierte sie ein wenig, es war fast so als ob jemand wollte, dass sie in dieser Nacht noch mit dieser Person sprach – und wenn es nur dazu war, dass sie ihm tadelnd vorhielt, dass er noch nicht im Bett war.

Wieder musste sie daran denken, dass ihre Mutter ihm die Schuld für alles gegeben hatte. Für den heutigen Streit, die Häufung der Mimikry, der Spannung in der Luft – und Raymonds ständigem Blick in die Ferne, seine Entfernung von ihr, sein andauerndes Planen.

An allem wäre nur Anthony Schuld, so sagte sie, wenn auch nur im Zorn.

Es kostete Heather nach diesem Gedanken nur einen Moment, dann ging sie entschlossen auf den Eingang des Gebäudes zu, um bei ihm zu klingeln.
 

Sie erwachte aus dem Halbschlaf, als ihr plötzlich der Duft von frisch aufgebrühtem Kaffee entgegenschlug. Erst blinzelte sie verwirrt auf die Tasse, die plötzlich vor ihr stand, dann hob sie den Kopf und entdeckte einen sanft lächelnden Russel, der ebenfalls noch eine Tasse in seiner Hand hielt, was ihr verriet, dass sie ihr Getränk ihm zu verdanken hatte.

Sie schenkte ihm einen koketten Augenaufschlag. „Danke, Russ, du denkst wirklich an alles.“

„Für dich immer.“ Seine Stimme klang anders als sonst, wenn er so etwas sagte, weniger arrogant und schleimerisch, eher ernsthaft und aufrichtig.

Verbunden mit seinem aktuellen Lächeln erschien es Seline gar nicht so mehr so abwegig, dass sie sich damals in ihn verliebt hatte, auch wenn in diesem Augenblick der heldenhafte Schein um ihn herum fehlte. Aber sie dachte lieber nicht darüber nach, ob dieser Zustand der Verliebtheit immer noch anhielt, ehe sie sich in emotional verwirrenden Gedanken verstrickte, die sie im Moment nicht gebrauchen konnte.

„Was macht deine Prinzessin?“

„Hör endlich auf, das zu sagen. Ich hab dir jetzt schon x-mal erklärt, dass wir nicht mehr zusammen sind. Ich bin also wieder frei für dich.“

Er zwinkerte ihr zu, aber sie winkte nur ab. „Was auch immer.“

Am Liebsten wäre sie auf diese Flirtereien eingegangen, aber sie wusste auch genau, wo das enden würde und im Moment war dafür einfach keine Zeit.

Sie blickte wieder auf den Bildschirm, wo nach wie vor keine Änderung eingetreten war. Anthony saß noch immer auf seinem Sofa und betrachtete irgendetwas auf dem Monitor seines Computers. Da dieser aber so stand, dass die Kamera ihn nicht erfasste, konnte sie nicht sehen, was er da tat. Aber aufgrund seines konzentrierten Blicks, der sich mit Verwirrung und sogar ehrlichem Erstaunen abwechselte, recherchierte er wohl irgendetwas sehr Wichtiges, aber nicht sonderlich Emotionales.

Sie sah wieder zu Russel, der seine Aufmerksamkeit ebenfalls dem Bildschirm zugewandt hatte. Er blickte selten so ernst und nachdenklich wie in diesem Moment, aber die Erinnerung an Kai schien ihm zuzusetzen. Seline wusste nicht, was er dachte oder fühlte, immerhin vermied sie dieses Thema lieber, um nicht irgendwelche Wunden aufzureißen, aber wenn es ihm so sehr zusetzte, konnte es nichts Gutes sein. Normalerweise war er ein eher gedankenloser, aber dafür fröhlicher Mann – zumindest seit ihrer gemeinsamen Reise miteinander. Bei ihrer ersten Begegnung und dem Beginn der Reise war er genauso gewesen wie in diesem Moment. Ernst, deprimiert, unnahbar. Es passte einfach nicht zu ihm.

„Macht er das schon den ganzen Abend?“, fragte er plötzlich.

„Seit er wieder zu Hause ist“, bestätigte Seline seufzend. „Ich wünschte, wir könnten sehen, was er da recherchiert. Vorhin hat er sehr erschrocken geschaut und einen hochroten Kopf bekommen.“

Natürlich hatte sie sich da bereits ihre eigenen Gedanken darum gemacht, aber sie konnte sich nicht denken, warum Anthony so etwas recherchieren würde. Bislang war er ihr aufgrund der Aufnahmen eher naiv und weltfremd vorgekommen.

