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Die Geister die wir riefen...

von

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Kenny wollte nach der traurigen Nachricht von Dizzys Ableben keine Minute länger bleiben und das obwohl sie sich darum bemühten ihn umzustimmen.

„Hör dir doch bitte die ganze Geschichte an. Komm herein und lass es uns erklären…“, hatte Max ihn gebeten. Doch er verneinte geradezu vehement und meinte, er wolle nachhause und allein sein. Als Tyson ihm anbot, ihn wenigstens noch Heim zu fahren, antwortete er nur: „Momentan will ich keinen von euch sehen. Lasst mich einfach nur in Ruhe!“

Das tat weh…

Tyson hatte Kenny noch nie so fertig erlebt. Er erinnerte sich daran, dass dessen Großmutter vor zwei Jahren gestorben war, doch da seine Mutter mit dem giftigen Schwiegermonster, nie so richtig klar kam, hatte der Chef keinen sonderlich guten Draht zu ihr gehabt, weil er ebenfalls der Meinung war, dass sie ein ekelhafter Charakter gewesen sei. Doch nun erlebte Tyson ihn wahrhaftig trauernd. Dizzy hatte ihm einfach zu viel bedeutet. Eine ständige Begleiterin, von morgens bis abends.

Sie war wirklich seine engste Vertraute gewesen…

Tyson konnte gar nicht mehr an einer Hand abzählen, wie viele Entschuldigungen von ihrer Seite kamen, doch offensichtlich war Kenny einfach in einem tiefen Loch gefangen und wusste sich nur zu helfen, indem er sich in sein Schneckenhäuschen zurückzog. Irgendwann hatte Ray das erkannt und auf Tysons Drängen nur die Hand erhoben, um ihn zum Stillschweigen zu bringen. Doch bevor Kenny sich einfach so in die kalte Nacht hineinwagte, fragte Tyson noch einmal hoffnungsvoll, ob er sich bald bei ihnen melden würde. Der Chef hielt einen Moment inne, dachte lange mit gesenktem Kopf nach, blieb ihnen dann aber die Antwort schuldig. Er zog den Kragen seiner Jacke höher und verschwand, während sie ihm mit einem beklommenen Gefühl nachschauten. Sie diskutierten daraufhin noch lange darüber, ob sie ihn einfach so hätten gehen lassen sollen.

„Wenn man trauert sollte man nicht allein sein!“, war Tysons Ansicht.

Doch Maxs Entgegnung stimmte ihn letztendlich um.

„Jeder Mensch geht anders damit um. Und wir müssen das akzeptieren. Wenn er Zeit will um zu trauern, müssen wir ihm diese Zeit geben. Wir sollten ihn nur nicht komplett aus den Augen lassen…“

Von ihnen allen wusste Max wohl am besten wovon er sprach. Es ließ Tyson schließlich beklommen nicken, auch wenn seine Sorge blieb. Insgeheim nahm er sich vor, gleich morgen nach Kenny zu schauen. Er musste ohnehin früh hinaus, um im Revier mit seinem Bruder zu sprechen, denn er hatte von Kato erfahren, wo Hiro nun untergebracht wurde. Doch zunächst musste er seinen Großvater diese Schreckensbotschaft mitteilen, denn um diese Uhrzeit war nichts mehr zu machen. Im Inneren des Hauses, bat Ray zunächst darum, mit seiner Frau telefonieren zu dürfen. Natürlich hatte Tyson keine Einwände, doch als sie in die Küche marschierten, war sein Großvater gerade dabei, im örtlichen Telefonbuch zu blättern, während das altmodische Schnurrtelefon, neben ihm auf dem Tisch lag. Jana hockte gleich zur nächsten auf einem Stuhl, über einen Teller Manjus gebeugt und ließ schmatzend die Beine baumeln. Ihr beim Essen zu zuschauen, lockte Tyson ein Schmunzeln über den Mund, denn bei jedem Biss, gab sie ein langgezogenes „Mmm“ von sich und ließ vergnügt die Schultern schwingen. Offenbar fühlte sie sich pudelwohl inmitten so vieler Menschen. Auch Kai entging das nicht. Er legte den Kopf nachdenklich auf die Seite und beobachtete das kleine Mädchen dabei, das ihm mit vollem Mund entgegenlachte.

„Was suchst du da?“, fragte Tyson seinen Großvater inzwischen.

„Na was denn wohl…“

„Das ist keine Antwort.“

„Mensch, Grünschnabel! Ich rufe die örtlichen Polizeistationen an! Irgendwohin müssen die deinen Bruder doch verschleppt haben.“

Tyson trat an ihn heran und klappte das Buch entschieden zu.

„Hast du auf die Uhr geschaut? Als wir das Revier verlassen haben, war es draußen stockfinster und in den Büros fast keine Sau mehr da.“

„Da wird es bestimmt eine Notbesetzung geben. Wenn ein Einbrecher irgendwo einsteigt, wartet man ja auch nicht bis zum nächsten Morgen um es zu melden!“

Ein verzweifeltes Schnaufen kam von Tyson. Eigentlich wollte er dem alten Mann erst etwas zu Essen machen, danach die Medikamente verabreichen und anschließend ihm in Ruhe, bei einer Tasse Tee alles erläutern. Doch er hatte unterschätzt wie engstirnig dieser aufmüpfige Alte sein konnte.

„Opa… Ich muss mit dir über etwas reden.“

„Kannst du gerne machen. Ich suche inzwischen weiter.“

Er klappte das Telefonbuch wieder auf und blätterte zu der Seite, die er zuvor offen gehabt hatte, bevor er von Tyson gestört wurde.

„Es geht um Hiro…“

Nun schaute sein Großvater doch auf. Er taxierte seinen Enkel und begann wohl in seinem Hinterstübchen zu kombinieren. Seine Brauen zogen sich argwöhnisch zusammen.

„Auf dem Revier hast du gemeint, du wüsstest nicht was mit ihm ist.“

Er wollte wissen ob Tyson ihn belogen hatte. Was ja auch der Fall war…

„Lasst ihr uns ein paar Minuten allein?“, bat der seine Freunde. „Ray, du kannst das Telefon im Flur benutzen. Du weißt ja noch wo es steht.“

Ein starres Nicken kam von ihm. Aus irgendeinem Grund hatte Tyson den Eindruck, dass er bereits im Bilde war. Ray scheuchte Max mit sanfter Gewalt aus der Küche hinaus, während Kai seiner kleinen Schwester die Hand entgegenstreckte. Mit einem auffordernden Lächeln nickte er zur Tür.

„Komm mit Jana. Wir gehen ins Wohnzimmer.“

„Darf ich Fernseh gucke?“, wollte sie wissen.

„Das musst du Tyson fragen. Wir sind bei ihm zu Gast.“

Sie blinzelte mit ihren dunklen Knopfaugen erwartungsvoll zu ihm herüber. Die stumme Bitte war unübersehbar. So langsam begriff Tyson, weshalb Kai ihr keinen Wunsch abschlagen konnte, denn das Mädchen besaß einen zuckersüßen Hundeblick. Ihr diese Bitte abzuschlagen, wäre wie einen Karton voller Welpen am Straßenrand abzustellen.

„Klar darfst du. Und nimm den Teller mit.“, er kniff ihr spielerisch in die volle Wange, woraufhin sie ein strahlendes Lächeln, mit einer kleinen Zahnlücke entblößte. Und schon sprang das Mädchen vom Stuhl auf und tänzelte hibbelig um ihren Bruder herum, drückte ihm kommentarlos den Teller in die Hand, als Aufforderung ihn zu tragen. Tyson bewunderte Kais Ruhe, denn die Kleine schien auch etwas anstrengend zu sein. Den ganzen Weg zum Wohnzimmer, hörte man sie im Flur plappern, hüpfen und singen. Allerdings war es auch irgendwie süß, in welchem Ausmaß sie Kai zu vergöttern schien, denn offenbar hatte sie ein Lied komponiert, dass allein aus dessen Namen bestand und das sie nun zum Besten gab.

„Du weißt also doch etwas…“, lenkten die Worte seines Großvaters ihn vom Geräuschpegel im Flur ab. Tyson seufzte und rieb sich über die Augenlider. Er musste zugeben dass er hundemüde war. Am liebsten würde er den Kopf auf die Tischplatte senken und noch an Ort und Stelle einschlafen. Doch es gab einfach noch zu viel zu erledigen, bevor er zu Bett gehen konnte.

„Ja, ich weiß es. Kenny hat es mir erzählt, kurz bevor ich von der Polizei aufgegriffen wurde.“

„Warum hast du mich belogen?“

„Weil es nichts ist, was man zwischen Tür und Angel erklären sollte. Ich wollte es dir in Ruhe erzählen, damit du dich darauf einstellen kannst. Aber nicht so…“

„Grünschnabel, ich mag zwar mittlerweile nicht mehr der Kräftigste sein, aber aus Porzellan bin ich noch lange nicht.“

„Du hast ein schwaches Herz und das sollte man schonen.“

„Zum Donner noch eins!“, sein Großvater haute zornig auf die Tischplatte und verschränkte die Arme vor der Brust. „Seit ich das erste Mal im Krankenhaus lag, behandelst du mich wie einen Pflegefall! Ich bin immer noch das Familienoberhaupt! Und ich will nicht von meinem Enkel belogen werden! Von keinem von euch beiden!“

Tyson atmete hörbar aus.

„Okay, schon gut. Es tut mir Leid.“

„Sollte es auch! Und nun heraus mit der Sprache! Was ist mit deinem Bruder passiert? Und wehe dir du schwindelst mich wieder an, dann verpass ich dir einen Schädelbasisbruch der sich gewaschen hat!“

„Jetzt beruhige dich! Ich erzähle es dir ja…“, schnalzte Tyson genervt mit der Zunge. Er zog einen der Stühle vor und nahm neben seinem Großvater Platz. Einen Moment dachte er nach, wie er beginnen sollte. „Zunächst einmal solltest du wissen, dass ich selbst noch nicht alles in Erfahrung bringen konnte. Ich weiß eigentlich nur das, was mir Kenny erzählt hat - und selbst das war eher dürftig. Es war einfach nicht genug Zeit da und jetzt ist er weg.“

„Ihr konntet den Jungen also nicht beruhigen?“

„Nein.“, sprach Tyson traurig.

„Wundert mich nicht.“

„Mich auch nicht. Deshalb will ich ihn auch nicht noch einmal darüber aushorchen. Er war total fertig mit den Nerven.“

„Ist mir nicht entgangen.“, sein Großvater fuhr sich nachdenklich über den Bart, nickte jedoch irgendwann. Offenbar wollte er das Kenny ebenfalls nicht zumuten. „Was hat er dir erzählt?“

„Während wir abwesend waren ist das Anwesen durchsucht worden.“

„Das ist ja nichts Neues. Ist ja kaum zu übersehen! Diese Stümper haben noch nicht einmal das Absperrband entfernt und im Haus liegt alles kreuz und quer. Da kommt man sich vergewaltigt vor!“

„Ich hatte noch keine Zeit mich umzuschauen…“, Tyson wand sich unangenehm auf seinem Stuhl. „Jedenfalls muss Hiro dabei gewesen sein, als sie alles auf den Kopf gestellt haben. Er und Kenny haben uns zuvor gesucht und sind irgendwie auf die Hausdurchsuchung aufmerksam geworden. Wahrscheinlich aus dem Fernsehen – wegen Ming-Ming.“

„Du meinst diese bekloppte Reporterin?“

„Ja.“

„Ich habe in Mariahs Hotel ihren Bericht gesehen. Eine einzige Frechheit.“, brummte sein Großvater verstimmt. „Diese Frau kommt mir aber irgendwie bekannt vor.“

„Mensch, Opa! Sie war doch auch eine Bladerin. Eine aus dem BEGA Team.“, rollte Tyson mit den Augen. Sein Großvater kratzte sich grübelnd am Kopf.

„Da klingelt nichts. Ich bin eben nicht mehr der Jüngste. Da lässt das Erinnerungsvermögen nach.“, dann fragte er: „Ist das überhaupt von Bedeutung?“

„Ja.“

„Warum?“

„Weil sie der Grund ist weshalb Hitoshi überhaupt erst festgenommen wurde.“

„Hör auf in Rätseln zu sprechen und komm zum Punkt!“

„Okay, wie du willst.“, schnalzte Tyson. Er verschränkte die Arme vor der Brust und sprach dann frei heraus: „Sie ist tot. Und so wie es aussieht ist Hitoshi Schuld daran.“

Da wurde sein Großvater auch schon still.

„Wiederholst du das? Ich glaube ich habe dich nicht richtig verstanden.“

„Ich glaube du hast mich schon richtig verstanden.“

Er blickte seinen Enkel an, forschte in seinem Gesicht nach einem Anzeichen, ob seine Worte nur ein makabrer Scherz waren. Doch kein Muskel regte sich darin. Kein verräterisches Zucken um die Mundwinkel war zu erhaschen. Es verging eine gefühlte Ewigkeit, in der Tyson auf eine Reaktion wartete.

Als diese aber ausblieb, fragte er: „Opa?“

Eine winzige Schrecksekunde glaubte er, dass sein alter Herr wieder einen Schlaganfall bekam. Doch irgendwann erhob er sich vom Tisch. Seine Bewegungen wirkten wie gerädert, aber ein Nicken war dabei. Er lief zur Küchenzeile und stützte sich über dem Waschbecken ab. Tyson vernahm seine Atemzüge. Inmitten dieser Stille, wirkten die Geräusche aus dem Wohnzimmer, umso lauter, obwohl Tyson sicher war, dass seine Freunde auf einen gemäßigten Tonfall achteten und Kai den Fernseher für seine Schwester, nicht zu laut aufgedreht hatte. Diese Botschaft lastete einfach schwer im Raum. Tyson blickte auf seinen Großvater, der ihm noch immer den Rücken zugewandt hielt. Er schien aus dem Fenster über der Spüle zu schauen.

„Wie ist das passiert?“, wollte er irgendwann wissen.

„Wenn man dem Chef glauben darf, hat Hiro ihr während einer Streiterei einen Schubs verpasst. Sie ist ungeschickt gestürzt und in einer Einfahrt gelandet. Gerade als das Auto von den Nachbarn dort rückwärts hinausfuhr.“

„Deshalb war auch bei denen ein Absperrband…“

Das war Tyson gar nicht aufgefallen. Wahrscheinlich weil er draußen zu sehr auf Kai geachtet hatte, anstatt einmal den Blick über die Umgebung schweifen zu lassen. Er schnaufte und sprach traurig: „Wahrscheinlich.“

„Ist Kenny wirklich sicher, dass Hiro schuld daran war? Oder ist das einfach nur Hörensagen? Ich meine… Die Polizei lag schon einmal falsch! Warum nicht ein weiteres Mal?“

Er wollte es nicht wahrhaben, hoffte immer noch es sei nur ein falscher Verdacht. In seiner Verzweiflung griff sein Großvater nach jedem Strohhalm. Selbstverständlich tat er das, denn seine Familie war ihm sein edelstes Gut und Hiro genauso ein Teil davon. Doch Tyson antwortete nur leise: „Kenny war dabei...“

Auf diese Worte hörte er den alten Mann stockend ausatmen. Seine rechte Hand hob sich vom Waschbecken, wanderte hinauf zum Gesicht. Auch er sah keinen Grund darin, weshalb der Chef lügen sollte.

„Das ist… Das ist eine wahrhaft schlimme Botschaft.“

Er stützte sich wieder am Waschbecken ab.

„Ich muss mit ihm reden.“

„Opa, ich habe bereits mit Inspektor Kato gesprochen. Er meinte dass die Besuchszeit erst morgen früh wieder losgeht. Wir können heute nichts mehr machen…“

„Weiß seine Verlobte davon?“

„Ich habe nicht mit ihr darüber gesprochen, aber Kenny machte eine Andeutung. Sie muss es für sich behalten haben, weil sie weiß, dass du Herzprobleme hast.“

„Eine Schweinerei ist das! Den ganzen Abend saßen wir alle da draußen in der Kälte, aber keiner von beiden macht das Maul auf!“

„Das war bestimmt nicht böse gemeint.“

„Mag sein. Aber in Ordnung ist das trotzdem nicht… Hiro mag schwierig sein, aber er ist genauso mein Junge wie du.“

Eine Weile kehrte wieder Stille ein. Tyson konnte Rays dumpfe Stimme hören, wie er am Telefon sprach. Dann wandte sich sein Großvater ab und stellte sich gerade auf.

„Nun gut. Jammern bringt nichts. Die Familienehre hat die ersten Flecken abbekommen. Wir müssen jetzt zusehen, wie wir den Karren aus dem Dreck ziehen!“, er setzte sich wieder an den Tisch, auch wenn Tyson nicht entging, dass seine Augen wässrig glänzten. Doch stolz wie sein alter Herr war, blinzelte er diesen Anflug von Schwäche fort und sprach: „Zunächst einmal brauchen wir einen Anwalt.“

„Warst du nicht neulich bei einem?“

„Das ist ein Freund von mir und der ist nicht auf… Mord spezialisiert.“, er hatte gezögert, bis er sich dazu überwand das Wort auszusprechen. „Das ist wirklich heikel Grünschnabel. Zunächst einmal unser Ruf in der Straße... Dann noch der finanzielle Aspekt. Wir sollten keinen Stümper beauftragen. Er sollte sein Fach verstehen. Das wird dann aber nicht billig.“

Tyson dachte nach. Da kam ihm etwas in den Sinn.

„Vor drei Monaten wollte jemand die Werkstatt kaufen. Oder vielmehr das Gründstück.“

„Tatsächlich? Das hast du mir gar nicht erzählt.“

„Weil der Preis eine Frechheit war. Allein die Zeit die ich in den Laden investiert habe, deckt das Angebot nicht ab. Aber wenn es nicht anders geht, dann…“

„Vergiss es! Du hast so lange da drinnen herum gehandwerkelt, das sollte wirklich die letzte Option bleiben.“, sein Großvater rieb sich die Nasenwurzel. „Das hätte zu keinem schlechteren Zeitpunkt passieren können. Gerade als wir in den Umbaumaßnahmen für den Dojo stecken. Die oberste Etage ist in zwei Wochen fertig. Den Bau können wir nicht mehr stoppen.“

„Haben wir keine Ersparnisse mehr?“

„Doch, natürlich. Aber ich weiß nicht, wie viel so eine Verhandlung kosten wird. Wenn wir verlieren sollten, bleiben wir außerdem auf den Kosten sitzen.“

„Hiro kann bestimmt auch aushelfen und seine Verlobte scheint auch gut betucht zu sein.“, Tyson erhob sich und ging auf den Kühlschrank zu. „Ich werde morgen früh gleich zu ihm fahren und mit ihm über seine Möglichkeiten sprechen. Aber jetzt koche ich etwas und danach nimmst du endlich deine Tabletten ein. Vertrau mir Opa, ich kläre das.“

Er holte eine Schachtel Eier heraus.

„Meine Familie beschütze ich mit meinem Leben. Das weißt du doch…“
 

Für heute Abend gab es lediglich ein Spiegelei für seinen alten Herren, doch was Essen anging, waren sowohl er als auch Tyson, nicht gerade Gourmet Feinschmecker. Was gut aussah, wurde zwischen die Kiemen geschoben, da war man in diesem Haus noch nie sonderlich penibel gewesen. Dem Rest der Gruppe würde er etwas feineres servieren, denn sein Großvater äußerte die Bitte, Tyson möge sich um den Besuch kümmern, da er hoch gehen würde, um seine Tabletten einzuwerfen.

„Du klärst das also mit Hiro morgen?“

„Natürlich.“, versprach er auf die besorgte Frage noch einmal. Erst nach diesen Worten, fand sein Großvater die Kraft sich zu erheben und langsam in die obere Etage zu humpeln. Sein Gang wirkte träge, als würde ihm die Last der Hiobsbotschaft auf dem Haupt lasten.

„Ich bereite das Bettzeug vor.“, rief er über seine Schulter hinweg.

„Das kann ich doch machen. Leg dich lieber hin.“

„Herrje, Grünschnabel! Ich bin kein Soufflé das beim ersten Furz in sich zusammenklappt!“

Damit stapfte er hinauf, während Tyson ihm mürrisch hinterherschaute.

„Schon gut. War ja nur ein Angebot…“

Trotz seiner Sorgen schien sein alter Herr des Zeterns nicht Leid. Als Tyson in die andere Richtung des Flurs ging, um den Rest der Gruppe zu fragen, ob sie bis zu Mariahs Ankunft mit dem Essen warten wollten, fielen ihm sogleich die besorgten Gesichter auf. Ray lehnte neben der Wand beim Telefon und starrte mit zusammengezogenen Brauen, nachdenklich zu Boden, während Max leise auf ihn einsprach. Kai spähte durch die traditionellen, verglasten Schiebewände, hinaus auf den verschneiten Hof, während eine Tür weiter, das Flackern des Fernsehers in den Flur trat, gefolgt von Janas kindlichen Selbstgesprächen. Er näherte sich den anderen, hörte sie während ihren Grübeleien murmeln. Als er vor der offenen Tür kurz stehen blieb, erspähte er Jana dabei, wie sie zu Taylor Swift auf dem Sofa hopste. Ein wirklich aufgedrehter Floh…

„Alles in Ordnung?“

Die Köpfe hoben sich. Nur mit mäßigem Erfolg, gelang es ihm Kai nicht anzuschauen. Der wandte sein Gesicht auch bald wieder von ihm ab, blickte mit starrer Miene hinaus. Allerdings erhaschte Tyson einen zarten Hauch einer Röte auf dessen Wangen. Er wollte so gerne noch einmal mit ihm Reden…

„Nicht wirklich.“, antwortete Max auf seine Frage.

„Warum?“

„Es gibt Probleme mit dem Flugverkehr. Vor kurzem wurde zwar der Airport in Tokyo wieder geöffnet, aber man spricht davon, dass das Wetter so unberechenbar geworden ist, dass kein Meteorologe noch voraussagen kann, wann es wieder umschlägt.“

„Ich frage mich ob das am Tod der Uralten liegt.“, äußerte Tyson seine Vermutung.

„Ist uns auch schon durch den Kopf gegangen, aber müsste es dann nicht schon viel schlimmer sein?“, fragte Ray. Er stützte sich von der Wand ab. „Außerdem ist es seit einigen Stunden auch anderenorts wieder besser geworden. Man berichtet noch von einigen Naturkatastrophen, doch diese schlimmen Wetterverhältnisse, scheinen in einigen Regionen wieder komplett zurückzugehen.“

„Okay. Und wo liegt dann das Problem?“

„Wir haben darüber diskutiert, ob es nicht besser wäre, wenn wir gleich heute Nacht abfliegen, bevor das Wetter sich wieder verschlechtert. Sonst stecken wir auf unbestimmte Zeit in Japan fest.“

„Wir?“, fragte Tyson und blinzelte perplex in die Runde. „Wieso wir? Ich meine, ich verstehe dass du gehen möchtest Max. Auf dich wartet immerhin eine Beerdigung. Aber weshalb hast du es auf einmal so eilig, Ray?“

Der schaute wieder mit starrer Miene zu Boden.

Nach einem tiefen Atemzug begann er zu erklären: „Einige Tage, bevor ich China verlassen habe, habe ich die Scheidungspapiere eingereicht.“

„Die lassen sich doch bestimmt zurückziehen. Und Mariah muss ja auch noch zustimmen.“

„Das hat sie getan.“

Tyson schaute verdutzt.

„Moment... Ich dachte sie war gegen die Scheidung!“

„War sie auch, aber der Anwalt den ich engagiert habe, hat ihr anscheinend so zugesetzt, dass sie die Papiere unterschrieben hat.“

„Was?!“

Sein geschockter Ausruf, ließ Janas Köpfchen zu ihm hinüberschauen. Sie blinzelte über die Lehne, bis der Chor von Taylor Swift sie wieder ablenkte.

„Warum ist sie dann überhaupt noch in Japan aufgetaucht?“, wollte er wissen.

„Weil Mao es zwar bereut hat, die Papiere unterschrieben zu haben, aber erst den Mut dazu gefasst hat, für unsere Ehe zu kämpfen, nachdem Lee sie dazu gedrängt hat.“

„Na wenigstens einer aus der Familie, der etwas in der Birne hat! Das darf doch nicht wahr sein…“, fauchte Tyson und verschränkte genervt die Arme vor der Brust.

„Gibt es in China kein Trennungsjahr?“, fragte Max inzwischen.

„Nein. Und wenn die Scheidung einvernehmlich ist geht es ziemlich zügig über die Bühne. Und mit ihrer Unterschrift, hat Mao bereit erklärt, dass sie es auch möchte.“

„Das hat uns gerade noch gefehlt.“, murmelte Tyson. Er wollte eigentlich endlich mal zur Ruhe kommen. Nachdenklich begann er auf und ab zu laufen. „Wann hat sie die Papiere unterschrieben?“

„Letzte Woche.“

„Das heißt das Ganze könnte schon in Bearbeitung sein?“

„Vermutlich. Ich glaube es gibt noch eine Anhörung vor einer Registerbehörde, aber ob wir da noch etwas ausrichten können…“

„Was ist denn diese Registerbehörde? Ist das eine Gerichtsverhandlung?“

„Frag mich nicht. Ich habe doch auch keine Ahnung!“, Ray hob hilflos die Hände. „In unserem Dorf lässt man sich für gewöhnlich nicht scheiden. Ich kenne niemanden außer mir, der das versucht hat. Daher ist mir dieses ganze Prozedere auch neu. Ich wüsste nicht, wen ich fragen könnte.“

„Na, deinen Anwalt!“

„Ich habe die Telefonnummer nicht hier. Die ist in meiner Unterkunft in China. Alle Dokumente zur Scheidung habe ich dort gelassen.“

„Warum hast du sie denn nicht mitgenommen?“, stöhnte Tyson.

„Weil ich dieses eine Wochenende meine Ruhe haben wollte! Eine Scheidung ist wirklich anstrengend und ich wollte eine Verschnaufpause davon.“

Das konnte er ihm nicht einmal zum Vorwurf machen.

„Und Mariah hat die Papiere auch nicht dabei?“

Ein Kopfschütteln war Rays Antwort. Tyson dachte kurz nach und fragte dann:

„Wie wäre es mit der Auskunft?“

„Der Anwalt heißt Li Yang. Du hast keine Vorstellung wie häufig dieser Name in China vorkommt...“

„Aber du weißt die Stadt in der die Kanzlei steht?“

„Kunming ist kein Bergdorf!“, lachte Ray trocken. „Diese Stadt ist eine der größten Industriestädte der Provinz Yunnan. Das wird die Suche nach der Nadel im Heuhaufen.“

„Wir könnten die Adresse googeln.“, warf Max ein. Doch auf seinen Einfall schaute Tyson mit einem unangenehm berührten Blick zur Decke.

„Ich habe keinen PC. Das wisst ihr doch…“

„Immer noch nicht?!“, fragte Max fassungslos.

„Nein. Opa hasst diese Dinger! Er sagt so etwas kommt ihm erst ins Haus, wenn seine Leiche unter der Erde liegt. Er bekommt ja schon einen Anfall, wenn er eine Horde Jugendlicher zusammensitzen sieht und alle nur auf ihr Handy starren.“

„Hey, unsere Handys!“, klatschte Max begeistert.

„Die liegen im Hotel und selbst dann wird es schwierig die Adresse zu finden.“

„Oh… Mein Gott Tyson, wie könnt ihr nur so hinterwäldlerisch sein?“

„Hey, ich bin auch ganz gut ohne PC aufgewachsen, okay?! Ich mag diese scheiß Stromfresser auch gar nicht! Und wenn es wirklich mal notwendig war, habe ich Kenny mit seiner Dizzy kommen…“

Tyson verstummte und auch der Rest blieb einen Moment ruhig, beim Gedanken an das verschiedene Bit Beast. Irgendwann schüttelte er den Kopf, um die trübsinnige Überlegung zu verscheuchen.

„Es muss doch eine Lösung geben den Anwalt zu erreichen.“

„Selbst wenn er ihn erreicht, Tyson, was ist wenn ein Telefongespräch nicht ausreicht?“, fragte Max in den Raum. „Ich bin vielleicht auch kein Spezialist, aber womöglich verlangt der Anwalt ein Dokument, dass ihm schwarz auf weiß beglaubigt, dass Ray die Scheidungspapiere zurückzieht. Wahrscheinlich kommt er durch den ganzen Arbeitsaufwand auch nicht um eine gepfefferte Rechnung herum! Oder der Anwalt will sogar eine erneute Unterredung…“

„Ray ist sein Mandant. Der Kunde ist König!“, warf Tyson entnervt ein. „Wieso hat der Typ Mariah überhaupt so bedrängt? Darf der das?“

Die Antwort blieb längere Zeit aus. Ray schloss lange Zeit die Augen und seine Reaktion sagte den restlichen Anwesenden, dass er gerade mit sich haderte. Als Max ihn erneut ansprach, seufzte er schwer.

„Kurz bevor wir in der Irrlichterwelt gestrandet sind – da war ich wirklich unglaublich wütend auf Mao. Es war so schlimm, dass ich sie am liebsten in die Hölle gewünscht hätte.“, gestand er beschämt. Etwas überrascht tauschten Tyson und Max Blicke aus. Natürlich war ihnen nicht entgangen, das Ray gekränkt wirkte, doch einen solchen Zorn hatte er sich nicht anmerken lassen. „Diese Wut… Es fühlte sich an, als würde ich tief in der Magengrube einen Schrei unterdrücken, den ich nicht hinausbrüllen darf! Der Gedanke das sie mich betrogen hat, war eine furchtbare Demütigung für mich.“

„Sowas verkraftet doch niemand leicht.“, sprach Max verständnisvoll.

„Ja vielleicht… Aber dieser ganze Zorn der sich in mir angefressen hatte, hat mich nur noch daran denken lassen, wie ich Mao am besten verletzen kann. In mir hatte sich wirklich der Wunsch festgenagt, mich an ihr zu rächen. Also habe ich mich gleich nach meiner Ankunft in Kunming, nach dem hartnäckigsten Scheidungsanwalt umgehört. Ich wurde natürlich auch irgendwann fündig. Und als wir uns trafen, fragte er mich, wie weit ich gehen wolle, um die Scheidung durchzuboxen. Ich habe ihm gesagt, dass Mao keinen Groschen sehen darf, ich das Haus behalten möchte und kein Unterhalt für das Kuckuckskind in Frage kommt. Und dazu wäre mir jedes Mittel recht.“

Ray schaute schuldbewusst zur Seite.

„Natürlich hätte sie auch einen Anwalt nehmen können, aber ich habe unsere Konten geräumt, damit sie keinen von meinem Einkommen bezahlen kann. Sie selbst ist ja nur Hausfrau. Aber ich wusste ohnehin, dass Mao in derlei Dingen nicht bewandert ist. Also habe ich ihm gesagt, er soll zusehen, dass sie mit dem Kind auf der Straße landet. Je eher, desto besser.“

Tyson klappte einen Moment der Mund auf. Natürlich verstand er, dass Ray sich nach einem solchen Betrug, gewissen Rachegelüsten hingab, aber dieses Verhalten passte nicht zu ihm.

„Wow…“, kam es geschockt von Max. „So kenne ich dich gar nicht.“

„Ich mich auch nicht!“, keuchte Ray gequält aus. „Und das Schlimme ist, dass der Anwalt meinte, ich könne mich darauf verlassen, dass die Scheidung innerhalb einiger Tage durch sei. Er habe Kontakte zu angesehenen Scheidungsrichtern, die mit ein wenig Geld unter der Hand, Mao ganz schnell aus dem Haus jagen könnten. Ich müsste es mich nur etwas mehr kosten lassen. Ich habe den Betrag bezahlt und er versprach mir dafür zu sorgen, dass sie die Papiere innerhalb der nächsten Woche unterschreibt.“

Es kehrte Stille ein. Tyson bemerkte aus den Augenwinkeln, wie sich Kai langsam der Gruppe zuwandte. Auch ihm schien klar zu sein, wie ernst die Lage für das junge Paar war.

