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Die Geister die wir riefen...

von

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Wann immer Max in den Gängen des Tokio-Narita Flughafens stand, musste er an seine dritte Weltmeisterschaft denken. Inmitten des geschäftigen Treibens, erinnerte er sich dann daran, dass sie an diesem Ort, zum ersten Mal als Blader getrennte Wege beschritten hatten. Tyson war ausgerastet, als Ray und er ihm hier eröffneten, dass sie in Zukunft in anderen Teams bladen wollten. Max wusste noch wie elend ihm zumute war, doch er sehnte sich so sehr nach der Chance den Weltmeistertitel zu gewinnen. Da aber im dritten Jahr nur Zweierteams antreten durften, war die Chance relativ hoch, dass er auf der Reservebank versauern musste, während Tyson wahrscheinlich den ganzen Ruhm wieder für sich einheimste. Etwas was bei aller Freundschaft, auch seine Sportlerehre nicht verkraften konnte. Also hatten sich Ray und er entschieden, die Bladebreakers zu verlassen und später erfuhren sie, dass auch Kai das Boot gewechselt hatte. In den folgenden Jahren, bereute Max diesen Entschluss kaum. Allerdings gab es da etwas, was er in einem anderen Leben anders gemacht hätte…

Die Art und Weise wie er es Tyson beibrachte.

Ihn mit einem gepackten Koffer am Flughafen, vor vollendete Tatsachen zu stellen, kam ihm heute falsch vor. Als er in den USA landete, seine Mutter ihn vom New Yorker Airport abholte und er sich über Tysons ungerechtes Verhalten beklagte, hatte die nur missbilligend mit der Zunge geschnalzt.

„Maxi, ich bin froh dass du jetzt bei den Allstarz bist, aber das war wirklich taktlos von dir! Das hättest du deinem Freund auch schonender beibringen können.“

„Ich dachte du wärst froh, dass ich zu euch gewechselt bin?!“, sprach er fassungslos. Sie war seine Mutter, sein künftiger Coach und er wollte gefälligst hören, dass Tyson sich falsch benommen hatte.

„Das bin ich auch, glaub mir! Aber auf eine Woche mehr oder weniger wäre es nicht angekommen. Da sieht man aber dass du noch ein Kind bist. Du kannst sehr ungeduldig sein. Ein Erwachsener hätte es deinem Freund anders beigebracht. Du hast ihm gar keine Zeit gelassen, sich auf deinen Ausstieg einzustellen. Kein Wunder ist er wütend geworden…“

Erst da begann er sein Verhalten zu hinterfragen. Manchmal brauchte auch Max Nachhilfe, aber da Tyson ihn so gemein beschimpft hatte, sah er nicht ein, sich bei ihm zu entschuldigen. Seine Mutter schmunzelte über seine Bockigkeit und als sie auch noch die Augen verdrehte, beklagte er sich, dass sie ihn wie ein kleines Kind belächelte.

„Du bist auch noch eines.“

Das war zu viel für ihn gewesen…

Die ganze Autofahrt über redete er kein Wort mehr mit ihr, auch nicht als Judy ihm neckend in die Babybacken kniff. Stattdessen bat er sie, so etwas nicht vor seinem neuen Team zu sagen, das wäre nämlich ziemlich uncool. Sieben Jahre später hätte Max natürlich anders gehandelt, denn nun wusste er, wie man am besten zu Tyson vordrang. Mit dem Koffer am Flughafen zu stehen, war die denkbar schlechteste Lösung gewesen. Da konnte er ihm kaum verdenken, dass er ihnen wortwörtlich eine Szene machte. Mit einem vernichtenden Blick, hatte er Ray am Kragen gepackt, um ihm aus gefletschten Zähnen vorzuwerfen, dass sie beide doch nur neidisch auf seinen Erfolg waren. Im ersten Moment dachte Max: „Das war’s. Ende der Freundschaft.“

An diesem Flughafen sollten sich also ihre Wege für immer trennen.

Doch überraschenderweise kam es anders als erwartet. Denn ausgerechnet die Distanz sollte sie enger aneinanderschweißen. Es war Tysons Ehrlichkeit zu verdanken, dass sie das Kriegsbeil schnell begruben, denn als sich später alle Blader, gegen Boris Vormachtstellung auflehnten, hatten sie noch einmal ein klärendes Gespräch geführt. Max erinnerte sich noch sehr gut daran. Er hatte den Dojo noch nie so voll erlebt wie an jenem Abend…
 

Nach einem langen und anstrengenden Trainingstag, hatten sich Tyson und er damals eine Pause auf der Veranda gegönnt, während die anderen Blader in der Übungshalle hockten und Kriegsrat hielten. Drinnen diskutierte man, welche Spieler für das Team gegen die BEGA aufgestellt werden sollten. Die Debatte war schon unzählige Male geführt worden. So oft das sie Max zu den Ohren hinaushing, denn man hatte es niemandem Recht machen können. Die männlichen Blader buhlten um den letzten freien Platz. Die Frauen pochten darauf, dass sie nun auch einmal zum Zuge kommen wollten. Max wusste noch, wie Julia vom F-Dynastie Team sich dafür aussprach, dass es nun endlich Zeit wurde, auch mal eine Bladerin in die Mannschaft zu holen, immerhin hätte die BEGA Ming-Ming, während Maxs damaliger Partner Rick nur verächtlich schnaubte, dass die Frauenquote schon genug kaputt gemacht habe, da müsse man nicht noch den Beybladesport mit wandelnden Büstenhaltern verpesten. Zugegeben, Rick konnte ein furchtbarer Macho sein…

Die ohnehin hitzige Diskussion erreichte damit ihren Höhepunkt. Ray hatte verzweifelt versucht zwischen den Geschlechtern zu schlichten. Vor allem da sich auch Lee und Mariah nun in die Haare bekamen. Anscheinend war was das Thema Emanzipation betraf, Blut keineswegs dicker als Wasser, auch unter den beiden Geschwistern nicht. Max hatte sich dagegen auf Zehenspitzen aus der Schusslinie gebracht, schlich irgendwann aus der offenen Schiebetür hinaus ins Freie und stellte zu seiner Überraschung fest, dass Tyson auch schon das Weite gesucht hatte. Er fand ihn auf der Holzveranda vor, im Schneidersitz und mit verschränkten Armen, die Augen fest geschlossen, die Brauen grübelnd ins Gesicht gezogen. Beinahe sah es aus als würde er meditieren. Als Max sich dazu setzte und ihn fragte, ob er, als Weltmeister, sich nicht auch an der Unterhaltung beteiligen wolle - immerhin hatte er alle Blader dazu aufgerufen sich gegen Boris zu wehren - brummte Tyson nur, dass ihm bald der Kopf platze. Es hatten noch nie so viele Leute wie zu jener Zeit im Dojo übernachtet und sein Heim kam ihm wie eine Irrenanstalt vor. Die keifende Nachbarin klingelte jede Stunde an der Tür und beschwerte sich über den Lärm, den die saublöde Bagage veranstaltete. Einmal hatte Mr. Kinomiya wütend zurückgebrüllt, dass sie selbst ihr Maul halten solle, da flog auch schon ein Pantoffel über die Grundstücksmauer.

„Dieses Problem hätten wir nicht, wenn Kai auch zu uns gestoßen wäre.“, beklagte Tyson sich kurz darauf. Für ihn war von vorneherein klar, wer der fünfte Mann sein musste, auch wenn Max und Ray ihn drängten, Kai endlich abzuschreiben. Sie alle waren ziemlich enttäuscht darüber, dass er die Seiten gewechselt hatte, aber ganz besonders Tyson wollte ihn nicht aufgeben. Max musste auf seine Worte schwer seufzen.

„Es ist sein gutes Recht. Wir dürfen ihm nicht vorschreiben, mit welchem Team er in Zukunft arbeiten möchte, auch wenn er nun unser Gegner ist. Das nächste Mal wenn wir ihn sehen, werden wir ihm in der Arena begegnen.“

Damals wussten sie noch nicht, dass Kai es nicht einmal durch die Vorrunden schaffen sollte. Sie waren fassungslos als sie erfuhren, dass er gegen Brooklyn verloren hatte. Doch zu Max Überraschung, machte ihm Tyson ein unerwartetes Geständnis.

„Ich habe kein Problem damit dass Kai nun unser Rivale ist.“

„Was dann?“

Als er endlich die Augen öffnete, erhaschte Max einen finsteren Blick.

„Ich will nicht dass er in einem anderen Team spielt! Das wollte ich auch nicht bei euch beiden. Könnt ihr das echt nicht verstehen?!“

Es bereitete Max Unwohlsein, dass er das Thema wieder aufgriff. Gerade waren sie dabei, diese unschöne Geschichte zu vergessen, da riss Tyson die alte Wunde wieder auf. Es war schlimm genug, was für fiese Worte sie sich am Flughafen an den Kopf geworfen hatten, da wäre ein Streit nun ziemlich kontraproduktiv. Boris hätte sich bestimmt vergnügt die Hände gerieben, wenn sie sich untereinander zerfleischten.

„Das hast du also nicht vergessen?“, sprach Max unangenehm berührt.

„Das werde ich niemals vergessen.“, kam es düster zurück. „Ihr habt mich mit Daichi allein gelassen. Mit Daichi!“

„Und doch hast du den Weltmeistertitel geholt.“

„Trotzdem! Ich hätte lieber euch bei mir gehabt.“

„Tyson, du darfst das nicht persönlich nehmen. Wir hatten nichts gegen dich, sondern wollten unsere Chancen verbessen. Von der Reservebank aus, hätten wir den Titel vergessen können!“

„Das weiß ich doch…“, aber wirklich besänftigt schien er nicht. Etwas wurmte ihn noch immer. Sein Ton gepaart mit der finsteren Miene sprach Bänder.

„Warum kannst du die Geschichte dann nicht ruhen lassen? Hör auf Kai Vorwürfe zu machen. Lass uns lieber das Beste aus den Bladern holen, die wir zur Verfügung haben. Wir haben wirklich eine große Auswahl und einige ziemlich gute Asse im Ärmel.“

Tyson blähte die Wangen trotzig auf.

„Die sind aber nicht so eingespielt wie wir Fünf! Du, Ray, Kai und ich… Wir sind die Blader. Und Kenny ist das allwissende Köpfchen im Hintergrund. Das konnte man nicht toppen! Ich will keinen Fremden im Team haben, ich will meine Freunde! Warum müssen wir eine Konstellation ändern die perfekt war?!“

„Weil Kai nicht mehr da ist!“, betonte Max genervt. „Er will nun einmal gegen dich antreten. Ich verstehe das nur zu gut - dass ist sein Ehrgeiz!“

„Aber warum musste er dazu in Boris Team wechseln? Warum ausgerechnet der?!“

„Ich weiß es nicht. Was in seinem Kopf vorgeht, war schon immer ein Geheimnis für mich. Aber wahrscheinlich ist ihm ein Match gegen dich wichtiger, als sein Groll gegen diesen Sack.“

„Ach, jetzt bin ich auch noch schuld?! Ich habe keinem von euch gesagt das ihr das Team wechseln sollt! Wenn ihr gegen mich antreten wollt, dann wisst ihr wo ihr mich findet! Ich bin verdammt nochmal hier! Es ist nicht nötig das ihr abhaut und euch neue Freunde sucht!“

Es war der Moment, indem Max erst so richtig begriff, was seine Mutter damals meinte. Ein Ausatmen ging durch ihn, als der Groschen endlich fiel. Gleich darauf redete sich Tyson auch schon wieder in Rage. Es regnete Vorwürfe, doch dieses Mal hörte Max die versteckte Botschaft deutlich heraus:
 

„Ich habt neue Freunde - und mich vergesst ihr!“
 

Und anders als bei ihrem unschönen Abschied am Flughafen, war er dieses Mal in der Lage, sich in ihn hineinzuversetzen. Denn als er während der letzten Weltmeisterschaft sah, wie gut Tyson sich mit Daichi zusammenraufte, während er selbst mit Rick auf keinen grünen Zweig kam, hatte Max die früher erfahrene Loyalität schmerzlich vermisst. Manchmal half ein Blick über den Tellerrand, um zu erkennen, was man an seinen Freunden besaß. Die Allstarz waren eine interessante Erfahrung gewesen. Sie hatten ihn viel gelehrt…

Aber leicht war es deshalb nicht mit ihnen. Denn anders als bei den Bladebreakers, war die Gruppe schon ein eingespieltes Team, bevor er dazu stieß, während Max den Fremdkörper darstellte, der sich nur durch seine Mutter Zutritt verschaffte. Zwar war er auch talentiert, doch die üble Nachrede hing ihm bis zum Schluss nach. Er war geduldet worden, aber so richtig dazugehörig fühlte er sich nie. Sein einziger Trost war damals, dass Rick durch seine saloppe Art noch viel unbeliebter war. Und als Tyson davon sprach, dass er nicht verstehe, warum Max die Allstarz so viel lieber mochte als die Bladebreakers, seine Vorwürfe endlich beendete, die Arme verschränkte und wutschnaubend wieder in den Hof starrte, wusste er was zu sagen war.

„Weißt du was ich wirklich bereue an meinem Ausstieg?“

Tyson hatte gleichgültig mit den Schultern gezuckt, noch zu beleidigt, um ihn mit seiner vollen Aufmerksamkeit zu belohnen.

„Das ich es dir nicht anders beigebracht habe. Die Erfahrung mit den Allstarz war wichtig für mich. Ich musste meine Fühler ausstrecken um mich weiterzuentwickeln. Der Ausstieg an sich tut mir nicht leid, aber ich wünschte, ich hätte den Mut gehabt, dir schon vorher zu erzählen, was ich eigentlich plane. Dann wärst du jetzt nicht so eifersüchtig.“

„Ich bin nicht eifersüchtig…“, kam das trotzige Murren.