Aber Russel schien denselben Gedanken zu hegen. Ein breites Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus. „Vielleicht tut er ja, was jeder gesunde Kerl in seinem Alter tut und sieht sich was Gutes im Internet an.“

„Tja, wer weiß?“

Seline schmunzelte ein wenig – und sah dann wieder auf den Bildschirm, als sich dort endlich etwas zu regen schien. Anthony stand von dem Sofa auf und verschwand aus dem Erfassungsfeld der Kamera.

„Vielleicht muss er nur ins Bad“, sagte Russel, immer noch mit einem breiten Grinsen im Gesicht.

Seline lachte darüber amüsiert. „Was du immer denkst, mein Lieber.“

Doch schon wenige Sekunden später kam Anthony wieder ins Wohnzimmer zurück – allerdings nicht allein. Die beiden Beobachter schmunzelten vergnügt.

„Sieht aus als könnte es jetzt interessant werden“, sagte Russel, aber Seline schüttelte nur mit dem Kopf. „Ich glaube nicht – das ist die Tochter von Raymond Lionheart.“
 

Anthony konnte Heather nur verdutzt anstarren, während sie sich sich in der Wohnung umsah. Es war ihm ein wenig mulmig, dass sie einfach mitten in der Nacht auftauchte – besonders nachdem er all diese Dinge recherchiert hatte, statt zu schlafen und deswegen fürchtete, dass sie gekommen war, um ihn dafür zu tadeln, wie auch immer sie hatte herausfinden können, dass er das tat. Aber stattdessen schien es ihm als gäbe es etwas, was sie bedrückte und sie wäre deswegen hier.

„Uhm... ist alles in Ordnung?“, fragte er schließlich, als ihr Schweigen ihm langsam unheimlich wurde.

Sie ignorierte seine Frage und sah ihn nicht einmal an. „Du wohnst schon eine Weile hier... aber du hast noch unausgepackte Kartons.“

Sein Blick folgte dem ihren. An der entferntesten Wand des Wohnzimmers waren drei Kartons aufeinandergestapelt, die bereits Staub ansetzten. An seinem zweiten Tag hatte er dort hineingesehen, aber nichts gefunden, was es wert gewesen wäre, es auszupacken. Alte Schulbücher, Hefter, Stifte... Alles in allem nichts Interessantes. Seine Kleidung hatte er bereits in seinen Schrank geräumt und die Schneekugel – von der er keine Ahnung hatte, wann, warum und von wem er sie bekommen hatte – thronte in seinem Regal, dem Heather sich gleich darauf zuwandte, ohne darauf zu warten, dass er etwas erwiderte.

Er trat neben sie, damit sie nicht vergaß, dass er auch noch da war und beobachtete sie aufmerksam, während sie die Schneekugel betrachtete. Im Inneren des runden Kristalls – oder Glas, da war Anthony sich nicht sicher –, der auf einem hölzernen und reich verzierten Podest befestigt war, befand sich eine ebenso kunstvoll verarbeitete Figur eines Drachen. Wenn man die Kugel schüttelte, stoben die darin befindlichen glitzernden Flocken hoch und ließen die Figur in einem leuchtenden Sturm verschwinden.

Heathers Augen glühten für einen Moment regelrecht, als sie das beobachtete, während sie die Schneekugel ungefragt sacht schüttelte.

„Ich wusste gar nicht, dass du so etwas Wertvolles besitzt.“

„Das ist wohl das einzig Wertvolle, was ich besitze“, erwiderte er, ohne dabei an die von Marc geschenkte Kette zu denken, die im Moment um seinen Hals hing.

Vorsichtig, fast schon ehrfürchtig, stellte sie die Schneekugel wieder zurück und achtete sogar penibel darauf, dass sie ganz genauso dastand wie zuvor. Dann wandte sie sich ihm zu. „Was für eine Schande. Man sollte viele Dinge besitzen, die allein durch die Erinnerung, die an ihnen hängen, wertvoll sind.“

„Hast du denn viele?“

Sie antwortete nicht darauf, aber das war für ihn eine deutliche Aussage: Sie hatte das nur einmal gelesen, war sich darüber nicht wirklich sicher, aber davon so fasziniert, dass sie den Standpunkt ebenfalls vertrat. Vielleicht war sie nicht ganz so erfahren wie er immer gedacht hatte.