„Als ich vorhin mit Mao telefoniert habe, hat sie gesagt, dass der Anwalt wirklich sehr energisch gewesen sei. Er muss sie regelrecht genötigt haben zu unterschreiben. Sie meinte, er habe ihr Angst gemacht. Vor allem kam er nicht allein. Er hat zwei riesige Typen bei sich gehabt.“

„Wurde sie bedroht?“, wollte Tyson wissen. Der Gedanke schoss im sofort durch den Sinn, weil er sich so eine Situation sehr beängstigend vorstellte, vor allem für eine Frau in Mariahs Verfassung.

„Nicht direkt. Er soll aber ständig mit unterschwelligen Drohungen gearbeitet haben. So auf die Art, wenn du nicht unterschreibst, könnte sich deine Untreue herumsprechen und wie schrecklich muss es dann für dein armes Kind sein, als Bastard verrufen zu sein.“

„Was ist das denn für ein Anwalt?“, fragte Max.

„Der beste von seinem Fach.“, Ray massierte sich die Nasenwurzel. „Wahrscheinlich deshalb. Und ich habe ihm auch noch den Freibrief erteilt…“

„Wie konntest du dich auf so einen Handel einlassen?“

„Ich war so unglaublich wütend! Ich wollte mich einfach nur gegen diese Ungerechtigkeit wehren! Wenn wir nicht in der Irrlichterwelt gelandet wären, hätte ich meine Frau, samt meinem eigenen Kind, auf die Straße geworfen!“, er schloss die Augen, lehnte sich wieder an die Wand, den Kopf in den Nacken gelegt. „Aber das wirklich Schlimme an der Sache ist, dass ich jetzt verstehe, was Galux gemeint hat. Ich bin wirklich wie Driger. Wenn ich mich rächen will, kann ich nicht mehr zwischen richtig oder falsch unterscheiden. Stattdessen mache ich meine eigenen Gesetze. Ich bin dann einfach nur noch furchteinflößend und suche nach einem Weg, meine Ehre wiederherzustellen.“

Etwas unbeholfen schaute Tyson zum Rest seiner Freunde. Er wusste nicht was er darauf erwidern sollte, da fiel ihm auf, wie Max sich nachdenklich über den Hals fuhr. Er erinnerte sich wohl daran, wie Ray ihn beinahe im Schlaf erwürgt hatte. Stille kehrte zwischen ihnen ein. Jeder dachte an Galuxs warnende Worte. Doch irgendwann durchbrach Tyson das Schweigen.

„Okay… Also wie geht es weiter?“

„So wie es aussieht, muss ich jetzt erst einmal zu Mao ins Hotel.“, sprach Ray. „Da die Entwarnung gekommen ist, ist sie jetzt auf ihrem Zimmer. Ich habe ihr gesagt, sie soll schnell die Sachen packen und an der Rezeption darum bitten, uns die frühesten Flüge zu buchen. Für Max sucht sie auch nach einem Ticket in die Staaten. Dann könnten wir vielleicht heute noch alle vom selben Flughafen aus fliegen. Wenn du uns zu Mao fahren könntest und danach bei unseren Hotel ablädst, könnten wir von dort aus alle zusammen ein Taxi-…“

„Ich bringe euch selbst zum Flughafen. Erzähl nicht so einen scheiß!“

Ein Schmunzeln kam von seinen Freunden. Natürlich wussten sie dass dieses Angebot kommen würde, doch man wollte Tyson einfach die Wahl lassen.

Eine Weile wurde es ruhig. Dann sprach er: „Wow… Das geht jetzt alles doch recht schnell.“

Irgendwie wurde Tyson traurig, aber das war normal. Wann immer die beiden in die Heimat aufbrachen, überkam ihn ein Gefühl der Beklommenheit. Da spürte er jedoch Maxs Hand auf seiner Schulter. Er schaute ihn mit einem aufmunternden Ausdruck an.

„Kopf hoch, Kumpel. Wir sehen uns in drei Monaten wieder. Und dann ohne rachsüchtige Bit Beast. Diese Woche wird dann genau so, wie wir uns das vorgestellt haben.“

„Und du bist dann gefälligst auch wieder dabei, Kai. Du weißt was du uns im Wagen versprochen hast?“

Etwas irritiert blinzelte Tyson zu seiner Seite. Er hatte gar nicht bemerkt, dass auch Kai scheinbar recht enttäuscht wirkte, ob der Botschaft dieses frühzeitigen Aufbruchs. Auf Rays Worte hob er jedoch den Blick und nickte nach einer Weile - mit einem leichten Lächeln auf den Lippen.
 


 

*
 

Es gab Orte in der Menschenwelt, da kostete es selbst ein Bit Beast große Überwindung, nicht der Trägheit zu verfallen und die Beine baumeln zu lassen. Hawaii war einer dieser Flecken. Wenn Dragoon einmal hier halt machte, nutzte er gerne die Zeit, um die Wellen vor der Küste anzupeitschen und die Surfer zu beobachten, die in atemberaubenden Stunts auf ihnen hinwegfegten. Doch heute landete er nur in Honolulu, um eine winzige Verschnaufpause zu machen. Mehr durfte es nicht sein, das gestattete seine Zeit nicht. Hier auf der Insel war kein einziges offenes Portal noch zu spüren. In Japan dürften die Schotten schon gänzlich dicht sein und desto länger er brauchte, desto mehr würde sich Dranzer an der Energie der Menschen dort laben. Das bereitete ihm seit seinem Aufbruch vom amerikanischen Kontinent Kopfzerbrechen. Während er seine Energie für den Flug nach Japan immer weiter verschwendete, würde Dranzer zunehmend erstarken. Zu seinem Bedauern musste er außerdem feststellen, dass er sein Menschenkind zwar spüren, aber nicht auf dessen Energie zugreifen konnte. Etwas störte ihre Verbindung. Ihr Unverständnis füreinander schien ihr Band gestört zu haben, daher schwächelte Dragoon gerade und ihm blieb irgendwann keine andere Möglichkeit, als auf einem der Hochhäuser der Stadt, eine kurze Rast einzulegen. Dragoon stützte sich an den Knien ab und schnaufte schwer, während er den Blick über die tropische Landschaft wandern ließ, zur Nachbarinsel hinüber. Er brauchte Takao eigentlich mehr denn je…

Mit einem Mal wurde ihm bewusst, wie vollgepumpt der Junge doch von Willenskraft war. Schon immer war die Blutlinie der Takao entstammte, von dieser immensen Stärke gesegnet gewesen. Jeder seiner Ahnen besaß viel Wind in der Seele, aber sein Menschenkind war schon eine Klasse für sich. Doch nun schien ihm diese Quelle verwehrt.

Etwas zähneknirschend dachte Dragoon, wie schwierig es werden würde, ein ähnliches Kind zu finden. Natürlich könnte er versuchen, mit Takao wieder ins Reine zu kommen, doch ob er diese Wogen jemals glätten könnte?

Etwas Stolz war ihm zudem noch geblieben. Das sich ein Uralter bei einem Menschen entschuldigen sollte, schien ihm undenkbar. Ein Wind kam auf. Es fühlte sich erfrischend auf seiner Haut an. Dragoon hatte das Gefühl ein Luft Bit Beast hinter dieser Böe zu spüren. Das gab ihm sofort neue Energie. Seine Untergebenen mussten mittlerweile wissen, wie viel von seinem Erfolg abhängte und das sie ihn unterstützen sollten. Ihm war vor kurzem schon aufgefallen, dass die Balance auf der Welt etwas ausgeglichener wirkte, wenn auch noch bedrohlich in der Schräglage war. Scheinbar musste die Strommaus tatsächlich Erfolg bei ihrer Sippe gehabt haben und sein Plan bereits in die Tat umgesetzt worden sein. Während er seine Rast einlegte, überlegte Dragoon, ob es nicht besser war, seinen menschlichen Körper abzulegen. Dessen Handhabung kostete ihn ebenfalls viel Kraft. Doch wenn er diese Hülle abstreifte, müsste er zurück in seinen Blade. Und der konnte nur mit Takaos Unterstützung in Bewegung gebracht werden. Er musste einfach schneller sein. So rasch wie möglich zu Dranzer gelangen, bevor seine Energie aufgebraucht war. Gerade wollte Dragoon wieder starten, da spürte er, wie sich etwas Bedrohliches hinter ihm aufbauschte. Er wandte sich um und ließ den Blick über das Meer schweifen. Neben ihm war ein hoher Mast aufgetürmt, an dessen Spitze das hawaiianische Wappen, lustlos herabbaumelte. Dragoon roch es in der Luft.

Da stürzte er sich ohne Vorwarnung vom Gebäudedach herab.

Der Wind rauschte während seinem Flug an seinen Ohren vorbei. Er sah den Erdboden auf sich zurasen und desto mehr er sich ihm näherte, hörte er das panische Kreischen der Passanten, als sie seinen freien Fall bemerkten. Köpfe reckten sich zu ihm herauf. Eine Gruppe stob auseinander und die Frauen schlugen die Hände vor die Augen, in Erwartung eines schlimmen Unheils. Doch Dragoon überzog den sterblichen Körper mit Drachenschuppen. Er vollführte kurz vor dem Aufprall eine Rolle und kam lautstark auf den Füßen auf, dass der Zement unter seinem Gewicht barst. Ein roter Wagen machte neben ihm einen Hopser, genau wie die Menschenmenge um ihn herum. Es sah eigentlich recht witzig aus, wie es sie von den Füßen fegte. Drachen konnten zwar Fliegen, waren deshalb aber nicht leicht. Neben ihm kreischte eine Frau in ihrer heimischen Zunge, hielt die Augen fest zusammen gekniffen.

„Ich will das nicht sehen! Ich will das nicht sehen!“, jammerte sie.

„Hör auf zu nerven, du blödes Weib! Ich lebe noch!“, fuhr Dragoon sie an. Dennoch wagte sie nicht aufzusehen. Die Frau blieb auf dem Boden liegen und presste die Hände fest auf ihre Augen, während ein Mann, zu ihrer Seite, sich aus geweitetem Blick aufrichtete.

„Schatz! Mach die Augen auf.“

„Bist du verrückt!“

„Der Kerl lebt noch!“

„Oh Gott, ich will ihn nicht krepieren sehen...“, wimmerte sie jedoch nur angsterfüllt.

Dragoon rollte entnervt mit den Augen und stemmte die Arme in die Seiten. Er schaute sich um. Ein Menschenkreis hatte sich um ihn gebildet. Viele Gesichter reckten sich in seine Richtung. Der Hund eines kleinen Jungen zog wie verrückt an der Leine. Sein winseln schallte über die Menge. Jene Menschen die sich bereits wieder aufgerichtet hatten, erhoben sich langsam aus der Hocke, wagten nicht ihm näher zu kommen, während die hinteren Ränge, sich neugierig auf die Zehenspitzen stellten. Dragoon sah einen alten Greis dicht vor sich und deutete auf ihn. „Du da! Alter Mensch!“

Der Greis zuckte perplex zurück, starrte ihn mit aufgesperrtem Kiefer an. Für Dragoon eine typische menschliche Reaktion. Dragoon wusste nicht woran es lag, aber jedes Mal, wenn er in einem toten Körper, einen Abstecher in die Menschenwelt wagte, zog er ständig die Aufmerksamkeit der Sterblichen auf sich. Inzwischen deutete der alte Greis auf sich.

„Meinen sie mich?“

„Natürlich. Wer ist euer Anführer?“

„Unser Anführer?“

„Ja. Auf dieser Insel.“

„Ich verstehe nicht…“

„Du liebe Zeit, seid ihr Sterblichen stumpfsinnig!“, schlug Dragoon sich gegen die Stirn. Dann sprach er. „Wer kann eurem Anführer sagen, dass bald ein Tsunami die Insel trifft?“

Das Getuschel um ihn wurde lauter.

„Soll das ein Scherz sein?“

„Keinesfalls.“

„Junge, mit so etwas spaßt man nicht!“

„Tue ich auch nicht. Ihr solltet euch deshalb lieber in Sicherheit bringen.“

„Erst von einem Hochhaus springen und alle in Panik versetzen und dann das?!“, beklagte sich eine recht verärgert wirkende Frau. Ihr faltiges Gesicht war von Zorn gezeichnet und sie schien die Mutter des Jungen zu sein, der die Töle an der Leine hielt. Dragoon schaute das Tier mit verächtlichem Ausdruck an. Hunde konnte er einfach nicht ausstehen, da fragte die Frau: „Sind sie von einem Fernsehsender?“

„Ich weiß nicht was das sein soll.“, sprach er mit einem Schulterzucken. „Aber ihr seid gewarnt! Normalerweise sage ich euch Sterblichen nicht einmal Bescheid, wenn euch etwas bald um die Ohren fliegt, aber in diesem Fall mache ich eine Ausnahme, weil ich nicht ganz unschuldig an diesem Zustand bin.“

Er trat mit dem rechten Fuß demonstrativ auf den Boden.

„Wenige Kilometer von hier, muss es ordentlich gewackelt haben. Ich bin zwar nicht vom Fach, aber wenn Draciel mir das richtig erklärt hat, sind das die besten Voraussetzungen für einen Tsunami. Ich kann bereits feuchten Sand riechen, weil sich das Wasser an eurer Küste zurückzieht. Ein Vorbote dafür, dass sich das Wasser an einer anderen Stelle sammelt.“

Er deutete zum Meer, wo sich die hellere Sandschicht, deutlich von der nassen abzeichnete.

Die Köpfe der Menschen wandten sich seinem Fingerzeig zu. Einige sahen sich unsicher an. Da fuhr Dragoon auch schon fort.

„Der Wind trägt mir außerdem lautes Rauschen ans Ohr. Das ihr Menschen das nicht hören könnt, ist mir wirklich schleierhaft, aber eure Sinne waren ja schon immer plump.“

„So ein Quatsch.“, sprach ein junger Mann. Er trug weite Hosen, die ihm viel zu weit um die Hüften schlabberten und kaum einen Hintern andeuteten. Dragoon fand, er hätte sich genauso ausziehen können, aber Menschen schienen eine obskure Abneigung dagegen zu haben, sich in der Öffentlichkeit entblößt zu präsentieren.

„So so… Quatsch? Und was ist mit den Tieren?“, fragte er höhnisch.

„Was soll mit denen sein?“

Dragoon deutete auf zum Himmel. Dort flog gerade ein Schwarm schnatternder Möwen fort.

„Uuuh!“, tat der freche Mann unbeeindruckt. „Möwen die davon fliegen! Etwas ganz neues auf Hawaii. Ich bin froh wenn die blöden Viecher mir mal nicht die Terrasse voll kacken…“

„Na schön, Schlabberhose.“, tat Dragoon eine wegwerfende Handbewegung. „Ich habe euch gewarnt. Man kann mir also nicht nachsagen, dass ich nicht zumindest guten Willen bewiesen habe. Was ihr mit meinem Wissen anstellt, bleibt euch selbst überlassen…“

„Hawaii besitzt ein Frühwarnsystem.“, kam es aus einer anderen Ecke. „Wir lassen uns doch nicht in Panik versetzten, nur damit ihr Mistkerle vom Fernsehen, euch in irgendeiner Show kaputtlachen könnt.“

„Wie ihr wollt. Ihr hättet locker eine Stunde Vorsprung haben können. Wenn ihr mich nun entschuldigt… Ich werde an anderer Stelle gebraucht. Zu dumm, dass jede Köter bessere Sinne hat, als ihr. Der Kläffer winselt nämlich aus Angst. Nicht weil er von der Leine will.“
 

Und schon gleich darauf, hob Dragoon wieder in die Luft ab, eine Menschenmenge hinter sich lassend, die darüber spekulierte, mit welchen technischen Hilfsmitteln man einen Mann so wendig zum Fliegen bringen konnte. Bis eine Stunde später die Sirenen des Frühwarnsystems erschallten. An diesem Tag wurde kein Bericht gesendet, der davon handelte, wie man einige arglose Passanten hereingelegt hatte – aber darüber das Hawaii nun eine Insel weniger besaß.
 


 

*
 


 

Tyson breitete ein frisches Laken über seinem Bett aus, während Kai hinter ihm geduldig darauf wartete, bis er fertig war, seine kleine Schwester behutsam in den Armen haltend. Die hatte ihr Köpfchen auf dessen Schulter gebettet und war mit offenem Mund eingedöst. Irgendwann war es verdächtig ruhig im Wohnzimmer geworden und als Kai nachschaute, lag das Mädchen mit einem Sofakissen auf dem Teppich, lutschte dabei geräuschvoll an ihrem Daumen, während ihre Augen immer kleiner wurden. Kurz darauf hatte Kai ihn gefragt, wo seine Schwester schlafen könne. Natürlich bot er sein eigenes Bett dafür an, auch wenn Tyson zugeben musste, dass es nicht unbedingt aus reiner Nächstenliebe geschah.

In all den Jahren, in welchen er hier wohnte, hatte er sich nämlich geweigert, ein größeres Bett zu kaufen. Wenn nämlich eine seiner Verflossenen zu betrunken gewesen war, um den Heimweg anzutreten, hatte er ihr mit einem charmanten Lächeln sein eigenes Bett angeboten, aber dabei ausdrücklich betont, dass er nicht einsehe auf dem ungemütlichen Boden zu schlafen. Meistens hatten die Mädchen sich dann geziert und gemeint, er solle bitte seine Finger über Nacht bei sich behalten. In den meisten Fällen war es nur ein guter Vorsatz geblieben…

Natürlich hatte Tyson keine Ambitionen, gerade mit Jana in einem Bett zu schlafen, aber zumindest war sein Bett zu eng, damit Kai auf die Idee kam, auch hier zu übernachten und er wäre gezwungen, mit ihm im Dojo zu bleiben. Als er in sein Zimmer trat, sah der sich auch nachdenklich um. Irgendwann bemerkte Tyson aber, das er ziemlich verwirrt wirkte.

„Was ist los?“

„Ich… Ich war der festen Überzeugung das dein Zimmer im Erdgeschoss liegt.“

Einen Moment hielt Tyson inne, bis er begriff was Kai beschäftigte. Durch den Umbau war er nach oben gezogen, während sein Großvater bald die kompletten Räumlichkeiten unten beziehen würde. Das musste Kai irritieren, weil in seiner Erinnerung alles anders aussah. Für ihn war Tysons Zimmer immer im Erdgeschoss gewesen. Jetzt verstand er auch, weshalb er so gezögert hatte, als er ihn die Treppe hinaufführte. Geradezu hilflos hatte Kai ihm vom Absatz aus nachgeschaut, bis er sein Zaudern bemerkte und sich zu ihm umdrehte. Erst dann folgte er ihm langsam hinauf.

„Das war es auch. Keine Sorge. Dein Verstand spielt dir keinen Streich.“

„Ich kann mich nicht erinnern, überhaupt einmal hier oben gewesen zu sein?“

„Wirst du wahrscheinlich auch nicht. Dieser Bereich gehörte bis vor wenigen Monaten noch Opa. Wenn ich Gäste empfangen habe, dann immer nur unten. Er will aber demnächst runter ziehen, dann bekomme ich das große Schlafzimmer. Aus dem oberen Abteil wird eine eigene Wohnung und nächste Woche ist auch schon der separate Eingang fertig. Naja, obwohl bei diesem Wetter könnte sich das jetzt verzögern.“, Tyson behielt für sich, dass er auf diese räumliche Abtrennung bestanden hatte, weil er nicht wollte, dass seine Liebschaften durch die untere Etage liefen, wenn sie nachhause wollten. Ihm war es irgendwann doch peinlich geworden, wenn sein Großvater ihn mit erhobener Braue taxierte, weil eine andere Frau als wenige Wochen zuvor, sein Schlafzimmer verließ. Vor Kai wollte er erst recht nicht darüber sprechen. Jetzt wusste er auch, weshalb er sich immer dagegen gesträubt hatte, ihm etwas von seinem Sexleben zu erzählen. Daher erklärte Tyson an ihn gewandt: „Für Großvater ist das ständige Treppensteigen zu anstrengend geworden. Er schnauft jedes Mal aus dem letzten Loch, wenn er hier hochkommt. Also entweder muss ein Fahrstuhl her oder er zieht nach unten.“

„Dein Großvater ist sehr…“, Kai zögerte.

„Laut, forsch, ein verrückter Spinner?“, witzelte Tyson.

„… alt geworden.“

Er sprach es überrascht aus. Wieder eine Sache die Kai zu irritieren schien. In solchen Momenten fragte sich Tyson, wo er gerade in seiner Entwicklung steckte. Kamen seine Erinnerungen überhaupt in der richtigen Reihenfolge zurück, oder hielt alles komplett durcheinander in dessen Kopf Einzug? Er stellte sich diese Situation ziemlich schwierig für ihn vor und doch trug Kai es mit dieser gewissen Würde, die ihm so eigen war.

„Menschen werden nun mal älter mit den Jahren.“

„Ja… Ihr seid auch älter geworden.“

„War es seltsam für dich uns als Erwachsene zu erleben?“

„Sehr seltsam.“, gestand er leise. Das konnte Tyson ihm nicht verdenken. Er warf die Decke auf das Bett zurück und hob sie an. Nach einem auffordernden Nicken kam Kai in Bewegung. Ihm fiel auf, dass er sich bemühte, nicht all zu nahe an ihn heranzutreten. Dabei kam Tyson nicht umhin, sich darüber zu ärgern, dass seine Freunde ihm zuvor so in die Quere gekommen waren. Mittlerweile war er ziemlich sicher, dass er eine ernsthafte Chance auf einen Kuss gehabt hätte. Eine Minute mehr und sie würden jetzt nicht in dieser Grauzone stecken. Doch nun lag diese unangenehme Stimmung zwischen ihnen. Ein erster Kuss hätte die Fronten bestimmt geklärt. So mussten sich beide aber nun fragen, was sie aus dem Verhalten des jeweils anderen interpretieren sollten – und wie weit sie noch gegangen wären.

Tyson beobachtete Kai dabei, wie er seine Schwester vorsichtig ins Bett verfrachtete. Dabei streiften sich ihre Arme, als er hilfsbereit die Decke über sie legte. Diese flüchtige Berührung ließ Kai inne halten und zu ihm aufschauen.

„Bist du nervös?“, fragte Tyson geradeheraus.

Er konnte sich nicht helfen – man hörte förmlich den Schalk in seiner Stimme.

„Habe ich einen Grund dazu?“

„Das kommt wohl auf deine Erwartungen an.“

Kai strich nachdenklich die Decke über Janas schmächtigen Körper glatt.

Sie drehte sich nur auf die Seite und schlummerte weiter.

„Tyson?“

„Hmm…“

„Ich kann nicht mit zum Flughafen kommen. Wegen Jana…“

Das gar nicht auf seine Anspielung eingegangen wurde, machte ihm doch Sorgen. Es schien Tyson fast, als wolle Kai ihr Erlebnis komplett ausblenden.

„Ich glaube das haben sich die beiden schon gedacht.“, er überlegte kurz, wie er am besten vorgehen könnte. „Willst du warten, bis ich zurückkomme, oder soll ich dir gleich das Bettzeug für den Dojo herrichten?“

„Ich denke sie haben es eilig. Ihr solltet keine weitere Zeit verlieren.“

Nachdem er sich vergewissert hatte, dass Jana auch fest schlief, erhob sich Kai wieder von der Bettkante und wandte sich der Tür zu. Tyson fiel auf, dass er sich bemühte, ihm nicht ins Gesicht zu schauen. Er tat einen tiefen Atemzug, nahm seinen Mut zusammen und sprach: „Gut. Vielleicht könnten wir dann noch einmal miteinander reden?“

Kai blieb stehen. Wenn er jetzt fragte, was es zu bereden gab, dann wäre die Sache für Tyson klar. Dann wollte er den Vorfall schnellstens vergessen und sie würden den Rest ihres Lebens darüber schweigen. Ob er nun wollte oder nicht…

Ihm kam die Minute bis Kai antwortete unendlich lange vor.

„Darf ich dich etwas fragen?“

Ein zentnerschwerer Klotz machte sich in seiner Magengrube breit. Die Entscheidung war dann wohl gefallen. Etwas enttäuscht murmelte er: „Ja. Klar…“

„Wie stehen wir beide zueinander?“

Tyson blinzelte ihn verdutzt an. Das war nicht die Frage die er erwartet hatte.

„Du meinst wie unsere Beziehung zueinander ist?“

„Ja.“, Kai spähte über seine Schulter hinweg zu ihm nach hinten. „Du hattest doch gemeint wir streiten oft. Aber das da draußen…“

„War ein wenig zu vertraut?“

Ein zögerliches Nicken folgte.

„Ab und zu fliegen die Fetzen zwischen uns. Auch wenn es vorhin nicht den Anschein machte. Das weißt du ja mittlerweile.“

„Aber das da draußen - was war das?“

Nun wandte er sich ihm vollends zu, schaute ihn fragend an.

„Wie meinst du das?“

„Ist das normal unter uns? Ich meine… Kam das öfters vor?“

Eine Weile starrte Tyson verständnislos zurück. Da weitete sich sein Blick, als der Groschen endlich fiel. Kai fragte sich, ob sie bereits eine Affäre hatten und ihm die Erinnerung dazu einfach noch fehlte. Eine hinterhältige Sekunde überlegte er, ob er tatsächlich flunkern sollte. Einfach um zu schauen wie Kai reagieren würde. Vielleicht warf er sich ihm in die Arme und ein Kuss sprang heraus? Wenn das das Eis zwischen ihnen nicht brechen würde…

Doch irgendwann schüttelte Tyson den Kopf, um die Überlegung zu verscheuchen und ermahnte sich, nicht mit seinem Kleinhirn zu denken. Das hier war nicht eines seiner Betthäschen - sondern Kai. Sein Kai…

Sie kannten sich eine Ewigkeit, ihm lag viel an ihm und doch ging er mit denselben fragwürdigen Methoden auf Angriff, wie bei seinen Verflossenen. Das war wohl die Macht der Gewohnheit – oder auch derselbe Egoismus wie ihn Dragoon besaß. Tyson schluckte bei dem Gedanken.

„Ehrlich gesagt nein. Das kam noch nie zwischen uns vor.“, er kratzte sich am Nacken und seine Antwort ließ auch Kai still werden. „Glaubt man kaum, oder? Nach allem was da draußen war.“

„Ja. Allerdings…“

Beide schauten zu Boden. Nach all den Zärtlichkeiten, all den Worten zwischen ihnen, musste das wirklich merkwürdig wirken.

„Dann ist das also eine völlig neue Entwicklung?“, wollte Kai wissen.

„So kann man es wohl nennen. Naja, ich weiß nicht so recht.“, er räusperte sich, um den Kloß in seinem Hals zu lockern. Beinahe wäre ihm herausgerutscht, dass seine Gefühle offenbar schon länger unter der Oberfläche lauerten. „Doch. Ich denke das alles ist ziemlich neu für unsere Verhältnisse.“

Betretenes Schweigen kehrte ein. Diese Stimmung war unerträglich, weil Kai nicht aussprach, was er dachte – Tyson aber auch nicht. Er wollte aber vorankommen.

Jemand musste doch den ersten Schritt wagen. Er holte tief Luft. Einmal, zweimal…

Dann überwand Tyson die letzten Meter zwischen ihnen und ergriff zaghaft Kais Finger. Dessen Blick hob sich prompt, als hätte er ihn damit aus seinen Überlegungen gerissen.

„Bereitet dir das Sorge?“, wollte er wissen.

Kai dachte lange nach, wog seine Antwort gründlich ab. Er blinzelte zu oft, was ein offensichtliches Zeichen seiner momentanen Unsicherheit war. Aus dem Erdgeschoss schallten die Stimmen der anderen hinauf. Sicherlich machten sie sich bereit zum Aufbruch, dabei wollte Tyson ihnen noch wärmere Kleidung aus dem Wandschrank heraussuchen.

Doch er musste es jetzt einfach wissen, sonst könnte er die ganze Fahrt über an nichts anderes denken.

„Kai?“

Der schaute aber nur auf ihre Hände herab. Es war derselbe vertraute Anblick den sie erst vor kurzem geboten hatten. Tyson hätte schwören können, dasselbe Knistern zwischen ihnen zu spüren, wie draußen unter der Straßenlaterne.

„Nein. Irgendwie nicht…“, er klang selbst überrascht darüber. Es ließ Tyson erleichtert Aufkeuchen und die Euphorie von zuvor nistete sich wieder in seinem Körper ein. Das könnte seine Chance sein.

„Lass uns noch einmal darüber reden wenn ich zurück bin! Heute noch… Ja?“

Es war mehr ein Drängen als ein Vorschlag. Er wollte sich wirklich bemühen, Geduld zu beweisen, doch die bloße Vorstellung, dass Kai seine Gefühle erwidern könnte, ließ ihn rastlos werden. Tyson war sich ziemlich sicher, dass er nicht mehr in der Lage war, seine Sehnsucht vor ihm zu verbergen. Und Kai schaute ihn auch unendlich lange an…

Der Himmel allein mochte sagen was ihm durch den Kopf ging. Immer wieder senkten sich die Lider über dem schönen Augenpaar, forschten in seinem Gesicht nach etwas, was ihm eine Antwort darauf gab, wie er nun handeln sollte.

„Tyson, ich…“, kam es vorsichtig. „Ich bin nicht sicher, ob wir bei einer Unterhaltung nicht etwas ans Tageslicht befördern, was vielleicht besser im Dunkeln bleiben sollte.“

„Das wissen wir beide nicht. Aber wir könnten es doch herausfinden?“

„Du sagst das so leicht. Denkst du nicht an dein Umfeld? Wäre es nicht besser, wenn wir die Dinge so belassen, wie sie sind?“, fragte Kai, doch klang er selbst nicht so überzeugt von seinem eigenen Vorschlag. „Weißt du, ich will einfach diese Freundschaft zu dir nicht aufs Spiel setzen. Sie ist mir wirklich wichtig geworden. Nach den letzten Tagen mehr denn je.“

„Was fühlst du für mich?“, wollte Tyson wissen. Die Frage war aus ihm herausgerutscht, noch bevor er seiner Zunge Einhalt gebieten konnte. Doch die Unwissenheit machte ihn ungeduldig. Er brauchte eine Antwort. Kais Augen weiteten sich, schauten ihn überrumpelt ob seiner Offenheit an.

„Was ich fühle?“

„Ja. Hörst du gerade auf deinen Kopf? Redet er dir diese Zweifel ein?“

„Warum fragst du mich das?“

„Weil ich dich sehr gut kenne. Du warst schon immer ein Kopfmensch. Das hat dir vielleicht auch sonst geholfen, aber bei solchen Dingen wie jetzt, ist er kein guter Berater. Lass deinen Kopf außen vor.“

„Außen vor…“, wiederholte Kai seine Worte nachdenklich.

„Nur dieses eine Mal!“, drängte Tyson ihn weiter. „Kannst du mir zuliebe nicht deine Logik einfach mal über Bord werfen? Eine einzige Unterhaltung! Mehr verlange ich nicht. Gib mir diese eine Chance dich zu überzeugen.“

Etwas an Kais Blick veränderte sich, kaum dass die Worte über seine Lippen gekommen waren. Plötzlich schienen alle seine Zweifel davon gefegt worden zu sein, wie Blätter die vom Wind davon getragen wurden. Er schaute ihn nur noch an – mit Augen voller Mitleid, Bedauern, aber auch tiefer Zuneigung. Da beugte sich Tyson vor und raunte ihm ins Ohr: „Es fühlt sich an als ob ich innerlich platze. Ich muss das einfach loswerden. Bitte Kai…“

Er vernahm ein leises Seufzen neben sich. Dann folgte endlich die erlösende Antwort.

„Eine Unterhaltung bin ich dir wohl schuldig. Wenigstens eine.“

Tysons Magen begann vor Aufregung zu flirren. Er würde alles geben, um Kai für eine Beziehung zu erwärmen – alle Zweifel bei ihm auszumerzen.