„Doch und wie du das bist! Seit wir über diesen Streit reden, hast du mir mit keinem Wort vorgeworfen, dass ich dir den Titel klauen wollte - als wäre es total zweitrangig. Dagegen sprichst du nur noch davon, dass ich die Allstarz dir vorziehe.“

„Tust du ja auch!“, folgte prompt die Unterstellung.

„Aber nicht weil sie die besseren Freunde sind! Das sind bestenfalls Kollegen. Viele Dinge würde ich mit denen niemals besprechen. Mit dir ist das etwas anderes. Dir vertraue ich.“

Tyson hatte neben ihm die Lippen geschürzt. Seine Augen waren zu schmalen Schlitzen geworden, die ihn argwöhnisch von der Seite aus musterten. Er war noch nicht ganz überzeugt.

„Das war nicht richtig von uns so überstürzt abzuhauen. Dafür wollte ich mich schon länger entschuldigen. Ich hätte mit dir Reden sollen. Von Freund zu Freund. Dann wäre der Streit am Flughafen nicht so eskaliert, weil ich dir von Anfang an gesagt hätte, dass du immer noch mein bester Kumpel bleiben wirst - selbst wenn ich in einem anderen Team blade.“

Tyson war immer noch stumm geblieben. Doch da erhaschte Max endlich ein zufriedenes Zucken um seine Mundwinkel. Es war wohl das gewesen, was er so dringend hören musste. Das ihr Ausstieg nichts damit zu tun hatte, dass Tyson womöglich ein schlechter Freund sein könnte. Das er immer noch ihr „Best Buddy Number One“ war.

Was das anging duldete er bis heute keine Nebenbuhler. Und am Tag darauf, beklagte er sich auch weniger über die anderen Teammitglieder, war endlich wieder guter Laune und witzelte sogar mit den anderen Herren über die Damenwelt, die eine Petition gestartet hatte, um „Macho-Rick“ von ihrem Projekt zu verbannen. Im Prinzip war Tyson sehr einfach gestrickt. Seine Gefühle konnte er kaum verbergen…
 

So wie jetzt, wo er mit ihnen am Flughafen saß, total übermüdet, mit dunklen Augenringen und doch nicht nachhause ging, weil er bis zur letzten Minute bei ihnen bleiben wollte. Er schaute bei jedem Abschied etwas traurig und auch heute lag da wieder diese Wehmut in seinem Blick. Ihr Gepäck hatten sie gleich zu Anfang abgeben und sich anschließend noch für einen Becher Kaffee, in eine Bäckerei gesetzt, um die Wartezeit zu überbrücken. Jeder von ihnen brauchte etwas um wieder munterer zu werden, zumindest bis sie im Flieger saßen und trotz des chaotischen Wetters draußen, war der Flugverkehr wieder aufgenommen worden. Eine Wand der Cafeteria war komplett bis zur Decke verglast, sodass man einen Blick auf die regennassen Startbahnen werfen konnte. Um dem Frost auf den Tragflächen entgegenzuwirken, wurden einige Flugzeuge mit etwas Flüssigem abgespritzt. Das grellorangene Flugpersonal war gut im Dunkeln zu erkennen und sie bei diesem Mistwetter draußen herumrennen zu sehen, entlockte jedem von ihnen ein mitleidiges Schmunzeln. Die Stimmung am Tisch war betreten, einfach weil ihnen allen der Abschied schwerer fiel als sonst. Tysons Trübsinn spürte man aber besonders.

Allerdings sorgte Mariah für eine kurze Auflockerung, als sie panisch verkündete, noch einmal dringend die Damentoiletten aufsuchen zu müssen. Irgendwie schien das bei schwangeren Frauen erschreckend plötzlich zu kommen, denn sofort ließ sie alles stehen, kippte versehentlich ihren Trolley um und schob sich wie eine kleine Dampfwalze, zielstrebig an der Schlange vor der Toilette vorbei. Dabei rief sie aus, dass alle die keinen Braten in der Röhre hatten, gefälligst das Weite suchen sollten, während Galux ihr eiligst hinterher tippelte. Das Bit Beast entwickelte sich zu ihrem zweiten Schatten, denn sie wich ihrem Menschenkind keinen Millimeter von der Seite. Es hätte keinen von ihnen gewundert, wenn sie sogar in die Toilettenkabine mit hineinhuschte. Max viel auf, dass jede Frau, die in Berührung mit dem Wesen kam, ein kurzes Schaudern von sich gab. Doch ansonsten blieb das Bit Beast unbemerkt.

„Schade dass dieses Treffen so danebengegangen ist. Unser Nächstes muss dafür umso besser werden.“, Ray nahm den Deckel von seinem Kaffeebecher, um etwas Zucker hinein zu streuen. Doch er konnte Max nichts vormachen. Er fühlte sich eindeutig dazu verpflichtet Tysons trübe Stimmung aufzuheitern und was wäre dafür geeigneter, als die Aussicht auf ein baldiges Wiedersehen. „Wisst ihr, ich habe mir überlegt, ob wir nicht Neujahr wieder zusammenfeiern wollen? Was denkt ihr?“

Schon sah man Tyson aufhorchen. Und als Max gleich darauf auf den Zug aufsprang und den Vorschlag unterbreitete, Silvester am New Yorker Times Square zu verbringen, stahl sich ein breites Grinsen auf dessen Gesicht.

„Das wäre total irre! Das wollten wir doch schon immer Mal machen.“

„Vielleicht könnten wir uns den Times Square für nächstes Jahr vornehmen? Der Geburtstermin liegt im Dezember. Ich dachte auch ehrlich gesagt eher an das asiatische Neujahr.“, ein stolzes Lächeln trat auf Rays Lippen. Die verloren geglaubte Vaterfreude war wieder zurück. „Dann könntet ihr meine kleine Tochter auch gleich sehen. Als ihr bei meiner Hochzeit da gewesen seid, war es auch lustig und in unserem Dorf wird noch richtig traditionell gefeiert.“

„Dann feiern wir dieses Jahr ein traditionelles Neujahr in China und ein modernes Silvester in New York.“, Tyson strahlte begeistert bis über beide Ohren und lehnte sich zurück. „Eins muss ich euch lassen, durch euch komme ich viel in der Welt herum. Wenn ich anderen Freunden erzähle, wo ich schon überall gewesen bin, glauben die mir nie.“

Ray musste ob seiner guten Laune anfangen zu grinsen.

„Schön dass dich das endlich wieder aufheitert.“

„Was heißt hier wieder aufheitern? Ich habe gar nichts gesagt…“

„Dein Blick spricht aber für sich. Jedes Mal wenn du uns an den Flughafen fährst, müssen wir uns etwas einfallen lassen, damit du nicht mehr wie ein geprügelter Hund schaust.“

Tyson bekam große Augen.

„Mache ich das?“

Einstimmiges Nicken war die Antwort, da kratzte er sich auch schon mit einem verlegenen Lachen am Hinterkopf.

„Ist mir gar nicht aufgefallen.“

„Weil wir dir das noch nie gesagt haben.“, auch Max konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen, als er an seinem Pappbecher nippte. „Das war schon immer so bei dir. Da bekommt man ein richtig schlechtes Gewissen.“

„Nun hör auf! So schlimm bin ich auch wieder nicht.“

„Nein, du doch nicht.“, seine Stimme triefte vor Sarkasmus. Dann wandte er sich an Ray. „Erinnerst du dich an sein Gesicht als wir die Bladebreakers verlassen haben?“

„Oooh ja.“, ein bedeutungsschweres Nicken kam. „Ein Wunder das wir heute noch befreundet sind. Damals dachte ich das wäre das Aus. So bissig wie Tyson geworden ist.“

„Hey! Das war ja auch ein Schock!“

„Sei nicht beleidigt. Manchmal kommt eben doch der Drache bei dir durch.“, gluckste Max.

„Du meinst weil ich wie Dragoon bin?“

Das hätte er nicht sagen sollen…

Denn gleich darauf nahm Tysons Gesicht wieder ernstere Züge an. Max bekam einen tadelnden Hieb von seinem Nebenmann auf den Hinterkopf. Da sprach Ray auch schon beschwichtigend auf ihn ein: „Vergiss was er gesagt hat! Er kann da gar nicht mitreden. Dragoon hat vielleicht den Körper eines Drachen gehabt, aber bei weitem nicht den edlen Charakter.“

„Was soll das heißen - ich kann da gar nicht mitreden?“, wollte Max wissen.

„Nun zieh nicht so ein Gesicht! Ich meine damit nur, dass jemand der nicht aus der asiatischen Kultur stammt, wenig von der symbolischen Bedeutung eines Drachen weiß. Sie sind eigentlich magische Glücksbringer. Einem Menschen der im Zeichen des Drachen geboren wurde, sagt man viele positive Eigenschaften nach. Beispielsweise Tapferkeit, Ausdauer, viel Optimismus, aber auch Großzügigkeit, Ehrlichkeit und mit zunehmenden Alter auch Weisheit. Viele Paare heiraten bei uns im Jahr des Drachen, weil die Ehe dann unter einem besseren Stern stehen soll. Unser Wirbelwind hat doch wohl bewiesen, dass er viele dieser guten Eigenschaften besitzt.“

Ray klopfte Tyson aufmunternd auf die Schulter.

„Denk nicht einmal daran dass du wie Dragoon bist.“

Doch zu ihrer Überraschung starrte er nur weiterhin nachdenklich in seinen Becher. Seine Brauen waren tief zusammengezogen und Max hatte wirklich Sorge, mit seinem unüberlegten Kommentar, seine Ehre gekränkt zu haben. Um die Wogen zu glätten, flunkerte er: „Ich habe mich vertan. Eigentlich wollte ich etwas anderes sagen…“

„Hast du nicht.“, fuhr Tyson dazwischen. „Du hast ein anderes Bild im Kopf gehabt, oder?“

„Ich weiß nicht was du meinst?“

„Du brauchst nicht zu lügen.“, endlich schaute er auf. „Kenny und ich mussten einmal ein Referat über die USA halten. Ich weiß nicht mehr viel davon. Ehrlich gesagt haben er und Hilary auch die meiste Arbeit gemacht - ich habe mich davor gedrückt. Jedenfalls musste ich einen Abschnitt vortragen, in dem es um die ersten Siedler ging. Er handelte davon, dass viele ursprünglich aus Europa stammen.“

„Ja, ich weiß. Das brauchst du mir nicht erklären, immerhin kommen meine Vorfahren mütterlicherseits aus Schweden. Warum fängst du eigentlich damit an?“

Etwas verständnislos blinzelte Max zu ihm hinüber. Mit diesem Themenwechsel konnte er nichts anfangen, aber er spürte, dass Tyson auf etwas Bestimmtes hinaus wollte. Der setzte sich nun gerade auf und sprach: „Ich habe mal gehört, dass vor allem in westlichen Ländern, Drachen eine ganz andere Bedeutung haben. Ich meine im Gegensatz zu unserer Kultur. Vor allem in Europa.“

Nun wusste er worauf das hinauslief…

Tyson hing noch immer Galuxs lächerlicher Vergleich nach.

„Das ist nur Mythologie.“, versuchte Max auszuweichen. „Blöde Märchen.“

„Sag mir wie ein Drache in Europa gesehen wird. Wie er bei euch in Amerika gesehen wird. Du hast bestimmt genauso viele Sagen gehört, wie wir hierzulande. Du bist aber mit anderen Geschichten großgeworden, oder?“

„Warum willst du das unbedingt wissen?“

„Weil das wichtig für mich ist. Ich kenne nur die asiatische Definition. Jetzt interessiert mich aber was man im Westen denkt. Und zwar nicht diesen abgedrehten Hollywood Kitsch. Ich will wissen, was man sich früher, zu den alten Zeiten erzählt hat. Also woran hast du gedacht, als du gesagt hast, dass der Drache manchmal bei mir durchkommt?“

Max tat einen schweren Atemzug. Etwas hilfesuchend schaute er zu Ray, doch der zuckte nur ratlos mit den Schultern. Er war anders aufgewachsen, kannte nur die Legenden aus China, die einen Drachen viel positiver ausschmückten. Weitaus ehrfürchtiger…

Dieses Thema aufkommen zu lassen, war wirklich nicht seine Absicht gewesen. Max kratzte sich unbeholfen am Nacken und blinzelte Tyson unsicher an.

„Naja, im Westen kommen Drachen…“, er zögerte und suchte die richtige Wortwahl. „Sie kommen nicht ganz so gut weg, wie auf dem asiatischen Kontinent. Eher noch umgekehrt…“

„Du meinst sie sind bösartig?“

„Nach den Erzählungen zu urteilen, ja. Sie werden auch mal gerne als Boten der Hölle interpretiert. Als ich aus den USA nach Japan eingewandert bin, hat es mich ziemlich gewundert, wie unterschiedlich ein Drache hier gedeutet wird. Es gibt bei uns sogar Kirchenbilder, in denen sie von Heiligen erschlagen werden. Die Sagen und Geschichten sind nicht gerade nett. Aber Tyson… Das muss doch nichts mit dir zu tun haben!“

„Kennst du eine Geschichte?“

Max blinzelte verdutzt. Tat er das?

Er begann fieberhaft nachzudenken.

Ein weiterer Blick huschte zu Ray. Der hob aber nur hilflos die Hände.