Ohne ihn zu beachten setzte sie sich ungefragt auf das Sofa und warf einen Blick auf den Bildschirm seines Computers. Leicht irritiert hob sie die Augenbrauen. „Warum suchst du nach dem Wort Liebe im Internet?“

Mit heiß gewordenem Gesicht klappte er hastig den Computer zu, so dass sie nicht mehr auf den Bildschirm sehen konnte, aber selbstverständlich vergaß sie dadurch nicht einfach, was sie bereits gesehen hatte und blickte ihn fragend an.

Unwillkürlich verschränkte er die Arme vor der Brust, genau wie Marc es immer tat und wandte das Gesicht ein wenig ab. „Uhm... na ja... Ich habe heute Marc und Rena beobachtet... und wollte wissen, wie man sich verliebt.“

Wenn er es so sagte, klang es selbst in seinen Ohren seltsam und falsch. Aber Heather lächelte daraufhin dennoch. „Ich glaube kaum, dass man das recherchieren kann.“

„Ja, so erscheint es mir auch...“

„Aber ich wette, du hattest einige sehr... interessante Ergebnisse.“

Sie lachte, während er noch einmal rot wurde. „J-ja, das könnte man so sagen.“

Im Moment wäre er am Liebsten im Boden versunken. Auch ohne sonderlich viel Ahnung zu haben, wusste er, dass dieses Thema nichts war, was man allzu offen besprach. Zumindest nicht mit Leuten, die einem nicht sonderlich nahestanden – und dazu gehörte Heather wohl kaum.

Glücklicherweise bestand sie nicht darauf, dass er ihr noch irgendetwas erklärte, sondern dass er sich neben sie setzte. Obwohl es seine Wohnung war, hörte er direkt auf sie und nahm neben ihr Platz. Wenn er sich richtig erinnerte, war es das erste Mal, dass er neben ihr saß, nein, es war eigentlich allgemein das erste Mal, dass er neben einer weiblichen Person saß. Im Waisenhaus hatte es keine Mädchen oder Frauen gegeben und selbst seit er in Lanchest war hatte er unbewusst immer darauf geachtet, nicht neben ihnen zu sitzen. Genau genommen sprach er nicht einmal wirklich mit ihnen, wenn er es vermeiden konnte. Es machte ihn... nervös, wie er auch in diesem Augenblick bemerkte. Seine Handflächen wurden leicht schwitzig, sein Magen rumorte ein wenig, genau wie vor seinem ersten Schultag in Lanchest.

Aber all seine Gedanken und Überlegungen verflogen, als er wieder Heather ansah. Irgendwann hatte sie ohne, dass er es bemerkte, den Blick abgewandt. Sie sah auf den geschlossenen Computer hinunter und wirkte wieder so bedrückt wie zuvor.

„Was ist denn los? Warum bist du eigentlich mitten in der Nacht hier?“

Er erwartete nicht, dass sie etwas sagen würde, immerhin waren sie genau genommen Fremde, die nur zufällig in dieselbe Klasse gingen. Aber entgegen seiner Erwartungen sprach sie tatsächlich: „Du hast meiner Mutter erzählt, dass Mr. Chandler Monster beschwört...“

Also war es tatsächlich ein Fehler gewesen. Ein Schauer lief ihm über den Rücken, als er ihre tonlose Stimme hörte. „Das war nur ein Versehen, tut mir Leid. Ich wusste nicht, dass ich das nicht darf.“

„Mich verwundert mehr, dass du wusstest, dass er sie beschwört. Alle anderen scheinen das immerhin nicht zu wissen oder es ist ihnen egal.“ Als sie das sagte, hob sie tatsächlich wieder den Blick und sah ihn direkt an.

„Ich weiß nicht, woher ich es wusste. Es war mir einfach klar – und Mr. Chandler sieht nach dem Unterricht auch nicht sonderlich gesund aus, das sprach auch dafür.“

Sie nickte bedächtig und ging nicht weiter auf dieses Thema ein. „Meine Eltern haben sich gestritten.“

So plötzlich wie sie das sagte und so distanziert und tonlos wie ihre Stimme dabei klang, glaubte Anthony im ersten Moment, sich verhört zu haben oder dass sie nur einen Scherz gemacht hätte. Aber sie blickte ihn weiterhin ernst an, bis er sich remütig entschuldigte, da er das Gefühl hatte, Schuld daran zu sein. Sie schüttelte allerdings sofort mit dem Kopf. „Es ist okay. Es war nicht das erste Mal und... J-jetzt schau nicht so entsetzt!“

Plötzlich wirkte sie erschrocken, als sie bemerkte, dass er das Gesicht verzog. „Sie werden sich schon wieder versöhnen, das tun sie immer.“