„Danke.“

Sie verharrten einen Moment wie sie waren. Tysons Kinn ruhte beinahe auf Kais Halsbeuge, er konnte sogar dessen Geruch einatmen. Hätte er seinen Kopf nur noch ein wenig mehr zur Seite geneigt, würden sich ihre Gesichter aneinanderschmiegen und doch stieß Kai ihn nicht fort, ließ zu, das Tyson die Hand zwischen seinen Fingern fest umschloss. Da hörte er wie sein Großvater ihn von unten rief, da sie beide schon zu lange weg blieben. Nur schwer fand er die Muße einen Schritt zurück zu tun, bemerkte dabei, dass Kai die ganze Zeit die Augen geschlossen gehalten hatte. Erst als er den Kopf zu ihm hob, öffneten sich die Lider wieder.

„Ich werde mich beeilen.“, versprach Tyson.

„Mach das nicht. Bleib lieber vorsichtig da draußen.“

„Sorgst du dich etwa um mich?“, wollte er wissen. Auf sein verschmitztes Grinsen hoben sich auch Kais Mundwinkel. Doch er blieb ihm die Antwort schuldig.

„Unterschätz das Wetter nicht.“, riet er stattdessen.

„Es ist schon besser geworden.“

„Trotzdem… Nichts drängt dich. Ich warte.“

„Das ist das erste Mal das du auf mich wartest.“, fiel ihm auf. Ihre Blicke trafen sich und Tyson erhaschte ein Lächeln vor sich. Die Luft um sie herum schien regelrecht unter Spannung zu stehen. Kai musste etwas für ihn empfinden. Es konnte doch gar nicht anders sein. Und so sehr sich Tyson auch bemühte - er erlag vollkommen seiner Hoffnung.
 


 

*
 

Mariahs gepackter Koffer lag noch aufgeklappt auf dem Bett. In ihren Flitterwochen mit Ray, hatte sie so viele Sachen eingepackt, dass sie den Deckel nicht alleine zubekam. Erst nachdem sie sich auf den Koffer setzte und ihr Mann mit einem amüsierten Grinsen meinte, dass sie vielleicht keine typische Frau sei, aber dafür in Sachen Kleidung sich nicht von den anderen Vertreterinnen ihres Geschlechts unterschied, bekam er den Reißverschluss endlich zu. Dieses Mal hatte sie aber mehr Dinge für Ray eingepackt. Am Telefon bat er sie darum, den Koffer keinesfalls zu tragen, es täte dem Baby bestimmt nicht gut, wenn sie so schwere Sachen schleppte. Es hatte sie zärtlich lächeln lassen, denn nach all den vorangegangen Streitereien, ihn endlich wieder auf ihrer Seite zu wissen, war wie das glückliche Erwachen aus einem Alptraum. Mariah war sicher – jetzt würde alles gut werden.

Sie mussten nur noch verhindern, dass die Scheidung vollstreckt wurde. Neben ihr auf dem Bett lag Galux. Das Bit Beast döste seelenruhig zu ihrer Seite, wie eine ordinäre Hauskatze, die sich an ihren Besitzer schmiegte. Mariah beugte sich zu Galux herab und streckte zögerlich die Hand nach ihrem Fell aus. Es fühlte sich samtweich an, war warm und es duftete nach Tuberose, ausgerechnet Mariahs Lieblingsblume. Als sie den Geruch das erste Mal im Zimmer wahrnahm und Galux auf diesen Zufall ansprach, lächelte das Bit Beast sie milde an.

„Ich mag diese Blume auch sehr…“

Es war fast schon unheimlich wie viele Gemeinsamkeiten sie besaßen. Mit Galux zu sprechen, empfand Mariah auch als äußerst angenehm. Obwohl sie zuvor noch nie von Angesicht zu Angesicht, mit ihrem Bit Beast reden konnte, kam es ihr vor, als wüsste es bereits alle ihre Geheimnisse. Als sie dem Wesen vor sich am Nacken entlang fuhr, gab es ein wohliges Seufzen von sich. Mao fiel ein, wie sehr sie es liebte, wenn Ray das bei ihr tat. Wenn er sie manchmal massierte, wurden seine Berührungen zum Ende hin immer sanfter, sobald sich ihre Muskulatur entspannte. Dann war sie immer überrascht, wie zärtlich seine Hände sein konnten, obwohl sie doch so rau wirkten.

„Du siehst noch immer sehr müde aus.“, sprach Mao inzwischen an Galux gewandt.

„Ich bin auch müde…“, gestand es ein. Ihre Lider öffneten sich ein spaltweit, sodass sich das Blattgrün ihrer Iris erhaschen ließ. „Das ist höchst sonderbar. Ich möchte nur noch schlafen.“

„Reicht meine Energie nicht aus?“

„Du trägst ein Kind unterm Herzen. Zu viel darf ich nicht für mich beanspruchen.“

Mao legte ihre Hand ratlos auf den Babybauch. Ihr Mann hatte erklärt, dass Galux momentan ihre Energie bräuchte, aber nicht weshalb. Seit ihr Bit Beast zurück war, kam sie sich matt vor, ganz anders als bei ihrer ersten Begegnung vor dem Hotel. Eigentlich sollten sie Galuxs Worte beunruhigen, doch da war ein tiefes Vertrauen, dass sich darauf verließ, dass ihr Bit Beast nur so viel Energie abzweigte, um sich zu erholen, nicht um Mao und dem Kind zu schaden. Ihr Ungeborenes strampelte auch noch munter in dem runden Bäuchlein, trat ihr bald schon Beulen ein, also musste Galux wirklich behutsam sein. Mariah kam sich einfach nur schlapper vor als sonst, nichts was sie von der Schwangerschaft ohnehin schon kannte.

„Was ist eigentlich passiert?“

„So vieles. Ich könnte ein Buch damit füllen…“

„Willst du es mir nicht erzählen?“

Ihr Bit Beast seufzte schwer.

„Ich muss zugeben dass ich wenig Muße dazu habe.“

„Warum? Ist etwas Schlimmes passiert?“

Eine ganze Weile blieb Galux stumm. Mariah konnte sehen, wie das Bit Beast seinen Schweif enger um den Leib zog, fast so, als wolle es sich selbst umarmen. Ihr entging nicht der traurige Blick.

„Bitte sag es mir. Ich höre dir gerne zu wenn du Kummer hast.“

Galux hob den Kopf von ihren Pfoten und blinzelte zu ihr auf.

Nach einer kleinen Ewigkeit antwortete sie: „Mein engster Verbündeter ist fort…“

Mariah entging nicht die brüchige Stimme, auch wenn ihr Bit Beast sich wohl Mühe gab, ihre Haltung zu wahren.

„Meinst du Driger?“

Ein stummes Nicken war die Antwort. Mariah erinnerte sich daran, wie Galux ihr sagte, dass Bit Beast nichts fühlen würden.

„Mochtest du ihn?“

„Das weiß ich nicht genau… Ich denke aber schon.“, Galux schloss die Augen, legte ihr Kinn auf den Pfoten ab. „Seit ich von seinem Tod weiß, halten mich merkwürdige Gedanken im Bann.“

„Was für welche?“

„Es ist schwer zu beschreiben. Es sind Überlegungen, die ich nicht kannte. Die mich früher nie beschäftigten.“

„Erzähl mir davon…“

Galux schien lange nachzudenken, wie sie ihr Anliegen schildern könnte.

„Ich fange an mich zu fragen, wie lange ich selbst auf dieser Welt wandeln werde. Das ist höchst eigenartig. Mir war sonst immer bewusst, dass mir die Ewigkeit gehört.“

„Bekommst du Angst vor dem Tod?“, wollte Mariah wissen.

Doch das Bit Beast schüttelte nur unschlüssig den Kopf.

„Was dann?“

„Da ist durchaus eine Angst in meinem Herzen verborgen. Zumindest fühlt es sich so an. Doch nicht vor dem Tod… Mir macht auf einmal die Ewigkeit Angst.“

Ein wehmütiges Seufzen kam aus Mariahs Mund. Ihre Finger fuhren tröstend über das Fell ihres Bit Beast. Sie begriff was es beschäftigte, selbst wenn Galux es noch nicht klar war.

„Denkst du daran, Driger nicht mehr wiedersehen zu können?“

„Ja.“, es klang sehr beklommen. „Weißt du Mao, mir hat der Gedanke stets Freude bereitet, ihm bei meiner nächsten Jagd womöglich begegnen zu können. Ich mochte sein stattliches Erscheinungsbild. Seine tiefe Stimme. Seine interessanten Geschichten. Seine…“

Galux hielt auf einmal inne und auch Mariah entging nicht weshalb. Aus dem zierlichen Körper neben ihr, war ein Schluchzen entflohen, der das Wesen erzittern ließ. Es brauchte mehrere Atemzüge, bevor es weitersprechen konnte.

„Mein Leib gehorcht mir nicht mehr. Ich habe das Gefühl mich nur noch zusammenkauern zu wollen – und für immer zu schlafen.“

„Oh Galux…“, entwich es Mariah mitleidig. Ihre Worte trieben auch ihrem Menschenkind die Tränen in die Augen und ein dicker Kloß tat sich im Hals auf.

„Ich weiß dass es falsch ist! So darf ich nicht denken. Ich bin ein Bit Beast und habe meine Verpflichtungen auf der Welt. Vom Tod darf ich mich nicht ablenken lassen. Aber…“, ein schweres Schlucken war zu vernehmen. „Der schreckliche Gedanke lastet auf mir, dass ich in Zukunft durch die Wälder streifen werde, ohne diese eine Hoffnung, ihm morgen zufällig irgendwo anzutreffen. Diese Hoffnung hat mein Leben doch erhellt. Sie war wie ein wundervoller Sonnenstrahl. So warm und wohltuend. Doch diese Ewigkeit… Sie fühlt sich nun umso mehr wie ein schlimmer Fluch an.“

Galux Stimme brach ab. Das Bit Beast senkte das Gesicht tief zwischen ihren Armen, um sich vor ihrem Blick zu verstecken.

„Verzeih mir Mao. Ich weiß nicht was mit mir ist. Ich schäme mich für mein Verhalten. Mein Körper fühlt sich so schwer an. Er gehorcht mir nicht mehr.“

„Entschuldige dich doch nicht dafür…“

Äußerst bedacht griffen ihre Finger nach dem Bit Beast, hoben es auf ihre Schulter, wie einen kleinen Säugling den es zu trösten galt. Dieses bemitleidenswerte Wesen, dass nun auf ewig ohne ihre Hoffnung aushaaren musste. Mariah konnte das Zittern in dem winzigen Leib fühlen.

„Ich habe solche Angst vor der Ewigkeit.“, kam das leise Geständnis. Es war ein Wimmern.

„Ich bin für dich da. Das schwöre ich dir.“

Ein erleichtertes Ausatmen kam von Galux. Mariah spürte, wie ihr Bit Beast das Köpfchen dankbar gegen ihre Halsbeuge lehnte, während sie es in ihrer Umarmung hielt.

„Ich dachte Bit Beast lieben nicht. All die vielen Jahrhunderte…“

„Du hast dich wohl geirrt.“, ihre Finger fuhren kraulend durch das Fell am Nacken. „Aber vielleicht, eines Tages, kannst du wieder lieben. Du brauchst nun einfach deine Zeit.“

„Nein! Nie wieder!“, sprach Galux mit einer Entschlossenheit, die Mariah verdutzt zucken ließ. „Es war schon richtig, dass die Uralten keine Liebe gestattet haben! Dieser Schmerz ist einfach nur furchterregend. So etwas Abscheuliches darf es nicht geben…“

In jenem Moment bemerkte Mao zum ersten Mal, dass es auch gravierende Unterschiede zwischen ihnen gab. Trotz all ihrer Gemeinsamkeiten, trennte sie beide immer noch die Tatsache, dass sie ein Mensch und Galux ein Bit Beast war.
 


 

*
 

Der Garten des Anwesens lag unter einer dicken Schneeschicht begraben. Es führten mehrere Spuren zum Tor, hinter welchem vor wenigen Minuten seine Freunde verschwunden waren. Der Moment in dem sie sich verabschiedeten, hatte Kai so sehr aufgewühlt, dass es ihn noch lange beschäftigte. Etwas in ihm wollte bei ihrem Aufbruch darum betteln, nicht von ihnen getrennt zu werden, dabei hatte er wirklich angenommen, endlich wieder den emotionalen Stand eines Erwachsenen erreicht zu haben. Doch als sich Ray und Max, mit einem traurigen Lächeln an ihn wandten, hatte Letzterer irgendwann zaghaft die Arme gehoben. Die tiefblauen Augen ruhten mitleidig auf ihm.

„Wie wäre es mal mit einer brüderlichen Umarmung zum Abschied? Nur dieses eine Mal?“

Es war eine Bitte. Max wünschte es sich…

Kai hatte unsicher auf die einladende Geste gestarrt, da legten sich auch schon zwei Arme um ihn. Er fühlte wie ihm aufmunternd auf den Rücken geklopft wurde.

„Mach´s gut Kai. Bitte pass auf dich auf…“

Die Worte klangen belegt und ihm wurde voller Schrecken klar, dass er dabei war, es Max gleich zu tun. Es war ihm unglaublich schwer gefallen, nicht die Haltung zu verlieren. Ein dicker Kloß hatte sich in Kais Hals gebildet, die Sicht verschwamm vor ihm, dabei war das überhaupt nicht typisch für ihn. Soweit er sich richtig erinnerte, war er der Starke, der Unantastbare, der Berechnende und Kühle.

Und doch war nichts mehr von diesem Menschen da, obwohl viele seiner Erinnerungen zurückgekehrt waren. Sobald auch Ray ihn mit einer zögerlichen Bewegung in die Arme schloss, spürte er wie ein Tränenfilm seine Augen benetzte. Kai war unfähig gewesen etwas zu sagen, weil nur der leiseste Laut zu viel verlangt wäre. Als Ray ihn auch noch bat, sich in Zukunft doch öfters bei ihnen zu melden, hätten ihn seine Emotionen beinahe überrannt. Er musste einen Schluchzer unterdrücken. Sobald seine Freunde von ihm abließen, drehte Kai sich weg. Er hörte noch eine ganze Weile ihre Stimmen hinter sich, wandte sich aber auch dann nicht zu ihnen um, als sie auf dem Weg nach draußen, einen letzten Abschiedsgruß zu ihnen herüberriefen. Kai schaute ihnen nicht nach, als sie durch das Tor entschwanden und als der Moment verstrichen war, die Türen von Tysons Wagen mit einem finalen „Rumms“ zufielen, bereute er es doch wieder. Etwas wollte seinen Freunden nachlaufen, wie ein einsamer Kater, der seinen Besitzern hinterherrannte. Stattdessen hatte Kai sich mit einer Hand am Eckpfeiler der Veranda abgestützt, überwältigt von diesem Gefühlschaos, bis der Motor auf der anderen Seite der Mauer aufheulte.

Es kam ihm vor als ob da ein Stück von ihm wegfuhr…

Die Ruhe die danach aufkam lastete bedrückend auf seinem Gemüt. Wie hatte er all die Jahre so etwas genießen können? Das Alleinsein machte ihm nun Angst. Als Tysons Großvater ihn fragte, ob Kai nicht hereinkommen wolle, bat er darum einige Minuten draußen bleiben zu dürfen. Er musste sich irgendwie sammeln. Ansonsten konnte er nicht garantieren, sein Gesicht wahren zu können. Er brauchte wirklich einen Moment um in sich einzukehren.

„Aber bleib nicht lange in der Kälte. Und untersteh dich mal wieder klammheimlich abzuhauen! Der Grünschnabel hat gesagt ich soll dich schön im Auge behalten!“

Kai hatte verärgert die Brauen zusammen gezogen und doch ließ er die Predigt über sich ergehen, war zu mehr als einem stummen Nicken nicht im Stande gewesen. Dabei konnte er sich wieder gut daran erinnern, wie zuwider es seinem erwachsenem Alter Ego war, von irgendwem bemuttert zu werden. Gleich nachdem Mr. Kinomiya im Anwesen verschwand, hatte er seine freie Hand auf der Brust platziert und einige Male tief durchgeatmet. Unter seinen Fingern fühlte er sein Herz laut pochen. Die eiskalte Nachtluft war bis in den kleinsten Winkel seiner Lunge zu spüren, verhalf ihm dabei sich zu beruhigen.

Er schloss die Augen und dachte angestrengt nach…

Seine Reaktion kam ihm einer emotionalen Labilität gleich. Es konnte doch nicht normal sein, sich einer solchen Trauer hinzugeben, nur weil man von seinen Freunden Abschied nahm. Oder etwa doch?

Etwas ratlos wandte sich Kai wieder dem Hof zu. Seine Augen huschten an den Fußspuren im Schnee entlang. Noch immer war da diese furchtbare Wehmut, weil er die Gelegenheit nicht genutzt hatte, um seinen Freunden ein letztes Mal nachzuschauen. Er hatte kaum etwas gesagt. Und Kai war so unendlich traurig, dass die beiden nun bald abfliegen würden. Gedankenverloren verweilte sein Blick auf dem Schnee. Sie alle hatten so tiefe Spuren darin hinterlassen. Ob seine Seele wie dieser Schnee war?

Seufzend schaute Kai auf zum Himmel.

Warum hatte sein Körper so heftig auf diesen Abschied reagiert?

Früher war es doch auch nicht so dramatisch gewesen, doch jetzt fühlte er sich, wie ein kleiner Bengel, der zum ersten Mal von seinen Eltern in einer Kindertagesstätte abgegeben wurde. Dabei würde sein Verhalten eher zu seiner Schwester passen. Die hatte auch jedes Mal geschluchzt, sobald er das Haus verließ, um zur Arbeit zu gehen. Dann sprach Jana davon, dass Kai bestimmt nun auch bald nicht mehr Heim käme.

„Genau wie Mama…“, hatte sie dann geschmollt.

Er sah Jana vor sich auf dem Treppenabsatz hocken. Ihre Lippen zitterten, während ihr schmächtiger Körper von Schluchzern geschüttelt wurde. Die Eingangshalle wirkte so riesig und dunkel, sie dagegen wie ein winziger einsamer Stern. Kai fühlte tiefe Schuld in sich aufkommen, weil er seine kleine Schwester wieder so lange alleine lassen würde, trotz des Dienstpersonals das sich diskret im Hintergrund hielt.

Es war einfach kein Familienersatz…

Auf einmal schrak Kai zusammen, sobald diese Szene durch seinen Geist schoss. Er hatte gar nicht bemerkt, wie schnell sich diese Erinnerung wieder in seinem Kopf einistete. Für eine Sekunde hätte er schwören können, in der Eingangshalle des Hiwatari Anwesens zu stehen, direkt an der steinernen Türschwelle, von wo aus er stets mit einem schlechten Gewissen zu seiner Schwester zurückgeblickt hatte. Selbst der Geruch des polierten Holzes war ihm wieder in die Nase gestiegen, dass einsame Kinderweinen an sein Ohr geklungen, das durch die hohe Halle schallte. Auch die Anwesenheit seines Assistenten hatte er neben sich spüren können, der ihn jeden Morgen abholte, um bereits auf dem Arbeitsweg den Tagesplan durchzusprechen. Draußen lief dann der Motor der Limousine. Er konnte ihr geschmeidiges Summen hören. Es war die erste Erinnerung die sich in seinem eigenen Heim abspielte. Und sie war einfach nur traurig…

Wegen diesem unglücklichen kleinem Mädchen, dass jeden Tag alleine zurückblieb. Ganz anders als hier, wo Jana so unbeschwert wirkte. Sie schien sich in diesem kleineren, aber auch gemütlicherem Anwesen, viel heimischer zu fühlen, als in dem gigantischen Baukomplex, wo man sich regelrecht verlaufen konnte. Wo ein Kind ewig suchen musste um auf einen Erwachsenen zu treffen. Kai dachte über diese Szene nach. Sie hatte sich geradezu detailliert in seinen Kopf gebrannt. Er wusste wieder, dass Janas dicke Kinderbäckchen hochrot gewesen waren, mit einer feuchten Tränenbahn auf der Wange. Es war so offensichtlich, dass sie mit der Situation nicht umgehen konnte. Kai fragte sich, ob er sie wenigstens noch einmal tröstend gehalten hatte, oder doch nur desinteressiert aus der Tür spaziert war. In seinen Überlegungen vertieft begann er seine Finger ineinander zu verhaken. Ihn beschlich die böse Vorahnung, dass er keine Sekunde auf Janas Kummer eingegangen war. Hatte Jana in seiner Erinnerung gesagt dass seine Mutter fort war?

Es war eigenartig, aber ab einem bestimmten Zeitpunkt, tauchte sie einfach nicht mehr in seinem Kopf auf. War sie verstorben?

Hier klaffte doch eindeutig wieder eine Lücke in seinem Kopf. Er wusste noch immer nicht die Vorgeschichte zu Janas Aussage. Nur das seine Mutter eben weg war. Kai griff sich stöhnend an die Stirn, denn er hasste diese Aussetzer. Manche gingen länger, viele davon waren aber so lächerlich kurz, dass es unmöglich war, genügend Informationen daraus zu filtern. Und dann tauchten seine Erinnerungen auch noch so chaotisch auf.

Wie sollte er sachliche Folgerungen ziehen, wenn er nicht die Zusammenhänge begriff?

Das Schlimmste daran war, dass er einfach keinen Einfluss darauf nehmen konnte. Alles was ihm blieb war abzuwarten, ob sich einige Szenen freiwillig zu seinen anderen Erinnerungen fügten und dann endlich einen Sinn ergaben. Mit einem erschöpften Seufzen ließ Kai die Hand wieder sinken. Er lehnte den Kopf in den Nacken, schaute eine Weile in den Nachthimmel, bis er die Augen schloss. Irgendwie kam er sich gespalten vor. Wie ein Fremder in der eigenen Haut. Der Erwachsene in ihm, war gerade ziemlich froh, einmal alleine zu sein, da er die Chance darin sah, seine Schwäche unbemerkt auszuleben – aber das Kind in ihm sehnte sich weiterhin nach dem Schutz seiner Gruppe.

Seines Katzenrudels…

Diese Wesen aus dieser albernen, aber auch irgendwie schönen Geschichte, die ihm Tyson am Lagerfeuer erzählt hatte. Kai fuhr sich über die Schläfe, als ihm klar wurde, dass wohl genau das gerade sein Problem war. Noch immer steckte da dieser kleine Junge in ihm, der ihn daran hinderte, wieder zu seinem alten Selbst zurück zu finden. Die letzten Tage waren sie ständig in der Gruppe unterwegs gewesen und plötzlich zurückgelassen zu werden, erinnerte ihn nur wieder daran, wie er sich gefühlt hatte, als Tyson ihn mit Galux zurück in die Menschenwelt schicken wollte. Alleine - ohne die Anderen.

Er hatte damals wahrhaftige Trennungsängste durchlebt, ähnlich wie die seiner Schwester. Das Kind in ihm war in höchstem Maße verletzt gewesen, weil er bei seinen Freunden bleiben wollte, egal ob es nun gefährlich war, oder nicht. Doch mittlerweile hatte der Erwachsene in Kai Verständnis für Tysons damalige Entscheidung. In seiner Lage hätte er keinesfalls anders gehandelt. Sein Verhalten war nur vernünftig gewesen, immerhin war Ray im Dschungel verloren gegangen und es hatte sich eine Chance aufgetan, einen von ihnen zu retten. Tyson hatte ohnehin während ihrem gesamten Aufenthalt, bemerkenswert verantwortungsbewusst gehandelt. So zuvorkommend, zielstrebig und hilfsbereit. Er hatte die Gruppe beisammengehalten. Seine eigenen Ängste zurückgesteckt, um selbst den Schwächsten zu unterstützen. Er war wundervoll gewesen…

Kai blinzelte perplex über seine eigenen Gedanken und eine heftige Röte befiel ihn, als ihm klar wurde, dass er sich seinen kindlichen Schwärmereien hingab.

Das war so verwirrend… Und es gab ihm zu denken.

Allein wie er sich in Tysons Gegenwart verhielt, war ihm ein einziges Rätsel. Sobald er alleine war, konnte Kai wieder logisch denken, glich Chancen ab, handelte nach besten Gewissen. Doch es reichte nur ein Blick von Tyson und schon war es vorbei mit seiner Selbstbeherrschung. Da wurde er zum dummen Knirps, der sein Idol anhimmelte, ihm keinen Wunsch unerfüllt lassen wollte - sich von jedem Vorschlag begeistern ließ. Anscheinend klinkte sich der Kopfmensch komplett aus, sobald er in der Nähe war. Sein Versprechen von zuvor bereute Kai bereits, doch es bedurfte nur wenige liebgemeinte Worte und er war außerstande gewesen, Tysons Bitte auszuschlagen. Eine Gänsehaut zog sich über seinen Nacken, als er an ihre letzte Unterhaltung dachte. Es hatte nicht viel gefehlt und er wäre bald zu Wachs zerflossen. Als würde das Kind in ihm noch immer versuchen, es seinem großen Helden recht zu machen. Sein großer Held?

Kai schaute nachdenklich zu Boden.

Ja. Er musste gestehen, dass Tyson ihn unglaublich beeindruckt hatte. Wie er sich Hals über Kopf in Gefahren stürzte, selbst in der Gegenwart einer Übermacht. Dabei war das doch so einige Male in höchstem Maße unklug gewesen – wie immer bei diesem Hitzkopf.

Dennoch hatte Kai sich imponieren lassen. Wahrscheinlich weil Tyson schon immer Anklang bei jüngeren Gemütern fand. Es war die einzige logische Erklärung für ihn. Einen Moment musste er daran denken, wie Tyson ihn vor Wolborg beschützen wollte. Er hatte ihr ohne zu zögern seine eigenen Augen als Wegzoll angeboten. Dabei wäre Kai in seinem kindlichen Körper nicht weit gekommen. Es wäre klüger gewesen ihn zurückzulassen, um sich selbst zu retten, stattdessen hatte er ihn als Ballast durch die gesamte Irrlichterwelt mitgeschleppt.

„Du tust es schon wieder!“

Der Satz schoss ganz unvermittelt durch seinen Kopf.

Er schüttelte sich. Diese Schwärmerei war wie ein Zwang…

Kai massierte sich gequält die Schläfen und versuchte sachlich seine Lage einzuschätzen. Offensichtlich erwachte der Erwachsene in ihm immer weiter zum Leben, stieß aber mit jeder weiteren Erinnerung, auf Kritik von dem kleinen Jungen, der sich vehement weigerte, den neugewonnen Platz in seiner Seele zu räumen. Auf sein Bauchgefühl durfte er nicht hören. Seine Emotionen waren verfälscht, denn der Erwachsene Kai würde niemals so handeln. Sobald Tyson zurück war, musste er ihm dringend klar machen, dass seine innige Zuneigung nicht auf Gegenseitigkeit beruhte. Es wäre Selbstmord für ihre Freundschaft. Da fuhr ein heftiges Stechen durch Kais Brust und er zischte leise auf. Noch ehe er seine Zweifel zu Ende denken konnte, überfiel es ihn einfach. Es fühlte sich wie ein tosender Kampf in seinem Inneren an.

„Das will ich nicht!“

Etwas weigerte sich Tyson weh zu tun.

„Niemals!“, fuhr das Wort durch seinen Kopf.

Kais Finger verkrallten sich in seinem Oberteil und er begann stockend auszuatmen. Ihm wurde schwindlig. Seine Füße schienen den Boden zu verlieren. Die freie Hand tastete zitternd nach dem Pfeiler, in der verzweifelten Suche nach Halt. Sobald seine Finger auf das Holz trafen, lehnte er sich daran und atmete wieder tief ein. Kai brauchte eine unendlich lange Zeit um sich zu sammeln, währenddessen er aus dem Haus das Klappern von Tellern vernahm. Offenbar machte ihm Tysons Großvater tatsächlich etwas zu essen, so wie ihn sein Enkel darum gebeten hatte.

„Bitte kümmere dich gut um die beiden so lange ich weg bin. Machst du das für mich Opa?“

Tyson hatte es ausgesprochen, als könne er nicht eher das Haus guten Gewissens verlassen, bevor er Jana und ihn nicht gut versorgt wusste. Kais Stirn sank gegen das kalte Holz und sobald er sich dessen Worte in Erinnerung rief, musste er traurig lächeln.

Dieser blöde, leichtsinnige, naive, gutherzige Idiot…

Was war denn bloß in ihn gefahren?

Wie konnten sich seine Gefühle nur so verändern?

Kais Großvater würde von den Toten auferstehen, sollte er tatsächlich so dumm sein und bei ihrer nächsten Unterhaltung, auf Tysons Werben eingehen. Dabei konnte er noch immer nicht fassen, wie er reagiert hatte. Sein ganzer Körper war heiß geworden, in seinem Magen hatte es geradezu geflirrt, gleichzeitig war er aber von einer heftigen Gänsehaut erfasst worden. Es hatte ihn viel gekostet, seine Selbstbeherrschung aufrecht zu halten. Kai öffnete die Augen. Er könnte einfach schlafen gehen. Eigentlich zwang ihn doch niemand sein Versprechen einzuhalten – oder etwa doch?

Etwas wollte an seinen Worten festhalten. Es kam ihm undankbar vor, Tysons Bitte in den Wind zu schlagen, nach all ihren gemeinsamen Erlebnissen. Kai könnte sich doch zumindest anhören, was er zu sagen hatte, aber seinem Drängen nicht nachgeben. Er würde ihm sagen, dass er seine Gefühle respektiere, ihn niemals dafür verurteilen würde, sein Geheimnis bei ihm auch sicher war - aber seine Zuneigung leider nicht erwidern könne. Das war doch ein fairer Ansatz. Nach einem tiefen Seufzen nickte Kai entschieden.

Ja, das würde er tun. Zuhören…

Damit Tyson sich alles von der Seele reden konnte. Egal was für Gefühle er für ihn hegte, deshalb würde Kai ihn nicht weniger schätzen. Dazu war einfach viel zu viel vorgefallen. Er stieß sich vom Pfeiler ab und fragte sich, woher seine Melancholie herrührte, als er neben sich jemanden reden hörte.
 

„Was machst du denn hier?“
 

Perplex blinzelte Kai zu seiner Seite. Dort lag Tyson in Seitenlage auf der Veranda, dick eingepackt in einen Pullover, blätterte in einem Automagazin herum und schaute ungläubig zu ihm auf. Ohne es richtig kontrollieren zu können, huschte Kais Blick hinaus zum Hof. Es taute überall. Ein Großteil der Rasenfläche war wieder sichtbar. An der Überdachung der Veranda hingen die letzten Eiszapfen herab, die im Schein der Sonne tropften. Tyson hatte den ersten milden Tag genutzt, um überall im Haus die Trennwände sperrangelweit aufzuschieben, damit ordentlich gelüftet wurde.

Um den Winter zu verscheuchen – wie man im Volksmund so sagte.

Man konnte von hier aus fast sämtliche Räumlichkeiten überblicken, bis auf die Küche, weil diese von einer tragenden Steinwand getrennt wurde. Kai roch Oolongtee und als sich sein Blick wieder Tyson zuwandte, dampfte die tiefgrüne Flüssigkeit neben ihm in der kleinen Tasse. Der setzte sich inzwischen gähnend auf und nahm im Schneidersitz Platz. Mit argwöhnischen Ausdruck verschränkte er die Arme vor der Brust und sah zu ihm auf.

„Das ist ja ewig her seitdem du dich unter das gemeine Volk mischst.“

„Du darfst dich geehrt fühlen.“, sprach Kai, ohne richtig zu wissen, weshalb er so hochnäsig tat. Tyson prustete jedoch unbeeindruckt mit der Zunge, was er ungemein kindisch fand und ihn mit den Augen rollen ließ. Dennoch folgte er dessen Aufforderung sich zu setzen, als sein Gegenüber auf den Holzboden vor sich klopfte.

„Finde ich toll das du dich Mal bei mir im Dojo blicken lässt.“, sprach Tyson anerkennend.