„Schau nicht so! Ich bin der Letzte der so eine Geschichte kennt…“

Es ließ ihn genervt murren. Nach einer langen Denkpause sprach Max schließlich: „Mir fallen nur wenige Sagen ein. Von den meisten weiß ich gar nicht mehr wie sie genau gehen. Auf die Schnelle fällt mir nur eine ein.“

„Welche?“

„Die um Beowulf…“

„Ist das nicht auch nur ein Film gewesen?“

„Doch schon. Aber als ich ihn gesehen habe, fand ich den Film so genial, dass ich meiner Mutter davon erzählt habe. Die hat sich darüber aber nur geärgert, da er ihrer Meinung nach voller Handlungsfehler war. Sie kannte das Original. Ich habe dann im Internet recherchiert, wie die Geschichte wirklich geht. Das ist aber auch der einzige Grund, weshalb ich davon weiß.“

„Erzähl mir davon.“, bat Tyson. Sein Blick war voller Neugierde, er neigte seinen Kopf etwas vor, lauschte bedächtig. Noch nie hatte Max erlebt, dass er sich so in etwas hineinsteigerte. Dabei wollte er doch dessen Gefühle nicht verletzen. Ein westlicher Drache war alles andere als ein Glücksbringer. Als er Maxs Zögern bemerkte, sprach er: „Egal was du sagst, ich werde nicht böse. Erzähl mir so viel dir einfällt.“

Tyson beugte sich weiter über den Tisch, taxierte ihn abwartend und auch Ray schien aufzuhorchen. Beide erwarteten die Erzählung. Max massierte sich seufzend die Nasenwurzel.

„Lass mich überlegen…“, da er um Tysons Hartnäckigkeit wusste und Ray ihm auch nicht heraushelfen konnte, beschloss er ehrlich zu bleiben. „Ich glaube die Geschichte beginnt mit einem Knecht, der seinen Lehnsherren entlaufen ist. Auf seiner Flucht findet er eine Felshöhle in der ein Lindwurm steckt.“

„Ein Lindwurm?“, fragte Tyson.

„Das ist auch ein Drache. So hat man die damals genannt.“, erklärte Max. „Jedenfalls lag dieser Drache auf einem unermesslichen Schatz. Ganze dreihundert Jahre bewegte er sich nicht vom Fleck, aus Angst, man könnte ihm auch nur einen einzigen Edelstein entwenden.“

„Er war also habgierig?“, kam erneut die Zwischenfrage von Tyson.

„Und wie! Jedenfalls findet der Knecht den Drachen schlafend vor und da er das Leben in der Gefolgschaft seines Herren satt hat, entwendet er eine mit Edelsteinen besetzte Schale und bringt sie seinem Lehnsherren um sich freizukaufen. Der ist mit dieser Gabe besänftigt, vergibt dem Knecht dass er fortgelaufen ist und erklärt sich bereit, ihn fortan aus seinen Diensten zu entlassen. Er ist also endlich ein freier Mann. Der Drache erwacht aber irgendwann in seiner Höhle. Sofort bemerkt er, dass seine Schale entwendet wurde. Er wittert den Geruch eines Menschen, aber der Dieb ist schon längst fort. In seinem Zorn beschließt er deshalb, sich an den Bewohnern der nächsten Stadt zu rächen. Er legt sie in Schutt und Asche, tötet alles Leben und brennt sogar eine Burg bis auf die Mauern nieder.“

„Klingt nach den bösartigen Feuerdrachen, die es auch in Japan gibt. Bei uns sind Drachen aber trotzdem meistens gutartige Wesen.“

„Im Westen ist ein Drache eigentlich immer etwas Böses. Zumindest bevor Hollywood kam. Er speit auch Feuer. So etwas wie einen Meeresdrachen oder Himmelsdrachen gibt es dort nicht. Er ist etwas Düsteres. Viele sahen ihn damals sogar als Dämon. Da kommt auch König Beowulf ins Spiel. Er packt Schwert und Schild, besiegt den Drachen, wird dabei aber tödlich verwundet. Mit seinen letzten Worten befiehlt er, dass der Schatz unter dem Volk aufgeteilt werden soll. Die Menschen trauern um ihren guten König und besingen ihn. Ich glaube in dem letzten Teil sprechen sie sogar davon, dass es niemals mehr einen König wie Beowulf geben wird. Das war so die grobe Zusammenfassung.“

Tyson kratzte sich nachdenklich am Kinn, bis er sich müde über die Augen fuhr. Die dunklen Augenringe waren deutlich erkennbar. Er war schon ewig auf den Beinen und gehörte eigentlich ins Bett. Max hatte ihm bereits gesagt, dass er kein gutes Gefühl dabei hatte, wenn er übermüdet ans Steuer saß. Auf einmal lehnte Tyson sich gähnend zurück und sprach: „Hört sich wirklich nach mir an…“

„Was?!“, kam es zeitgleich von seinen Freunden. Max bereute bereits dass er die Geschichte erzählt hatte. Da ergriff Ray auch schon das Wort.

„Tyson, wir sind deine engsten Freunde. Wenn also jemand dir sagen kann, dass du kein Monstrum bist, dann sind wir es.“

„Ich weiß dass ich kein Monstrum bin. Aber seit wir unsere Bit Beast kennengelernt haben, weiß ich, dass ich das Potenzial dazu hätte. Es ist so wie Allegro gesagt hat - die Seele des Menschen muss zum Bit Beast passen.“

In Max Magengrube zog sich alles zusammen. Ohne es wirklich kontrollieren zu können, entstand ein trotziger Ausdruck auf seinem Gesicht. Er war nicht wie Draciel. Mit diesem Gedanken konnte er sich einfach nicht anfreunden…

„Wisst ihr woran ich jedes Mal denke, wenn ich euch zum Flughafen bringe?“

Auf Tysons Frage schüttelten beide den Kopf.

„An die dritte Weltmeisterschaft.“

Es ließ Max überrascht blinzeln. Er nahm eigentlich an alleine mit diesem Gedanken zu sein. Da trat auch schon ein trauriges Lächeln auf Tysons Gesicht.

„Es ist seltsam, aber damals war der Hype um mich am größten. Womöglich weil niemand glauben konnte, dass ich so einen schweren Gegner wie Brooklyn besiegt habe. Aber ich selbst – ich denke nie gerne an diese Meisterschaft. Sie war eigentlich mein persönlicher Tiefpunkt. Ich habe mich zu Anfang von meiner schlimmsten Seite gezeigt. Am liebsten waren mir die ersten beiden Meisterschaften. Die wo ich euch noch an meiner Seite hatte. Als ihr bei den Bladebreakers ausgestiegen seid, ging aber von Jahr zu Jahr mein Elan flöten. Der einzige Grund, warum ich noch an den Meisterschaften danach teilgenommen habe - das ward ihr. Ich habe mich darauf gefreut meine besten Freunden bei den Turnieren zu sehen…“

Max schaute in seinen Becher. In die dunkle Flüssigkeit darin. Deshalb hatte Tyson also nach seinem Ausstieg aufgehört. Er hätte es noch viel weiter bringen können und wäre der unbesiegte Weltmeister nicht ausgestiegen, wäre die Beybladewelle bestimmt nicht so rasch abgeebbt. Es gab damals noch so viele Blader, die Tyson hatten schlagen wollen. Doch als er sich verabschiedete, kam nichts Gutes mehr hinterher. Der Weltmeister danach wurde ständig mit Tyson verglichen und jeder sprach davon, dass er nur ein Fingerhut seines Talents besaß. Max erinnerte sich, wie der arme Tropf von der Presse förmlich durch den Fleischwolf gedreht wurde. Er bladete nur eine Meisterschaft mit, dann zog er sich auch schon zurück, weil er dem Druck nicht standhielt. Tyson hatte einfach zu viele Fans, die auf dem neuen Weltmeister herumhakten. Der machte ihnen inzwischen ein Geständnis…

„Dieser Drache aus deiner Geschichte – irgendwie verstehe ich ihn. Natürlich war es grausam eine ganze Stadt niederzubrennen wegen einer bescheuerten Schale. Aber andererseits, warum musste dieser Knecht sie ihm überhaupt klauen? Sie hat ihm nicht gehört. Er hat sich einfach daran bedient. Wenn ein Wesen dreihundert Jahre auf einem Schatz hockt, muss es ihm viel bedeuten. Es muss ihm einen Grund gegeben haben zu leben. Genauso war das bei mir, als ich noch Blader war. Ohne euch in meinem Team, gab es keinen Grund mehr weiterzumachen. Und als ihr mir von eurem Ausstieg bei den Bladebreakers erzählt habt, war ich so wütend, ich wollte unbedingt noch einmal Weltmeister werden, um euch eins auszuwischen. Es ging mir nicht mehr um den Spaß – das war Rache die mich angetrieben hat. Deshalb war ich in den ersten Runden auch so schlecht. Ich hatte das falsche Ziel vor Augen.“

Ein trauriger Zug spielte um seine Mundwinkel.

„Ihr habt ja gesehen, wie ich mich damals aufgeführt habe. Opa meinte sogar zu mir, ich würde mich wie ein Ekel benehmen. Ich hätte nicht das Recht meine Freunde als meinen persönlichen Besitz zu beanspruchen und ihnen so die Zukunft zu verbauen, nur weil ich sie ständig um mich haben möchte. Ich müsste lernen eure Entscheidungen zu akzeptieren… Das Menschen nicht mir gehören. Was das angeht bin ich aber wirklich wie ein Drache. Ich hocke auf meinem Goldschatz und gebe nicht ein winziges Bisschen davon ab.“

Ein mitleidiger Ausdruck trat auf Maxs Gesicht. Und als er einen kurzen Blick zu Ray warf, konnte er erkennen, dass es dem ebenso ging. Der schloss irgendwann die Augen und nach einem tiefen Atemzug, sprach er schließlich: „Weißt du Tyson, diese Eigenschaft – du stellst sie vielleicht als Habgier, Neid oder Besitzanspruch dar – aber es muss nicht immer etwas schlechtes sein. Natürlich gab es in der Vergangenheit manchmal Reibereien zwischen uns deshalb. Bei meinem Ausstieg hätte ich dir für deine Beschuldigungen am liebsten den Hals umgedreht! Ich war wirklich sauer auf dich. Ich konnte dich nicht verstehen. Aber nun sieh uns an… Wir sitzen immer noch beisammen. Und was du in den letzten Tagen geleistet hast, dabei hat dir wohl auch diese schlechte Eigenschaft geholfen. Der Drache der auf seinem Goldschatz hockt, ist vielleicht Habgierig, aber er ist auch ein Beschützer. Und das warst du in den letzten Tagen. Ich bin dir dankbar für diesen Schutz. Euch beiden…“

Er schaute Tyson aufmunternd entgegen.

„Ich könnte noch immer in diesem Dschungel festsitzen. Meine Tochter würde ihren Vater nie kennenlernen. Das habe ich auch dir zu verdanken Tyson. Und wenn du mir damals am Flughafen, so ehrlich gesagt hättest, dass du einfach Angst davor hast unsere Freundschaft zu verlieren – dann hätte ich dir sofort die Hand gereicht. Ich hätte dir gesagt das es keinen Grund für diese Angst gibt.“

Tyson atmete lange aus und lächelte müde. Da fügte Ray ganz beiläufig hinzu: „Und ich hätte dir gesagt – sei nicht so eine blöde Memme!“

Sobald seine Mundwinkel steil sanken, begann Ray los zu prusten und auch Max konnte nicht an sich halten. Und als Tyson klar wurde, dass er nur veralbert wurde, rollte er entnervt mit den Augen und lachte mit. Sein geschockter Gesichtsausdruck war so genial gewesen, dass Max noch lange japste. Doch sobald es an ihrem Tisch wieder leiser wurde, hatte auch er eine kleine Erleuchtung erhalten. Womöglich war er wie sein Bit Beast. Womöglich steckte ein kaltblütiges Draciel auch in ihm. Doch wenn Galux in einer Sache Recht gehabt hatte, dann war es, dass Perfektion auch in der Natur nicht existierte. Und wenn er eines von Tyson lernen konnte, dann war es, mit seinen Fehlern ehrlich umzugehen.
 

So schön ihr Beisammensein an diesem Abend auch war, er fand leider auch bald ein Ende. Denn sobald Maxs Flugnummer aufgerufen wurde, war ihnen allen klar, dass dies nun ihr Abschied sein würde. Auch Ray und seine Frau beschlossen, sich auf den Weg zu ihrem Gate zu machen. Als sie sich vor den Sicherheitskontrollen trennen musste, spürte Max ein Prickeln unter seinen Augenlidern, dass er nur mit viel Mühe und Not unterdrücken konnte. Die letzten Tage kamen ihm wie ein böser Alptraum vor und doch hätte er keine besseren Gefährten an seiner Seite haben können. Sie bekamen eine brüderliche Umarmung von Tyson. Sogar Mariah, obwohl die kichern musste, weil er mit seinen Armen nicht mehr um ihren runden Babybauch herumkam. Ihrem Bit Beast gestand Tyson jedoch ein besonderes Maß des Respekts zu. Er verbeugte sich vor Galux.

„Danke für alles. Bitte pass auch weiterhin auf meine Freunde auf.“

Und obwohl sie nach ihrem tadelnden Vortrag im Wagen, recht unterkühlt gewirkt hatte, schien Galux mit dieser ehrfürchtigen Geste milder gestimmt. Max hätte schwören können, ein wohlwollendes Nicken zu sehen, ein wissendes Lächeln zu erhaschen - falls das bei einer Katze überhaupt möglich war.

Tyson stand noch eine ganze Weile nach ihrem Abschied hinter der Absperrung der Sicherheitskontrollen, die Hände in seiner ledernen Jackentasche vergraben und schaute ihnen hinterher. Das tat er immer wenn sie gingen. Und einmal mehr dachte Max daran, wie sie sich kurz vor der dritten Weltmeisterschaft, an diesem Flughafen getrennt hatten. Etwas würde sich wohl nie ändern…

Der bedrückte Ausdruck in Tysons Augen und das beklommene Gefühl in Maxs Magen, weil es ihm vorkam, einen Bruder zurückzulassen. Doch dann fiel ihm die Geschichte seiner Mutter wieder ein. Er war sich sicher, dass ein roter Faden, auch zu diesem Menschen führte. Und als sie alle zum letzten Mal die Hand zum Gruß hoben, erwiderte Tyson die Geste mit einem Lächeln.
 