„Streiten sie sich denn oft?“

„Nein, aber dafür ist es dann immer besonders schlimm, weil sie sich dann alles vorwerfen, was sie sonst als nicht so schlimm empfinden. Aber ich denke, das ist normal so... ich streite mich selten.“

Anthony hatte sich bislang auch noch nie mit jemandem gestritten, deswegen konnte er dazu nichts sagen, aber sie schien das auch nicht zu erwarten. Möglicherweise genügte es ihr, sich das von der Seele zu sprechen, denn ohne eine Erwiderung von ihm, begann sie plötzlich, ihm zu erzählen, wie sehr sie die Nach-dem-Streit-Atmosphäre ihrer Eltern belastete und was sie an der Beziehung zwischen Leen und Alexander störte.

Er wusste nicht, was sie bewog, ihm das alles zu erzählen, er glaubte, dass sie das nicht einmal selbst wusste. Deswegen unterbrach er sie kein einziges Mal, aus Furcht, dass sie dann bemerken würde, dass es keinen Grund gab, ihm das alles zu sagen, sondern lauschte ihr eingehend.

In den letzten Tagen hatten ihm bereits Marc und Alona mehr über sich selbst erzählt, da erschien es ihm gar nicht mehr so verkehrt, dass auch Heather das tat. Vielleicht war er einfach gut darin, Leuten zuzuhören und ihnen das Gefühl zu geben, dass er sie verstand oder zumindest nicht verurteilte.

Aber bei Heather erschien es ihm gleich wie auf einer ganz anderen Ebene. Selbst die kurze Zeit, die er sie nun kannte, hatte ausgereicht, um ihn wissen zu lassen, dass sie weder emotional, noch darin geübt war, über ihre Gefühle zu sprechen. Zumindest in diesem Moment aber schienen die Worte wie von selbst zu kommen und er entdeckte eine gänzlich andere, eine verletzliche, Seite an ihr, die seine Nervosität langsam fortspülte – und in ihm den Wunsch weckte, sie zu beschützen. Etwas, was er noch nie zuvor, jedenfalls nicht in dieser Ausprägung, gespürt hatte und was ihn deswegen verunsicherte. Vor allem kannte er sie doch kaum, aber sie brauchte seinen Schutz mit Sicherheit nicht, so wie er sie kennengelernt hatte.

Aber während ihrer Erzählung betrachtete er ihr Gesicht, das anders als sonst überraschend weich war, ihre Augen glitzerten leicht als würde sie jeden Moment zu weinen beginnen, die Tränen aber erfolgreich zurückhalten.

Sie war derart arglos, dass es der perfekte Augenblick gewesen wäre, der fremden Stimme in seinem Inneren zu gehorchen und sie umzubringen. Selbst in dieser Nacht war die Stimme da, wiederholte immer wieder Töte sie wie ein Mantra, aber es war so leise und von seinen eigenen Gefühlen und Wünschen verdeckt, dass er sie kaum bemerkte und deswegen erfolgreich ignorieren konnte.

Außerdem brauchte er seine ganze Willenskraft, um sich davon abzuhalten, Heathers Haar zu berühren, um festzustellen, ob es so seidig und gepflegt war, wie es immer aussah, nur um seine Hand dann zu ihrem Gesicht gleiten zu lassen, um zu erfahren, ob sie sich ebenfalls so warm anfühlte wie er sich im Moment.

Plötzlich stoppte sie in ihrer Erzählung, sie hatte alles gesagt, was sie wollte, sich sogar ein paarmal im Überschwang der Emotionen wiederholt und war nun zu der Überzeugung gekommen, dass es besser war, nichts mehr zu sagen. Dafür wirkte sie plötzlich verlegen, als sie ihn wieder direkt ansah. „Tut mir Leid, wenn ich dich genervt habe.“

„Das hast du nicht“, erwiderte er.

Sie musterte ihn skeptisch, suchte in seinem Gesicht nach Anzeichen dafür, dass er log, fand offenbar aber keine, denn sie lachte gleich darauf. „Vielleicht solltest du Gesprächstherapeut werden. Bei dir habe sogar ich das Gefühl, dass man dir alles sagen kann, ohne sich Sorgen machen zu müssen.“

Eine solche Karrieremöglichkeit war ihm bislang nicht in den Sinn gekommen, vielleicht sollte er darüber tatsächlich nachdenken, wenn es einmal Zeit dafür wurde. „Dann hat dir das geholfen?“

Sie nickte lächelnd, ein ehrliches Lächeln, das ihr Gesicht zum Leuchten zu bringen schien – und sein Herz fast im selben Moment zum Rasen brachte.