„Es ist schon länger her…“, hörte Kai sich sagen. Dabei war er gar nicht sicher ob es auch wirklich stimmte. Seine Worte kamen einstudiert, als wäre er der Artist in einem Bühnenstück, mit vorgegebenem Text. Das alles hier wirkte auf ihn so vertraut.

„Ich weiß. Genau vier Monate, achtundzwanzig Tage und wenn ich die Wohnzimmeruhr von hier aus richtig lese, fünfzehn Stunden.“, meinte Tyson düster.

„Wirklich komisch…“

„Meine tote Oma kommt öfters zu Besuch.“

„Ich finde es erschreckend dass du auf den Tag genau weißt, wann ich letztes Mal da war.“

„Wieso, habe ich richtig geraten?“

Kai musste schmunzeln. Aus irgendeinem Grund, schoss ihm der Gedanke durch den Kopf, dass dieser kleine Mistkerl, doch wirklich auf alles ein freches Kontra besaß.

„Du hast hoffentlich Mal etwas Zeit mitgebracht. Wäre toll wenn du nicht gleich abhaust und mal etwas mit mir plauderst.“

„Da muss ich dich enttäuschen. Ich werde nicht lange bleiben.“

Dabei wusste Kai gar nicht, wohin er danach gehen wollte.

„Ach…“, kam es trocken zurück. Vor ihm hopste Tyson Braue verärgert hoch.

„Hör auf so zu schauen. Ich kann es nicht ändern.“

„Das bezweifle ich. Willst du einen Tee?“

„Wie gesagt - Ich habe nicht viel Zeit mitgebracht.“

Kai konnte seinen abweisenden Tonfall einfach nicht steuern, als hätte er keinerlei Einfluss auf sein Handeln. Er war wie ein stiller Beobachter, aus der Perspektive seines eigenen Körpers. So herrisch wollte er gar nicht klingen.

„Okay…“, kam es knapp. Da wandte sich Tyson um und brüllte in Richtung Küche. „Hey Opa! Bring Kai mal einen Tee! Und du weißt ja – einen Löffel Honig, dafür keinen Zucker.“

„Bin ich deine Konkubine, du blöder Esel?!“, schallte die Stimme vom anderen Ende des Flurs verärgert hinaus. Kai stöhnte gequält und fuhr sich über die Nasenwurzel. Da debattierten die beiden Streithähne auch schon weiter.

„Ach komm schon! Du bist doch sowieso in der Küche. Jetzt sei mal ein anständiger Gastgeber!“

„Wärst du ein anständiger Gastgeber, würdest du ihn selbst kochen! Du weißt das guter Oolong Tee seine Zeit braucht.“

„Weißt du wer nicht so viel Zeit hat? Kai! Willst du ihn ohne etwas Warmes im Bauch aus dem Haus jagen? Es ist noch knackig kalt hier draußen!“, Tyson wandte sich ihm mit gespielter Entrüstung zu, schüttelte dabei fassungslos den Kopf. „Unmöglich dieser Kerl, oder? Kann keine Rücksicht auf deinen straffen Terminplan nehmen!“

Kai sah das verräterische Zucken um seine Mundwinkel und konnte sich vorstellen, wie amüsant sein Gegenüber es fand, sich ein wenig Zeit von ihm ergaunert zu haben. Und doch war Kai fast schon etwas geschmeichelt, weil er versuchte, ihn nach allen Regeln der Kunst dazu zu verleiten, länger zu bleiben als er durfte. Dennoch wollte er in die Küche rufen, dass er wirklich keinen Tee bräuchte, da schallte aber auch schon Großvater Kinomiyas grantige Antwort durch den Flur.

„Ich mache das nur für Kai! Glaub ja nicht dass ich dir eine Freude machen will!“, kurz darauf vernahm er wie in der Küche der Wasserhahn aufgedreht wurde, offenbar um die Kanne zu füllen. „Und warte nur bis ich ein totaler Pflegefall bin, dann darfst du mich jeden Tag die Stufen hochtragen!“

„Na dann hast du ja sogar Recht mit dem Esel…“, spottete Tyson.

„Kai kriegt vielleicht einen Tee, aber du nur den Kendostab über den Schädel gezogen!“

Sein Enkel verdrehte grinsend die Augen.

„Also alles wie immer…“

Die Schiebetür wurde geschlossen und das Radio in der Küche aufgedreht. Gleich darauf trällerte Mr. Kinomiya zu seinem Lieblingssong als sei nichts gewesen. Kai schüttelte den Kopf über dieses Verhalten. Bisher konnte er sich an kein einziges Mal erinnern, an dem die beiden nicht miteinander gezankt hatten, als wären sie zwei Taxifahrer, die sich gegenseitig die Vorfahrt klauten. Doch obwohl er ihre Umgangsformen als ziemlich amüsant empfand, kam entgegen seiner Meinung, geradezu aristokratisch aus seinem Mund: „Ich habe dir schon einmal gesagt, dass du deinem Großvater mehr Respekt zollen solltest.“

„Wieso?“

„Dein Verhalten ist absolut unangebracht. Du sprichst mit ihm, als wärst du das Familienoberhaupt - nicht er.“

„Und doch bin ich sein Lieblingsenkel.“, frohlockte Tyson.

„Solchen Spott hätte dir mein Großvater nie durchgehen lassen.“

„Wahrscheinlich ein Grund weshalb du so steif geraten bist.“, kam es nur mit einem Achselzucken. Kai fragte sich, ob etwas an diesen Worten dran war. War er wirklich versteift? Trotz seiner Zweifel, machte sich sein Mund weiterhin selbstständig.

„Zwecklos dir noch etwas Ehrgefühl beizubringen.“

„Hey, ich bin Mitte zwanzig! Der Zug ist leider abgefahren, Teamleader.“

„Das befürchte ich leider auch. Dir konnte ich in all den Jahren einfach nichts beibringen.“, er schnalzte bedauernd. „Wenn ich daran denke, wie viel Zeit ich an dir vergeudet habe.“

„Dann lass es endlich! Mich bekommst du nicht geändert. An mir beißt du dir die Zähne aus.“, Tyson entblößte demonstrativ sein Gebiss für ein schiefes Grinsen. „Eher knacke ich dich, als du mich! Wäre eine Niederlage mehr die auf dein Konto geht.“

Damit zog er Kai wohl gerne auf. Die Sicht vor ihm verdunkelte sich, offenbar weil er genervt die Augen schloss. Als er die Lider wieder öffnete, sprach er unterkühlt: „Der Tee war unnötig.“

„Ich bin nur nett.“

„Ich wollte nicht bleiben.“

„Jetzt musst du doch.“

„Ich könnte auch einfach gehen…“

„Und meinen armen Opa umsonst den Tee kochen lassen?“, fragte Tyson in gespielter Bestürzung. Seine Finger umgriffen die dampfende Tasse zu seiner Seite und als er sie an seine Lippen hob, sprach er über den Rand hinweg: „Wer weiß nun nicht, was sich gehört?“

Ein freches Zwinkern folgte. Eigentlich wollte Kai gerade lachen. Da hatte sich Tyson ja etwas einfallen lassen, um ihn mit seinen eigenen Worten in die Ecke zu manövrieren. Stattdessen schnalzte er aber mit der Zunge und schaute gelangweilt zur Seite.

„Jedes Mal dasselbe. Und dann wunderst du dich, weshalb ich nicht öfters komme? Ich habe Arbeit die auf mich wartet.“

„Ist ja was ganz Neues…“, schnaubte Tyson unbeeindruckt. „Jetzt erzähl Mal. Was führt dich in unser Armutsviertel?“

Sein Rücken straffte sich und Kai erklärte geschäftlich: „Max scheint etwas nach seinem Umzug zu vermissen. Er glaubt es könnte bei dir liegen.“

„War ja klar dass du nicht meinetwegen kommst.“, kam es eingeschnappt und er hätte schwören können, dass Tysons beleidigte Schnute, dieses Mal nicht gespielt war. Sein abweisendes Verhalten tat ihm unendlich leid. Eigentlich wollte er nach allem was passiert war, ganz anders reagieren. Zumindest freundlich bleiben…

„Naja gut, ich schau gleich danach. Sonst etwas Neues bei dir?“

„Nein. Alles wie gehabt.“, nach einer kurzen Pause, fragte Kai vorsichtig. „Und bei dir?“

„Bestens...“

„Du hast dich also davon erholt, dass Max wieder im Ausland lebt?“

Das wusste Tyson doch bereits…

Irgendwie verwirrte Kai diese Unterhaltung immer mehr. Er hatte das Gefühl das etwas nicht stimmte, doch diese Eingebung erstarb so schnell, wie sie gekommen war, als würde ihn etwas daran hindern, den Gedanken zu Ende zu denken.

„Muss ich ja wohl. Wenn ich jammere ändert sich auch nichts.“, schnaubte Tyson inzwischen. Dann beobachtete er ihn etwas skeptisch. Kai fühlte ein kleines Lächeln auf seinen eigenen Lippen. „Was ist so witzig?“

„Nichts...“, kam es in einem arglosen Tonfall. Dennoch spürte er dass seine Mundwinkel sich weiter hoben.

„Jetzt sag schon!“

„Ich denke nur gerade daran, dass bei dir vielleicht doch nicht alles verloren ist. Zumindest hältst du dich weniger weinerlich, als ich von dir erwartet habe - und das obwohl du deine bessere Hälfte ziehen lassen musstest.“

„Verstehe. Jetzt sind wir für dich schon ein schwules Pärchen.“, murrte Tyson genervt.

„Ehrlich gesagt, haben Ray und ich schon gewettet, wann ihr gemeinsam durchbrennt. Aber um zum Thema zurückzukommen… Ich hatte eigentlich ein Drama erwartet, wie bei unserem Teamzerfall, während der dritten Weltmeisterschaft.“

„Uh! Hat man Worte…“, Tyson machte große Augen und stützte sich auf den Armen zurück. „War das jetzt ein verstecktes Kompliment über meine geistige Reife?“

„Nein. Vielmehr ehrliche Überraschung.“

„Heilige Scheiße. Den Tag muss ich mir im Kalender ankreuzen!“

„Immer noch der große Sprücheklopfer, Kinomiya?“

Ihm fiel auf dass er skeptisch beäugt wurde.

„Sag mal… Was braucht Max überhaupt?“

„Seine Kamera. Beim Umzug hat er danach gesucht, weißt du noch?“

Tysons Braue hob sich ein ganzes Stück weiter.

„Ja, hat er.“, kam es ziemlich knapp. Sein Gesichtsausdruck gab Kai irgendwie zu denken. Er fragte sich woran sein Gegenüber gerade dachte, also fuhr er fort: „Max war sich nicht ganz sicher, ob er sie dir nicht vielleicht ausgeliehen hatte. Und da du nicht einmal einen Lastwagen unter einem Heuhaufen finden würdest, habe ich mich bereit erklärt, kurz vorbeizuschauen und nach der Kamera zu suchen. In deinem Saustall findest du bestimmt nichts.“

„Aha... Hast du?“

„Ich denke ich schaue danach so lange der Tee kocht.“

Kai wollte sich schon erheben, bis Tysons zuckende Lippen ihm ins Auge stießen. Er hielt in seiner Bewegung inne und blinzelte ihn irritiert an. Ein ziemlich abgehaktes „Okay“ kam von seinem Gegenüber und plötzlich prustete er schon los. Sein Lachen schallte laut über den Hof, bis Tyson sich den Bauch hielt und sich vorne über beugte, während Kai total konfus auf den sich krümmenden Mann blickte. Er schaute sich um, als gäbe ihm seine Umgebung einen Anhaltspunkt dafür, was so komisch war.

„Worüber lachst du?“

„Über dich!“

„Warum?“, er sank wieder auf den Hosenboden zurück. Sich keinerlei Schuld bewusst, fragte er: „Was habe ich gemacht?“

„Du sorgst dich um mich - deshalb bist du hier!“

„Das stimmt nicht!“, wehrte sich Kai gegen die Unterstellung.

„Ach nein? Die Kamera ist also kein Vorwand, um Mal kurz vorbeizuschauen und zu prüfen, ob ich auch wirklich damit klar komme, das Max weg ist?“

Er schnalzte nur verächtlich.

„Du bist so selbstverliebt, das hält man kaum im Kopf aus! Es dreht sich nicht alles nur um dich! Ich suche lediglich Maxs Kamera…“, er verschränkte die Arme vor der Brust und schaute verärgert in den Hof. Kai fühlte wie sich seine Brauen zusammenzogen. „Interpretier nicht Dinge in meine Handlung, die gar nicht wahr sind. Wenn ich jemandem helfen möchte, dann nur dem verzweifelten Blondschopf, der wahrscheinlich wieder nicht weiß, wie er dich um die Kamera bitten soll, ohne unhöflich dabei zu wirken.“

„Na klar. Das ist der Grund.“

„Du glaubst mir nicht?“, kam es verärgert.

„Vielleicht würde ich es, wenn Max die Kamera nicht schon längst gefunden hätte.“

Es wurde still…

Kai wollte eigentlich verdutzt zu Tyson schauen, doch sein Körper gehorchte ihm nicht. Ihm war jegliche Befehlsgewalt darüber geraubt worden. Stattdessen starrte er wie gebannt in den Hof und merkte, dass seine Wangen auf einmal heiß wurden.

„Was redest du da? Er hat beim Umzug doch selbst gesagt, dass sie verloren gegangen ist. Er wollte sich sogar eine Neue kaufen und hat sich furchtbar geärgert.“

„Jah…“, kam die langgezogene Bestätigung. „Und als Max zum Schluss in seinen Wagen gestiegen ist, hat er sie auf der Rückbank gefunden. Das war kurz nachdem du schon gegangen bist.“, Tyson schnalzte bedauernd mit der Zunge. „Das ist das Blöde, wenn man immer zuerst die Party verlässt. Die besten Sachen passieren zum Schluss, Kumpel.“

Kai spürte dass seine verschränkten Arme sich fester vor ihm zusammenzogen, wie ein Schutzmechanismus, um sich von dieser Unterstellung zu distanzieren.

„Oh…“, selbst in seinen Ohren klang er viel zu ertappt, als dass es keine Lüge sein könnte. „Dann hat Max sich bestimmt vertan.“

„Ich kann ihn ja mal anrufen und fragen?“

Tysons Vorschlag kam so süffisant, man hörte förmlich heraus, mit wie viel Genuss er ihn triezte. Er amüsierte sich köstlich.

„Oder ich habe es einfach falsch verstanden…“, es klang als wolle Kai einen Kompromiss eingehen, um noch etwas von seiner Restwürde zu bewahren. Aber nicht mit Tyson.

„Das lässt sich auch mit einem Anruf klären. Sollen wir?“, fragte der unschuldig. Doch dieser Mistkerl wusste genau was er tat. Kai fühlte wie seine Lippen sich fest zusammenpressten. Sein Blick huschte endlich einmal zu seinem Nebenmann, wenn auch nur aus dem Augenwinkel. Er sah Tyson triumphierend grinsen und sein Kopf neigte sich.

„Brauchen sie einen Anwalt oder verweigern sie die Aussage, Mr. Hiwatari?“

Tyson zuckte herausfordernd mit den Brauen auf und ab. Es ließ Kai wütend fauchen.

„So klingt das also wenn du entlarvt wurdest?“

„Das war einfach nur ein Missverständnis!“

„Ja, natürlich. Ein Missverständnis…“, Tysons setzte das letzte Wort mit einem ungläubigen Augenrollen in Gänsefüßchen. „Du hast in letzter Zeit einfach kein Glück, was deine heimlichen Aktionen angehen. Entweder lässt du nach oder das Schicksal meint es nicht gut mit dir.“

„Ich wollte Max einen Gefallen tun. Nicht dir!“, stellte Kai verbissen klar. Da ging die Schiebetür geräuschvoll auf und Mr. Kinomiya humpelte mit einem Tablett heraus. Er war wieder bester Laune, aber irgendwie gab man sich in diesem Haus nie lange einem Groll hin.

„So Kai. Hier Mal etwas Gutes für Körper und Geist.“

Zu mehr als einem anerkennenden Nicken war er nicht im Stande. Tysons selbstgefälliges Grinsen von Gegenüber ließ seinen Bauch rumoren. Es war höchst eigenartig diese Empfindung aufgezwungen zu bekommen, denn eigentlich verstand er selbst nicht so genau, weshalb er sich so sehr dafür schämte. Was war schon dabei?

Er mochte Tyson und selbstverständlich sorgte man sich um seine Freunde.

Während Großvater Kinomiya die Tasse vor ihm abstellte, stützte sein Enkel sich weiterhin gutgelaunt an den Händen ab und beobachtete jede von Kais Bewegungen. Ohne es kontrollieren zu können, schlossen sich seine Augen. Ihm kam es vor, als würde er versuchen sich vor dem Anblick zu schützen. Sein Geist war eingesperrt in einem Körper, der nach festgeschriebenen Bewegungen handelte.

„Toll Opa. Du bist eben doch der Beste!“, dankte Tyson ihm.

Kai wusste genau woher seine heitere Art herkam.

„Na, weißt ja. Gastfreundschaft ist eine Tugend. Lass es dir schmecken, Junge!“

Kai spürte wie ihm auf die Schulter geklopft wurde und als er die Augen ein wenig öffnete, entschwand Mr. Kinomiya wieder in die Küche, um dort seine Arbeiten zu verrichten. Offenbar kochte er etwas, denn mit einer Ladung Dampf, kam auch der Geruch von gegartem Gemüse durch die offene Tür, bis sie wieder zugeschoben wurde. Als Kai ein amüsiertes Kichern hörte, huschte sein Blick kurz zu Tyson, nur um dann doch wieder zur Seite zu weichen.

„Idiot!“, zischte er giftig, seine Finger griffen nach der Tasse. Sie fühlte sich warm an. Doch sobald Kai an ihrem Rand nippte, drang laut hörbar an sein Ohr: „Du bist doch echt süß!“

Beinahe hätte er sich verschluckt, was seinen Gegenüber nur lauthals prusten ließ. Kai räusperte sich mehrmals, um den Frosch im Hals zu lösen und stellte anschließend seine Tasse so geräuschvoll ab, dass die Tropfen nur so durch die Luft stoben.

„Bist du eigentlich noch ganz bei Trost? Sowas sagt man nicht unter Freunden. Und schon gar nicht unter Männern. Sprich mit deinen Püppchen so, aber nicht mit mir!“

„Wenn es doch aber die Wahrheit ist?“

„Dein Großvater werkelt dahinten in der Küche herum und du fängst wieder mit deinem sentimentalen Stuss an! Nicht genug das du dich bei Rays Hochzeit so daneben benommen hast, nun sülzt du auch schon nüchtern herum!“

„Sei nicht immer so verstockt. Ich mag deine mitfühlende Schokoladenseite, also nimm das Kompliment an.“

„Hör endlich auf das zu sagen!“, zischte Kai. Seine Wangen fühlten sich an, als würden sie in Flammen stehen. „Das ist einfach nur… peinlich.“

„Was ist denn schon dabei?“, fragte Tyson. Er beugte sich vor, umfasste seine Fußknöchel und begutachtete ihn, wie ein aufregendes Schulprojekt. „Wir sind nicht blöd! Es gibt einen Grund, weshalb du dich mit uns weiterhin triffst. Und der ist ganz einfach, dass du uns magst. Nun gib es doch endlich zu!“

„Sprich nicht so laut…“

„Hey ihr da draußen! Kai mag seine Freunde!“, brüllte Tyson durch den Hof. Es ließ ihn laut einatmen und für eine Sekunde wollte Kai ihm tatsächlich eine scheuern. Die Finger seiner rechten Hand ballten sich zu einer Faust. Stattdessen versteifte er sich.

„Da! Niemanden schert es…“, meinte Tyson gleichgültig.

„Als würde man mit einem Neandertaler reden!“

„Ach komm schon. Du weißt wie ich das meine. Wir sind für dich deine Ersatzfamilie, also warum immer noch diese Verklemmtheit? Ist es dir wirklich so wichtig, was deine Umgebung über dich denkt?“

„Das hat mich noch nie geschert.“

„Das gibst du vielleicht vor, aber dir ist es peinlich, wenn die Leute wissen, dass dir an deinen Freunden etwas liegt.“

„Ich möchte nur von deinen… Sentimentalitäten verschont bleiben. Aber du bist schon immer ein blauäugiger Trottel gewesen. Warum sollte sich das ändern?“

„Spiel mir nichts vor! Ich weiß genau, dass du nicht halb so schlecht von mir denkst, wie du immer tust. Dir liegt etwas an mir, nicht wahr?“, hakte Tyson nur unverfrorener nach.

„Hättest du wohl gerne.“

„Du darfst ruhig zugeben, dass du meinem Charme erliegst.“, prahlte er und weitete die Arme theatralisch. „Es ist einfach eine Begabung, gegen die auch der kühle Hiwatari nicht gewappnet ist. Sowas muss man schon in die Wiege gelegt bekommen. Obwohl es manchmal schrecklich anstrengend ist, von der Welt so abgöttisch geliebt zu werden.“

Dieses Mal verdrehte Kai freiwillig die Augen.

„Mein Gott…“

„Wie nett von dir. Du darfst mich aber auch nur Tyson nennen.“

„Nun hör schon auf, du arroganter Pfau!“, herrschte er ihn an. „Das ist ja nicht auszuhalten wie eingenommen du von dir selbst bist!“

„Hey, nun mal nicht so verstockt.“, ein verspieltes Stupsen traf seine Seite. „Ich zieh dich doch nur auf. Nimm es mit Humor.“

„Du weißt dass ich das nicht ausstehen kann.“

„Weil du alles immer so schrecklich ernst nimmst. Warum fällt es dir so schwer, dich auf solche Dinge einzulassen?“

„Weil du jedes Mal einen solchen Aufriss machst, wenn ich dir einmal helfe!“, brach es aus Kai heraus. Er sah Tyson vor sich überrascht blinzeln. „Genau deshalb verheimliche ich solche Sachen! Wann immer ich dir helfe, führst du dich auf, als würde ich übers Wasser laufen! Es ist kein Weltwunder was ich vollbringe, also halt einfach die Klappe, nimm es hin und erwähn es nicht mehr vor mir! Ich will nicht dargestellt werden, wie ein Kleinkind, das die ersten Schritte vollführt!“

Eine Weile blieb es still zwischen ihnen und mit einem verstimmten „Hmm“, wich Kai dem Blick vor ihm aus. Er starrte nur noch düster in den Hof. Über ihnen erklang das Gurren einer Taube, die auf dem Dach herumkraxelte. Da hörte er Tyson sagen: „Aber das mache ich doch nur, weil ich mich so darüber freue, dass du dich um uns sorgst! Das bedeutet mir unglaublich viel.“

Kai antwortete nicht. Er blieb stumm, unfähig etwas zu erwidern.

Es wurde lange Zeit ruhig zwischen ihnen, dennoch spürte er Tysons Blick auf sich. Er wartete offenbar auf eine Reaktion, doch anstelle ihm diese zu gönnen, griff Kai wortkarg nach seiner Tasse und führte sie an die Lippen. Er fühlte noch immer die Wärme auf seinen Wangen, auch wenn da keinerlei Spott in Tysons Stimme gewesen war, sondern ehrliche Freude. Das machte ihn offen gestanden nervös. Mit so etwas konnte er nicht gut umgehen. Irgendwann wagte er einen Blick zur Seite. Er erhaschte ein sanftes Lächeln vor sich und tiefdunkle Augen, die ihn mitleidig bedachten.

„Armer Kerl…“, bedauerte Tyson ihn auf einmal. Da rutschte er auch schon zu ihm herüber, legte mit einem wehmütigen Seufzen den Arm um seine Schultern. „Du tust mir echt immer mehr leid. Mein armer verstockter Kai…“

Er wurde mitfühlend an ihn gedrückt. Ein unwilliges Brummen kam aus seinem Mund, offenbar weil jemand seine Wohlfühlzone ungefragt betrat. Sein Rücken blieb kerzengerade. Da lehnte Tyson seinen Kopf gegen seinen und sprach: „Selbst nach so vielen Jahren, schaffst du es nicht Voltaire abzuschütteln.“

„Was hat Großvater damit zu tun?“

„Dieses Ekel wollte dich gefühlstaub machen und nur deshalb bist du jetzt so unbeholfen. Du kannst mit Zuneigung so unfassbar schlecht umgehen. Ständig steht dir dein Stolz im Weg.“

Er konnte ein Lächeln heraushören, erwiderte aber nichts.

„Aber schau doch mal, es taut da draußen - und du tust das auch allmählich.“, Tyson deutete auf die gefrorene Überdachung. „Noch ein wenig mehr, dann hast du es endlich geschafft. Dann sieht die Welt endlich den Kai Hiwatari, den wir schon die ganze Zeit in dir sehen. Das wird auch wirklich Zeit. Ich hatte schon Angst, dass dieser Kampf ewig andauert.“

Kais Blick blieb an den schmelzenden Eiszapfen hängen. Die Sonne ließ ihre Oberfläche hell strahlen. Dabei formte sich ein Tropfen an einer der Spitzen, zog sich unendlich träge in die Länge. Er glitzerte förmlich wie ein kleiner Brillant.

„Ich habe dich nicht darum gebeten, um mich zu kämpfen.“, stellte er klar. Seine Stimme klang jedoch leise. Er war nicht mehr böse. Tyson hatte es vollbracht, ihn zu besänftigen. Auf seine eigene ungewöhnliche Art.

„Manche Menschen sind es wert, dass man um sie kämpft.“

Kai fühlte wie er die Lippen aufeinander presste. Nicht aus Wut, sondern aus Befangenheit. Ein kleiner Teil in ihm war tatsächlich gerührt. Gleich danach folgte der Gedanke, dass Tyson doch wirklich charmant sein konnte – wenn er nur wollte.
 

„Um Himmels willen, Junge! Komm sofort herein!“

Tysons Stimme verklang. Kai wurde von ihm fortgerissen. Einfach so…

Es ging unglaublich schnell. Nur ein Wimpernschlag genügte und er fand wieder die verschneite Landschaft vor sich, fühlte schlagartig eine Eiseskälte in jeden Winkel seines Körpers kriechen. Einige Zeit blinzelte er erstaunt auf den plötzlichen Kulissenwechsel vor sich und ihm fiel auf, dass etwas Feuchtes sein Gesicht benetzte.

Kai schaute hinauf zum Himmel. Es fing an zu regnen…

Die Tropfen waren eiskalt, ließen seine durchnässten Strähnen an der Stirn kleben. Nun war das Wetter komplett außer Kontrolle und er saß mitten im Schneeregen. Kais Blick fuhr weiter zu seiner Seite, wo ihn Mr. Kinomiya verdattert anstarrte.

„Du holst dir noch den Tod! Jetzt kommst du aber endlich herein, Junge! Ich rufe schon die ganze Zeit nach dir!“

Hatte er das? Kai konnte sich nicht daran erinnern…

Während seiner Reise in die Vergangenheit war die Gegenwart komplett ausgeblendet worden. Stattdessen hatte er sich auch noch auf den Rand der Veranda niedergelassen, an jenen Punkt, wo er in seiner Erinnerung mit Tyson gesessen hatte und der trotz der Überdachung, auch einige Regentropfen abbekam. Seine Finger waren taub geworden und unter den Nägeln war die Haut bläulich angelaufen. Als Kai begriff, dass Tyson nicht mehr neben ihm saß, straffte sich sein Rücken. Ein ungekanntes Gefühl der Einsamkeit überfiel ihn. Nach all ihren gemeinsamen Erlebnissen, kam es ihm so falsch vor, ihn nicht mehr an seiner Seite zu haben. Er war einsam…

„Kai, bitte steh auf, Junge. Nun komm doch endlich. Du holst dir noch den Tod!“

Er fühlte eine Hand die fordernd unter seine Arme griff um ihn aufzuziehen. Mr. Kinomiya sprach inzwischen mit ihm, wie mit einem verschreckten Kind und klang auch recht ungehalten. Offenbar bereitete ihm sein merkwürdiges Verhalten Kopfzerbrechen.

Wahrscheinlich nicht ohne Grund…

Kai hatte keine Ahnung wie lange er schon im Regen saß. Die Grenzen von Raum um Zeit waren für ihn komplett verschwunden. Für einen Moment hatte er wirklich angenommen, wieder mit Tyson hier draußen zu sitzen, wie an jenem Frühjahrstag. Ihm kam es vor, als könne er sogar noch dessen Anwesenheit spüren – seine Aura.

Nur schwerfällig ließ er sich von Mr. Kinomiya aufziehen. Kai fror entsetzlich und konnte das Zittern seines Körpers auch gar nicht mehr kontrollieren, als wäre ihm jegliche Befehlsgewalt darüber genommen.

„Ich lasse dir jetzt ein Bad ein. Deine Lippen sind ganz blau geworden…“

Doch Kai hörte ihn eigentlich gar nicht. Er dachte nur an seine Erinnerung zurück, wie abweisend sich sein erwachsenes Ich sonst gab. Ihm wurde mit einem Mal klar, dass Tyson schon immer mehr in ihm gesehen hatte. Er kämpfte ständig um ihre Freundschaft.

Um seine Zuneigung…

Doch er selbst bemühte sich um keins von beidem. Er nahm ständig nur, gab aber kaum etwas zurück. Das Kind in ihm fragte sich, ob es nicht Zeit wurde, Tyson endlich entgegenzukommen.
 


 

*
 

„Du bist so still. Was ist los?“

„Nichts. Ich bin müde.“, log Tyson. Er stützte seinen Oberkörper am Lenkrad ab, die Arme darum geschlungen, verdrießlich aus der Frontscheibe starrend, wo die Scheibenwischer surrend umherhuschten. Er konnte nur noch an ihren Aufbruch denken. Kai war wieder so introvertiert gewesen. Er hatte sich nicht einmal zu ihnen umgedreht. Als Tyson einen letzten Blick hinter seine Schulter warf, bevor sie aus dem Tor marschierten, hielt er ihnen sogar den Rücken zugewandt. Das bereitete ihm Sorgen, denn er wusste nicht, was er aus diesem Verhalten interpretieren sollte. In einem Moment wirkte Kai abweisend, im nächsten spürte Tyson eine tiefe Vertrautheit zwischen ihnen. Er musste an ihre bevorstehende Unterhaltung denken. Kai schien so unschlüssig als er ihm seine Bitte vortrug, aber auch nicht gänzlich abgeneigt. Desto näher der Moment ihrer Aussprache heranrückte, desto nervöser wurde er und gerne hätte Tyson sich seinen Freunden anvertraut, vor allem, bevor Mariah in den Wagen stieg. Doch er wusste einfach nicht wie sie zu diesem Thema standen. Bevor er einen von ihnen einweihte, musste er vorsichtig aushorchen, was sie von Homosexualität hielten. Viele Männer hatten ein Problem damit, er konnte also nicht erwarten, dass sie Freudentänze machten. Außerdem sollte er nichts überstürzen.

Kai hatte ihm noch keinerlei Zugeständnisse gemacht...

Er war zutraulicher, zweifelsohne, aber vielleicht war da wirklich nicht mehr.

Womöglich war er sogar einfach nur verwirrt durch seine Erfahrungen als Kind. Tyson verkniff sich ein schweres Seufzen. Es hätte nur Maxs Aufmerksamkeit erregt. Auf der einen Seite fürchtete er sich vor ihrer Unterhaltung, doch andererseits sehnte sich etwas danach, Kai seine Gefühle zu offenbaren. Bereits in der Irrlichterwelt hatte er sich gefragt, wie er sich ihm gegenüber in Zukunft verhalten sollte, dass Tyson seine Emotionen aber so wenig verbergen konnte, überraschte selbst ihn. Es hatte nicht wirklich lange gedauert, bis Kai den Braten roch. Zurückhaltung war wirklich nicht seine Stärke. Tyson kratze sich nachdenklich am Kinn und bettete nach einem herzhaften Gähnen, seinen Kopf wieder auf dem Lenkrad.

Kai hatte aber auch nicht normal reagiert - oder war das nur sein Wunschdenken?