 

*
 

Cousine Mimi hielt sich recht wacker, auch wenn Allegro zugeben musste, dass sie ein ziemlich furchtsames Mäuschen war. Wann immer es irgendwo knackte oder knarzte, wurde sie zu einem kleinen Blitz und verflüchtigte sich hinter einem Busch. Erst viele ermunternde Worte lockten sie dann aus ihrer Deckung hervor. Die Elite Bit Beast für ihre Mission zu begeistern, gestaltete sich schwieriger als Allegro erwartet hatte. Einigen von ihnen konnte man nämlich genau ansehen, was sie dachten, sobald sie die beiden Strommäuse erblickten: „Futter!“

Dann hieß es so schnell zu laufen, wie einen die kurzen Beinchen trugen. In solchen Momenten konnte er Cousine Mimis Furcht nur allzu gut nachempfinden. Ihr Resümee sah auch bisher so aus, dass sie acht Elite Bit Beasts sofort überzeugen konnten, aber doppelt so viele erst einmal nach ihnen schnappten. Einer hatte Allegro sogar schon im Maul gehabt. Er hatte sich mit all seiner Kraft, gegen den sich zu klaffenden Kiefer gestemmt und einen geradezu sprudelnden Vortrag darüber gehalten, weswegen er eigentlich hier war. Glücklicherweise hörte Galeon noch nebenbei zu, spuckte ihn kurz darauf aus und entschuldigte sich sogar dafür, dass er Dragoons Boten einfach so verspeisen wollte. Allegro hatte es mit Humor genommen und dem schwarzen, löwenartigen Bit Beast versichert, den Vorfall als ungeschehen zu betrachten, auch wenn er gleich darauf in der nächsten Pfütze ein Bad nehmen musste, um sich von all dem Speichel zu befreien. Cousine Mimi bewunderte voller Ehrfurcht seinen Einsatz, obwohl er selbst auf solche Bekanntschaften verzichten könnte. Sobald sie Galeon erklärten, welch große Gefahr auf sie zukam, hatte der erhabene Löwe geduldig jedem seiner Worte gelauscht.

„Dann hat mich mein Gefühl nicht getäuscht. Vor wenigen Stunden war mir, als könne ich meinen Herren nicht mehr spüren. Die Natur scheint in Ungleichgewicht geraten zu sein.“

Er war Driger untergeordnet und bezog seine Energie von ihm und Allegro legte im nahe, mit seiner Kraft wirklich sparsam umzugehen.

„Wir müssen die Weltenbaumzwillinge so lange entlasten, bis die neuen Uralten geboren sind.“

„Wie lange wird das dauern?“

„Ich weiß es nicht. Doch wir müssen unser möglichstes tun, um diese Zeit zu überbrücken.“

Galeon hatte ernst genickt und war auch sofort zur Tat geschritten. Er entpuppte sich als vorrauschauender Helfer. Zwar konnte er ihnen nicht zugestehen, sie bei ihrer eigenen Mission zu unterstützen – immerhin musste er sich sofort den wichtigsten Prioritäten zuwenden – doch da das nächste Bit Beast auf seinem Weg lag, nahm er die beiden Mäuse auf seiner stattlichen Haarmähne mit. Mimi war total aus dem Häuschen gewesen…

Noch nie durfte sie einem ihrer natürlichen Fressfeinde so nah sein, ohne Furcht haben zu müssen, in einem Happs verschlungen zu werden und Allegro war doch verwundert, wie gutmütig der Löwe wurde, sobald er erfuhr, in welch nobler Sache sie unterwegs waren.

„Ich nahm immer an Mäuse wären feige und zu nichts nutze.“

„Hoho! Falsch gedacht!“, hatte Allegro von seinem Rücken aus gerufen. „Das sind wir ganz und gar nicht!“

„Sind wir nicht?“, fragte Mimi hinter ihm recht naiv, während sie sich in der Mähne festkrallte.

„Shh Cousine! Du bringst uns in Verruf!“

„Verzeihung. Es ist nur, ich habe eigentlich doch etwas Furcht.“

Zu ihrer Verwunderung gab Galeon ein tiefes Brummen von sich, was an ein dunkles Lachen erinnerte. Ihn schien Mimis offenkundige Angst zu amüsieren.

„Nun, kleines Mäusemädchen… Auf meinen Reisen in die Menschenwelt, durfte ich in den Genuss einiger ihrer Weisheiten kommen. Diese Lebewesen sind voll von falschen Behauptungen, doch manchmal, da finden auch sie die rechten Worte für eine Situation. In deinem Fall würde sie wohl sagen - Beherzt ist nicht, wer keine Angst kennt, beherzt ist, wer die Angst kennt und sie überwindet.“

„Du liebe Güte. Was für wunderschöne Worte!“, Cousine Mimi war hingerissen.

„Nun, diese Weisheit ist nicht mein Verdienst.“, gestand Galeon bescheiden ein.

„Aber ihr habt sie wirklich majestätisch vorgetragen.“

„Nun sieh einer an. Eine Liebhaberin schöner Verse und das ausgerechnet, unter der Mäusesippschaft?“

Allegro hob die winzige Braue und begann in der Luft zu wittern.

„Eine Liebhaberin ist wohl zu viel gesagt, aber das hat selbst mein Herz ermutigt. Mein Cousin hier musste mir vier Haselnüsse versprechen, damit ich mich an dieser Aufgabe beteilige. Und da meine kleinen Geschwister stets hungrige Mägen haben, bin ich mitgekommen. Ich bin eigentlich nicht tapfer.“

„Wie bekümmert das klingt. Da tut es mir um jede Maus leid, die ich verspeist habe.“

Allegro legte das Köpfchen nachdenklich zur Seite.

„Oh weh… Ich wäre ihnen dankbar, wenn sie das in Zukunft lassen könnten, Herr Galeon. Ich habe schon zu viele Angehörige meiner Verwandtschaft ins Mäusegrab getragen. Könnten sie nicht auf Fisch umsteigen?“

„Na, wenn ich so lieb darum gebeten werde, kann ich wohl kaum Nein sagen.“

„Das ist wirklich sehr edel von ihnen. Danke schön!“, freute sich Mimi.

„Ihr seid ein sehr liebreizendes Mäuschen. Wisst ihr das eigentlich?“

„Du liebe Güte! Ich funkle schon ganz rot…“

Es klang als würde Galeon amüsiert glucksen, während Mimi tatsächlich einige Sternchen aus den Ohren stoben. Sie waren grell pink…

Inzwischen kratzte sich Allegro am Kinn.

„Ich bin mir nicht sicher ob es dasselbe ist, aber ich glaube das was ihr beiden hier macht, nennt man in der Menschenwelt flirten.“, sprach er verwundert. „Eine hochinteressante Wendung!“

„Was ist flirten?“, wollte Mimi arglos wissen.

„Das entzieht sich leider auch meinem Verständnis. Ich weiß noch nicht, ob es dasselbe wie necken ist. Aber ich habe vor, eingehende Forschungen über das menschliche Sozialverhalten einzuholen, sobald die derzeitigen Unruhen vorüber sind.“

Und da ihre Reise ohnehin kurz darauf ein Ende fand, mussten sie sich von Galeon verabschieden. Seine Cousine winkte dem stattlichen Löwen mit einer Gänseblümchenblüte nach und bedankte sich dafür, dass er sie nicht gefressen hatte. Gleich darauf begaben sich die beiden Mäuse weiter auf ihren Weg. Sie überwanden auf schwankenden Blumenstielen Bäche, die für sie wie reißende Flüsse wirkten, kraxelten an umgekippten Baumstämmen hinauf, welche aus der Sicht einer Maus, etwas von einer Bergkette hatten und erreichten irgendwann inmitten einer Lichtung, eine riesige schnarchende Gestalt. Das Bit Beast was da schlief hieß Galzzly und war unter seinesgleichen für seine Trägheit bekannt, allerdings hatte das seinen guten Grund. Seine Träume wurden nämlich zu Altocumuli, oder vereinfacht gesagt zu Schäfchenwolken. Und da diese einen bedeuteten Anteil zum Regen beitrugen, war dieses Bit Beast nach Draciels Ableben unverzichtbar für ihre Mission.

Leider gab es da ein Problem…

Galzzly war so faul dass es seinen Aufgaben nur mit viel Mühe und Not hinterherkam. Deshalb gab es auch auf der Erde viele Regionen, die über weite Phasen an einer Dürre litten. Allerdings musste man fairerweise sagen, dass er nicht wirklich etwas für seine Trägheit konnte. Dadurch dass er nämlich träumen musste, um seine Wolken zu erzeugen, gestaltete es sich schwierig für den Bären, weite Strecken zurückzulegen, ohne ein Nickerchen einlegen zu müssen. Glücklicherweise war er nur für eine Wolkenart zuständig, hätte er nämlich noch andere Typen erträumen müssen, wäre die Welt wohl um einiges trockener. Allerdings gehörte für Niederschlag noch einiges mehr dazu. So musste Galzzly sehr eng mit Seaborg zusammenarbeiten. Dieses Bit Beast hatte die Gestalt eines gigantischen Pottwals, dessen Rücken golden schimmerte. Seine Aufgabe war es den Wolken das Wasser für den Regen zu spenden. Dazu schoss es die gewünschte Menge durch sein Blasloch hinaus in den Himmel, bis das Wasser die Wolke erreichte. Das war eine äußerst schwierige Aufgabe, die viel Präzision bedurfte, denn Seaborg musste genau acht geben, wie viel er in den Himmel spie und es gelang dem Bit Beast auch nicht immer wirklich gut, dann kam es gleich wieder zu heftigen Überschwemmungen. Gemeinsam hatten alle Strommäuse mittlerweile erreicht, dass der Schneefall in der Menschenwelt nachließ. Nun wollten sie etwas gegen den ständigen Regen mancherorts unternehmen. Er musste endlich umgeleitet werden, in eine Region, die nicht so viel Wasser hatte. Cousine Mimi blieb wie angewurzelt stehen, als sie den großen, schnarchenden Hügel vor sich erblickte.

„Du liebe Güte! Der sieht aber grimmig aus!“, sie umgriff furchtsam ihren Schweif und strich über den Ansatz ihres Fellbüschels, wie ein kleines Menschenkind, was seinen Teddybären fester an sich drückte, wenn es Angst hatte. Dann machte sie aber große Augen, als sie die kleine, unfertige Wolke über dem Bit Beast erblickte. „Uh! Schau doch mal, Cousin. Da oben!“

„Deshalb sind wir hier. Diesen wohlgenährten Herrn müssen wir nun wachbekommen. Er erzeugt viel zu viele Regenwolken und das am völlig falschen Fleck. Dragoon hat keine Zeit, um die Wolken an den richtigen Ort zu pusten und seine Untergebenen kommen ohne ihn kaum nach. Also müssen wir nun helfend unter die Arme greifen und das ganze in seiner Abwesenheit koordinieren.“

„Aber sein Maul ist so groß. Sieh dir nur diesen gewaltigen Kiefer an!“

Mimis dunkle Knopfaugen verfolgten voller Ehrfurcht die Bewegungen des riesigen Gebiss, dass bei jedem Schnarchlaut weit aufklappte.

„Dasselbe hast du auch bei Galeon gesagt.“

„Und du bist in seinem Maul gelandet!“

„Niemand hat gesagt dass es nicht zu Kommunikationsschwierigkeiten kommen könnte.“, Allegro reckte tapfer die Brust. „Von so etwas dürfen wir uns keinesfalls einschüchtern lassen! Es gilt nun diplomatisches Geschick zu beweisen.“

„Oje… Mir schwant furchtbar Böses.“

„Aber Cousine Mimi, ich bitte doch um etwas mehr Optimismus.“, er tätschelte aufmuntert die Hand der Mäusedame, bevor er sich dem riesigen Bären näherte. Galzzly besaß ein nachtblaues Fell, was ihm ziemlich zerstreut in alle Richtungen schaute. Allegro bemerkte, dass er sich wohl auf dem Boden gewälzt hatte, um sein Schlaflager bequemer zu gestalten, denn überall waren tiefe Druckspuren von seinen Pranken auf dem Gras. Er wollte gar nicht wissen, wie schwer dieser Koloss war. Behutsam begab sich der Mäuserich auf den Weg zum Kopf des Bären. Er kraxelte an dem massigen Bauch hoch und musste dem Riesen dabei ein unangenehmes Jucken bescheren, denn manchmal holte Galzzly mit der Tatze aus, um sich im Halbschlaf zu kratzen. Es galt also wachsam zu bleiben…

Auf dem Kopf des Bit Beasts angelangt, hielt sich Allegro am runden, abstehenden Ohr fest und rief hinein: „Pardon mein Herr, aber sie müssen nun dringend erwachen! Ihre Dienste werden an einem anderen Ort benötigt!“

Doch es kam keine Regung.

Lediglich ein lautes Schmatzen war die Antwort.

„Monsieur! Bitte aufwachen!“

Er klopfte fordernd mit dem Hinterlauf auf die Fellschicht unter ihm. Galzzly gab ein lautes Gähnen von sich, was seinen Kiefer sperrangelweit aufriss. Von unterhalb hörte Allegro seine Cousine ein ängstliches „Du liebe Güte!“ fiepen. Doch so oft er auch in die Ohrmuschel hineinrief, ja, sogar brüllte, der Fettwanst wollte sich einfach nicht von der Stelle bewegen. Also kraxelte Allegro zu einem der gewaltigen Augenlider und versuchte es aufzuklappen.

Ein Fehler wie sich kurz darauf herausstellte…

Denn das bemerkte jeder Schlafende – und es war wohl ziemlich unangenehm! Während Allegro das eine Augenlid noch öffnete, kam ein dunkles Knurren von dem Bären. Da drehte sich die dunkle Pupille auch schon zu ihm. Er fühlte dass das gewaltige Augenlid in seinem Griff blinzeln wollte.