Das eingetretene Schweigen darauf war nicht... unangenehm. Es war gänzlich anders als die Zeiten, wenn Marc und er ins Schweigen verfielen, er konnte nicht sagen, was daran anders war, aber es war schön.

Plötzlich schien Heather ein Gedanke zu kommen. „He! Warum erzählst du mir nicht mal etwas über dich? Ich habe dir jetzt immerhin fast meine gesamte Familiengeschichte erklärt.“

Es war das erste Mal, dass jemand etwas über ihn erfahren wollte, keiner der anderen hatte bislang Fragen gestellt und selbst jene von Raymond waren wohl lediglich für sein Theoretisieren gebraucht worden. Es störte ihn nicht, dass er nie nach seiner Vergangenheit gefragt wurde, er wollte eigentlich auch nicht darüber sprechen, zumindest nicht mit Marc oder Rena oder sonst irgendwem – aber bei Heather erschien ihm das plötzlich anders, es musste dasselbe Gefühl gewesen sein, das sie dazu veranlasst hatte, ihm alles zu erzählen.

„Es ist nicht sonderlich interessant“, erwiderte er dennoch.

Sie lehnte sich allerdings zurück und sah ihn auffordernd an. „Es wird schon dadurch interessant werden, dass du darin mitspielst. Also erzähl mir, woran du dich erinnerst.“

Deutlich entspannter lehnte er sich ebenfalls zurück, mit dem Rücken gegen die Lehne, so dass sie sich beide wieder direkt ansehen konnten. „Wenn du darauf bestehst...“

Und so erzählte er ihr von seinen Jahren im Waisenhaus und den wenigen Momenten, an die er sich erinnerte. Seine nach vorne so freundlichen Erzieher, der anstrengende Unterricht bei seinen Lehrern, das nächtliche Wolfsheulen – und auf der positiven Seite der klare Sternenhimmel mit seinen Myriaden von glühenden Leuchtkörpern; dem hell leuchtenden Mond, der einem so nahe zu sein schien, dass man glaubte, ihn berühren zu können, wenn man die Hand danach ausstreckte; das endlos erscheinende blaue Firmament, das in einem den Wunsch weckte, herauszufinden, was sich jenseits davon befand und auch die ein oder andere Erinnerung an seine Träume.

Heather lauschte ihm genauso aufmerksam wie er ihr zuvor, er fragte sich, ob er gerade ebenfalls verletzlich wirkte, fuhr aber dennoch immer weiter fort, bis sie beide irgendwann von der Müdigkeit übermannt wurden und schließlich nebeneinander einschliefen.



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von: abgemeldet
2012-09-01T17:47:33+00:00 01.09.2012 19:47
> „Uhm... na ja... Ich habe heute Marc und Rena beobachtet... und wollte wissen, wie man sich verliebt.“

Das hat mich zu Tränen gerührt Q_Q Ich wusste, das er es tun wird... und irgendwie kann ich es ihm nachfühlen. Nicht alle können wissen wie das geht... wenn es noch nicht selbst erlebt hat. Das war so awwww!

Ich liebe Götterhauch einfach. Es ist wirklich eine so schöne Geschichte und ich hoffe, das sie niemals endet... na ja... das klingt vielleicht ein wenig utopisch XD

Und es ist ebenfalls interessant zu wissen, wer sich mit wem nicht versteht und wer doch... das ist seeehr interessant XD
Von:  MarySae
2011-11-13T16:11:10+00:00 13.11.2011 17:11
Uhhh, ein Streit zwischen den Beiden...
Kann ich mir nur schwer vorstellen. Normalerweise sind die beiden so freundlich und können sich immer beherrschen...
Kein Wunder, wenn es ihre Kinder (zumindest Heather) ziemlich mitnehmen muss, wenn es dann doch mal passiert.

Aber interessant, dass Heather einfach mal Nachts losspaziert, bei Tony reinkommt und ihm ihre Lebensgeschichte erzählt O.o
Scheinbar hat auch sie eine weiche Seite xD
Witzig, wie das Gespräch damit geendet hat, dass Anthony ihr seine Lebensgeschichte erzählt hat ^^
Vllt können die beiden wirklich gut miteinander... Interessantes Pairing xD

Aber ich finde es immer noch mies, dass der arme Kerl die ganze Zeit beobachtet wird!
Wenn er das wüsste, könnte er wohl nicht mehr so einfach da leben...
(Und auf fragwürdigen Seiten im Internet surfen xDDD)
lg, Linami :D


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