Seine Augen hatten so verklärt gewirkt. Diese schönen Augen…

„Es ist wirklich ein langer Tag gewesen.“, sprach Max inzwischen zu seiner Seite und riss ihn aus seinen Schwärmereien. Er schloss wohl die falschen Schlüsse aus seinem Schweigen. Normalerweise schnatterten sie auch im Wagen ohne Punkt und Komma, aber Max schien auch mit der Müdigkeit zu kämpfen. Es hatte inzwischen zu regnen begonnen. Schneeregen um genau zu sein. Das Wetter war wirklich verrückt. Zuvor schneite es noch, nun steppten die Tropfen lautstark auf dem Autodach herum und drohten die Straßen in eine glatte Wasserbahn zu verwandeln, aber immerhin war es nun wieder etwas herbstlicher. Draußen auf den Straßen entstand ein ekliger Schneematsch. Ray musste geradezu ins Hotel hechten und als sich die gläserne Schiebetür öffnete, konnten sie noch sehen, wie er sich angeekelt in der Eingangshalle schüttelte. Bevor sie zu Mariah gefahren waren, hatten sie den ersten Stopp beim anderen Hotel gemacht, damit Max und Ray die Koffer packen und auschecken konnten. Die Frau an der Rezeption war etwas ungehalten gewesen, weil sie sich nicht an die vorgegebenen Zeiten hielten und hatte davon gesprochen, ihnen den nächsten Tag berechnen zu müssen, doch es gab gewiss Schlimmeres.

„Du musst am Flughafen übrigens nicht warten bis wir abfliegen.“

„Ich möchte es aber gerne.“

„Tyson, die beiden fliegen eine Viertelstunde nach mir. Keiner wird zu irgendeinem Zeitpunkt also alleine warten müssen. Geh nachhause und schlaf dich endlich aus. Du hast es dir verdient.“

Er brummte unwillig. Das lag ihm eigentlich fern. Da klopfte ihm Max auf die Schulter.

„Bei all dem Ärger konnte ich dir noch gar nicht sagen, wie toll du dich geschlagen hast.“

Ein müdes Lächeln huschte um Tysons Mundwinkel und er hob den Kopf vom Lenkrad.

„Du warst auch nicht schlecht…“

„Aber bei weitem nicht so stark wie du. Ich hätte das nicht ohne dich geschafft. Vor allem als Ray verschwunden ist, da hast du das Ruder komplett an dich gerissen. Du warst dort drüben die treibende Kraft, die uns alle beisammen gehalten hat.“

„Du klingst wie Kai.“

„Hat er das auch gesagt?“, ein überraschter Blick traf ihn. Tyson nickte langsam. Die Erinnerung an ihr erstes Gespräch, ließ ihn unvermittelt lächeln. Kai war so handzahm gewesen. Allein der Gedanke jagte ihm einen angenehmen Schauer über den Rücken. Hätte er ihn doch nur in eine Umarmung gezogen. Es musste sich herrlich anfühlen, die Finger um seine Hüften zu legen. Oje, schon wieder Kopfkino…

„Vorhin als wir geredet haben, hat er sich Vorwürfe gemacht.“, erklärte Tyson stattdessen. „Kai meinte er hätte es ohne uns niemals lebend nachhause geschafft. Deshalb hat er auch die Falschaussage gemacht. Er wollte seine Schuldigkeit begleichen.“

„Das musste er doch nicht! Er war ein kleines Kind. Natürlich wusste er sich nicht so zu helfen wie wir anderen. Was wir gemacht haben war selbstverständlich.“

„Das habe ich ihm auch gesagt, trotzdem macht er sich Gedanken.“

„Hmm…“, für eine Sekunde, war das alles was Max dazu sagte. Er fuhr ratlos mit den Fingern am Autorahmen entlang, bis er kurz auflachte. Es klang erleichtert.

„Was ist?“

„Ach nichts. Ich denke nur wir haben ihn endlich erreicht… Dabei hatte ich die Hoffnung schon aufgegeben.“

„Du meinst er taut auf?“

„Ja. Kai ist anders. Findest du nicht?“

„Vielleicht bleibt es nicht so? Immerhin fehlen ihm noch einige Erinnerungen.“

„Nein. Er hinterfragt sein Verhalten endlich. Beim Baikalsee hat er sich uns gegenüber auch etwas geöffnet. Jetzt ist die Tür aber richtig aufgeschwungen.“, Max rieb sich müde über die Augen. „Ich glaube Kai ist ein Mensch der viel Wert auf Taten legt. Worte allein nützen nichts. Er brauchte wohl einen letzten Beweis dass er uns wirklich vertrauen kann.“

„Ich hätte gedacht dass der Baikalsee genügt.“, murmelte Tyson.

„Damals haben wir ihm bewiesen, dass man als Team stärker ist als alleine. Wir haben ihn von seinem hohen Ross gestoßen. In der Irrlichterwelt haben wir ihm aber gezeigt, dass wir ihn selbst dann schützen, wenn wir keinen Nutzen von ihm haben.“

„Kai ist doch nicht nutzlos!“, kam es empört. Plötzlich war er wieder hellwach.

„So war das ja auch nicht gemeint.“, verdrehte Max die Augen. Etwas zu spät merkte Tyson, wie sensibel er reagierte, doch sein Beifahrer ging auch nicht weiter darauf ein. „Ich glaube einfach, dass ich so langsam seine Denkweise begreife. Kai hatte eigentlich nie ein Problem damit uns zu helfen. In all den Jahren hat er uns so viele Male unter die Arme gegriffen. Sein Problem ist wohl einfach, dass er sich nicht dazu überwinden kann, selbst Hilfe zu erbitten, weil er sonst fürchtet, in der Schuld von jemand anderen zu stehen. Mein Dad würde dazu sagen, dass die Konten am Ende des Monats bei ihm immer ausgeglichen sein müssen.“

Tyson dachte über diese Worte nach.

„Ich denke Kai hat Angst enttäuscht zu werden.“, sprach er irgendwann seine Befürchtung aus. „Vielleicht will er auch offener werden, aber weiß einfach nicht wie. Als würde er versuchen eine Mauer zu überwinden. Seine Familie hat bestimmt einiges bei ihm falsch gemacht. Die Abtei dann wohl den Rest…“

Seine Finger umschlossen das Lenkrad fester.

„Er war mal so ein liebes Kind. Ich wüsste zu gerne, was mit diesem kleinen Kerl passiert ist, dass er so verschlossen wurde. Er tut mir nach dieser Sache nur noch leid. Da soll nochmal einer behaupten, dass Geld allein glücklich macht.“

„Wir hätten wohl häufiger nachhaken sollen. Ich dachte immer seine Grenzen zu respektieren, wäre der richtige Weg, aber so langsam glaube ich, dass du mit deiner Hartnäckigkeit am weitesten vorgedrungen bist. Eure ständigen Konfrontationen waren vielleicht anstrengend, aber du kennst ihn dadurch besser als wir alle zusammen. Ehrlich gesagt hielt ich dich aber immer für zu aufdringlich was ihn betraf.“, bedauerte Max leise und blickte hinaus. Die beschlagene Scheibe vor ihm war von feuchten Bahnen überzogen, was die Lichter vom Hotel verschwommen wirken ließ. Irgendwann sprach er leise: „Ich mochte den Kleinen. Irgendwie bin ich traurig das er jetzt weg ist.“

„Ich auch. Das kleine Kerlchen das seinen Hosenknopf nicht aufbekam…“

Beiden entwich ein kurzes Glucksen. Als es drohte wieder stiller zu werden, sprach Max auf einmal: „Seit wir zurück sind überlege ich, ob es nicht Zeit wird, eine Familie zu gründen.“

„Ernsthaft?“, fragte Tyson, allerdings konnte er sich den belustigten Unterton nicht ganz verkneifen. Max war zwar um einiges feinfühliger zu seinen Freundinnen als er, aber als Vater konnte sich Tyson ihn einfach noch nicht vorstellen. Gewiss besaß er viel Verantwortungsbewusstsein, aber manchmal konnte ihr kleiner Strahlemann schmollen wie ein Vorschulkind. Vor allem wenn man seine Kletterkünste belächelte…

Wenn sein Kind ihn deshalb hänselte, würde er dann traurig unter die Bettdecke kriechen?

„Hey, denkst du ich wäre ein schlechter Vater?“, kam es auch gleich darauf beleidigt und ihm wurde gegen die Schulter geboxt. Tyson rutschte beinahe vom Lenkrad. Er nahm es mit einem gelassenen Grinsen hin.

„Nein. Du wärst bestimmt ein toller Dad. Aber bist du nicht noch etwas zu jung?“

„Ray ist auch nicht viel älter…“

Max lehnte den Kopf grübelnd zurück. Seine Augen waren klein, als stünde er kurz davor einzunicken. Wahrscheinlich hielt er diese Unterhaltung nur am Leben um gerade das zu vermeiden.

„Meine Eltern wollten einfach gerne ihre Enkelkinder erleben.“

„Vielleicht wartest du noch damit bis Ray sein Kind hat. Wir könnten ihn als Versuchskaninchen sehen. Was er verbockt, machen wir besser.“

„Bestimmt kommt sein Mädchen mit einem gewaltigen Karatekick auf die Welt…“

„Nicht alle Asiaten beherrschen eine Kampfsportart, Max!“, verdrehte Tyson die Augen.

„Du und Ray schon.“

„Ich sagte nicht alle! Muss ich deshalb gleich die Ausnahme sein?“

Beide begannen zu glucksen, da schraken sie geschockt auf, als auf der Fahrerseite eine wildfremde Person die Handflächen gegen die Scheibe haute. Verdattert blinzelte Tyson auf den Mann. Er war schmächtig, kleiner als er selbst und starrte mit aschfahlem Gesicht in den Innenraum hinein. Seine Augen wirkten trüb. Da der Schreck ihm noch in den Gliedern steckte, fauchte Tyson ihm unfreundlich entgegen, ob er noch ganz bei Trost sei, doch der komische Kautz rührte sich nicht vom Fleck. Er stand nur weiterhin vor seinem Fenster, ließ den Regen ungerührt über sich ergehen, während er sie anstarrte.

„Alter! Ich habe einen verdammt schlechten Tag, also verpiss dich!“, platzte Tyson der Kragen. „Wenn ich zu dir herauskomme, ist dein Tag nämlich um einiges beschissener!“

„Lass das! Ich glaube der hat getrunken.“, ermahnte ihn Max. Ihm schien nicht der Sinn nach Streitereien, sondern nur noch nach einem warmen Bett.

„Das hoffe ich auch für ihn! Wenn er das aus Spaß macht, kann er was erleben!“

„Tyson bitte, keine Dramen mehr, okay?“, stöhnte Max.

„Wenn der Typ gleich abhaut, gibt es auch keines.“

Und tatsächlich wandte sich der Sonderling ab. Seine Finger verschwanden von der Scheibe. Die Abdrücke wurden vom Regen übertüncht. Tyson hörte seinen Nebenmann schnalzen und kurz darauf sprach Max missbilligend: „Echt schlimm in der Großstadt. Zum Glück wohnt ihr außerhalb vom Zentrum.“

„Ist das bei euch auch so ätzend?“

„Ja, aber damit muss man rechnen, wenn man in New-…“

Ein spitzer Schrei unterbrach die beiden. Ihre Köpfe wandten sich nun dem Fenster auf der Beifahrerseite zu. Der leichenblasse Zombieverschnitt war auf die Eingangshalle zu getorkelt, ausgerechnet zu dem Zeitpunkt, als Ray endlich mit den Koffern herauskam.

Und er griff einfach so dessen schwangere Frau an!

Es dauerte keine Sekunde, da hatten beide sich abgeschnallt und sprangen aus dem Wagen heraus. Draußen waren die Koffer längst im Matsch gelandet, weil Ray seiner Frau sofort zur Hilfe eilte. Auch das Hotelpersonal war auf die Szene im Regen aufmerksam geworden. Zuvor noch mit den Aufräumarbeiten des Lagers beschäftigt, das durch die Evakuierung draußen entstanden war, ließen zwei in Regenmänteln bepackten Männer, die Klappstühle fallen und zogen Mariah vom Störenfried fort. Einer von ihnen schimpfte auf den Kerl ein und verpasste ihm einen unbeholfenem Tritt gegen die Waden.

Durch den Regen, hatten sich in kürzester Zeit Pfützen auf den Weg gebildet, die bei jedem Schritt Tysons Hose ein wenig mehr verdreckten. Er kam gerade noch rechtzeitig dazu, als der fremde Kerl sich noch einmal entzog und auf Ray losging, da packte er ihn schon am Kragen und riss ihn mit voller Wucht zu Boden. Der Angreifer landete auf dem Rücken. Damit schien der Spuk vorbei, denn er blieb benommen liegen wo er war.

Tyson wies Max an, die entsetzte Mariah sofort zum Wagen zu bringen. Die hielt noch immer Galux fest umklammert. Das Bit Beast schaute genauso verdutzt, wie die anderen Anwesenden und fauchte dem Fremden erbost zu: „Finger weg von meiner Mao!“

Ob dieser betrunkene Idiot sie hören konnte, war wohl eine andere Frage. Tyson beugte sich herab, um die Koffer aus dem Regen zu fischen. Einer war in einer größeren Wasserlache, etwas abseits des Weges gelandet. Der Stoff war völlig durchnässt. Während Max die aufgelöste Mariah wegführte, half das Personal dem strauchelnden Kerl auf die Beine. Er hatte den Kopf in den Nacken gelegt, sein Mund stand weit offen und er baumelte schlaff im Griff der beiden Männer. Tyson bekam schon Angst, dass er ihn etwas zu grob gepackt hatte. Eine Anzeige wegen Körperverletzung fehlte ihm gerade noch.

„Ray, mit dir ist alles klar?“

„Ja natürlich. Das halbe Hemd kann mir doch nicht gefährlich werden.“, tat der eine wegwerfende Handbewegung. „Vergiss den Kerl, das wird ein Säufer sein.“

„Wie schaffst du es nur so ruhig zu bleiben?“

„Wir haben schon Schlimmeres erlebt.“, lächelte der ihn an, wenngleich er recht abgekämpft wirkte. Die Eingangstür öffnete sich und die schwarzgekleidete Security eilte herbei. Einer von ihnen packte den Übeltäter unterm Arm und sprach gutgelaunt davon, dass sich diesen Kampftrinker nun die Polizei anschauen dürfe. Der Mann sprach dagegen nur davon, dass er Wärme bräuchte, woraufhin der Securitymann bissig konterte, dass er die gefälligst bei seiner eigenen Frau suchen solle. Pflichtschuldig wie das Hotelpersonal war, half es ihnen, die restlichen Koffer aus dem Regen zu schaffen und hinten in Tysons Wagen zu verstauen.

„Verzeihen sie bitte diesen Vorfall. Das wirft hoffentlich kein schlechtes Licht auf unser Hotel.“, es schien die größte Sorge des Personals zu sein und sie verbeugten sich tief vor Ray. „Die Sicherheit unserer Gäste ist natürlich oberste Priorität. An Halloween schauen nur leider viele Leute zu tief ins Glas.“

Ray hob beschwichtigend die Hand und sprach davon, dass es Dinge gab, auf die man wohl keinen Einfluss hatte. Kurz darauf stieg er in den Wagen. Als Tyson es ihm gleichtat, schüttelte er sich zuerst in seinem Sitz und rieb die Handflächen gegeneinander, um sich zu wärmen. Er war triefend nass geworden, seine dunklen Strähnen klebten an seiner Stirn, genauso wie Rays, der hinten bei seiner Frau Platz nahm. Sofort drängte sich Mariah bibbernd an ihren Mann und ließ sich von ihm in den Arm nehmen.

„Dieser Typ war eiskalt… Ich konnte seine Finger durch die Ärmel noch spüren.“, beklagte sie sich prompt. Ray rieb ihr über den Rücken und sprach ihr aufmunternd zu. Einen verschmitzten Moment dachte Tyson daran, an wem er sich jetzt gerne wärmen würde, wäre er daheim.

„Alles gut dahinten?“

„Geht so…“, kam es fröstelnd von Mariah.

„Die Mutter in spe klingt ungehalten.“

„Ach weißt du Tyson, nimm das bitte nicht persönlich, aber ich bin froh, wenn ich einfach wieder zuhause vor unserem Kaminofen sitze. Je schneller, desto besser.“

Das konnte er ihr nicht verübeln. Gleich darauf ließ er den Motor aufheulen, drehte die Heizung voll auf und fädelte sich in den Verkehr Richtung Flughafen ein, während Mariah in ihre Handtasche griff, um Max sein Ticket zu überreichen. Bei einem kurzen Blick in den Rückspiegel, meinte Tyson noch hinter sich auf dem Gehweg, eine große Menschenmeute zu erhaschen, die genauso betrunken auf das Hotel zu wankte, wie der reizende Säufer, dem sie gerade begegnet waren. Ganz in ihrer Nähe musste eine wirklich heftige Party stattgefunden haben. Allerdings hatte er keine Muße, auch mit den restlichen Feierwütigen Bekanntschaft zu machen und bei der nächsten Kreuzung, waren sie auch schon vergessen.
 

Etwas später waren sie beinahe auf direktem Weg zum Flughafen, als Max das Radio aufdrehte und die Eilmeldung durch den Wagen erklang, dass wegen diversen Auseinandersetzungen mit einer noch unbekannten Gruppierung, ihre Route von der Polizei gesperrt wurde. Ein entnervtes Stöhnen ging durch den Innenraum und schon fluchten alle wie die Weltmeister. Nun musste Tyson das Zentrum meiden und einen weiten Bogen einschlagen. Glücklicherweise war zu so später Stunde noch nicht allzu viel los, doch als sie die nächste Ausfahrt nahmen, die in einer ausladenden Kurve, von der Schnellstraße hinauf zu einer Brücke führte, sahen sie haufenweise Autos unter sich feststecken und Passanten, die inmitten des Staus umherschlichen.

Das alles zwischen Schnee, Regen und Matsch…

„Gott sei Dank habe ich das Radio aufgedreht! Sonst wären wir direkt hineingefahren.“, entfuhr es Max. Er blinzelte neugierig aus dem Fenster und als Tyson es ihm gleichtat, sah er die im Radio erwähnte Blockade unter sich. Das Rotlicht auf den Dächern der Polizeiautos konnten sie noch lange durch das beschlagene Rückfenster beobachten. Kurz darauf rauschten auf der gegenüberliegenden Spur, noch weitere Kastenwägen an ihnen vorbei. Ihre Sirenen schallten lange nach, genau wie das alarmierende Flackern ihrer Lichter.

„War die Welt früher auch so verrückt?“, wollte Mariah wissen.

„Ich weiß es nicht. Vielleicht kam uns als Kinder einfach alles besser vor.“, Ray ließ seinen Worten eine zärtliche Berührung folgen und küsste seine erschöpfte Frau auf die Stirn. Da sprach Galux auf einmal: „Die Welt war schon immer gefährlich, Mao. So ist der Lauf der Dinge. Kämpfe, Katastrophen und der Tod, gehören ebenso dazu, wie Glück und Heiterkeit. In einigen Regionen mehr, in anderen weniger.“

Zu Tysons Überraschung schnaubte Max hörbar.

„Klar dass ein Bit Beast so gleichgültig denkt…“

„Du klingst unzufrieden mit meiner Antwort.“

„Nein. Aber ich denke ihr Bit Beasts macht es euch verdammt leicht. Ganz nach dem Motte – wenn ich einen Fehler mache, dann gehen halt einige Menschen drauf. Wen juckt es schon?“

Galuxs Augen wurden zu Schlitzen und Tyson hatte das Gefühl, dass sich Max gerade nah an ihrer Schmerzgrenze bewegte. Für seinen Geschmack lehnte er sich etwas zu weit aus dem Fenster – und das war eigentlich sein Job.

„Du liegst falsch. Wir sind uns der Verantwortung, die auf unseren Schultern lastet, durchaus bewusst. Mehr als jedes andere Wesen…“

„Das Verhalten der Uralten sprach aber nicht gerade dafür, sonst gäbe es auf der Welt kaum so viele Katastrophen.“

„Nun, ich möchte dich daran erinnern, dass die meisten Landstriche noch immer durch Menschenhand verwüstet werden. Die beiden großen Kriege, welche diese Welt vor wenigen Jahrzehnten heimgesucht haben, waren nicht Schuld eines Bit Beasts und doch schallte ihr Echo bis in unsere Welt herüber. Noch nie habe ich so viele Tote den Wurzelpfad passieren sehen wie damals.“

Tyson schielte zu seiner Seite, wo sich Max heftig auf die Lippen biss. Irgendwie hatte er den Eindruck, dass es ihn noch immer ärgerte, dass Galux ihn einmal mit Draciel verglichen hatte. Da kam es recht stoisch von ihm: „Das mag ja sein, aber für Wesen, die so alt sind, mangelt es vielen trotzdem an Rücksichtnahme. Es ist erschreckend wie leichtsinnig einige mit ihrer Macht umgehen.“

„Du machst mir also Vorwürfe?“

„Nein! Dir ganz bestimmt nicht… Du hast Rückgrat bewiesen.“, seufzte Max. „Aber gerade die Uralten, hätten gegen jede Naturkatastrophe in der Vergangenheit, etwas unternehmen können. Niemand kann mir erzählen, dass Draciel nicht die Macht dazu gehabt hätte.“

„Ihr Menschen habt keinerlei Vorstellung mit welchen Kräften eure Bit Beasts tagtäglich zu kämpfen haben. Es ist leichtsinnig den Finger anklagend auf sie zu richten, wenn ihr nicht das nötige Wissen hierfür besitzt.“

Tyson wollte Max zuflüstern, dass er keinen Streit provozieren sollte, doch ganz offensichtlich war nach Draciels Fehlern, keinerlei Funken Respekt mehr bei ihm vorhanden. Er hatte komplett das Vertrauen in Bit Beasts verloren…

„Wie kannst du die Uralten überhaupt noch in Schutz nehmen? Nach allem was sie dir und uns antun wollten, solltest gerade du etwas kritischer sein!“

„Das bin ich.“

„Und warum ist es dir dann egal, dass sie ohne mit der Wimper zu zucken in Kauf nahmen, dass Menschen wegen ihren Fehlern sterben? Bit Beasts sind alles andere als perfekt, dass musst auch du zugeben!“

„Perfekt…“, wiederholte Galux verächtlich. „Dieses lächerliche Wort! Dabei begreife ich kaum den Sinn davon.“

„Du weißt nicht was Perfektion ist?“, fragte Ray erstaunt.

Tyson blickte in den Rückspiegel. Ihm fiel auf, das Galux wieder lebendiger wirkte, wenn auch nicht auf höchstem Niveau. Zumindest war sie nicht mehr so schlaff, wie zu jenem Zeitpunkt, als sie das Bit Beasts in Mariahs Obhut gaben. Allerdings besaß sie bei weitem nicht mehr die stattliche Größe wie in der Irrlichterwelt, was wohl daran lag, das die einzige Energiequelle, die sie hier besaß Mao war. Galux war auf die zierliche Statur einer ordinären Hauskatze geschrumpft, auch wenn ihr überlanger Schweif und das transparente, leuchtende Fell bewiesen, dass sie das ganz und gar nicht war. Mittlerweile schüttelte das Bit Beast den Kopf auf die vorangegangene Frage.

„Ich weiß was ihr Menschen meint, darunter zu verstehen, doch eure Maßstäbe dafür, scheinen mir absolut lächerlich zu sein!“, erklärte Galux sichtlich irritiert. „Tatsächlich hat uns Bit Beasts diese Perfektion lange Zeit Kopfzerbrechen bereitet, weil wir nicht auf den Sinn gekommen sind. Bis heute hat niemand herausgefunden, wann etwas in euren Augen als perfekt gilt. Es klingt nach einem erfunden Zustand, der niemals erreicht werden kann.“

Galux schaute ernst aus dem nassen Fenster und begann zu berichten: „Als dieses Wort zum ersten Mal die Lippen eines Menschen verließ, waren wir sehr ratlos. Es war so verwunderlich, dass die Uralten damals sogar eine Sitzung einberufen mussten, mit allen Bit Beasts, egal aus welcher Klasse. Wir versuchten dem Perfektionismus auf den Grund zu gehen, scheiterten aber an seiner Unberechenbarkeit.“

Verdutzt neigte Tyson den Kopf. Das ein so einfaches Wort in der Irrlichterwelt für Furore gesorgt hatte, konnte er kaum glauben.

„Ich habe noch nie so viele meiner Artgenossen auf einem Flecken gesehen wie damals, bei jener Versammlung.“, erinnerte sich Galux inzwischen. „Ich weiß gar nicht mehr, welches Bit Beast es zuerst aus dem Mund eines Menschen hörte. Ich weiß nur, wann es mir zum ersten Mal zugetragen wurde. Das war als ich mich schrecklich darüber grämte, dass ein Holzfäller meinen Lieblingsbaum in der Menschenwelt fällte.“

„Du hattest einen Lieblingsbaum?“, fragte Mariah und lächelte gerührt.

„Ich hatte sogar viele! Es sind immer die, welche hoch hinaufragen und mich den warmen Sonnenstrahlen etwas näher bringen, wenn ich auf ihr Geäst klettere, um dort mein Nickerchen zu halten. Den ersten Baum, den ich aber so mochte, war eine hochgewachsene Eiche. Sie war unsagbar stattlich, viele Vögel nisteten darauf, beglückten mich mit ihrem hellen Gesang und ich ließ die Blätter meiner Eiche, im Sommer dichter sprießen, als bei allen anderen Bäume um uns herum. Driger meinte einmal, er habe sie allein für mich wachsen lassen. Es war ein so wundervolles Geschenk.“

Einen Moment schaute Galux traurig zur Seite, was Mariah dazu veranlasste, ihr tröstend hinter den langen Ohren zu kraulen. Tyson empfand Mitleid für sie. Ganz offensichtlich dachte sie an ihren geliebten Driger. Es war schon eigenartig, dass sich gerade jene Bit Beast ineinander verliebt hatten, deren Menschenkinder verheiratet waren. Nach einem tiefen Seufzen, meinte Galux wehmütig: „Wenn die Sonne durch das Laub brach, entstand ein wundervolles Schattenspiel auf der Grasfläche unter meiner Eiche. Manchmal saß ich auf meinem Ast, schaute herab und mir wurden die Lider schwer. Ich konnte dann stets sorglos einschlafen. Der Schatten meiner Eiche war so erfrischend und auch die Tierwelt hatte ihre Freude an ihr, denn es tummelten sich viele Eichhörnchen auf ihrem Geäst herum. Sie bauten sich ihre Unterschlüpfe in jedem Spalt, versorgten ihre Jungen, sammelten die Früchte für den Winter ein und bei Regen, spendete das Blätterwerk sogar den kleinen Ameisen darunter Schutz. Wisst ihr wie fatal ein einzelner Regentropfen, für so ein winziges Wesen ist? Er zerbricht sie förmlich oder schließt sie ein, sodass sie kläglich darin ertrinken. Doch meine schöne Eiche, sie war ein Organismus, der ihrer Umwelt so viel Nutzen brachte. Bis dieser einfältige Mensch kam und sie fällte…“

Tyson hätte schwören können, dass sich Galux Brauen im Rückspiegel zusammenzogen. Selbst nach so vielen Jahren, schien sie das wütend zu machen.

„Es war ein Skandal! Es geschah einfach so während meiner Abwesenheit. Ich kam gerade von einer Wiese zurück, die ich zum Erblühen brachte, da war meine Eiche auch schon fort. Nichts anderes außer einem traurigen Stummel war zurückgeblieben. Ich war so in Rage, dass ich der Fährte des Menschen folgte, denn ich wollte wissen, ob mein schöner Baum, zumindest für eine gerechte Sache gestorben war. Stattdessen haute der Mensch ihn in Stücke, riss die Rinde achtlos herunter wie Abfall, dabei konnte ich an ihr immer so schön meine Krallen schärfen. Er sägte den kräftigen Stamm, in viele Kleinere, die unnatürlich schmal und symmetrisch waren.“

„Er hat das Holz weiterverarbeitet.“, erklärte Ray mit einem Schulterzucken. „Das ist absolut normal. In der Holzindustrie werden Baumstämme zu Brettern verarbeitet.“

„Normal? Du meinst wohl eher abnormal!“, brüskierte sich Galux. „Diese Bretter waren unnatürlich. Jedes von ihnen schaute aus wie das andere. Ich konnte meinen schönen Baum kaum wiedererkennen. Diese Bretter waren absolut gerade und auch vollkommen nutzlos, zu schmal, um noch irgendwem Schatten zu spenden. Zu dünn um ein Nest zu tragen. Und alle rochen sie nach tot! Es waren keine Ableger… Hätte ich einen von ihnen in die Erde gepflanzt, wäre kein Setzling daraus gesprossen. Diese merkwürdigen Bretter trugen nicht einmal mehr Früchte für die Eichhörnchen. Und doch stand der Mann letztendlich da, fuhr in seiner Hütte mit den Fingern, über das tote Holz und sprach davon, dass es nun perfekt sei.“

„Aber die Bretter müssen doch gerade sein, sonst wird es schwieriger sie weiterzuverwenden! Kein Mensch will einen krummen Schrank haben. Glaub mir Galux das ist absolut okay!“, prustete Ray los und auch der vordere Teil des Wagens, musste schallend lachen, über den naiven Vergleich des Bit Beasts. Keiner der Männer war der Meinung, dass man einen gefällten Baum, mit einer Naturkatastrophe vergleichen konnte.

Ein Fehler wie sich gleich darauf herausstellte…

„Habt ihr jemals einen Ast gesehen, der perfekt in die Höhe ragt?!“, tadelte sie Galux mit einem Fauchen, dass sie alle zum Schweigen brachte. Mariah versuchte ihr Bit Beast zu beschwichtigen, indem sie leise auf sie einsprach, doch der Zorn brach in Galux durch. „Seht euch nur in einem Wald um und ihr werdet erkennen, dass die Natur, solche Worte wie gerade und akkurat nicht kennt! Es gibt keine geraden Äste! Es gibt keine akkuraten Bäume! Jeder Grashalm, jede Pflanze, jeder Fels, jeder Landstrich, besteht aus geschwungenen, unkoordinierten Linien, die keinerlei Symmetrie aufweisen – was sie überhaupt so einzigartig macht! Das allein ist natürlich! Wenn die Natur keine Perfektion kennt, wie könnt ihr Menschen behaupten, dass Perfektion normal ist?“

Es wurde einen Moment still im Wagen, denn die Gruppe merkte, dass dieses Thema Galux sehr ärgerte. Der impulsive Vortrag war so ungewöhnlich für das damenhafte Wesen und da Max damit begonnen hatte, fühlte er sich wohl verpflichtet, sie zu besänftigen.

„Hör mal, Galux, sei mir nicht böse, aber du kannst doch einen kaputten Baum, nicht mit einer richtigen Katastrophe vergleichen. Das ist nicht das Gleiche!“

„Für uns war es eine Katastrophe! Es haben unzählige Tiere durch den Verlust dieser Eiche ihr Heim verloren! Es wurden tausende Ameisen unter dem herabstürzenden Stamm zerquetscht. Als der Baum fiel, fiel auch ein Nest aus der Baumkrone, von eine Elster die ihre Eier noch brütete. Sie zerschellten auf dem Boden, bevor die Küken die Chance bekamen, das Licht der Welt zu erblicken!“

„Wie viele Eier gehen kaputt weil ein Tier sie frisst?“

„Das tut das Tier um zu überleben. Dieser Tod war aber sinnlos!“

Max stöhnte gequält.