„Was fällt dir ein, du Ungeziefer!“

Galzzly holte aus, doch Allegro tat einen beherzten Sprung und hüpfte vom dessen Gesicht, da schlug sich der Bär selbst auf die Schnauze. Er begann laut zu jaulen – aber er war endlich hellwach. Allerdings auch ziemlich wütend…

Schwerfällig rollte er sich auf den Bauch und stemmte sich auf die Hinterbeine. Da brüllte der Bär auch schon aus voller Kehle los. Als die beiden Strommäuse kurz darauf wieder um ihr Leben rannten – nicht ohne das Cousine Mimi ihm Vorwürfe á la „Ich hab’s dir ja gesagt“ machte – hoffte Allegro inständig, dass dieser ganze Ärger die Mühe auch wert war.

Was beide Mäuschen allerdings zu dieser Zeit noch nicht wussten war, dass durch Galeons Einsatz, irgendwo in der Menschenwelt, immerhin eines von vielen Erdbeben verhindert wurde. Nur leider waren sie an diesem Tag noch öfters damit beschäftigt, um ihr Leben zu laufen, sodass sie sich nicht an ihrem Erfolg erfreuen konnten.
 


 

*
 

Eine seltsame Rastlosigkeit hielt Tyson gepackt. Er wusste gar nicht warum. Etwas fühlte sich bei diesem Abschied anders an. Es war nichts neues das er traurig war, wenn Max und Ray Heim flogen. Es war auch mittlerweile vollkommen normal, dass er während der Fahrt mit der Rolltreppe hinab versuchte, sich selbst zu motivieren, indem er sich einredete, dass ihr nächstes Treffen bald wieder in Aussicht stand. Als er das Parkhaus durchquerte, sein Ticket einlöste und sich auf den Fahrersitz seines Wagens gleiten ließ, fiel ihm endlich auf, was ihn so beschäftigte. Sein seltsamer Traum war ihm wieder in den Sinn gekommen…

Es war in jenem Moment passiert, als die Gruppe hinter der nächsten Ecke entschwand und Ray ihm noch kurz zuvor zurief, dass sie sich melden würden, sobald sie gelandet waren. Für eine winzige Sekunde dachte Tyson: „Das wird nicht passieren.“

Ihm war das Foto in den Sinn gekommen, mit den Sprüngen auf der Glasscheibe, die sich über die Gesichter seine Freunde legten. Er wusste nicht woher dieser furchtbare Gedanke so plötzlich herkam. Dann hatte er den Kopf über sich selbst geschüttelt. Er schob diese übertriebene Sorge auf die letzten Tage. Diese ständige Alarmbereitschaft musste ihm bis in die Menschenwelt gefolgt sein, was ja auch kaum verwunderlich war, wenn man bedachte, in welcher gefährlichen Situation sie gesteckt hatten. Allein die Bekanntschaft mit Zeus war erschreckend gewesen. Es fröstelte ihn noch immer wenn er an die giftgrün sprühenden Augen dachte. Tyson hatte einmal von posttraumatischem Stress gehört.

Ob das bei ihm der Fall war?

Jetzt fiel ihm auch auf, dass sie die ganze Zeit, während sie in der Bäckerei saßen, kein einziges Wort über die Irrlichterwelt verloren hatten. Sie sprachen über die Symbolik von Drachen, aber was auf der anderen Seite mit ihnen passiert war, schien keiner von ihnen vertiefen wollen. Als würden sie ihre Erlebnisse ausblenden. Außerdem waren sie schreckhafter geworden. Während sie zusammensaßen, war einem Reisenden der Gepäckwagen entglitten. Er rollte gegen einen anderen und verursachte ziemlich viel Radau, als die Koffer auf dem Boden landeten. Ihre Köpfe hatten sich alarmiert umgewandt und Max war sogar aufgesprungen. Erst danach wurde ihnen klar, wie heftig sie reagierten.

Tyson fragte sich, ob Ray jemals mit Mariah über die Irrlichterwelt reden würde. Noch während der Autofahrt, hakte sie mehrmals nach, doch er hatte unwillig gebrummt und niemand anderes im Wagen, wollte ihr Rede und Antwort stehen. Er selbst hatte auch keine Muße seinem Großvater davon zu erzählen. Das Einzige was Mariah aus ihrem Mann herauskitzeln konnte, war das Versprechen, mit ihr eine Eheberatung zu machen. Sie hatte die Befürchtung geäußert, dass ihre Probleme nur in den Hintergrund gerutscht waren, aber noch irgendwo unter der Oberfläche lauerten, daher wollte sie unbedingt an ihrer Beziehung arbeiten. Ray hatte lange über ihren Vorschlag nachgedacht und ein Blick nach vorne zu seinen Freunden verriet, dass er Angst hatte, sein Gesicht vor ihnen zu verlieren. Doch als Max meinte, dass sich das wirklich nach einer guten Idee anhöre, schien er beruhigt. Auch Ray besaß viel Stolz und der stand ihm manchmal im Weg.

Mit diesem Gedanken legte Tyson den Rückwärtsgang ein und fuhr aus der Parklücke hinaus. Seine Freunde schienen alle Pläne für die Zukunft zu schmieden.

Ray wollte wieder für seine Familie da sein. Max konnte sich nun vorstellen eine zu gründen. Früher hatte er immer gesagt, dass dafür noch genug Zeit blieb…

Als Tyson an der Ausfahrtsschranke hielt, um das Ticket in den Automaten zu schieben, ging ihm durch den Kopf, was er mit sich anfangen wollte. Er dachte an Kai. Falls tatsächlich mehr aus ihnen werden sollte – und das hoffte Tyson mit jeder Faser seines Herzens – würden sie auf Stolpersteine treffen. Wie würde ihr Umfeld reagieren?

Wollte Kai überhaupt dass jemand davon erfuhr? Wollte er das selbst?

Tyson war kein naiver Junge mehr. Er ahnte dass sie auf Ablehnung stoßen würden und hoffte inständig, es möge nicht in ihrem direkten Freundeskreis passieren. Sobald aber die Schranke zur Seite klappte, tat er eine unwirsche Handbewegung, um den Gedanken zu verscheuchen. Er machte sich sorgen um ungelegte Eier. Zunächst einmal galt es Kai für sich zu gewinnen. Das war das Einzige, indem Tyson sich momentan sicher war, dass er es wirklich wollte. Draußen im Freien stellte er zunächst erfreut fest, dass der heftige Platzregen einem sanften Nieselregen gewichen war. Immerhin…

Ihn beschlich das Gefühl, dass das Ableben der Uralten nicht halb so schlimm war, wie er befürchtet hatte. Wenn diese Befürchtung schon nicht eintraf, würden Ray und Max bestimmt auch sicher landen. Ersterer müsste sich eigentlich schon in vier bis fünf Stunden melden. Tyson hatte ihm gesagt, Ray solle sofort anrufen, egal ob er ihn weckte. Maxs Flug würde einiges länger dauern. Ganze zwölf Stunden musste er in der Luft verbringen und das war noch optimistisch gedacht, weil es eine Zwischenlandung gab.

Als Tyson die Ausfahrt langsam Richtung Schnellstraße hinausrollte, senkte er das Fenster auf seiner Seite, um etwas kühle Nachtluft in den Wagen zu lassen. Es machte ihn augenblicklich wacher und tat unglaublich gut. Er liebte es bei heruntergelassenen Fenstern durch die Stadt zu rasen, vor allem wenn er allein war und sich niemand über seinen Fahrstil beklagen konnte. Er wartete gerade auf eine Gelegenheit sich in den Verkehr einzufädeln, da öffnete sich die Tür auf der Beifahrerseite und jemand nahm Platz.

„Was zum Teufel?!“

Tyson schrak zurück. Das Auto würgte stöhnend ab. Mit aufgerissenen Augen bedachte er die Person zu seiner Seite, denn sofort hatte er Dragoon erkannt. Allein der Stummel wo sein Arm gewesen war, verriet ihn in seiner menschlichen Gestalt.

„Du?!“, fauchte er aufgebracht los.

„Wie er leibt und lebt, Junge.“

„Raus aus meinen Wagen!“

Dragoon wollte etwas erwidern, doch da drückte Tyson schon seinen Rücken gegen die Fahrertür, um besser die Füße heben zu können. Gleich darauf trat er zu. Immer wieder, während er sein Bit Beast beschimpfte. Der Wagen ruckelte unter den hektischen Bewegungen. Sein Nebenmann kam einige Male in den Geschmack seiner Schuhsolen, doch so richtig zu jucken schien es ihn nicht. Aber es störte ihn zumindest - und das war schon eine ungemeine Befriedigung für Tyson.

„Hörst du wohl auf mir deine Füße ins Maul zu schieben?!“

„RAUS!“, brüllte er ihn nur weiter an.

„Das ist ekelhaft!“

„Verschwinde aus meinem Wagen!“

„Nun beruhige dich doch erst einmal, du hysterischer Idiot!“

Das war zu viel!

Nach allem was dieser Mistkerl ihnen angetan hatte, wurde er auch noch als hysterisch hingestellt? Tyson senkte die Füße und nahm nun Gebrauch von seiner Faust. Er schlug zu. Mit aller Kraft. Doch es fühlte sich an, als würden seine Finger auf Granit treffen und schon kurz darauf jaulte er los. Dragoons Kopf klappte nicht einmal zur Seite und als Tyson die schmerzende Faust rieb, seinem früheren Partner einen düsteren Blick zuwarf, erhaschte er ein leuchtendes Schuppenmuster unter dessen Hautschicht. Sein Nebenmann hob mit einem triumphierenden Lächeln das Kinn und gab ein kindisches „Ha ha!“ von sich.

Er schnaubte wütend.

„Scheiß auf das Auto!“

Und das obwohl Tyson diesen Wagen wirklich liebte.

Dennoch stieß er die Tür auf und ließ Dragoon alleine darin zurück. Der starrte ihm verdutzt hinterher. Dann versuchte auch er wieder auszusteigen, was ihm nur umständlich gelang, weil der verbliebene Arm auf der anderen Körperhälfte lag. Er nestelte an dem Hebel herum, offenbar leicht überfordert mit menschlicher Technik, während Tyson die Beine in die Hand nahm und rannte was das Zeug hielt. Der Fahrer hinter seinem Wagen begann zu hupen, als er ihn wie einen Irren davonhechten sah, während sein Auto doch die Ausfahrt blockierte. Da hörte Tyson hinter sich, wie es Dragoon mit einem beherzten Tritt gelang, die Tür aus den Angeln zu kicken. Das Blech rauschte wenige Meter an ihm vorbei und schoss mit ganzer Wucht, in den Kofferraum eines geparkten Taxis, dessen Scheiben geräuschvoll dabei zersprangen. Die Alarmanlage heulte los. Ihre Lämpchen blinkten in der Finsternis fröhlich vor sich her und zogen die Blicke sämtlicher Passanten auf sich.

Und auch Tyson zögerte einen Moment, schaute wie verdattert auf diese Zerstörungswut, vor allem da ihm auffiel, dass der Besitzer des Blechhaufens gerade von der Bäckerei zurückkam. Der blieb wie angewurzelt auf dem Gehweg stehen, mit seinem Kaffeebecher in der Hand und starrte auf den Anblick. Der Mann blinzelte, bemerkte was für ein Wahnsinns Glück er gehabt hatte, nicht in dem demolierten Wagen gesessen zu haben, dann drehte er sich um und sprach davon, dass das Leben zu kurz für diesen „Scheißjob“ sei und rannte davon. Dagegen reagierte Tysons Hintermann nicht so gelassen. Der legte panisch den Rückwärtsgang ein, als er Dragoon aussteigen sah und verschwand wieder im Parkhaus, wo er nach dem lauten Knall kurz darauf zu urteilen, auf einen anderen Wagen traf. Was für ein Chaos…

„Hiergeblieben!“, bellte Dragoon über den Platz.

„Von wegen!“

„Ich warne dich!“

Tyson präsentierte ihm den Mittelfinger, bevor er auch schon wieder losrannte. Doch da fiel sein Verfolger quasi vom Himmel herab. Er landete direkt vor seiner Nase und bevor er reagieren konnte, streckte ihm Dragoon die Faust entgegen. Tyson bekam einen Hieb direkt in die Magenkuhle. Beinahe hätte er sich übergeben, so übel war der Schlag. Einen Moment wurde ihm Schwarz vor Augen, bevor ihn der Hieb auf den Rücken verfrachtete.

„Ich bin vielleicht nicht von hier, aber diese Geste kenne ich auch!“, hörte er Dragoon sagen. Der schaute mit überlegen erhobener Braue ernst auf Tyson herab, der förmlich nach Luft japste. Seine Lunge fühlte sich an als würde sie gleich bersten. Er drehte sich auf die Seite und hielt sich den Magen. Aus seinem Mund kamen erstickte Laute. Inzwischen beugte sich Dragoon zu ihm herab.

„Mir ist klar dass ich der Letzte bin den du sehen möchtest.“

Das hätte ihm Tyson auch sofort bestätigt, würde er nicht noch immer gegen den Erstickungstod ankämpfen. Ihm pochte das Blut hart gegen die Schläfe und seine Wangen brannten förmlich.

„Ich gebe zu, der Hieb war etwas rabiat.“, sprach Dragoon seufzend. „Aber du hast mir wenig Alternativen gelassen.“

„Leck mich!“, es waren die ersten Worte für die er genügend Luft bekam. Und gleich darauf wurde er mit einem ungesunden Husten gestraft, das aus den Tiefen seiner Lunge entsprang.

„Sturer Bock.“, schmunzelte Dragoon über seine derbe Wortwahl. Doch gleich danach wurde er wieder ernster. „Takao, wo hast du deinen kleinen Freund hingebracht?“

„W- Welchen?“, keuchte er.

„Dranzers Menschenkind.“

„Das sag ich dir doch nicht!“

„Du weißt dass ich die Mittel habe dich zum Reden zu bringen.“

Das fiel Tyson nun auch wieder ein. Bei ihrer letzten Unterhaltung hatte Dragoon ihm einfach einen Befehl in den Kopf geweht. Er konnte gar nicht anders als ihn zu befolgen, selbst als er ihm das Atmen untersagte. Tyson drehte sich auf den Bauch und hob sich stöhnend auf die Knie. Er fragte sich, ob es etwas half, wenn er sich die Ohren zuhielt.

„Nein, tut es nicht.“, beantwortete Dragoon seine Frage.

„Arsch!“

„Das werde ich mal überhören. Allerdings nur weil ich nicht unschuldig an deiner Meinung von mir bin.“

Tysons Gehirn begann auf Hochtouren zu arbeiten. Er hatte den Herrn der Winde vor sich. Alles was mit Luft zu tun hatte kontrollierte Dragoon. Also hielt er den Atem an.

„Erstaunlich! Der erste Mensch der das so schnell erkannt hat. Du bist eben doch mein Spiegelbild. Wir denken in ähnlichen Bahnen.“, es klang als habe er ins Schwarze getroffen. Das ihm anerkennend auf die Schulter geklopft wurde, empfand Tyson jedoch als blanken Hohn. „Aber lange wirst du das nicht aushalten. Das wissen wir beide.“

Versuchen musste er es aber.

„Ich meine es dieses Mal gut, Takao. Du musst mir wirklich sagen wo sich Kai befindet. Seine Schwester und er sind in Gefahr.“

„Klar sind sie das! Weil du hier bist!“, entfuhr es ihm trotzig. Gleich danach schnappte er nach Luft, was Dragoon bedauernd schnalzen ließ.

„Okay, du bist misstrauisch. Aber dieses Mal ist es mir ernst.“

Tyson rollte mit den Augen. Sein ungläubiger Ausdruck blieb nicht unbemerkt.

„Ich habe mich wirklich geändert.“

„Erzähl das jemand anderem!“

„Ist er im Dojo?“

Er hielt die Luft an, stierte ihn finster entgegen.

„Bei allen Gestirnen - ich habe keine Zeit ihn auf gut Glück zu suchen! Es zählt jetzt jede Sekunde, Junge!“

„Wer ist nun hysterisch?“, diesen fiesen Kommentar konnte er sich einfach nicht verkneifen und da wurde Dragoons Gesicht auch schon zorniger. Es tat verdammt gut sich überlegen zu fühlen.

„Du hast doch gar keine Ahnung! Diese Welt ist in ernster Gefahr! Du musst mich zu Kai führen! Durch ihn kann ich Dranzer viel schneller aus ihrer Deckung locken! Sonst bin ich gezwungen sie durch die ganze Stadt zu suchen! Das kann ewig dauern!“

Es traf ihn wie einen Blitz. Er wollte Kai als Köder missbrauchen…

Plötzlich schmerzte sein Magen vor purem Zorn. Sämtliche Muskeln spannten sich in seinem Körper an. Es fühlte sich wie ein Kessel an, der überquoll und in die Luft flog.

Niemand durfte Kai anfassen. Niemand!

Der Gedanke war wie ein Schalter der in Tysons Kopf umklappte. Er hatte keine Ahnung woher er die Kraft hernahm, doch in jenem Moment brach ein Monster in ihm aus. Er verpasste Dragoon einen harten Tritt gegen den Kiefer, der sich gewaschen hatte. Tyson fühlte nicht einmal den Schmerz der seinen Knöchel hochjagte, als hätte ihn seine Wut komplett von seinem Nervensystem abgeschnürt. Als wäre er in einer blinden Raserei…

Tyson hopste auf, sah Dragoon wie durch einen Tunnelblick. Diese potenzielle Gefahrenquelle die es wagte, einen jener Menschen als Lockmittel zu verwenden, der ihm mehr bedeutete als sein eigenes Leben. Er bemerkte nicht dessen Verblüffung.

Bemerkte nicht seine in Erstaunen geweiteten Augen…

Alles was Tyson sah, war, dass Dragoons Kopf durch den Tritt zur Seite klappte und er endlich fiel. Endlich fiel der selbsternannte König! Und er stürzte sich auf ihn wie ein Raubtier auf seine Beute. Er schlug zu. Immer wieder, immer wieder!

Es war wie ein Damm der brach. All der Frust der letzten Tage entlud sich.

Direkt in dessen Gesicht. Vor seinen Augen sah er die Drachenschuppen glimmen. Bei jedem Hieb drückte sich das Muster durch die Haut. Irgendwann bildete sich eine rötliche Schmierschicht auf Dragoons Wange. Tyson spürte gar nicht, dass es von seinem eigenen Fingern war. Das seine Knöchel bei jedem weiteren Schlag blutig aufplatzten.

Alles was er tat war brüllen. Seinen ganzen Zorn.

Er schrie Dragoon entgegen, Kai in Ruhe zu lassen.

Er schrie ihm entgegen, ihm nie wieder unter die Augen zu kommen.

Er brüllte dass es ihm scheiß egal war, welche Probleme Dragoon mit Dranzer hatte.

„Klär deine Probleme gefälligst selber! Wir beide sind geschiedene Leute!“

Es war das Letzte was er sagte, bevor das Sicherheitspersonal des Flughafens ihn fortzog. Seine Augen waren wütend zusammengezogen, die Schläfe pochte ihm hart gegen die Seite, er fauchte und spie Flüche wie ein tollwütiges Tier. Ein Menschenpulk hatte sich um ihn herum gebildet.

„Du kommst jetzt schön mit, Freundchen!“

Tyson schnaubte aufgebracht. Nun hatte er schon wieder Probleme mit der Polizei!

Inspektor Kato würde sich bestimmt wundern, wie schnell er wieder in der Zelle saß. Da fiel Tyson ein kleiner Junge in der Menge ins Auge. Er klammerte sich an das Bein seines Vaters und wimmerte, offenbar eingeschüchtert von dem Anblick den er bot. Erst jetzt fielen ihm seine blutbefleckten Fäuste auf. Er sah in die unschuldigen Augen des Jungen. Sie schwammen in Tränen. Das Kind erinnerte ihn an Kai. So hatte er auch immer geschaut, wenn er sich fürchtete. Seine großen Augen blickten dann genauso eingeschüchtert drein.

Tyson sah an sich herunter. Sein Oberteil hatte Blutspritzer abbekommen. Seine Finger schmerzten, übersät von aufgeplatzten Wunden.

Er musste furchterregend aussehen…

Der uniformierte Mann, der ihn am Arm gepackt hielt, schleifte ihn weg und als sich die Menge um Dragoon drängte, hörte Tyson ihn tatsächlich lachen. Seine Hände bluteten, brannten förmlich vor Schmerz, er hatte alle Kraft in seine Hiebe gesetzt – und doch lachte dieser Mistkerl nur über seine Mühe. Das war so unfair! Am liebsten wäre Tyson zurückgerannt, um zu Ende zu bringen, was er angefangen hatte.

Doch auf einmal ging alles rasend schnell…

Ohne es wirklich zu bemerken, hatte sich hinter ihrer aller Rücken eine andere Menschenmenge dazugesellt. Es waren komische Gestalten. Sie liefen mit schleichenden Schritten umher und griffen wahllos die Passanten auf dem Gehweg an. Verdutzt beobachte Tyson, wie eine alte Frau attackiert wurde. Ihre kränkliche Stimme rief um Hilfe.

Der Beamte neben ihm schaute unschlüssig umher, bis er entschied, dass seine Prioritäten sich soeben geändert hatten. Obwohl er sich bewusst war, dass sein Gefangener bestimmt türmen würde, entließ er seinen Arm, um der Frau zur Hilfe zu eilen. Tyson schaute ihm unschlüssig nach, in Sorge ob das kleine Großmütterchen nicht noch mehr Unterstützung brauchte, doch der beherzte Griff, mit dem der Beamte dem Angreifer zu Boden rang bewies, dass er sein Handwerk sehr gut verstand. Die komische Gestalt war schneller im Schwitzkasten als sie gucken konnten. Also hechtete Tyson zu seinem Wagen zurück, stieg ein, drehte den Schlüssel und gab Vollgas. Als er an der geparkten Taxikolonne vorbeiraste, hörte er durch das klaffende Loch auf der Beifahrerseite, noch immer Dragoons Lachen.
 

Dabei konnte Tyson nicht wissen was ihn wirklich belustigte. Denn wie Dragoon so auf dem Boden lag, musste er daran denken, dass die Seele seines Menschenkindes, tatsächlich sein Zwilling war. Wie der Junge so über ihm saß, ihn hasste und prügelte, obwohl es ihm mehr schadete, als half, hatte Dragoon sich selbst gesehen. Er sah den Drachen in Takaos Augen - und begriff wie furchteinflößend er sein musste, wenn er jemanden aus tiefsten Herzen hasste. Es fand es witzig dass er das nicht schon früher bemerkt hatte.
 


 

*
 

Endlich konnte er einige Puzzleteile zusammenfügen. Es nahm so langsam alles seine Formen an. Kai begann sich beispielsweise an seine erste feste Beziehung zu erinnern. Er wusste gar nicht so genau was diese Erinnerung angestoßen hatte. Es war einfach so passiert, als er sich nach diesem nervenaufreibenden Tag, auf dem Futon niederließ, um im Dojo auf Tysons Rückkehr zu warten und kurz wegnickte. Dabei schoss ein Bild in seinem Geiste hoch, wie er sich über eine junge Frau beugte, die in seinem Bett lag und sie küsste. Selbst jetzt spürte er noch das Gefühl ihrer Arme, wie sie seufzend seinen Hals umschlang – ihn fordernder an sich zog.

Das Mädchen hieß Sachi. Er wusste noch, dass er sie nach der vierten Weltmeisterschaft kennenlernte, kurz nachdem er aus der Beybladebranche vollends ausgestiegen war. Zuvor hatte er keine Muße gehabt, sich mit dem anderen Geschlecht zu befassen, dafür war er zu versessen auf den Ausbau seiner Fähigkeiten gewesen. Alles begann auch nur damit, dass er morgens im Park joggte und das Heulen eines Hundes an sein Ohr drang. Dessen Ursprung war ein kleiner Pinscher, der ziemlich orientierungslos durch die Sträucher schlich und jämmerlich winselte. Er hatte sich in einem Gebüsch verfangen und kam nicht mehr von alleine frei. Eigentlich wollte Kai ihn sich selbst überlassen - doch er konnte es einfach nicht.

Gerade Hunde waren auf die Gnade von Menschen angewiesen und dennoch blickten sie einen ständig so zutraulich an. Er mochte Tiere. Sie stellten keine Fragen und nahmen einen so hin wie man war, ohne die Vergangenheit zu verurteilen. Im Nachhinein war Kai froh gewesen, sich dazu entschieden zu haben, zu dem Hund zurückzulaufen, denn obwohl er sich im ganzen Park nach dem Besitzer durchgefragt hatte, war er nicht aufzufinden gewesen. Womöglich hätte der Kleine die ganze Nacht dort verbracht, wenn er ihn nicht aus dem Gestrüpp geholfen hätte. Dieser Gedanke hätte Kai wiederum keine Ruhe gelassen.

Schließlich nahm er den Welpen mit nachhause, obwohl er dafür eine Standpauke seines Großvaters erhalten würde. Wie nicht anders zu erwarten, war der über den „sabbernden Flohteppich“ nicht erfreut gewesen. Er ließ sich zwar von Kai soweit erweichen, ihn diese Nacht hier behalten zu dürfen, aber weder durfte das Tier ins Haus, noch wollte er das Gekläffe vor seinem Schlafzimmerfenster hören.

„Bind die Töle draußen an einen Baum. So weit weg vom Gebäude wie möglich!“

Es war mehr als Kai sich damals erhoffte. Dennoch tat ihm der Kleine leid, als er ihn die Nacht über draußen, neben dem Gartenhaus festband und der ihm traurig hinterherwinselte, einfach weil er nicht allein sein wollte. Wahrscheinlich konnte sich der kleine Welpe nicht erklären, weshalb ihn sein Retter auch nun wieder zurückließ. Sein Verhalten kam ihm so grausam vor.

Kai war klar dass der Hund schnell weg musste, denn sein Großvater würde nicht lange zögern und ihn ins Tierheim stecken. Da er kein Halsband trug, befürchtete er sogar, dass es auch letzten Endes darauf hinauslaufen würde, sollte er keinen Besitzer ausfindig machen. Am nächsten Morgen ging er jedoch noch einmal in den Park, fragte sich energischer durch und fand dort irgendwann ein Mädchen vor, welches Flyer an die Bäume pinnte.

Es war Sachi gewesen. Sie hatte rot unterlaufene Augen gehabt, als habe sie die Nacht zuvor geweint und als er einen Blick auf den Papierstapel in ihrem Arm warf, erkannte er den kleinen Pinscher darauf abgebildet wieder. Als Kai sie auf den Hund ansprach, erhellte sich ihr Gesicht und da schluchzte sie auch schon los – dieses Mal vor Freude.