„Das mit dem Nest ist ja echt traurig, aber lässt sich eben nicht vermeiden. Soll die ganze Menschheit auf Bretter verzichten, nur damit ein paar Ameisen, Vögel und Eichhörnchen nicht ihr zuhause verlieren?“

„Sollen die Uralten nicht mehr ihrem Tagwerk nachgehen, nur weil dabei einige Menschen sterben könnten?“

„Du vergleichst Äpfel mit Birnen!“

„Nein tue ich nicht! Wir Bit Beast dürfen einfach nur keinen Unterschied zwischen Ameise und Mensch machen! Es gibt bei uns keine Maßstäbe welches Leben mehr wert ist. Du dagegen hast den Uralten Gleichgültigkeit vorgeworfen – und nun glänzt du selbst damit!“

Max wurde still und auch der Rest begriff allmählich diese Bit Beast Logik. Da sprach Galux verbittert: „So viele Tiere mussten an jenem Tag sterben. Und das nur für ein paar tote Bretter, die dieser einfältige Holzfäller auch noch als perfekt schimpfte.“

„Es tut mir Leid, dass du das anders siehst, aber Perfektion ist, naja… Ansichtssache. Es ist wirklich schwer zu beschreiben.“, versuchte Max die Wogen zu glätten.

„Dann dürft ihr Menschen auch nicht darauf hoffen, dass ein Bit Beast gerade eure Meinung darüber teilt! Für mich und all die anderen Wesen, war meine Eiche, genauso wie sie war perfekt. Für uns war es furchtbar, als sie gefällt wurde! Doch beklagen wir uns? Habt ihr jemals erlebt, dass euch die Natur wegen eurem Verhalten tadelt?“

„Ich wollte dich nicht verletzen. Es tut mir Leid…“, sprach Max bedauernd. Tyson sah aus den Augenwinkeln, wie er hilfesuchend zu ihm herüberschaute, doch er zuckte ratlos mit den Schultern. Hier trennten sie alle einfach Welten…

„Das sollte es auch! Meine Eiche brachte uns allen viel mehr Freude als den Menschen. Denn als die merkwürdigen Bretter weiterbehandelt wurden, wurde daraus ein hässlicher Schemel, der nur einer einzigen Person nutzte, nämlich derjenigen die sich darauf setzt. Wie viele Wesen mussten wegen diesem Egoismus leiden! Und doch wagt ihr Menschen mit den Finger auf die Natur zu zeigen und sie zu verteufeln, wenn sie einmal nicht nach euren Regeln spielt!“

„Ich habe damit unsere Bit Beast gemeint. Nicht dich... Dir würde ich so etwas niemals unterstellen, dass musst du mir glauben!“

„Die Uralten sind ein fester Bestandteil der Natur. Genauso wie ich! Wir sind die Natur! Wie kannst du damit also nicht auch mich meinen?“ Galux rollte sich beleidigt neben Mariah zusammen und funkelte von der Rückbank aus, böse nach vorne. „Ein großes Laster der Menschen ist, das ihr nur euch allein für den Mittelpunkt der Erde haltet! Wir Naturgeister müssen ebenso die Bedürfnisse der anderen Wesen berücksichtigen, egal wie banal sie euch erscheinen. Manchmal frage ich mich, ob euch überhaupt noch bewusst ist, dass ihr nicht alleine auf diesem Planeten seid. Ihr teilt ihn euch mit den anderen Spezies. Er gehört nicht euch allein! Die Natur kann nicht ständig auf den Mensch Rücksicht nehmen, egal wie grausam das für euch klingt. Sie hat auch andere Kinder und sie muss ihr Gleichgewicht wahren – und sie ist genauso wenig perfekt wie ihr! Missgeschicke passieren ihr genauso wie sie den Menschen passieren. Das allein ist natürlich!“

Damit schien das Gespräch für sie beendet. Galux drängte sich näher an ihr Menschenkind heran und auf Max Entschuldigung, murrte sie äußerst eingeschnappt. Tyson dagegen kam nicht umhin, an sein Bit Beasts zu denken. Das war auch nicht perfekt gewesen…
 


 

*
 

Etwas war anders an der Stadt. Dragoon spürte es tief in seinem Inneren...

Sein Instinkt sagte ihm, dass sich etwas Bedrohliches anbahnte. Auf dem Hügel über welchem Tokio gut zu überschauen war, ließ er den Blick über die nächtliche Ansicht schweifen. Die Lichter der Stadt funkelten grell. Manche flackerten, manche bewegten sich, manche erloschen, viele weitere lebten anderenorts wieder auf.

Es hatte ihn schon immer fasziniert, wie die menschliche Spezies ihre Behausungen auf engstem Raum ballte, wie sie ihre Gebäude immer weiter in die Höhe ragen ließ. Er konnte sich noch daran erinnern, wie die ersten Menschen ihre Siedlungen errichteten. Die Bit Beasts hatten sie milde dafür belächelt, denn von ihrem Standpunkt aus gesehen, war es unpraktisch, so viel Aufwand um eine einzelne Bleibe zu betreiben und nicht weiterzuwandern.

Ein Vogel baute sein Nest nur für einen bestimmten Zeitraum.

Ein Hai pendelte immer wieder von einer Küste zur nächsten.

Ein Tiger streifte rastlos durch sein Revier.

Die Natur kannte so etwas wie Sesshaftigkeit nicht. Sie war der Ansicht, dass man besser verfuhr, wenn man seine Zelte schnell abreißen konnte. Doch der Mensch war anders…

Er baute seine Unterkunft aus festem Gestein, Lehm und Ziegeln, damit es im Idealfall die Jahrhunderte überdauerte und dann hauste er so lange wie ihm möglich darin. Keine andere Spezies war so bestrebt darin, etwas zu erschaffen, was die Ewigkeit ausdauerte. Dragoon erinnerte sich daran, wie ihm das erste Haus unter die Augen kam. Es war aus Stroh gefertigt gewesen, Palmenblätter schützten den Eingangsbereich vor Wüstenstaub und weil er das Konstrukt so ulkig fand, umkreiste er es als Windböe, bis es versehentlich davon flog und er eine verdatterte Familie mitten beim Essen darunter störte. Von da an bemühte man sich um stabilere Behausungen, bis irgendwann das erste Hochhaus entstand. Heute musste Dragoon schon einen Hurrikan heraufbeschwören, damit etwas von den menschlichen Bauten davonbröckelte, allerdings musste er gestehen, dass es ihm Spaß machte, zwischen den Gassen der Wolkenkratzer umherzufliegen. Es war ein Spiel für ihn. Ein netter Hindernissparcour.

Dragoon wandte sich von dem Anblick ab und drehte sich zu dem ramponierten Gebäude um, dass hinter ihm stand. Das pompöse Anwesen, was einst Dranzers Menschenkind bewohnt hatte, war wirklich arg in Mitleidenschaft gezogen worden. Wenn seine Liebste wütete, dann eben in großem Stil. Sie hatte weitaus weniger Probleme damit, die modernen Bauten zu zerstören, da war Dranzer ihm um einiges voraus. Er hatte eigentlich gehofft sie hier anzutreffen, denn es hätte ihn nicht gewundert, wenn ihr Menschenkind noch einmal hierherkam, um den Schaden zu begutachten. Leider war ihm keine Zeit geblieben, um am Wurzelthron noch einmal auszuspähen, wo sich die Jungen nun befanden, daher gestaltete sich die Suche jetzt umso schwieriger.

Er konnte Takaos Geruch wittern, aber inmitten all dieser Menschen dort unten, war seine Fährte ganz schwach. Außerdem schlossen sich die letzten Portale. Dies zerrte an Dragoons Kraft. Seine Energiereserven aus der Irrlichterwelt waren immer schwerer zu erreichen und durch ihr Zerwürfnis, konnte er einfach nicht mehr an Takao anknüpfen – und ihn schwieriger orten.

Der Junge versagte ihm komplett seine Kraft.

Da war kein Band mehr zwischen ihnen. Kein Vertrauen…

Als würde er versuchen ihn zu kontaktieren, jedoch als einzige Antwort Stille wahrnehmen. Das war wirklich sonderbar für Dragoon. Es kam noch nie vor, dass ein Bit Beast sein Menschenkind rief, aber keine Reaktion erhielt. Bisher war nur der umgekehrte Fall vorgekommen. Einmal hatte Driger nicht mehr auf die Rufe seines Jungen gehört und war sogar aus seiner Hülle verschwunden. Er konnte sich gut daran erinnern, wie eisern der Tiger an seinem Schweigen festhielt, bis er der Meinung war, das sein Kind die Lektion gelernt hatte.

Grübelnd fuhr Dragoon mit den Fingern über die Brandspuren am steinernen Türrahmen. Weder ihr Menschenkind, noch Dranzer, waren nach dem Feuer noch einmal hier gewesen. Das bisschen von ihrem Duft, was in seine Nüstern stieg, war vom Tag des Brandes und fast gänzlich verflogen. Die Spur war zu alt.

Ob ihr Junge nun im Kinomiya Anwesen hauste?

Dranzers Menschenkind mied doch Takaos Anwesenheit ebenso rigoros, wie sie Dragoons Gegenwart. Das war aber auch nicht weiter verwunderlich…

Immerhin waren die beiden Jungen ihre Abbilder.

Weshalb sollte Kai also bei Takao bleiben?

Da fiel Dragoon plötzlich ein, wie zärtlich die beiden in der Irrlichterwelt miteinander umgegangen waren. Er hatte angenommen, dass es daran lag, das Dranzers Junge zum Kind geworden war. Als sie noch als Küken durch die Gegend tapste, hatte Dragoon ebenfalls ein wundervolles Verhältnis zu Dranzer gehabt und da Bit Beasts sich generell nur jene Menschenkinder als Partner herauspickten, deren Seelen identisch zu ihren eigenen waren, hatte es ihn nicht gewundert, dass Takao und Kai prompt eine enge Beziehung zu einander aufbauten.

Doch warum sollten sie nun auch als Erwachsene anders miteinander umgehen?

Wenn Takao sein menschlicher Spiegel war, müsste er doch genauso an Kais Verachtung scheitern, wie er an Dranzers. Dragoon ließ vom Gebäude ab und schaute wieder auf die Stadt hinab. Er konnte sich nicht vorstellen, dass Takao etwas gelungen war, woran er seit Jahrtausenden scheiterte. Dranzers Hass konnte er trotz zahlreicher Versuche nicht besänftigen…
 

Etwas ratlos versenkte er die Hand in der Hosentasche und lief den mit Kies ausgelegten Weg zurück. Dabei war Dragoon in seine Überlegungen vertieft. Womöglich war das der Grund, weshalb er keine Verbindung zu Takao bekam. Sein Junge könnte ihn übertrumpft haben. Wenn sie sich nicht mehr auf demselben Level befanden, war es natürlich schwieriger, mit ihm in Kontakt zu treten. Die Verbindung war dann getrübt.

Es war wie beim Hürdenlauf.

Hatte Takao ein Hindernis übersprungen, musste Dragoon dieses ebenfalls zeitgleich überwinden, um zu ihm aufzuschließen. Der unschöne Gedanke schoss ihm durch den Kopf, dass ausgerechnet ein Mensch mehr wissen könnte, als er. Takao und er waren vom selben stürmischen Charakter und dennoch könnte dieser kleine Wicht etwas vollbracht haben, was ihm bei Dranzer einfach nicht gelang. Sein Menschenkind könnte ihm in etwas voraus sein.

Ihm – Dragoon! Dem Herrn der Winde…

Er schnalzte missbilligend und unterdrückte seinen Neid. Noch war nicht gesagt, dass Dranzers Kind tatsächlich bei Takao war. Er würde sich erst selbst davon überzeugen, denn etwas in ihm wollte sich diese Niederlage partout nicht eingestehen.

Er hasste es bei etwas unterlegen zu sein…

Nichtsdestotrotz musste er ihren Jungen finden oder zumindest das kleine Mädchen. Die Geschwister wären ein ausgezeichneter Köder um Dranzer zu ihm zu locken. Allerdings musste er dazu schneller sein als sie.

Dragoon schritt durch das Eingangstor des Anwesens, an dessen marmornen Pfosten die Überreste eines gelben Bandes wehten, dass er achtlos abgerissen hatte, um sich Eintritt zu verschaffen. Als er hier eintraf, war es direkt über dem Eingang befestigt gewesen, in überkreuzter Form und gleich daneben ein Schild im Boden, was davon abriet das Grundstück zu betreten. Dragoon empfand solche Besitzansprüche der Menschen schon immer als eine bodenlose Frechheit. Er ließ sich doch von keinem Sterblichen sagen, wo er laufen durfte. Wäre ja noch schöner…

Ihm fiel auf, dass er von einer Frau beobachtet wurde, die am Ende der Straße in einer Parkbucht stand und den Kofferraum ihres Wagens öffnete, um einige grellbunte Tüten heraus zu hieven. Sie hielt in ihrer Bewegung inne und starrte argwöhnisch zu ihm herüber, doch Dragoon ignorierte sie. Kurz vor dem Abhang auf der anderen Straßenseite, tat er einen tiefen Atemzug und versuchte noch einmal eine Verbindung zu Takao aufzubauen, um den Jungen schneller aufzuspüren. Leider wieder vergebens…

Der Kontakt war noch immer schlecht. Es ließ Dragoon seufzend den Nacken kratzen und den Kopf auf die Seite legen. Das verkomplizierte alles unnötig. Er hatte das Gefühl seinen inneren Kompass verloren zu haben und die Menschenstädte sahen von Tag zu Tag anders aus. Vor allem Tokio wuchs ständig weiter, wie ein Kraken der die Arme ausspreizte. Wenn er Pech hatte, war Dranzers Junge gar nicht bei Takao, dann würde Dragoon nur seine Zeit vergeuden. Allerdings…

Wenn einer wusste, wo sich die Hiwatari Geschwister befanden, dann wohl sein Menschenkind. Sobald der Entschluss gefällt war nickte Dragoon grimmig. Er würde nicht darum herum kommen Takao gegenüberzustehen. Das würde eine unschöne Unterhaltung werden. Hoffentlich blieb der Junge vernünftig und verriet ihm wo sich sein Freund befand. Doch so wie er diesen elendigen Sturkopf kannte, müsste er einige Zeit auf ihn einreden. Dragoon wollte bereits ansetzen, um mit viel Anlauf in die Luft zu heben, da schrie die Frau am Ende der Straße auf. Ein flüchtiger Blick traf sie und da fand sich das kreischende Weibsbild inmitten einer Gruppe, von denen einer sie am Hals packte und gegen den Wagen drückte. Eigentlich wollte Dragoon mit einem Schulterzucken weiterfliegen, denn die menschliche Kriminalität war nicht sein Problem. Doch da fiel ihm etwas Sonderbares ins Auge…

Die echsenartigen Schlitze seiner Pupillen schmälerten sich, um die Finger des Angreifers genauer zu fokussieren. Blass wirkten sie.

Die Haut unter den Nägeln war schwarz angelaufen – als wäre dieser Mensch am erfrieren. Dragoon Nüstern blähten sich. Er roch tot und hörte auch keinen Atemzug. Seine Sinne tasteten die anderen Angreifer ab, da wurde ihm klar, dass diese Wesen doch sein Problem waren. Mit einem Spurt hechtete er voraus. Noch während er flog, sah er die flackernden Lider des Menschenweibs. Ihre Knie zitterten und drohten ihr den Dienst zu versagen.

Da war Dragoon auch schon da.

Wie ein Windhauch der rasch viele hunderte Meter zurücklegte. Noch bevor die erkalteten Wesen, mit trüben Blick zu ihm aufschauen konnten, holte er mit der Faust aus und verpasste dem Ersten einen Schlag, der ihn vom Hals der Frau losriss. Dennoch blieben an ihrer Haut die Spuren seiner Fingernägel zurück. Ihr spitzer Schrei hallte durch die Straße. Das Weib sank noch zu Boden, da flog der nächste Angreifer schon über die Straße und krachte lautstark gegen die Häusermauer. Als sein Kopf gegen das Gestein schlug, witterte Dragoon geronnenes Blut. Er hatte also nichts getötet, was nicht zuvor schon tot gewesen war und das schmächtige Männchen blieb auch brav liegen.

Ein weiterer Tritt folgte, da flog auch die nächste Gestalt über den Zaun. Der Letzte hielt das Weib am Pferdeschwanz gepackt. Sie wirkte gelähmt vor Angst, versuchte zitternd auf allen Vieren voranzukommen und flehte darum losgelassen zu werden, sprach davon, dass er sich ihr Geld nehmen solle und sie dafür nicht die Polizei rufen würde, wenn er sie gehen ließ. Doch dieses Wesen würde nicht gehen. An Materiellem fand es keine Freude mehr. Die Seele die einst diese Hülle beherbergt hatte, wandelte wahrscheinlich schon auf dem Wurzelpfad. Dabei war er noch ein Knabe. Jünger als sein Menschenkind.

Noch während Dragoon auf die beiden zuging, erhaschte er die schwarzgefrorenen Finger, die bedächtig über den Kopf der Frau strichen. Es wirkte fast schon wie eine tröstende Geste, doch bei jedem Berührung, blieb etwas an den Kuppen hängen.

Energiefäden. Der Junge saugte die Wärme aus ihrem Leib.

Die Lider der Frau flackerten mit jedem weiteren Hautkontakt.

„Gib ihr Wärme…“, es war das Röcheln einer Leiche.

Diese Hülle war wie eine Biene, die ihr Leben seiner Königin verschrieben hatte, nur um ihr zu dienen. Nur um ihr die nötige Energie zu liefern…

Ein Nahrungslieferant, wie sie Dranzer wahrscheinlich in der ganzen Stadt verteilt hatte, um in der Menschenwelt zu überleben. Noch bevor ihr Diener ein weiteres Mal das Weib berühren konnte, fasste Dragoon nach dessen Handgelenk. Der Kopf hob sich nicht. Warum auch?

Ein Bit Beast war uninteressant, vor allem wenn es nur aus Luft bestand, wie er. Aus ihm konnte kein Feuer geschöpft werden. Diese Frau dagegen, entsprach genau dem Beuteschema, dass Dranzer brauchte. Sie holte sich zurück, was sie den Lebewesen gespendet hatte. Als Dragoon den Jungen von dem Menschenweib wegzog, traf er kaum auf Widerstand. Wahrscheinlich bemerkte dieser arme Tropf gar nicht mehr, was um ihn herum passierte. Sobald den schwarzgefrorenen Fingern der Haarzopf entglitt, packte Dragoon den Hals des Jungen und presste ihn gegen den Wagen. Er hörte die Frau frösteln. Selbst das Klappern ihrer Zähne war zu vernehmen. Die Maschen ihrer Strumpfhose waren am rechten Bein aufgerissen und entblößten ihr blankes Knie.

„Geh in dein Heim und wärm dich. Sieh zu das du nicht erfrierst.“, riet ihr Dragoon ernst, ohne das sich sein Blick von dem Jungen abwandte. Und sie stellte keine Fragen. An ihren glasigen Augen erkannte er, dass ein warmes Zuhause genau das war, wonach sich ihr erschöpfter Körper sehnte. Ihre Lippen waren blau angelaufen. Nur mühselig gelang es ihr sich aufzurichten. Sie knickte auf den Absätzen ihrer sonderbaren Schuhe um, bis sie achtlos von ihren Füßen fielen. Die erworbenen Habseligkeiten aus den Tüten blieben auf dem Gehweg verstreut. Dragoon hörte noch wie sie wimmernd gegen die Haustür klopfte, verzweifelt nach ihrem Gatten rief, da packte er zu und brach Dranzers bedauernswertem Diener den Hals. Wie gesagt…

Er tötete nichts, was nicht bereits tot war.
 


 

*
 

In der Zeit in welcher er auf Tysons Rückkehr wartete, kamen drei Erinnerungen zurück…

Eine drang in Kais Bewusstsein, als er gemeinsam mit dem Großvater in der Küche saß. Er war bemüht gewesen, dem alten Hausherrn aufmerksam zu lauschen, doch seine Gedanken schweiften ständig fort, wann immer der Monolog drohte, etwas eintönig zu werden. Mehrmals ertappte er sich dabei, wie er aus dem Küchenfenster hinausspähte und den Regen beobachtete, sein Geist aber eigentlich bei seinen Freunden war. Die Suppe die er vorgesetzt bekam war gut, doch der Appetit fehlte. Dennoch aß Kai der Höflichkeitshalber, immerhin hatte sich Tysons Großvater zu so später Stunde noch darum bemüht, ihm etwas Warmes aufzutischen. Kai entging nicht, dass der Hausherr mehrmals versuchte, etwas aus der Irrlichterwelt aus ihm heraus zu kitzeln. Doch auf die direktere Frage, was denn nun alles passiert sei, hatte er nur ratlos geblinzelt. Es war so viel vorgefallen, er wusste gar nicht wo er anfangen sollte.

„Naja, dann vielleicht morgen?“

„Vielleicht…“, war seine Antwort gewesen. „Es ist eine wirklich lange Geschichte.“

Und Kai hatte auch überhaupt keinen Kopf für eine Zusammenfassung ihrer Erlebnisse. Nach dem Bad war er schläfrig geworden. Ihm klebten die nassen Strähnen an der Stirn, doch immerhin waren seine Fingernägel nicht mehr blau unterlaufen. Er fragte sich gerade, wie es seinen Freunden wohl gehen mochte, als Mr. Kinomiyas Worte ihn aus seinen Überlegungen rissen: „Übrigens, nur keine Scheu wenn du hier bist. Ihr beide sollt euch wie zuhause fühlen.“

„Danke, aber ich werde trotzdem versuchen ihnen nicht allzu lange zur Last zu fallen.“

„Ach komm, hör auf! Das Hiwatari Anwesen wird nicht so schnell wieder stehen.“

„Gerade deshalb sollten wir irgendwann in ein Hotel ziehen. Es wird lange dauern.“

„In einem Hotel muss man sich doch immer benehmen. Hier dagegen ist für deinen kleinen Hüpfer genügend Platz zum Toben. Außerdem bin ich zuhause. Wenn du also arbeiten musst, ist sie nicht alleine.“

Ein mildes Lächeln schlich um Kais Mundwinkel.

„Man sollte Gastfreundschaft nicht überstrapazieren.“

„Das will ich überhört haben.“, er hatte endlich seinen Teller geleert, als Mr. Kinomiya mit der Suppenkelle daher kam und ihm ungefragt die Schüssel bis zum Rand füllte. Genau in dem Moment fiel Kai ein, wie oft man in diesem Haus einen Nachschlag bekam und das er sich einmal gewundert hatte, weshalb die Familie Kinomiya, nicht aus fettleibigen, kleinen Buddhas bestand.

„Ich weiß das wirklich zu schätzen.“, sprach er stattdessen höflich.

„Hah! Ich habe zu danken, Junge. Was du da für deine Freunde auf dem Präsidium tun wolltest, das war wirklich eine edle Geste. Das zeugt von unglaublich viel Charakterstärke. Aber das warst du ja schon immer.“

Das konnte Kai leider nicht bestätigten. Stattdessen hatte er auf die klare Flüssigkeit in seiner Schale geschaut, in der die Nudeln schwammen. Da war etwas, was er Tysons Großvater schon seit ihrer Ankunft hier fragen wollte.

„Wo wir schon bei dem Thema sind...“, begann er langsam, „Auf dem Präsidium haben sie mich entlastet. Sie meinten das ich mich auf der Toilette befunden habe, als der Angriff stattfand.“

Ihm entging nicht das minimale Zögern, als Mr. Kinomiya die Kelle in den Topf tun wollte.

„Aha… Ja. Warum fragst du?“

Kai hatte seine Stäbchen auf die Seite gelegt und tat einen tiefen Atemzug bevor er sprach. Obwohl er sich vor der Antwort fürchtete, fragte er: „Haben sie gelogen?“

„Wie kommst du darauf?“

„Ich weiß nicht genau. Intuition…“

Tysons Großvater spähte über seine Schulter hinweg zu ihm. Die altersgezeichneten Augen taxierten ihn streng und die buschigen Brauen darüber, zogen sich tief ins Gesicht.

„Kannst du dich an etwas erinnern?“

„Nein.“

„Dann wirst du mir wohl einfach glauben müssen. Sei gefälligst nicht immer so misstrauisch, sonst hau ich dir irgendwann auf den Dickschädel!“, als er sich wieder der Küchenzeile zuwandte, setzte er den Deckel schwungvoll auf den dampfenden Topf. „Weißt du, manchmal muss man die Dinge einfach so stehen lassen, wie sie sind. Du bist viel zu skeptisch für dein Alter. Das ist machmal wirklich gespenstisch. Hinterfrag nicht immer alles...“

Es klang nicht als wolle Mr. Kinomiya weiter darüber sprechen. Kai blickte ratlos auf seinen Teller und griff irgendwann wieder zum Besteck. Er hätte schwören können, dass es kein Zufall war, dass der Angriff auf die Nachtschwester genau dann passierte, als er dort behandelt wurde. Diese Zeit war auch nach wie vor verschollen in seinem Kopf. Er konnte sich an nichts erinnern, was nach dem Brand passiert war, obwohl Kato doch gemeint hatte, er sei im Krankenhaus bei Bewusstsein gewesen. All die Anhaltspunkte die der Inspektor nannte, ergaben für ihn durchaus Sinn, selbst wenn es seine eigene Schuld betraf. Er hätte sich auch verdächtigt…

„Ich wollte es einfach nur wissen.“

„Weshalb beschäftigt es dich?“

„Es würde mir keine Ruhe lassen, wenn ich eine wildfremde Frau so zugerichtet hätte.“

„So schätze ich dich auch ein...“

Kai fragte sich wie er diesen Kommentar werten sollte. Es klang nicht verächtlich, vielmehr wie ehrliche Sorge. Eine Sekunde lang glaubte er, dass ihm genau deshalb seine Tat verheimlicht wurde, bis er sich ermahnte, Mr. Kinomiyas Rat zu beherzigen. Er wollte nicht mehr so misstrauisch sein, vor allem nicht jenen Menschen gegenüber, die ihm stets die Hand gereicht hatten und die nächsten Sätze, ließen ihn überrascht aufhorchen.

„Das mag wohl mein Junge so an dir. Du hast sehr viel Ehrgefühl. Was das angeht, bin ich froh, dass du auf ihn abgefärbt hast.“

Kai hob argwöhnisch die Braue. Bisher war ihm keine Situation aus seiner Vergangenheit unter die Augen gekommen, die ihn als besonders verantwortungsbewusst auszeichnete. Eigentlich sprach vieles was er sah, für einen stoischen, eingebildeten Bengel. Doch er behielt seine Zweifel für sich und schon bald plapperte der alte Herr weiter.

„Es ist eigenartig, aber in dieser Familie, ist die männliche Linie der Reihe nach dämlich.“

Ein Schmunzeln konnte sich Kai nicht verkneifen und als Mr. Kinomiya sich nach getaner Arbeit die Hände abtrocknete, drehte er sich um und konnte seine Reaktion noch erhaschen.

„Oh nein. Du darfst ruhig lachen… Ich nehme mich da nicht heraus.“, er entblößte ein schiefes Grinsen. „Schon meine eigene Mutter hat das zu mir gesagt und heute verklickere ich es meinen eigenen Jungs. Wir Kinomiyas sind während unserer Jugend ein lauter Haufen. Ungestüm, großmäulig, rebellisch - und leider auch dumm wie Brot. Mein Vater war so, ich war so, mein Sohn und meine Enkel ebenfalls. Außer Flausen haben wir in jungen Jahren nichts im Kopf, deshalb fallen wir auch so oft auf die Schnauze. Der eine mehr, der andere weniger.“

Tysons Großvater ließ das Handtuch auf die Arbeitsplatte fallen und nahm schweratmend neben ihm Platz. Auch er wirkte sehr müde, dennoch schien er in Plauderlaune: „Das wirklich erstaunliche an der Sache ist, wir suchen uns immer Frauen, die das komplette Gegenteil von uns darstellen. Meine Kiko beispielsweise… die war eine Perle. So wundervoll erhaben und edel, noch bis ins hohe Alter. Hat mich viel Mühe gekostet, ihrem Vater die Erlaubnis zur Heirat abzuringen. Der blöde Bock hielt mich für einen Tunichtgut aus einer verarmten Samurai Familie. Was diese Frau alles mit mir durchgemacht hat, kannst du dir kaum vorstellen. Ich muss wohl nicht erwähnen, dass ich noch heute um sie trauere. Ach ja… Mein altes Mädchen.“

Ein wehmütiges Seufzen entrang sich seiner Kehle und Kai kam nicht umhin, ihn mitleidig anzuschauen. Dieser Mann wirkte so lebensbejahend und doch heilten manche Wunden wohl nie.

„Die Mutter von Tyson war auch so. Ein wirklich pflichtbewusstes Kind. Der Krebs musste erst streuen, damit sie endlich zur Vernunft kam. Selbst als sie krank wurde, wollte sie nicht ins Bett liegen und sich erholen. Als mein Sohn sie das erste Mal sah, da kam er zu mir und sprach – Vater, das ist die Frau die ich heiraten muss, ansonsten hat mein Leben keinen Sinn! Er nannte sie sein weißes Mäuschen. Und das war sie auch. Sie besaß ein ruhiges Stimmchen ganz anders als der Rest der Familie. Eine Haut weiß wie Porzellan und ganz dunkle Augen. Die hat Tyson übrigens von ihr geerbt – und ihre Loyalität. Es holt doch immer zuerst die Guten...“, eine wegwerfende Bewegung folgte, denn er schien den deprimierenden Todesfällen überdrüssig zu werden. „Worauf ich aber eigentlich hinaus wollte ist – Tyson hat mir in der Hinsicht Sorgen bereitet. Denn sein älterer Bruder, der konnte wenigstens einige Jahre von der Weisheit seiner Mutter profitieren. Deshalb ist Hiro auch anders geraten. Er ist genauso Sturkopf wie der Rest der Kinomiyas, jedoch in einem gesunden Maß. Aber Tyson… Der Grünschnabel war zu jung, um sich heute noch an den Charakter seiner Mutter zu erinnern, oder sich eine Scheibe von ihr abschneiden zu können. Er war damals noch ein kleines Würmchen. Und zu allem Übel pickt der Trottel sich nur die dämlichsten Hühner als Liebchen heraus. Das ist kein Witz! Eine kam mit unserem Wandtelefon nicht klar. Hat das in der Küche kaputt gemacht, weil sie das Display gesucht hat. Jetzt geht nur noch dieses alte Schnurrtelefon, dass ich mal vom Speicher herausgekramt habe und das andere im Flur.“

Kais Blick huschte mit erhobener Braue zu dem besagten Gerät. Es war ein ziemlich antikes Modell, mit einer Drehscheibe, die aber in der Mitte durchgebrochen war. Gott, die musste wirklich blöd gewesen sein. Seine Meinung behielt er aber für sich.

„Wie gesagt, keine Leuchten die Damen. Ich habe lange Zeit nicht verstanden, was mein Enkel an denen findet - bis ich bemerkte, dass das halb so schlimm ist. Denn den Göttern sei Dank, war er schlau genug, wenigstens gute Freund zu finden, die mit einer gewaltigen Portion Pflichtbewusstsein glänzten. Vor allem du stichst einem ins Auge. Du glaubst es mir vielleicht nicht, aber allein wie du ihm damals nach meinem Schlaganfall beigestanden hast, wird er dir nie vergessen. Er spricht sehr oft darüber.“

Kai öffnete den Mund um nach Einzelheiten über diesen Vorfall zu fragen, doch ihm fiel auf, dass dies vielleicht als Gleichgültigkeit gewertet werden könnte. Er wollte nicht den Eindruck erwecken, als wäre ihm Mr. Kinomiyas Schlaganfall gleichgültig, nur weil er sich nicht daran erinnern konnte.

„Als ich ins Krankenhaus musste, da habe ich mir das Hirn wegen diesem Chaoten zermartert. Ich wollte sogar die Reha absagen. Mein Grünschnabel zwei Monate alleine daheim? Der lässt den Dojo doch glatt abfackeln, dachte ich. Aber als ich zurückkam, da stand unser Haus noch heil da und mein Enkel, der schien um einiges reifer als je zuvor und sprach davon, wie viel er gelernt habe.“

„Ich kann mir nicht vorstellen dass das mein Verdienst war.“

Und das konnte Kai tatsächlich nicht. In den vorangegangen Tagen, war er einem Menschen begegnet, an dessen Charakter es seiner Meinung nach, nichts zu beklagen gab. Wann immer er an Tyson dachte, sah er nur diesen mutigen Jungen vor sich, der seine Hand selbst in der dunkelsten Stunde fest umschlossen hielt. Kai erinnerte sich noch, wie viel Angst er als Kind verspürt hatte und doch geriet er nicht in Panik – weil Tyson ihm stets versicherte, dass alles gut werden würde. Er hatte sich nie etwas anmerken lassen…

„Keine falsche Bescheidenheit, Junge. Der Grünschnabel hat mir genau erzählt, was du alles für ihn damals gemacht hast. Du hast ihn auf einen ernsten Lebensabschnitt vorbereitet. Diese Wochen wo ich weg war, waren ein kleiner Vorgeschmack für ihn. Denn auch wenn Tyson selbst es nicht wahrhaben will – irgendwann bin ich nicht mehr da. Und es tröstet mich, genauso wie ihn, dass er so einen guten Freund an seiner Seite weiß, wie dich.“

Der alte Mann klopfte ihm anerkennend auf die Schulter.

„Also sieh deinen Aufenthalt hier, doch bitte nicht als eine Last für uns an – sondern als eine Gelegenheit etwas zurückzugeben. Das sind Ehrenschulden unter Freunden. Für so etwas brauchst du dich nicht zu schämen. Bleib hier bis euer Heim wieder steht.“

Kai schwieg betroffen, doch irgendwann kam ein Nicken von ihm, was Mr. Kinomiya mit einem Brummen quittierte. Als der Hausherr sich erhob, war das Knacken seiner alten Knochen zu hören. Gleich darauf sprach er davon, wie gerne er Kai eine angenehmere Bleibe, als den Trainingsraum anbieten würde, wenn da nicht der Umbau wäre.

„Ich würde dir viel lieber eines der anderen Schlafzimmer überlassen, aber hier herrscht überall ein heilloses Durcheinander. Hiros altes Zimmer ist schon mehr Treppenhaus als Schlafgelegenheit. Mit der eingerissenen Wand, kann ich dich dort nicht einquartieren. Im Zimmer seines Vaters steht zu viel Gerümpel. Reicht dir vielleicht die Couch im Wohnzimmer oder magst du lieber bei Tyson im Dojo schlafen?“
 

Doch Kai hörte nicht mehr zu. Denn da kam auch schon die Erinnerung…

Sie bahnte sich an wie eine Welle, spülte die Kulisse um ihn herum davon. Die Küche wurde komplett aus seinem Bewusstsein ausradiert. Stattdessen sah er den Übungsraum des Dojos vor sich, mit den dunklen Holzdielen, die von Tyson einen Tag zuvor noch gebohnert worden waren, weil sein Großvater ihn dafür bestrafen wollte, dass er sich ständig vor dem Abwasch drückte. Er hatte dabei gejammert ohne Punkt und Komma, bis Max sich seiner erbarmte und ihm zur Hand ging. Der polierte Boden vor seinen Augen war so blank geputzt, dass sich selbst das Mondlicht darin spiegelte. Kai sah die Silhouetten seiner Freunde im Dunkeln. Futon für Futon lag aneinandergereiht. Max und Tyson kauerten unter ihren eigenen Daunendecken, witzelten und gackerten ununterbrochen, während Ray schlaftrunken murmelte, doch endlich etwas Ruhe einkehren zu lassen, immerhin hätten sie einen anstrengenden Trainingstag hinter sich gehabt. Seine Stimme klang so jung…

Kai lag dagegen etwas weiter weg von der Gruppe, als wolle er einen Sicherheitsabstand wahren. Er war müde, wollte schlafen, doch auch ihn hielten die beiden Quasselstrippen wach und die Decke über den Kopf zu ziehen, dämpfte ihre Stimmen nicht genügend ab. Sein Blick schweifte durch die offene Schiebetür hinaus. Der Garten lag im Mondschein. Die silbernen Strahlen ließen sogar die Konturen der akkurat gestutzten Bonsaibäume erahnen. Kühle Nachtluft drang von draußen herein und jeder Windhauch, der in den Raum huschte, fühlte sich angenehm auf der Haut an. Kai mochte dieses Gefühl. Milde Nachtluft auf seinem Körper. Es roch nach Sommer…

Nach trockenen Gräsern und dem Flieder welcher vor der Veranda zum Dojo wuchs. Kai merkte das er sich wohl fühlte, obwohl sein Schlafplatz nicht halb so komfortabel war, wie das, was er von zuhause aus gewohnt war. Die Müdigkeit war in Begriff, die Oberhand über ihn zu gewinnen, da hörte er Tyson aus seiner Ecke rufen: „Warum liegst du eigentlich wieder so weit abseits von uns? Schleif mal deinen Futon herüber, Kai!“

Ein genervtes Schnalzen war seine Antwort.

„Ich will nicht.“

„Warum nicht?“

„Vielleicht weil ich schlafen möchte?“

Seine Stimme triefte vor Sarkasmus.

„Ach komm! So laut sind wir nicht…“

„Doch seid ihr.“, maulte Ray. Er wurde ignoriert.

„Du willst dich nur wieder absondern!“

„Irgendwie muss man hier auch zum Schlafen kommen.“

„Warum sagst du nicht dass wir zu laut sind?“

„Ich sage das seit einer Stunde!“, empörte sich Ray. Anstatt darauf einzugehen, warf Tyson seine Decke zurück, hockte sich hin und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Nun komm endlich zu uns! Wenn ich dir was erzählen möchte, muss ich durch den ganzen Raum schreien!“

„Glaub mir, du bist auch so nicht zu überhören.“, sprach Kai gelangweilt. Er zog die Decke enger um seinen Leib.

„Haha… Seit der letzten Weltmeisterschaft habe ich dich nicht mehr zu Gesicht bekommen und alles was du machst, ist uns die kalte Schulter zeigen! Wir sind doch dein Team.“

„Ja genau!“, sprang auch Max auf den Zug auf. „Wie ist es dir seit Russland ergangen? Erzähl doch mal etwas!“

„Ich will jetzt nicht reden.“, aus irgendeinem Grund wurde Kai traurig. Er drehte sich auf die andere Seite, wandte seinem Team den Rücken zu, als er das Rascheln von Stoff hinter sich vernahm. Kurz darauf hallten Maxs und Rays erboste Rufe zu ihm herüber.

„Hey! Pass doch auf wohin du trittst!“

„Tyson du Trampel!“

Und schon kurz darauf rumste es hinter Kai, als sich ihr Wirbelwind geräuschvoll auf den Hosenboden krachen ließ. Dann ging es auch schon los. Er spürte wie ihm Tyson in den Rücken stupste. Immer wieder. Immer wieder… Gott, das nervte vielleicht!

„Hör auf damit!“, zischte Kai verärgert. Ein Stupsen folgte.

„Erst wenn du dich zu uns legst.“, flötete Tyson munter vor sich her, was Ray nur dumpf stöhnen ließ. Es klang als würde er sich das Kissen gegen die Ohren pressen.

„Der Weltmeistertitel hat dich nicht reifer gemacht.“

„Scheiß auf Reife! Wir sind noch Kinder!“

„Du vielleicht. Ich bin fünfzehn geworden.“, sprach Kai hochnäsig.

„Und wegen den paar Monaten Altersunterschied, fühlst du dich jetzt reifer?!“

Ihm wurde wieder fordernd gegen den Rücken gestoßen und zu allem Überfluss vernahm er Maxs Glucksen dazu.

„Vergiss es Kai! Gegen den Sturkopf kommst du nicht an.“

Ein genervtes Seufzen kam aus seinem Mund und schon schlug er die Decke zurück, um sich aufzusetzen. Unfassbar dass er sich bereit erklärt hatte, ein weiteres Jahr Teil dieses Teams zu sein. Das waren doch alles noch Kinder.

„Wenn ich mich zu euch lege, gibst du dann endlich Ruhe?“, fragte er Tyson mit erhobenem Kinn. Doch über dessen rundliche Backen zog sich nur ein breites Grinsen.

„Kommt darauf an was du uns für Informationen lieferst.“

„Was willst du denn noch wissen?“

„Keine Ahnung. Erzähl einfach etwas!“, zuckte er gutgelaunt mit den Schultern. „Warum hast du dich nach Russland nicht mehr bei uns gemeldet?“

„Warum sollte ich?“

„Auf dem Baikalsee ist das Eis zwischen uns wohl doch nicht gebrochen, wie?“

Er schnaubte erbost. An den See dachte Kai nur ungerne.

Er hatte einen gewaltigen Schrecken davon getragen.

„Nimm das nicht persönlich, Kinomiya, aber nur weil wir gemeinsam eine Weltmeisterschaft gewonnen und ein paar gefährliche Situationen übersanden haben, sind wir nicht gleich alle die besten Freunde.“

Ein langgezogenes und äußerst pikiertes „Eeey!“ kam von Max. Trotz der Dunkelheit konnte sich Kai nur zu gut vorstellen, wie er seinen inzwischen allseits bekannten Schmollmund aufsetzte.

„Ich sage nur wie es ist.“, stellte er klar. „Wir waren einen Sommer in einem Team, deshalb müssen wir uns nicht aufführen, als wüssten wir alles übereinander.“

„Nein, tun wir nicht.“, verschränkte Tyson die Arme. „Wir arbeiten aber daran - indem wir miteinander reden.“

„Und das bis in die frühen Morgenstunden…“, brummte Ray genervt unter seinem Kissen.

„So lernt man Leute eben kennen! Nicht wenn man teilnahmslos in einer Ecke hockt, wie Kai den ganzen Tag.“, Tyson wandte das Wort wieder an ihn. „Du bist eine Woche früher hier gewesen als die anderen und in der Zeit, hast du kaum mit mir geredet! Du bist ständig verschwunden um alleine zu trainieren!“

„Wenn es dich nervt, hättest du mich nicht einladen sollen, hier zu übernachten.“, kam es äußerst ungnädig von Kai zurück.

„Ach ja? Und wo wärst du sonst untergekommen?“

„Ich wohne in dieser Stadt.“

„Bei Voltaire! Ich lasse dich doch nicht zu diesem Ekel zurück!“

Kai hörte sich überrascht einatmen und war ganz froh, dass er sich die dunkelste Ecke im Raum ausgesucht hatte. Er fühlte wie seine Wangen warm wurden. Dennoch klang seine Stimme unterkühlt als er antwortete: „Dein Feuereifer in allen Ehren Kinomiya, aber ich werde nicht darum kommen, ihm irgendwann wieder unter die Augen zu treten.“

„Du kannst doch hier bleiben?“

„Sei nicht albern. Das funktioniert nicht…“

„Warum?“, kam es mit großen Augen von Tyson. In seiner jugendlichen Vorstellung schien die Lösung für ihn so einfach. Kai schüttelte ob dieser Naivität nur den Kopf.

„Großvater ist mein Vormund. Selbst wenn er im Gefängnis einsitzt.“

„Als meine Eltern gestorben sind, hat der Dorfälteste meine Vormundschaft übernommen.“, erinnerte sich Ray. Mittlerweile hatte er den Versuch zu schlafen begraben, denn er zog seinen Kopf seufzend unterm Kissen hervor.

„Großvater ist aber nicht tot. Der wird uns alle überleben.“, entgegnete Kai düster.

„Das Böse stirbt nie…“, gluckste Tyson. Es ließ ihn mit den Augen rollen.

„Du willst also wirklich zu ihm zurück?“, hakte Ray weiter nach. Auch er setzte sich nun auf und fuhr sich gähnend über den Nacken. „Hältst du das wirklich für eine gute Idee? Dein Großvater kam mir in Russland ziemlich angepisst vor. Ich würde mich so schnell nicht mehr in seine Nähe wagen.“

„Aus seiner Sicht habe ich unsere Familie verraten. Habt ihr erwartet das er begeistert ist?“

„Natürlich nicht. Aber hat er das so auch gesagt?“

„Nein, das braucht er nicht. Ich weiß wie mein Großvater denkt.“, kam es recht ernst von Kai. Dann meinte er mehr zu sich selbst. „Solche Dinge spricht man bei uns auch nicht an.“

„Wäre aber wohl besser. Ihr solltet das ausdiskutieren um die Wogen zu glätten.“

„Großvater legt keinen Wert auf Diskussionen.“

„Wie lange wird er denn weggesperrt bleiben?“

„Ich weiß es nicht. Die Hauptverhandlung kommt erst noch.“

Doch eigentlich war das eine Lüge. Geld regierte die Welt und er wusste das Voltaire die Mittel hatte, um seine Haftstrafe bis aufs Äußerste zu minimieren.

„Glaubst du er ist noch böse auf dich?“, fragte Max.

„Er wird es zumindest nicht vergessen haben.“

„Nachtragender Sack.“, schnalzte Tyson verächtlich. „Jetzt bleib doch einfach hier!“

„Ich glaube das ist rechtlich gesehen nicht so einfach, wie du dir das vorstellt.“, antwortete Ray nachdenklich, noch bevor Kai es tun konnte. „Die Dorfältesten meinten einmal zu mir, dass ein Haufen Papierkram auf einen zukommt, wenn man die Vormundschaft für ein Kind übernimmt. Und dann erst der rechtliche Kram! Wenn sie es aber nicht getan hätten, wäre ich in ein staatliches Heim gekommen und die sind nicht gerade toll. Wenn Voltaire Kais Vormundschaft also abgibt, dann müsste er vielleicht…“

Er hielt inne. Von ihnen allen besaß Ray wohl am ehesten ein Gespür dafür, wie Ernst seine Lage eigentlich war, obwohl auch er die Konsequenzen nicht genau begriff. Kais Zukunft lag in der Schwebe. Voltaire hatte ihn in der Hand. Der Gedanke schoss ihm durch den Kopf, dass es nur noch einen winzigen Fehltritt bedurfte und seinem Großvater würde der Kragen platzen. Es war ein Spiel mit dem Feuer…

„Heftig!“, entfuhr es Max inzwischen. Er lag noch immer unter seiner Decke und hielt das Kinn auf den Händen gestützt. „Kai, du musst doch nicht in ein Waisenhaus, wenn du mit deinem Opa nicht mehr klar kommst, oder?“

Es klang recht furchtsam. Und so schrecklich kindlich…

Dieser Junge war noch zu unschuldig, um den Ernst des Lebens richtig zu begreifen. Er kam aus einer behüteten Familie. Obwohl Kai keine Ahnung hatte, ob es der Wahrheit entsprach, entgegnete er ruhig: „Nein. Muss ich nicht.“

„Gott sei Dank!“, mit dieser Notlüge schien Maxs Welt wieder heil. Naiver kleiner Maxi…

„Hast du in letzter Zeit überhaupt mit deinem Großvater gesprochen?“

„Nein. Gleich nach dem Finale gegen Tala wurde er vorläufig festgenommen.“

„Ach ja, stimmt… Das heißt du warst die letzten Monate ganz alleine zuhause?“

„Ich war an einer Eliteschule in England.“

„Wow! Hört sich nobel an.“, staunte Max. Doch Tyson ließ das unbeeindruckt.

„Eher versnobt! Klingt als hätte dich dein Großvater dorthin geschickt, um dich zu bestrafen. Bestimmt will er nicht, dass du weiterhin Kontakt mit uns hast. Deshalb steckt er dich im Ausland in ein Internat – und damit er dich nicht mehr sehen muss, wenn er herauskommt! So eine gerissene Ratte!“

Kai fühlte wie sich seine Finger auf den Knien ballten.

„Du bist so taktvoll wie ein Vorschlaghammer, weißt du das eigentlich?!“, Ray verpasste Tyson einen Hieb gegen den Hinterkopf, dass der nach vorne kippte. Sobald er sich wieder aufsetzte, grummelte er böse und schaute über seine Schulter hinweg zu seinem Züchtiger.

„Sorry Kai, das kam falsch herüber.“, entschuldigte sich Ray an dessen Stelle.

„Nein. Er hat ja Recht. Ich weiß selbst dass es so ist.“

Dennoch…

Es rumorte in seinem Magen, auch wenn Kai gut darin war, es zu verstecken.

„Meine Aussage ist der Grund, weshalb Großvater überhaupt erst ins Gefängnis gekommen ist. Hätte ich Mr. Dickenson nicht die ganzen Informationen zugsteckt, wären die Machenschaften der Abtei nicht herausgekommen. Ich wusste auf was ich mich einlasse. Da ist diese Strafe noch überraschend milde.“

Es wurde ruhig im Dojo. Kai fühlte wie sämtliche Blicke im Raum auf ihn gerichtet waren.

„Weißt du, ich habe nie richtig begriffen, wie viel du unseretwegen auf dich genommen hast.“, erklärte Max betroffen. „Nur wegen uns bist du jetzt mit deinem Opa zerstritten.“

„Das muss dir nicht leidtun. Er hat sich dieses Grab selbst geschaufelt.“

„Trotzdem. Von uns allen musst nur du die Konsequenzen tragen. Du musst weiterhin mit ihm zusammenleben. Kannst du nicht wenigstens zu deinen Eltern ziehen?“

Kai blieb stumm, doch er hörte wie sein Atemzug stockte. In seinem Innersten zog sich etwas zusammen. Sein Schweigen schien aber ohnehin Antwort genug zu sein, denn die Stimmung schlug spürbar um. Und es war Ray der jene Frage aussprach, die auch ihn so sehr quälte: „Wo sind deine Eltern überhaupt?“

Er fühlte wie ihn viele Augenpaare bedachten. Unwissend, fragend, mitleidig…

Und aus irgendeinem Grund, schien das etwas zu sein, was er nicht ertragen konnte. Es kränkte ihn. Es griff seine Ehre an. Seinen Stolz. Er wollte nicht bemitleidet werden, denn so etwas brauchten nur Versager!

„Es ist wirklich spät für solche Geschichten. Ich will jetzt schlafen.“, Kai ließ sich wieder auf dem Futon nieder, jedoch so dass er seinem Team den Rücken präsentierte. „Seht gefälligst zu, dass ihr nicht mehr so laut seid. Euer Geschnatter weckt die ganze Nachbarschaft. Außerdem nehme ich morgen früh keine Rücksicht auf euch, nur weil ihr nicht ausgeschlafen habt. Punkt Sechs wird aufgestanden! Das gilt vor allem für dich, Kinomiya.“

Zunächst blieb es ruhig. Er hätte schwören können, dass hinter ihm vielsagende Blicke ausgetauscht wurden. Kai besaß ein gutes Gespür für das Deuten einer Atmosphäre.

„Na schön. Schlaf gut, Kumpel.“

Er konnte hören wie Tyson zurück auf seinen Futon kroch. Gleich darauf vernahm er dessen vorwurfsvolles Grummeln: „Also das war auch nicht taktvoller von euch, ihr Leuchten.“

Kai verdrehte die Augen. Seine Lippen verzogen sich trotzig. Hinter ihm kam Bewegung in die Gruppe, offenbar weil man sich nun endlich entschlossen hatte zu schlafen. Kai senkte die Lider und tat einen tiefen Atemzug. Diese Unterhaltung hatte ihn irgendwie aufgewühlt. Seine Gedanken überschlugen sich förmlich. Er mochte dieses Gefühl nicht. Er wollte Ordnung in seinem Kopf. Es half ihm die ganzen Sorgen um ihn herum emotional auszublenden, sie rational zu betrachten und dann logisch zu handeln. Da drang noch einmal Tysons Flüstern an sein Ohr. So leise, beinahe hätte Kai nicht verstanden, was er da mit den anderen tuschelte.

„Wir müssen gut auf ihn aufpassen, Jungs. Er gehört zu uns. Wenn seine Familie schon nicht für ihn da ist, müssen wir es sein.“

Zustimmendes Raunen war die Antwort. Und auf einmal fühlte Kai sich geborgen.

Seine Sorgen waren vergessen, auch wenn es nur für diese eine Nacht sein mochte…
 

„Was ist nun? Couch oder Dojo?“

„Was?“, Kai blinzelte perplex, straffte seinen Rücken. Mit einem Wimperschlag saß er wieder am Küchentisch, spürte die Lehne des Stuhles in seinem Rücken, anstelle der Wärme seiner Decke, während Mr. Kinomiya ihn abwartend musterte. Dessen rechte Braue war skeptisch in die Höhe gezogen.

„Alles gut mit dir?“

„Ja… Ich glaube, ich hatte nur wieder ein Aussetzer.“, er massierte sich über die Schläfe.

„Du solltest damit morgen zum Arzt gehen. Deine Pupillen werden tellergroß wenn das passiert, da bekommt man Angst dass du vom Stuhl kippst.“

„Ist das so?“, murmelte Kai und fuhr sich müde über die Stirn. Sein Blick wanderte zum Küchenfenster über der Spüle. Er vermisste seine Freunde wieder.

„Du legst dich jetzt wirklich hin. Eine Mütze voll Schlaf wird dir mehr als gut tun.“, Mr. Kinomiya schob entschieden die Tür auf. „Wo willst du nun schlafen? Auf der Couch oder bei Tyson im Dojo? Der Boden dort ist nicht gerade bequem und der Junge quatscht ununterbrochen. Das muss ich dir aber nicht sagen, weißt du bestimmt noch, oder?“

„Ja, aber das ist okay.“, erinnerte sich Kai. „Ich mag den Dojo. Es ist ein guter Raum…“
 

Die zweite Erinnerung in dieser Nacht handelte von Jana.

Obwohl er auf Tysons Rückkehr warten wollte, sprach Mr. Kinomiya so lange auf ihn ein, bis Kai sich geschlagen gab und dem Vorschlag ins Bett zu gehen zustimmte. Ihn beschlich die Vermutung, dass der alte Herr die Augen kaum noch offen halten konnte, aber seine Ehre als Gastgeber ihm untersagte, vor ihm in sein Zimmer zu verschwinden. Um nicht unnötig an dessen Erschöpfung zu zerren, nahm Kai die Futons entgegen und brachte sie in den Dojo, damit auch der Großvater endlich zur Ruhe kam. Er richtete die beiden Schlafplätze her und ihm wurde klar, dass der Moment der Aussprache immer näher rückte. Mit jeder Erinnerung die kam, geriet sein Vorsatz ins Schwanken und ständig tauchte die Frage auf, wie sein altes Selbst nur so lange über Tysons Loyalität hinwegschauen konnte. Er war ihm stets ein guter Freund gewesen. Kais Finger strichen gedankenverloren über den Stoff der Decke. Eigentlich war es ihm ganz Recht einmal von Mr. Kinomiya loszukommen. Er wollte alleine sein um richtig nachzudenken und auf Tyson warten konnte er auch im Dojo. Allerdings ließ Kai es sich nicht nehmen, vor dem Schlafen gehen noch einmal nach seiner Schwester zuschauen, also erhob er sich wieder und schritt zurück zum Haupthaus.

Mr. Kinomiya war noch unten im Bad zu Gange. Als Kai in Tysons Zimmer gehen wollte, ließ ihn die Macht der Gewohnheit an der Treppe vorbeilaufen, wo er den alten Mann mit Wasser gurgeln hörte. Am Ende des Flurs blieb er jedoch wie angewurzelt stehen und fluchte über sich selbst. Es ärgerte ihn, dass schon eine banale Kleinigkeit, wie dieser Umbau im Haus, ihn durcheinander brachte, immerhin hatte er selbst Jana hinauf gebracht. Kai massierte sich erschöpft die Nasenwurzel und murmelte: „Reiß dich zusammen…“

Erst dann schritt er zurück und stieg die Treppe auf. Im Obergeschoss ging er vorsichtig über die ausgelegte Plane. Sein Blick blieb zunächst an den Farbeimern hängen. Scheinbar war das Bauprojekt in der Endphase, sonst wäre Tyson wohl auch nicht schon nach oben gezogen. Es roch wie in einem Baumarkt. Kai öffnete die nächste Tür zu seiner Rechten einen spaltweit. Das Licht fiel in einer schrägen Linie in den Raum und behutsam näherte er sich dem Bett, in dem seine Schwester schlummerte. Er vernahm Janas ruhige Atemzüge. Ihr Brustkorb hob sich stetig und ihr Mund lag ein wenig offen. Die winzigen Finger zuckten im Schlaf, als wollten sie nach etwas greifen, dennoch wachte sie nicht auf. Kai sah die kleine Stoffkatze auf dem Boden liegen, hob sie auf und legte sie seiner Schwester in die zuckenden Finger. Da erblickte er im fahlen Licht die blauen Flecken an ihrer Armbeuge. Er fuhr behutsam über die Stellte hinweg.

Dann zischte Kai als er lautes Kindergeschrei vernahm. Seine Lider flackerten, bis sie sich gänzlich senkten - nur für eine Sekunde. Doch schon war Tysons Zimmer entschwunden. Da lag nun ein heller Raum vor ihm…

Es schien eine Praxis zu sein, denn da war dieser typisch sterile Geruch in der Luft. Er hörte das Summen von elektronischen Apparaten und sah seine kleine Schwester, auf dem Behandlungstisch im Zentrum des Raumes hocken. Ihre schmächtigen Beinchen baumelten über den Rand. Auf der Oberfläche des Tisches lag eine lange Papierbahn ausgeweitet, um nach jedem Patienten die Unterlage rasch zu wechseln. Janas kleine Finger krallten sich darin fest und sie schrie aus voller Kehle, weil der Arzt ihr Blut abnahm.

„Nich wieder!“, jammerte sie. Ihre dunklen Knopfaugen schwammen in Tränen.

„Shh…“, kam es beschwichtigend. „Nur noch dieses Mal. Das schaffst du. Du bist doch ein großes Mädchen, oder?“

Der anwesende Arzt besaß eine tiefe, ruhige Stimme. Mit einer Engelszunge sprach er auf das weinende Kind ein.

„Es sind nur ein paar kleine Stiche. Danach bekommst du ein Bonbon zur Belohnung und hast für ein paar Wochen deine Ruhe.“

„Nein!“

All die lieben Worte war Jana überdrüssig. Sie schien diese Versprechungen zu oft gehört zu haben und wusste sich nicht mehr anders zu helfen, als nach der Hand des Arztes zu schlagen – und zu kreischen. Aus voller Kehle.

„Will nich mehr! Geh weg!“

Damit war der Arzt am Ende seines Lateins. Er seufzte schwer.

„Schwester, bitte halten sie das Kind ruhig.“

Wie aus dem Nichts tauchte eine weitere Person auf. Sie rauschte an Kais Seite vorbei. Die junge Frau sprach mitfühlend auf das kleine Mädchen ein, umschmeichelte sie mit lieben Worten, doch Jana reagierte auf die fremden Hände die sie halten wollten, nur noch bockiger. Da trat sie auch schon nach der Frau und erwischte sie am Handgelenk. Die Helferin japste erschrocken, fuhr zurück und blinzelte eingeschüchtert, während ihr Vorgesetzter sie anfuhr, doch endlich das Kind still zu halten. Da schien Kai wie von alleine auf Jana zu zueilen. Er sah seine Hände, die ihr Gesicht umfassten, seine Schwester zwangen zu ihm aufzuschauen. Ihre Wangen fühlten sich heiß an, während der nasse Tränenfilm seine Finger benetzte. Ihr Körper bebte bei jedem Schluchzer. Die großen Augen schauten zu ihm auf. Er hörte sich selbst auf seine Schwester einreden, wie er ihr versicherte, dass es ihm Leid täte, dass sie das noch einmal durchmachen müsse, doch das die Untersuchungen nun einmal notwendig seien.

„Mama hat gesagt nur eins Mal noch…“

Jana streckte ihm demonstrativ einen Finger entgegen, um ihm klar zu machen, was sie unter einer Eins verstand.

„Eins Mal… Nich zwei!“

„Ich weiß.“

„Hat versprochen… Ehrewort!“

„Ich weiß, Kleines.“

„Will zu Mama.“

„Sie ist nicht da!“, erklärte er seiner Schwester energisch. Seine Finger umfassten ihre nun ganz fest. Sie wirkten zerbrechlich inmitten seiner Handflächen. „Wir kommen schon alleine klar. Das kriegen wir hin. Also bitte reiß dich zusammen, Jana.“

Er hob ihr Kinn an, schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln.

„Nur ein Stich. Du bist doch kein kleines Baby mehr…“

„Immer ein Stich!“, jetzt schluchzte sie haltlos und schien so enttäuscht von der Welt. „Mama au gesagt. Und son wieda Stich. Jana mag nich mehr! Will nich mehr Spitze.“

Sie schniefte geräuschvoll, sah ihren Bruder flehend an.

„Ai, ich Heim wolle… Warum du das mache mit Jana? Hat du nich mehr lieb mich?“

Er ließ ihre Hände los, als habe sie ihn geohrfeigt. Da legten sich die Finger der Arzthelferin vorsichtig um Janas Handgelenke. Sie begriff dass Kai ihr nicht helfen würde, begann zu wimmern und schaute ihren Bruder vorwurfsvoll an, verstand einfach nicht, weshalb er ihr diese Strapazen erneut antat. Kai sah nur ihr kleines Gesicht vor sich, wie es sich verzog, als die Nadel durch die Haut ihrer Armbeuge stach. Es gab noch mehr Einstichstellen dort. Sie zogen sich wie ein buntes Muster über ihren blassen Ärmchen, zeugten davon, wie oft sie das die letzten Wochen schon über sich ergehen lassen musste. Kai bemerkte nicht einmal, dass der Arzt sich nun beeilte, die leeren Ampullen zu füllen. Sobald er fertig war, drückte er ein Stofftuch auf die Einstichwunde und schnallte die Manschette weg.

„So, kleiner Engel… War doch alles halb so schlimm.“

Doch für Jana war es schlimm…

Sie hatte genug von den ewigen Spritzen. Als die Schwester auch von ihr abließ, sprang sie vom Tisch, rannte zu Kai und vergrub ihr Gesicht heulend in seinem Hemd, ließ den Tränen freien Lauf und machte ihm schwere Vorwürfe. Sie bat darum endlich nachhause zu gehen. Er sah wie betäubt auf sie herab, auf ihren dunklen Haarschopf, fühlte ihre Finger, die sich im Stoff seiner Hose verkrallten. Ihr Weinen klang noch lange in seinen Ohren nach. Der Arzt wandte sich inzwischen mit traurigem Gesicht dem Anblick zu.

„Diese Tortur hätte man ihr ersparen können, wenn ihre Mutter nur umsichtiger mit den Ergebnissen umgegangen wäre, die ich ihr mitgegeben habe. Nächste Woche wird dem Kind der Shunt gesetzt, da muss man es nicht kurz vor der OP nochmal in solche Aufruhr versetzen!“

Kai nickte steinern.

„Ich kann absolut nicht nachvollziehen, wie ihre Mutter einfach so auf Reisen gehen kann und zuvor vergisst die Akte in der Klinik abzugeben! Warum hat sie sich dann überhaupt angeboten? Hätte ich das geahnt, hätte ich die Ergebnisse per Post verschickt oder der Helferin mitgegeben. Es muss doch auch in ihrem Sinne sein, dass solch wichtige Dokumente an der rechten Stelle ankommen? Das ist ihre Tochter!“

„Natürlich, dafür gibt es keine Entschuldigung. Ich werde es noch einmal zum Thema machen, sobald sie zurückkommt.“, versprach Kai ernst.

Ein schweres Seufzen kam vom Arzt.

„Na gut. Es wurde ohnehin auf beiden Seiten gepatzt. Die Praktikantin hätte Kopien vom Blutbild anfertigen müssen. Behalten sie aber dennoch mehr Ordnung als ihre Mutter! In Zukunft gebe ich dieser Frau auch keine weiteren Unterlagen mehr mit! Ein solches Chaos dulde ich in meiner Praxis nicht. Und dem Kind will ich auch nichts vorlügen müssen…“

Janas Wimmern wurde leiser und sie zerrte fordernd an Kais Hemd weil sie auf seinen Arm wollte. Das ständige Weinen hatte sie erschöpft. Ihre mandelförmigen Augen waren ganz klein, blinzelten ihn schläfrig an, die dicken Bäckchen brannten feuerrot.