Es war wie ein Damm der brach. Sie klagte ihm ohne Scheu ihr Leid, darüber, dass der Kleine durch ein Loch im Zaun entwischt sei und noch zu jung wäre, um alleine herumzustreunen. Er sei weder stubenrein als auch geimpft, denn sie habe erst diese Woche einen Termin beim Tierarzt bekommen und das Halsband habe sie ihm auch noch nicht kaufen können, da sei er schon unter einer losen Zaunlaute entwischt. Sie war den ganzen Morgen damit beschäftigt gewesen, die Stadt mit ihren Flyern voll zu pflastern. In ihren schlimmsten Träumen, malte sie sich aus, dass ihr kleiner Liebling unter die Räder eines unvorsichtigen Autofahrers geraten sei. Dennoch meinte Sachi, sie habe sich im ersten Moment in den Welpen verliebt, als sie ihn die Woche zuvor, von ihren Eltern geschenkt bekommen habe und wäre schier wahnsinnig vor Sorge geworden, auch wenn er ihr bereits zu Anfang solchen Kummer bereitete. Sie ging so ehrlich mit ihren Gefühlen um…

Kai wusste nicht woran es lag, doch ihre Art sagte ihm zu. Wahrscheinlich weil er ihr nicht verdenken konnte, den kleinen Kerl so zu vergöttern. Ihm selbst fiel es seltsamerweise auch sehr leicht sich einem Tier zu öffnen. Sie zogen förmlich seinen Blick auf sich. Er konnte gar nicht mehr an einer Hand abzählen, wie oft er einem Streuner etwas zu Essen brachte, wie gerne er ihnen übers Fell kraulte, auch wenn er manchmal dafür einige Kratzer einstecken musste, weil sie den Umgang mit Menschen kaum noch gewohnt waren. So manches Mal war er von sich selbst überrascht gewesen, einfach weil er ein Tier so bedingungslos lieben konnte. Bei einem Menschen wäre das für ihn undenkbar und obwohl Kai das Gefühl hatte, den kleinen Pinscher zu vermissen, war er dennoch froh gewesen, dass er bald wieder in einem schöneren Zuhause leben würde. Als er das Mädchen zu sich ins Anwesen führte, ihr den aufgeregten Hund überreichte, nahm sie den Kleinen in die Arme und drückte ihn fest an sich, schmiegte ihren Kopf in sein Fell. Später als er sie wieder aus dem Hof geleitete, hatte Sachi ihn noch nach seinem Namen gefragt und mehrmals zum Abschied die Hand gehoben, als sie sich auf den Heimweg begab, bis sie in der Ferne verschwand.

Es ließ Kai schmunzeln.

Eine Woche nach seinem ersten Treffen mit Sachi verging, er saß gerade über einer Pflichtlektüre für den Unterricht, als ihm Lew mit einem seltsamen Lächeln verkündete, Kai habe Besuch. Er hatte gleich geahnt das es niemand aus seinem altem Team sein könnte, denn zum einen, waren diese bereits mitten in der Vorbereitung zur nächsten Weltmeisterschaft, zum anderen wäre Lew dann kaum so amüsiert gewesen. Er nahm Max übel, dass er einige Monate zuvor, mit seinem Blade ein Bild im Haus halbiert hatte und sah seine Freunde seitdem am liebsten von weitem. Nachdem Voltaire sie nach seiner Haftentlassung, auch noch in seinem Wohnzimmer vorfand und hochkant mit dem Schürhaken hinausjagte, kamen sie ohnehin nicht mehr unangemeldet vorbei. Erst wenn sie wussten, dass der „grantige Alte“ auf Geschäftsreisen war. Da Kai in England auf eine Privatschule ging, sahen sie sich auch nur noch, wenn er während den Ferien daheim war.

Den Weg zur Eingangshalle hinunter, ging er im Kopf durch, wer ihn besuchen wollte. Zu seiner Überraschung stand da aber Sachi, mit einem farbenfrohen Geschenkkorb gefüllt mit selbstgemachten Süßigkeiten. Sie meinte es wäre ihr ein Bedürfnis, sich noch einmal in aller Form der Höflichkeit zu bedanken, überreichte ihm das Präsent und tat eine Verbeugung vor ihm, ein Ausdruck tiefer Dankbarkeit in Japan. Dann fragte sie, ob Kai sie nicht mit auf einen Spaziergang begleiten wolle, denn ihr kleiner Pinscher würde vor dem Tor zum Anwesen wie verrückt jaulen, weil er ihn unbedingt wiedersehen wolle.

Es gab viele Dinge zu denen er Nein sagen konnte – dieses Angebot gehörte nicht dazu.

Tiere waren sein wunder Punkt. Zunächst hatte er auch tatsächlich angenommen, es würde bei diesem einen Spaziergang bleiben. Als er Sachis Absichten aber erkannte, lies er Lew bei den nächsten Malen das Mädchen zurückweisen, sobald sie wieder klingelte. Er wusste gar nicht weshalb er das tat, denn eigentlich war sie hübsch und auch sehr höflich. Sie schien ihm sehr wohlerzogen und aus gutem Haus zu stammen. Doch offensichtlich war das ständige Sträuben gegen neue Kontakte, so tief in seiner Seele verankert, dass er gar nicht mehr anders konnte, als sie erst einmal auf Distanz zu halten. Der Hausverwalter tischte ihr in Kais Auftrag eine Ausrede nach der anderen auf, so musste er sich selbst nicht mit ihr abplagen – bis Sachi einmal sogar bei Regenwetter vor dem Tor stand und hoffnungsvoll nach ihm fragte. Da kam ihm sein Verhalten grausam vor und er wollte ihr gegenüber zumindest so ehrlich bleiben und die Fronten klären. Dazu kam es aber nicht…

Denn er hatte sie misstrauisch gefragt, weshalb sie bei diesem Mistwetter keinen Schirm dabei habe. Da erfuhr Kai erst, dass sie gar nicht aus diesem Teil der Stadt stammte und den ganzen Weg zum Anwesen, ständig zu Fuß angetreten war. Es gab keine Bahnlinie die hier in der Nähe hielt und Busse fuhren auch eher unregelmäßig hoch, da die meisten Bewohner dieser Gegend nicht auf so etwas angewiesen waren. Hier fuhren selbst die jüngsten Anwohner mit ihrem Chauffeur vor. Es gehörte einfach zum Statussymbol.

„Als ich losgelaufen bin war das Wetter noch gut.“, antwortete Sachi damals peinlich berührt.

Er war sprachlos gewesen, denn das Spiel ging zu diesem Zeitpunkt bereits drei Wochen. Dennoch blickte sie ihn an, als wäre es das größte Geschenk auf Erden, hier im Wind, zwischen Kälte und Regen zu stehen und ihn endlich wieder sehen zu dürfen. Und statt einer Abfuhr, erhielt sie die mürrische Einladung, sich erst einmal im Haus vor dem Kamin aufzuwärmen, wo sie tiefer ins Gespräch kamen.

Kai erinnerte sich das von da an die Treffen zunahmen. Sie hatte den Hund ständig als Vorwand genutzt, um ihn aus dem Haus zu locken. Lew hatte jedes Mal ein dümmliches Grinsen aufgesetzt, wenn er ihre Anwesenheit ankündigte und Kai wusste gar nicht mehr so genau, wann aus ihr etwas Ernstes geworden war. Vielleicht als Sachi ihm gestand, dass sie ihn durch die Medien wiedererkannt habe und überrascht feststellte, dass er nicht halb so gefährlich sei, wie sie ihn sich immer vorstellte.

„Die Zacken in deinem Gesicht waren mein Problem. Du wirkst dadurch abweisend, auch etwas furchteinflößend…“, gestand sie damals schüchtern ein und schob eine dunkle Haarsträhne hinter ihr Ohr. „Aber jemanden der einen kleinen Welpen so lieb umsorgt, braucht man nicht zu fürchten. Beim Umgang mit Tieren erkennt man ein gutes Herz.“

Sie war wirklich vernarrt in ihn. Das spürte Kai förmlich.

Sie hatte sogar vier Monate in einer Eisdiele als Kellnerin gearbeitet, um ihn während der Weihnachtszeit in England zu besuchen, obwohl das gar kein japanisches Fest war. Sachi meinte es sei Teil seiner Kultur und wenn es wirklich so wichtig im russisch-orthodoxen Glauben war, sollte es das auch für sie sein. Doch obwohl die Zuneigung durchaus auch von seiner Seite da war, hielt die Beziehung trotzdem nicht. Zunächst einmal kam Sachi natürlich mit seinem Großvater nicht aus, der sie als „weiteres japanisches Flittchen“ beschimpfte. Eine derbe Anspielung auf Kais Mutter, die sich wenige Jahre nach seiner Geburt auch schon abgesetzt hatte. Ginge es nach dem alten Hausherren, sollte sein Enkel wieder russisches Blut in die Familie holen, immerhin hätte die Erfahrung gezeigt, das Japanerinnen zu nichts taugten und er sprach auch bald davon, ihn an eine Privatschule nach Moskau zu schicken, da wären seine Chancen auf ein anständiges Mädchen nämlich größer.

Kai hatte sich dann meistens nicht dazu geäußert, denn mit seinem Großvater zu diskutieren, war ein Fass ohne Boden. Er nahm sich nichts zu Herzen, war engstirnig und geradezu narzisstisch, wenn es um den russischen Nationalstolz ging. Kai versuchte sich dann nicht anmerken zu lassen, wie verletzend es war, wenn sein Großvater seine asiatische Hälfte verteufelte. Diese Genugtuung gönnte er ihm einfach nicht. Auch an die Gehässigkeiten seines Großvaters erinnerte sich Kai wieder.

„Diese Schlitzaugen!“, hatte er eines Abends boshaft vor dem Kamin geflucht. Nach seiner Haftentlassung, war es mit seiner Selbstdisziplin steil bergab gegangen. Voltaire hatte bedrohlich auf seinen Enkel gedeutet. „Da sieht man doch genau, dass die nichts Gutes im Sinn haben. Und du hast dieselbe Verschlagenheit wie deine Mutter in den Augen… Du und deine dreckigen Freunde! Denk ja nicht, ich hätte vergessen, wie du mir in Russland in den Rücken gefallen bist!“

Kai ging ihm ab diesem Tag zunehmend aus dem Weg, was bei der Größe des Hiwatari Anwesens kein Problem darstellte. Irgendwann ließ er sich nicht einmal mehr zu den gemeinsamen Mahlzeiten sehen und Voltaire fragte auch nicht nach ihm. Beide lebten mit der bitteren Erkenntnis, dass sie sich so lange ertragen mussten, bis Kai volljährig wurde und ausziehen konnte. Die Haft hatte seinen Großvater noch ekelhafter gemacht. Es war schwieriger mit ihm geworden als je zuvor. Doch Sachi war ihm geduldig beigestanden - bis ein bestimmter Punkt erreicht wurde, an dem etwas anderes ihr mehr Probleme bereitete. Der eigentliche Trennungsgrund war nämlich, dass sie aus Kais Art nicht schlauer wurde.

„Du bist wie ein Puzzle. Es gibt sicherlich viele wundervolle Seite an dir, aber es offenbart sich einem erst, wenn man es mühselig zusammensetzt. Anstatt sie mir freiwillig zu zeigen, siehst du mir nur bei meiner Arbeit zu, schweigst über mein Bemühen, und lässt mich vollkommen im Dunkeln tappen. Manchmal habe ich sogar das Gefühl, es macht dir Spaß, mich so hinzuhalten! Das ist einfach kräftezehrend…“, sie hatte sich die Augenwinkel mit einem Taschentuch abgetupft, denn es war ein sehr aufwühlender Moment für sie. Ein erstickter Schluchzer entrang sich ihrer Kehle. Kai war klar gewesen, dass Sachi ihn noch immer liebte, obwohl sie ganz offensichtlich dabei war, mit ihm Schluss zu machen. „Nach so vielen Monaten bist du mir noch immer fremd. Ich wünschte du würdest mich endlich nah genug an dich heranlassen. Warum stößt du mich bloß so weg?“

Er hatte sie perplex angeschaut, weil ihm nicht klar war, was sie meinte. Um ehrlich zu sein, dachte er in jenem Moment nur an die körperlichen Intimitäten und hielt das durchaus für nah genug. Als Kai wissen wollte, wie es nun weiterging, hatte sie ihn traurig angeblinzelt. Er wusste noch, dass eine Träne zwischen ihren dichten Wimpern hängen geblieben war.

„Das kommt darauf an… Kannst du mir versprechen dass es irgendwann besser wird? Kannst du mir versprechen, dass sich mein Bemühen irgendwann endlich auszahlt? Das kann doch nicht alles gewesen sein! Dieses Schweigen in das du dich ständig hüllst… Es macht mich fertig!“

Er hatte sie ruhig angeschaut. Kein Wort kam über seine Lippen. Es war wohl Antwort genug, denn kurz darauf verließ sie den Raum und wünschte ihm zuvor von ganzem Herzen, ein schönes Leben.

„Ich hoffe irgendjemand hat die Kraft zu dir durchzudringen.“, waren ihre letzten Worte an ihn. „Ich bin es nicht…“

Damit war Sachi aus seinem Leben getreten. Als sie ging, setzte er sich an das breite Fenstersims seines Zimmers und schaute nur ungerührt hinaus in die Nacht. Er hatte nicht geweint. Keine Träne kam aus seinen Augenwinkeln. Etwas was ihn doch verwunderte, weil er dachte, tatsächlich mehr für sie zu empfinden. Hätte man in so einem Moment nicht am Boden zerstört sein müssen?

Erst Jahre später wurde Kai richtig klar, dass er sie – obwohl Gefühle da waren – nicht aufrichtig liebte. Es war wohl einfach nicht genug gewesen, sonst hätte er sich für sie geändert. Sie gingen nach diesem Gespräch zumindest noch im Guten auseinander. Er hatte Sachi jedoch nicht einmal seinen Freunden vorgestellt. Womöglich weil sie ihm nicht wichtig genug war und das obwohl die Treffen mit den anderen, zu diesem Zeitraum immer weiter zunahmen. Damals kristallisierte sich so langsam heraus, welche Menschen wahre Freunde und welche nur flüchtige Bekannte waren, und die Art wie hartnäckig die anderen an ihm festhielten, ließ Kai immer weicher werden. Sie wollten dabei sein als sein Großvater beerdigt wurde. Sie waren neugierig auf Kais Mutter, als er ihren Brief erhielt, indem sie ankündigte, bald nachhause zu kommen. Sie wollten Jana sehen und das am liebsten noch am selben Tag, an dem sie geboren wurde.

Dennoch hatte er vor ihnen kein Wort über Sachi verloren.