„Lassen sie die Unterlagen zur Not lieber bei uns, bevor es wieder zu so einem Durcheinander kommt. Nicht zu fassen, dass die Akte einfach so verbummelt wurde.“, er grummelte den letzten Teil mehr zu sich selbst, zog seine Einweghandschuhe aus und warf sie in den Mülleimer. Es lag sehr viel Ärger in seiner Geste, denn das musste der Teil seines Berufes sein, den auch er nicht gerne ausübte. „Das Kind wird es ohnehin nie leicht haben. Da müssen wir ihr das Leben nicht unnötig schwerer machen. Operationen, Untersuchungen, Tabletten, gesellschaftliche Ausgrenzung und ständige Blutabnahmen werden Teil ihres Lebens werden. Versuchen wir also bitte, solch dumme Missgeschicke, auf ein Minimum zu reduzieren. Damit tun wir uns allen einen Gefallen. Vor allem ihr! Das Kind ist schon genug verängstigt wegen der OP nächste Woche.“

Nun fühlte Kai einen Tränenfilm bei sich selbst…

Er blinzelte um ihn wegzuscheuchen, da war der Behandlungsraum aber mit einem weiteren Wimpernschlag verschwunden. Nur seine kleine Schwester lag da noch im Bett, gemütlich begraben unter der dicken Decke. Sie hob ihre freie Hand, um geräuschvoll an ihrem Daumen zu lutschen. Einen verdutzten Moment fragte Kai sich, ob er tatsächlich mitten in der Praxis zu weinen begonnen hatte, doch da bemerkte er etwas Feuchtes auf seiner Wange. Seine Finger fuhren zu der Stelle, wo er eine einsame Träne verwischte. Er schloss seufzend die Augen, kniete noch immer vor dem Bett, bis er sich daneben auf den Boden sinken ließ. All das musste sich nur in seinem Kopf abgespielt haben und doch kam er sich wie betäubt vor. Es war diese Hilflosigkeit…

Er stützte seinen Ellbogen an der Bettkante ab und lehnte seine Stirn müde gegen die Handfläche. Ihm war tatsächlich zum Weinen zu Mute – weil Kai sich wieder daran erinnerte, wie machtlos er sich im Angesicht von Janas Trisomie fühlte. Es gab nichts was er tun konnte. Sie würde es immer schwerer haben als andere Kinder. Dabei hätte er alles darum gegeben, diesem zerbrechlichen Geschöpf jeden einzelnen Stich zu ersparen. Doch es gab Dinge im Leben, die konnte alles Geld der Welt nicht aufwiegen.
 

In dieser Nacht sollte es aber nicht bei dieser Erinnerung bleiben…

Etwas später schloss Kai behutsam die Zimmertür hinter sich, blieb jedoch einen Moment wo er war, um das Gesehene zu verdauen. Er war noch immer vertieft in die letzte Reise in die Vergangenheit. Die vorwurfsvollen Worte des Arztes klangen noch lange in seinen Ohren nach und ihm kam auch wieder die Vorgeschichte dazu in den Sinn. Seine Mutter war damals verschwunden…

Die Tage vor dem Arztbesuch, hatte Kai noch in ihrem Zimmer nach den Unterlagen von Jana gesucht. Irgendwann war er so wütend geworden, dass er sogar die Schubladen ihres Schreibtisches aus den Fächern riss und den Inhalt wahllos auf dem Boden verstreute. Seine Laune war komplett im Keller gewesen.

Kai wusste auch wieder dass er Raucher war. In dieser Zeit rauchte er ziemlich viel…

Das Hauspersonal duckte sich förmlich unter seinem Zorn und schlich um ihn herum, als habe er ihnen mit Schlägen gedroht. Keiner wagte es pünktlich nachhause zu gehen, alle blieben bis in die späte Nacht. Sie stellten das Haus auf den Kopf, das gesamte Büro seiner Mutter, durchsuchten die Flure, ihren Wagen, tasteten jede Ritze ab. Lew scheuchte die Bediensteten nur so herum, sprach gleichzeitig beschwichtigend auf seinen jungen Herren ein, um Kais Zorn zu mildern. Doch fündig wurden sie nicht…

Die Unterlagen blieben verschwunden. Bis man die vorsichtige Vermutung äußerte, dass die Ergebnisse wohl immer noch in der Handtasche seiner Mutter lagen. Die hatte keinerlei Ordnung gehalten, obwohl es für Jana doch lebenswichtig war, dass man mit ihren Sachen sorgfältig umging. Inmitten des Chaos was sie den Geschwistern hinterließ, war Kai lediglich aufgefallen, dass der Pass seiner Mutter fehlte, und so konnte er Eins und Eins bald zusammen zählen. Auch fand er einige ungeöffnete Briefe, die Rechnungen beinhalteten, welche teilweise schon angemahnt wurden – Janas Behandlungskosten. Kai hatte seiner Mutter dafür die nötigen Schecks ausgestellt. Wie er später erfuhr, war das Geld auch abgehoben worden, aber nicht von den Praxen. Da wurde ihm erst klar, was für ein falsches Spiel sie mit ihm getrieben hatte und das über Monate hinweg. Es war wie ein Fausthieb in die Magengrube…

Kai lehnte den Kopf an die Tür und schloss für einen Moment die Augen.

„Was hast du nur für eine verkorkste Familie?“, flüsterte er zu sich selbst.

Es war ein Stammbaum aus Intrigen. Der einzige Lichtfleck inmitten dieser Skrupellosigkeit war Jana. Dieses kleine Mädchen was so aufrichtig und unschuldig war, zu zart für diese grausame Welt. Es musste erst ein Trisomie krankes Kind in diese verdorbene Familie geboren werden, damit endlich etwas Gutes zu Stande kam. Kai seufzte schwer. Er fragte sich wo sein Platz war. Gehörte er zur hellen oder zur dunklen Seite?

Er konnte es nicht mit Gewissheit sagen…

So wie er das jetzt sah, war er zumindest genauso kalt, wie der Rest seiner Sippschaft. Wann immer ihn eine Erinnerung aus seinem Heim überkam, spürte er eine düstere Stimmung auf dem Hiwatari Anwesen. Die ganze Atmosphäre dort war bieder und unwillkommen, glich einer Winternacht in Moskau. Auf einmal verkrampfte sein Leib…

Kai schlug die Augen auf. Die Pupillen darin weiteten sich um ein Vielfaches. Sein Bewusstsein für das Hier und Jetzt wurde ihm geraubt. Nur die dumpfen Laute aus dem Badezimmer unten, waren noch zu vernehmen, drangen aber nicht mehr zu ihm durch.

Alles wurde ausgeblendet. Sein Geist ging auf Wanderung.

Kai selbst blieb still und bewegungslos – wie eine marmorne Skulptur.

Ein Außenstehender hätte sich gefragt, wo er nur mit seinen Gedanken war, was den jungen Mann dazu veranlasste, so einsam in den dunklen Flur zu starren. Es verging eine weitere Minute, da stieß sich Kai in Trance von der Tür ab. Seine Hände verhakten sich vor seinem Körper, kneteten unbeholfen seine Finger. Mit schleifenden Schritten lief er über die Planen hinweg. Es raschelte unter seinen Socken. Für Kai blieb das Geräusch unbemerkt. In seinem Geiste sah er eine andere Kulisse als den baufälligen Flur, stattdessen näherte er sich der Treppe. Schritt um Schritt…

Der Abgrund kam bedrohlich näher. Immer mal wieder verharrte Kai einen Moment, nur um irgendwann weiter zu schreiten. Einige Meter vor den Stufen, erwischte sein Fuß einen der leeren Farbeimer, auch wenn er selbst es nicht sofort bemerkte. Der Behälter fiel um, rollte leise klackernd vor ihm her und zu seinem Glück, stürzte er die Treppen hinab. Bevor Kai es ihm gleichtat…

Es rumste blechern bei jeder Stufe. Besonders als der Eimer unten gegen eine Kommode prallte. Das laute Geräusch ließ Kai aus seiner Trance schrecken. Seine Pupillen wurden augenblicklich kleiner, tasteten fahrig die Umgebung ab und als er den Abgrund vor sich entdeckte, wich er mit einem Keuchen zurück. Der umgestürzte Farbeimer hatte eine schmierige Schicht auf der Plane hinterlassen, die ihn ausrutschen ließ. Kai knickte schmerzhaft mit dem Fuß um, bekam aber noch das Geländer zu fassen und sank daneben auf die Knie. Einen Moment blieb er sitzen wo er war. Sein Atem ging stockend und irgendwann lehnte er seine Stirn gegen die Holzschnitzerei des Geländers. Da hörte er Mr. Kinomiya unten um die Ecke hechten. Zumindest versuchte er es, denn er humpelte schließlich seit dem Schlaganfall.

„Was ist passiert? Bist du verletzt?!“

Das Poltern hatte ihn in solche Panik versetzt, dass er sich noch nicht einmal den Schaum vom Zähneputzen weggewischt hatte. Er schaute aus als habe er Tollwut. Doch Kai war nicht in der Lage zu antworten. Der Schreck saß noch zu tief in den Gliedern – aber nicht vor der Gefahr, der er eben knapp entronnen war. Sondern vor der dritten Erinnerung an diesem Abend. Er wusste wieder, wie es sich anfühlte, klein und unbedeutend zu sein. Ein winziger Mensch inmitten einer Masse aus traurigen Kinderseelen. Unsichtbar, ungewollt und einsam, wie der Rest seiner Leidensgenossen. In wenigen Minuten, waren ganze Monate aus der Abtei, vor seinem inneren Auge vorbeigerauscht.

Es war wahrlich ein trauriger Ort gewesen…
 


 

ENDE Kapitel 44
 


Nachwort zu diesem Kapitel:
Sooo, wieder ein gigantisches Kapitel beendet, mit ca. 31200 Wörtern. Uff…
Ich muss mich wirklich für die Länge entschuldigen, da ich genau weiß, wie schwierig ich es den Leuten damit mache, noch so zu kommentieren, dass man tiefer auf den Inhalt eingehen kann. Nur ist mein Ziel wirklich diese FF bis Ende des Jahres fertig zu haben. Wann immer ich hier etwas hineinstelle, stolpere ich über das Datum meines ersten Updates und muss ganz schwer schlucken. Ehrlich gesagt stresst mich das sogar ziemlich. Was unvollendete FFs betrifft, bin ich wie Sheldon Cooper, der nervöse Zuckungen bekommt, wenn er nicht drei Mal an Pennys Tür klopfen kann. xD
Als ich angefangen habe diese Geschichte zu schreiben (2011 O_o), sind mir viele Nebenstränge durch den Kopf geschwirrt – ich hatte sogar eine Fortsetzung im Sinn, weil ich schon damals wusste, wie ich die FF enden lassen will, OMG, wie naiv war ich damals?! - aber momentan bin ich wirklich an einem Punkt, wo ich froh wäre, wenn das letzte Kapitel endlich online ist. Ich mache dann erst einmal einen Prosecco auf, so viel steht fest…
Bitte nimmt mir auch meine Wortkargheit bei euren Kommentaren nicht übel, aber die Zeit die ich auf Animexx verbringe, gilt fast nur noch dem Hochladen von FFs. Ich freue mich natürlich sehr über ein Feedback, auch wenn ich nie richtig darauf eingehen kann, aber in meinem aktuellen Zirkel glänze ich bereits mit Abwesenheit, dabei gibt es dort so viele tolle FFs die ich gerne zu Ende lesen würde - dort hatte ich auch einige One Shots zum TyKa Pairring versprochen, von zehn habe ich aber nur einen geschafft. Schande über mein Haupt… Und mein großer Herzenswunsch, irgendwann einen eigenen Roman zu schreiben, rutscht auch immer nur weiter nach hinten – jünger wird man bekanntlich ja nicht. Deshalb hoffe ich wirklich, dass ihr mir die riesigen Brocken die ich euch momentan vorwerfe, nachseht. Das Positive ist dass man wohl mehrere Tage daran zu kauen hat. Es hat eben alles etwas Gutes. xD

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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  Minerva_Noctua
2017-08-09T20:06:10+00:00 09.08.2017 22:06
Liebe Eris,

ich breche nun mit meinem Vorsatz die Kapitel der Reihe nach zu kommentieren. Seit vielen Monaten komme ich nicht dazu und das ist unglaublich gemein. Ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr ich diese Geschichte liebe! Deine Art zu schreiben, die Charaktere darzustellen, die Umwelt zu gestalten. Das alles ist wundervoll!
Als ich gesehen habe, dass das Kapitel online ist, hat es mich in Euphorie versetzt und ich habe es innerhalb von zwei Tagen durchgesuchtet. Ich habe dabei jedesmal bang zur Seite auf den Balken geguckt und gehofft, das Kapitel möge nie enden.
Sie sind echt viel zu kurz. Und Lesern dieses Gefühl nach so einem langen Kapitel zu geben, ist genau das, was hervorragende Autoren auszeichnet.
Vielen Dank dafür, dass du an dieser Geschichte weiterschreibst! Vielen, vielen Dank!
Natürlich hätte ich rein gar nichts gegen eine Fortsetzung;) Verzeih’ bitte die Euphorie und die Gier, natürlich weiß ich, was für eine Aufgabe diese Geschichte ist und wie erleichtert du nach Abschluss sein wirst. Die Hoffnung stirbt zuletzt

Ich hoffe, dass ich die beiden vorherigen Kapitel noch kommentieren werde, aber ich möchte dennoch einfach vorher sagen, dass ich sie fantastisch fand und Kais Verhalten nachvollziehbar. Du hast es geschafft seinen Zwiespalt hervorragend auszuarbeiten.

Nun zu diesem Kapitel:

Kennys Abgang ist bedauerlich. Es ist schade, dass er nicht bei seinen Freunden bleiben kann. Aber jeder geht anders mit Trauer um. Ich finde nicht, dass die Jungs etwas dafür können, dass Dizzy tot ist. Klar, sie haben sie dazu veranlasst für sie zu recherchieren. Letztlich war es die Rachsucht der Uralten, die nicht verstanden, dass ihre Menschenkinder nicht begriffen, was sie mit ihrer Ignoranz anrichten.

Tysons Umgang mit Jana finde ich bis jetzt gut und ich beobachte ihn neugierig.

Das Gespräch zwischen Opa und Tyson war sehr gut. Besonders beeindruckend und gut herausgearbeitet finde ich, wie mit dem Thema Ehre und „Gesicht wahren“ umgegangen wird. Die Japaner haben einen sehr ausgeprägten Sinn für Ehre und Achtung vor dem Familienoberhaupt.
Bezüglich Hiro finde ich die Befleckung der Familienehre nicht relevant, aber das liegt an meinem Kulturkreis und meiner persönlichen Auffassung.
Ich bin der Meinung, dass Hiro freigesprochen werden müsste, da es absolut unvorhersehbar war, dass Ming Ming durch den Schubs ausgerechnet vor einem ausparkenden Fahrzeug landet. Bin gespannt, was da noch alles kommt.
Ich wusste gar nicht, dass das Dojo umgebaut wird. Finde ich sehr praktisch. Vielleicht kann man ja noch ein Kinderzimmer anbauen:D
Es ist sehr verantwortungsbewusst von Tyson, dass er sagt, er kümmert sich um Hiros Verteidigung. Seine Initiative hat mich hier zugegebenermaßen positiv überrascht.

Das Drama mit der Scheidung verstehe ich nicht. Und dann sind sie halt geschieden? Sie können doch nochmal heiraten?
Rays Zorn auf Mariah war schon ziemlich arg. Es ist aber gut, dass er offen darüber redet und sein Verhalten analysiert.
In diesem Kapitel scheinst du sehr viel Wert darauf gelegt zu haben die Ähnlichkeit der Kinder mit ihren Bit-Beasts hervorzuheben. Das finde ich gut. Es ist wirklich interessant zu sehen, wie sich die Geschichte hinsichtlich des Verhältnisses und Verständnisses zwischen Kindern und Bit-Beasts entwickelt hat.

Dragoons gefühlt plötzlich gezeigtes Interesse an den Menschen und allgemein seiner Umwelt irritiert mich etwas.
Die Szene war sehr realistisch und der Hammer am Ende, dass nun eine Insel fehlt, sehr sehr gut.

Tysons kurzes Gespräch und ihr Verhalten in diesem Kapitel war sehr realistisch und gut.
Ich finde es toll, wie direkt Tyson Kai fragt, ob er nervös sei und ihn mit direkten Fragen konfrontiert. Ich finde es amüsant, dass Tyson sofort an eine Affäre denkt – als könne man sich nicht auch Monate vorher so benehmen und in einer seltsamen Grauzone verharren...
Ich bin froh und erleichtert, dass Tyson nicht lügt und ehrlich bleibt, dass er erkennt, dass sein vorangegangenes Verhalten bei Kai absolut unangebracht ist. Abgesehen davon hätte Kai es ihm nie verziehen, wäre er in dieser Situation angelogen worden.
Ich liebe es wie du jede Bewegung beschreibst, zum Beispiel Kais zu häufiges Blinzeln aus Unsicherheit.
Es ist ja auch unglaublich schwierig für Kai, da er ohne all seine Erinnerungen auch ein wenig nackt vor Tyson steht, ständig nur allgegenwärtige Gefühlsregungen herauszupicken scheint.
Dass Tyson gleich eine Chance wittert und ihn zu einem Gespräch drängt, ist charaktertypisch. Aber Kai scheint generell Stupser in dieser Hinsicht zu brauchen, also passt das schon.
Es wundert mich ein wenig wie Kai diesen Satz formuliert: „Ich bin nicht sicher, ob wir bei einer Unterhaltung nicht etwas ans Tageslicht befördern, was vielleicht besser im Dunkeln bleiben sollte.“
Also ahnt Kai bereits, dass auch er selbst von vor der Irrlichterwelt Gefühle für Tyson hatte? Oder hat er nur begriffen, dass Tyson etwas für ihn empfindet, dass besser verschwiegen worden wäre?
Es ist schön, dass Kai mehr lächelt

Galux tut mir leid, aber mit Mariah hat sie wenigstens eine verständnisvolle Freundin. Das Gespräch war sehr rührend und wundervoll beschrieben. Ich verspüre dabei beim Lesen eine Mischung aus hilfloser Rührung und trauriger Hoffnung, es möge am Schluss doch alles wieder gut werden.
Wenn Galux nur wüsste, dass seit Dranzers Geburt Liebe für die Bit-Beasts ebenso existiert...
Und so gravierend finde ich den Unterschied auf emotionaler Ebene nicht zwischen Mensch und Bit-Beast.

Die Abschiedsszene war herzergreifend. Ich kann Kai nicht so ganz zustimmen. Kai ist immer noch stark und bei dem Verhör hat man gesehen, dass er berechnend sein kann. Die Unantastbarkeit und Kühle ist seinen Erfahrungen und seiner Erziehung geschuldet. Ich bin gespannt, wie er sich nach seiner letzten Erinnerung verhalten wird...
Ich wundere mich ein wenig, dass keiner Kais wässrige Augen zu bemerken schien. Das hätte sein Verhalten erklärt. Du beschreibst seine Gefühle so anschaulich und wundervoll, dass mir selbst ganz schwer zu Mute wird.
Dass Kai sich wie ein kopflos schwärmendes Kind vorkommt, amüsiert mich zugegeben. Da erfährt einer gerade, wie sich Verliebtsein anfühlen kann.
Auch hier hast du seinen Zwiespalt sehr gut zur Geltung gebracht.
Kai entscheidet sich in diesem Abschnitt ganz klar gegen seine Gefühle und redet es sich schön, indem er daran denkt, wie er Tyson trotz seiner Gefühle respektieren wird. Das kommt mir fadenscheinig und lächerlich vor. Ich hoffe inständig, dass er bald begreift, dass er auch auf seine Gefühle hören muss, um sein Leben nicht zu verpfuschen. Aber klar, mit dieser Erziehung, in diesem Kulturkreis und bei seiner geschäftlichen Position kann ihn eine homosexuelle Beziehung ruinieren. Es ist unglaublich schwer sich für diesen Schritt zu entscheiden, auch ohne dass so viel auf dem Spiel steht.

Ich liebe Vergangenheitsszenen, die die Freundschaft der Jungs zum Thema haben.
Diese hier ist besonders interessant.
Es ist unglaublich wie sehr sich Kai anstellt seinem Freund einfach so einen Besuch abzustatten. Nein, ein Vorwand muss her. Zu dumm, dass Tyson das geschnallt hat:D
Bei der ein oder anderen Aussage hätte Tyson gekränkt sein können, war er aber nicht. Das spricht für die Vertrautheit dieser Situation.
Vielleicht hat Kai nicht allzu lange vor dieser Unterhaltung verstanden, dass er mehr für Tyson empfindet und reagiert darum so empfindlich auf die Aussage, dass er süß sei. Ansonsten wäre das schon sehr steif und weit hergeholt etwas anderes darunter zu verstehen als freundschaftliche Neckerei – auch als Außenstehender.
Ich habe während der ganzen Passage das Gefühl, dass die Abtei irgendwas gemacht hat, dass Kai nicht nur sein Urvertrauen genommen hat, sondern auch die Fähigkeit positive Emotionen anzunehmen oder zu zeigen. Was musste geschehen, um ihn sowas sagen zu lassen: „Ich will nicht dargestellt werden, wie ein Kleinkind, das die ersten Schritte vollführt!“
Nie im Mittelpunkt stehen, nie eine Belastung sein. Ich möchte Kai am liebsten umarmen.
Tyson reagiert genau richtig in dieser Situation und erklärt seine Freude über Kais Zugewandheit.
Es wundert mich, dass Kai Tysons Körpernähe zugelassen hat und ihn seine Worte, dass er um ihn kämpft und er endlich auftaut, nicht wieder verärgert haben. Er hätte es auch in den falschen Hals kriegen und wieder beleidigt sein können.
Es war sehr interessant diese Erinnerung aus Kais Sicht zu erleben. Als Teilnehmer und Zuschauer gleichzeitig. Sehr schön beschrieben.
Kai scheint sich am Ende der Passage zu unterschätzen. Denn anscheinend nimmt er nicht nur, sondern gibt auch. Es sei denn es ginge um Vertrauen und Ehrlichkeit. An seiner Offenheit hat er definitiv zu arbeiten.

Ich denke mal, dass Ray und Max es zwar irgendwie seltsam fänden Kai und Tyson als Paar zu wissen, sie aber nichts dagegen hätten und es letztlich auch passend fänden. Ich kann mir vorstellen, dass die Umstellung ein wenig dauert, aber dass das nicht an ihrer Sexualität, sondern an ihren Charakteren liegt.
Das Gespräch zwischen Max und Tyson ist sehr schön. Die Atmosphäre fühlt sich vertrauensvoll und ruhig an.
Max will also eine Familie gründen. Ich finde Mitte Zwanzig immer noch recht früh, aber das kann jeder halten wie er will. Ich kann mir das im Moment auch noch etwas schwer vorstellen. Bei Ray finde ich es ja schon gewöhnungsbedürftig. Aber ich freue mich, ihn als Vater zu erleben. Seine Tochter bekommt viele tolle Onkel:D
Ich bin froh, dass der unheimliche Überfall auf Mariah so glimpflich ausgegangen ist. So ein Glück, dass sie nicht zwischen diesen Zombies festsitzen. Echt unheimlich...

Die Diskussion mit Galux war fantastisch! Ich kann ihren Standpunkt sehr gut nachvollziehen. Sie hat recht mit der Eiche und Perfektion liegt tatsächlich zumeist – wenn nicht sogar immer – im Auge des Betrachters. Es hat mich gerührt, wie sie von den Vögeln und Ameisen sprach. Klar, die eigene Art findet sich immer am wichtigsten. Das Reh auf der Wiese wird den Tot seinesgleichen auch anders empfinden als den eines Menschen oder Igels. Ein wenig mehr Demut vor den Lebewesen, mit denen man den Planeten teilt, täte so manch einem gut. Jedes Lebewesen ist unterm Strich gleich viel wert.
Bezüglich dem Neutralitätsgebot von Bit-Beasts finde ich es allerdings problematisch, dass sie sich Menschenseelen ausgesucht haben und auch die Fähigkeit zu lieben kann, wie man sieht, zu großen Problemen führen. Nun gut, aber verletzter Stolz oder Wut schaffen das auch. Also spricht doch wieder nichts gegen die Liebe als ergänzende Emotion
„Es war schon eigenartig, dass sich gerade jene Bit Beast ineinander verliebt hatten, deren Menschenkinder verheiratet waren.“
Hehe. Wenn sie erfahren, dass Dragoon und Dranzer sich einst liebten, wird das umso interessanter. Verwandte Seelen und so

Dragoons Gedanken zu den menschlichen Bauten sind sehr schön zu lesen. Allerdings gibt es durchaus sesshafte Tiere wie z.B. Termiten oder Fledermäuse.
Dragoon begreift nicht, dass Dranzers Verachtung ihm gegenüber nichts mit Kais Verhalten seinen Freunden gegenüber zu tun hat. Dragoon hat Dranzers Vertrauen aktiv zerstört, während Kais Urvertrauen vor der Bekanntschaft zu seinen Freunden von anderen erschüttert wurde. Tyson und die anderen haben im Gegensatz zu Dragoon alles getan, um Kais Vertrauen zu verdienen und ihn für sie zu gewinnen. Ich bin gespannt, ob Dragoon das auch noch begreifen wird.
Allgemein werde ich immer neugieriger auf Dragoons Charakter, weil er durchaus auch großzügig und hilfsbereit sein kann. Dennoch wundere ich mich ehrlich, wie sich dieser unstete Kerl um die Welt kümmern konnte. Er handelt oft viel zu verantwortungslos für so eine komplizierte Aufgabe.

Ich bin froh, dass Großvater Kinomiya Kai nicht die Wahrheit gesagt hat. Ich kann mir vorstellen, dass es für Mr. Kinomiya schwer ist, aber er in seinen Grundfesten von der Richtigkeit seines Schweigens überzeugt ist.
Ich freue mich, dass er Kai mag und schätzt. Ich kann mir allerdings nicht vorstellen, was er sagen würde, wenn Kai sein Schwiegersohn würde. Die Traditionen wiegen schwer.
Ich frage mich, ob und wie lange Kai das Thema Krankenschwester auf sich beruhen lässt.
„Es ist eigenartig, aber in dieser Familie, ist die männliche Linie der Reihe nach
dämlich.“
Aww, ich musste echt schmunzeln. So arg ist es nu’ auch nicht:D
Ich freue mich etwas über Kiko zu lernen. Eine süße Geschichte. Allzu alt kann die Gute bei ihrem Tod allerdings nicht gewesen sein. Ich schätze Mr. Kinomiya am Anfang der Serie als noch nicht so alt ein, vielleicht 65.
Das Gespräch über Tysons Frauengeschmack war sehr erheiternd:D
Rührend finde ich die Aussagen zu Kais Beistand, als Mr. Kinomiya den Schlaganfall hatte. Natürlich ersehne ich mir Details darüber, aber es ist auch spannend im Ungewissen gelassen zu werden.

Ich liebe die Vergangenheitsszene im Dojo. Ich fühle mit Ray mit. Labertaschen sind schrecklich, wenn man schlafen möchte.
„Nimm das nicht persönlich, Kinomiya, aber nur weil wir gemeinsam eine
Weltmeisterschaft gewonnen und ein paar gefährliche Situationen übersanden
haben, sind wir nicht gleich alle die besten Freunde.“
Das passt wie die Faust aufs Auge. 100%ig Kais O-Ton.
„Und das bis in die frühen Morgenstunden…“, brummte Ray genervt unter seinem
Kissen.
Ich liebe Ray. Echt jetzt. Ich fühle mit ihm.
Allerdings liebe ich Tysons Erwiderung bezüglich des Miteinanderedens.
Kai scheint sich damals bereits von Tysons ehrlicher Loyalität und Sympathie angezogen zu fühlen – und ich meine das nicht in romantischer Hinsicht. Tysons Art ist unglaublich mitreißend.
Es ist schön zu lesen, dass sich Kai geborgen fühlte. Das ist ein herrliches und seltenes Gefühl, so kostbar.

Kais Mutter ist ein egoistisches, berechnendes und unglaublich kaltes Miststück. Ich verstehe, dass ein krankes Kind eine sehr schwere Aufgabe ist, aber so etwas zu tun? Es ist das Allerletzte. Das hat Kai gerade noch gefehlt. Ich verstehe sein Vertrauensproblem.

Die letzte Erinnerung hast du fantastisch beschrieben. Ich liebe es, wie du einerseits sehr detailliert schreibst und andererseits alles im Ungewissen lässt. Mir ist der Atem gestockt, als Kai auf die Treppen zugeschritten ist. Ganz hervorragend geschrieben.
Kai tut mir so leid und ich hoffe noch mehr zu erfahren.
Dass er sich ausgerechnet jetzt an die Abtei erinnert, ist natürlich ungünstig. Seine Freunde sind nicht da, um ihm Sicherheit zu geben, Tyson ist unterwegs. Dragoon steht jeden Augenblick vor der Tür... Viele Baustellen.
Ich dachte ja, dass Dragoon als Cliffhanger vor Kai auftaucht, aber auch so ist das Kapitelende sehr gelungen und spannend.

Ich zweifle ja daran, dass die Jungs in ihre Flieger steigen werden, bevor die Sache mit Dranzer geklärt ist, bin aber gespannt, was du dir für sie ausgedacht hast
Ich liebe diese Geschichte und bin so dankbar, dass du unermüdlich daran schreibst und so herrliche Kapitel raushaust. Ich werde sehr traurig sein, wenn die Geschichte beendet ist. Ich werde sie sicherlich noch öfter lesen
Vielen Dank für das wunderbare Kapitel und die Freude, die du mir damit gemacht hast!
Ich wünsche dir einen schönen Abend!

Liebe Grüße,

Minerva
Von:  jasuminu
2017-08-03T20:49:05+00:00 03.08.2017 22:49
Ein wahnsinns Kapitel!Ich hab mich gefreut das es soooo lang ist.Ich weiß nicht wie es die anderen sehen aber ich liebe solche langen Geschichten viel mehr, als kurze (früher immer dicke Wälzer verschlungen). Einen "Brocken" wars deshalb für mich nicht , habs in wenigen Stunden durch gehabt ^.^Aber denk ja nicht das ich dieses massive Kapitel verbunden mit der ernormen Arbeit dadurch weniger wert schätze!
Im vorherigen Kapitel fand ich Kai ein wenig zu "weich" für meinen Geschmack,wüsste aber auch nicht wie man es hätte anders machen sollen. Wenn er der ewige Kühlschrank geblieben wäre, kämen die beiden sich ja nie näher....Hach schwierig ....ich finds auch bisschen schade, dass er von seinem früheren Ich so angewidert ist. Ich mein so schlimm war er ja nun auch nicht und sein Stolz gehört nunmal zu ihm. Oder liegt das vielleicht daran das er noch nicht all seine Erinnerungen hat besonders die von der Abtei?
Ich finds herrlich wie offen Tyson gegenüber Kai und seinen Gefühlen ist, das hat mich manchesmal echt erstaunt. Über den alten Kauz musste ich schon öfters Lachen, besonders über seine Wortwahl xD Das Verhör vom vorherigen Kapitel war auch echt mega spannend! Wie schaffst du es nur an alle Details zu denken und dich nicht zu verzetteln?
Ach ja es ist toll endlich mal in Kais Gedankenwelt und Flash Backs Teil zu haben, vorher war er irgendwie so ein Mysterium. Bin wie immer gespannt, wie es weiter geht.
Hätte noch mehr zu schreiben, doch dazu müsste ich nochmal das Kapitel durchgehen. Ich hoffe mein Kommentar reicht aus es ist wirklich schwierig bei der Länge in Details zu gehen, wie du ja auch schon bemerkt hast. Aber wie gesagt ,ich hatte echt Freude daran es durchzulesen.
Ich hoffe dein Wunsch einen eigenen Roman zu schreiben geht in Erfüllung, denn du hast echt das Zeug dazu!
LG Jasuminu ^.^



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