Seine Freunde waren aus allen Wolken gefallen, als Kai sie einige Jahre nach der Trennung, zufällig auf einem Stadtfest traf, sich mit ihr unterhielt und sich später wieder der Gruppe zuwandte, um ihnen knapp zu erläutern wer sie überhaupt war. Es hatte die anderen gewundert, wie erwachsen die beiden miteinander umsprangen. Tyson machte zu jener Zeit gerade seine erste Trennung durch und seine Verflossene, war so sauer über seinen Seitensprung gewesen, dass sie ihm seinen mühselig zusammengeschraubten Wagen lädierte und das Wort „Arschloch“ in den Lack ritzte. Es war ein übler Rosenkrieg zwischen ihnen. Max hatte auch noch Ming-Ming an der Backe, um die er nach seinem One-Night-Stand, einen weiten Bogen machte, mit dem Ergebnis, dass sie ihn regelrecht terrorisierte. Der einzige in ihrer Gruppe, der Glück in der Liebe zu haben schien, war Ray, der zu dieser Zeit bereits seit zwei Jahren mit seiner künftigen Frau zusammen war. Damals war für das Paar die Welt noch heil. Sie waren das Vorzeigebeispiel dafür wie es richtig ging.

Seine Freunde hatten Kai damals mit Fragen bombardiert, denn alle fanden Sachi wirklich attraktiv und verstanden nicht, weshalb er sich von so einer Traumfrau getrennt hatte. Der einzige der schmollte war Kenny, weil er die ganze Zeit annahm, Kai stelle ihnen deshalb keine Frau vor, weil er sozial genauso unbeholfen sei wie er selbst und deshalb keine Freundin fand. Der war total genervt gewesen, weil die anderen ihn mit Fragen bedrängten, doch zu seiner Überraschung, schlug sich ausgerechnet Tyson auf seine Seite.

„Ist doch Wurst wer sie ist. Sie sind nicht mehr zusammen, Punkt! Lasst uns lieber feiern!“

Kais Gespräch mit ihr war zwar angenehm gewesen - die alten Anekdoten hatten etwas Nostalgisches an sich gehabt - doch obwohl sie sich einige Tage später, tatsächlich noch einmal zu einem Abendessen trafen, wurde aus Sachi nicht mehr als eine weitere Freundschaft, die sich irgendwann im Sand verlief. Den Frauen die darauf folgten erging es ebenso, bis Kai sich gar nicht mehr die Mühe machte, eine besondere Beziehung zu ihnen zu knüpfen. In jener Hinsicht waren sich Tyson und er erschreckend ähnlich, auch wenn Kai keine Ambitionen besaß, seine Affären in der Welt herum zu posaunen und damit zu prahlen. Er war einfach für Diskretion was das Schlafzimmer betraf.
 

„Wie ein Puzzle…“
 

Sachis Beschreibung beschäftigte ihn seit die Erinnerungen an sie, zurück in sein Gedächtnis gekehrt waren, denn so langsam wurde Kai klar, worauf sie angespielt hatte, auch wenn er es damals noch nicht verstand. Er fügte sich nun auch zusammen.

Stück für Stück. Und er war sich momentan ebenfalls ein Rätsel…

Dieser Erinnerungsverlust ließ ihn begreifen wie andere Menschen ihn sahen. Ihm war nie bewusst gewesen, wie irritierend sein Schweigen eigentlich sein konnte. Bei jedem Ausflug in die Vergangenheit, hatte sich Kai gefragt, weshalb er mit einer solchen Kühle reagierte, selbst wenn es Menschen betraf, die ihm doch stets wohlgesinnt waren. Der kindliche Teil hatte ihn verurteilt. Erst jetzt wo auch die Erinnerungen an die Abtei zurück waren, verstand dieser Part allmählich woher seine Distanziertheit herrührte. Der Junge in ihm wurde nachsichtiger - doch unzufrieden war er dennoch. Er wollte dass er sich zumindest seinen Freunden gegenüber öffnete. Kai hob ratlos seine Finger vor das Gesicht. Vor weniger als sechs Stunden, waren sie noch viel kleiner. Zierlicher, zaghafter, schwächer…

Hatte dieses Kind wirklich die Abtei überstanden?

Mehrmals öffnete Kai seine Handflächen, doch irgendwie wollte sich sein Gehirn noch nicht an den Anblick gewöhnen. Es war sonderbar von einem Moment auf den anderen, wieder in den Körper eines Erwachsenen gesteckt zu werden. Erst jetzt wurde ihm klar wie wichtig ein fließender Übergang war. Er fuhr sich auf seinem Futon erschöpft über die Augen. Kai konnte gar nicht beschreiben, wie konfus diese Situation für ihn war. Vor einigen Stunden hatte er noch wie dieses Kind gedacht. Nun brachen über diesem Jungen die Erinnerungen aus seinem alten Leben zusammen. Vor allem jene aus der Abtei erschreckten ihn. Wann immer er an diesen Ort entführt wurde, kam er sich hilflos und einsam vor, sehnte sich den Schutz seiner Freunde herbei. Kai erinnerte sich an das erste Mal, als sie ihm das Gefühl eines sicheren Halts vermittelten. Damals, auf dem Baikalsee…

Auch die unzähligen kleinen Momente danach, in jenen er sich geborgen vorkam, wie in jener Nacht, kurz vor den Vorbereitungen zur zweiten Weltmeisterschaft. Genau hier an diesem Fleck hatte er gelegen, als Tyson den anderen zu murmelte, dass sie von jetzt an auf ihn aufpassen wollten. Kai hielt sich damals für so erwachsen und doch war ihm dieses Bewusstsein für Zusammenhalt und Loyalität fremd gewesen. Eigentlich hatte er das wichtigste im Leben nie kennengelernt…

Die Fürsorge einer richtigen Familie – eines Zuhauses.

Wie es sich anfühlte einen Rückzugsort zu besitzen, wo jemand wartete, der einen mit offenen Armen empfing. Das Kind in ihm wollte mehr davon. Man konnte eben nur vermissen, was man kennengelernt hatte. Kais Finger fuhren nachdenklich über den kühlen Holzboden neben sich. Wenn die Familie das Fundament eines Kindes bildete, hatte er es erst errichtet, als er seine Freunde kennenlernte?

War er deshalb in manchen Dingen so unbeholfen – weil er noch sein Fundament baute?

Mit jeder positiven Erfahrung mussten seine Freunde einen weiteren Ziegel gelegt haben. Sie hatten das errichtet, was eigentlich seine Familie hätte aufbauen müssen. Kais Blick haftete an Tysons Futon. Hätte er seine Freunde damals schon um sich gehabt, vor der Abtei, vor dem Zerfall seiner biologischen Familie, womöglich wäre aus ihm ein ganz anderer Mensch geworden. Kai gestand es sich endlich ein…

Er hatte Probleme. Ernsthafte Vertrauensprobleme. Er musste daran arbeiten, bevor es so tief in sein Blut überging, dass es kein Zurück mehr für ihn gab. Jenen Personen sein Vertrauen schenken, die ihn nie böswillig verletzten würden. Hätte er diese Erfahrung in der Irrlichterwelt nicht gemacht, wäre ihm nie klar geworden, wie viele Defizite er besaß.

Das die Abtei ihn geprägt hatte…

Kai wollte zuvor nicht wahrhaben, dass dieser Ort bei ihm Narben hinterlassen hatte. Er hielt sich für unantastbar, stark genug um mit den Erlebnissen von damals klar zu kommen. All die Jahre hatte er sich eingeredet, dass die Abtei ihn nicht in den Fängen hielt – dass er alleine aus diesem Teufelskreis herausfinden würde.

Mit einem Seufzen schloss Kai die Augen. In Wahrheit steckte er noch immer darin...

Er hatte es einfach nur ausgeblendet, war blind dafür und lief mit seinen Scheuklappen durchs Leben. Ihm fiel auf wie oft er mit Verdrängung auf etwas reagierte, was ihn emotional belastete. Es war sein persönlicher Schutzmechanismus, um sich von allem abzukapseln, was ihn verletzten könnte. Leider galt das auch für die positiven Erfahrungen. Er hatte noch nie über die Abtei geredet. Kai erinnerte sich wieder an etwas.

An Mr. Dickinson…

Dieser grauhaarige Mann mit der Halbglatze und dem Wohlstandbäuchlein. Einst saß Kai mit ihm in dessen Büro. Das war kurz nach der ersten Weltmeisterschaft gewesen, als Tyson gegen Tala gewann. Kai erinnerte sich geradezu lebhaft an den Klang seiner alten Stimme.

„Danke, mein Junge. Hättest du mir nicht das Beweismaterial geliefert, hätten die Behörden niemals gegen die Abtei ermitteln können.“, die weisen Augen hinter der Brille, bedachten ihn voller Mitleid. „Doch was dort alles passiert ist… Ich will dir nichts vorschreiben, doch du solltest vielleicht mal mit jemandem darüber reden. Jemandem professionellem. Wir werden das allen Abteikindern anbieten. Da gibt es einige die diese Zeit sehr schlecht verarbeiten können. Ich kenne da eine Person die auch dir helfen würde.“

Mr. Dickinson hatte sich über seinen Schreibtisch gebeugt und geradezu verschwörerisch geflüstert: „Ich verliere auch kein Wort darüber. Und er ganz bestimmt auch nicht.“

Kai hatte sich bedankt und geantwortet, dass er es sich überlegen würde. In Wahrheit verschwendete er keinen Gedanken daran. Er lief aus dem Gebäude der BBA hinaus, mit dem festen Entschluss, die Tage dort tief in seiner Seele zu begraben.
 

Kai drehte sich auf die Seite, spähte zur Tür. Womöglich wäre das der erste Schritt?

Darüber reden. Einer Person der er wirklich vertraute – jemandem wie Tyson. Es wäre das erste Mal und er wünschte sich ganz offensichtlich mehr Informationen von dieser Zeit. Sie alle. Doch Kai fühlte sich noch zu unsicher…

Er tat einen hörbaren Atemzug. Mit einem schlechten Gewissen musste er daran denken, dass er entgegen seines Versprechens, doch für kurze Zeit weggedöst war. Erst die Erinnerung an Sachi ließ ihn wieder erwachen. Offenbar arbeitete sein Gehirn auch im Schlaf noch weiter und der Gedanke, er könnte mitten in Nacht von der Abtei träumen, ließ Kai nicht mehr zur Ruhe kommen. Ihm wäre es lieber sich nicht mehr daran erinnern zu müssen, denn was er davon gesehen hatte reichte ihm aus. Er verspürte Furcht…

Er wollte nicht mehr in diese Zeit zurück, selbst wenn es nur in seinem Kopf stattfand.

Kai setzte sich auf, rieb sich müde über das Gesicht, bis sein Augenmerk an dem Familienschwert hängen blieb, das im Zentrum der gegenüberliegenden Wand, auf einem kleinen Podest thronte. Tyson hatte ihnen einmal erzählt, dass der große Dragoon lange Zeit als Emblem auf dieser Waffe, über die Kinomiyas wachte. Es musste in derselben Woche gewesen sein, als sie sich für die zweite Weltmeisterschaft vorbereiteten, denn in seiner Erinnerung besaß Tyson noch diese rundliche Kinderbacken, die so gut wie immer, an irgendeiner Stelle ein Pflaster zierte, da ihr Wirbelwind sich bei seinen waghalsigen Manövern ständig eine Schramme holte. Kai musste zugeben, dass ihn die Geschichte um das Schwert damals imponierte, auch wenn er sich davor hütete, dies auch zu zeigen. Dafür hatten die anderen umso mehr gestaunt, vor allem Hilary, die damals zum ersten Mal von Bit Beasts hörte. Ein spitzbübisches Grinsen hatte Tysons Gesicht geziert. Dabei reckte er stolz die Brust und prahlte damit, dass das Bit Beast wohl in seinem Blade sei, weil es ganz offensichtlich einen würdigeren Partner gefunden habe.

Die Erinnerung ließ Kai schmunzeln. Tysons kindlichen Allüren waren doch eigentlich ganz charmant gewesen, warum hatte ihn das damals also immer so geärgert? Kurz darauf blinzelte er verdutzt über seine eigenen Gedanken, spürte dass seine Wangen warm wurden und schüttelte verärgert den Kopf über sich selbst.

Da waren sie schon wieder – diese albernen Schwärmereien!

Und als wäre das nicht schon schlimm genug, hatte er auch noch mit den Fingern geknetet. Sofort riss er die Hände auseinander, dabei ermahnte sich Kai, diesen lästigen Tick möglichst schnell wieder loszuwerden und zwar ohne Mithilfe seines Großvaters. Ständig hatte er Kai mit einem schmalen Stock auf die offenen Handflächen gehauen, sobald er ihn dabei erwischte. Erst das Knallen einer Autotür, ließ ihn aus seinen trüben Überlegungen zucken. Der Regen war ziemlich laut, daher fiel es ihm schwer die Geräusche draußen zu filtern, doch er meinte eilige Schritte zu hören, die über den nassen Kies liefen. Kai horchte genau hin. Wenn es Tyson war würde er sicherlich bald hereinkommen.

Doch da kam niemand…

Die Minuten verstrichen, aber er wartete vergebens.

Also erhob sich Kai und öffnete die Schiebetür des Dojos einen spaltweit, um einen Blick hinauszuwerfen. Da stand Tysons Wagen im Regen. Von ihm selbst aber keine Spur. Kai blinzelte überrascht und versuchte den Besitzer des leerstehenden Gefährtes auszumachen. Sein Blick huschte die Veranda entlang zum Haupthaus, wo er in einem Fenster Licht brennen sah. Er trat hinaus, folgte der Überdachung zum Eingang des Wohnbereiches, blieb aber wie angewurzelt stehen, als sein Blick noch einmal auf den Wagen fiel. Von seinem vorherigen Standpunkt aus konnte Kai es nicht sehen, aber in der Beifahrerseite klaffte ein riesiges Loch. Der Regen prasselte laut auf das Autodacht und nun auch hinein in den Innenraum. Ein Keuchen entfuhr Kai und sofort eilte er ins Haupthaus, öffnete die Tür und trat ein. Aus der Küche fiel Licht in den Flur. In einer schrägen Bahn kennzeichnete es den Weg. Er lief hinein und erspähte Tyson am Waschbecken, wo er ihm den Rücken zugewandt, die Hände unter das laufende Wasser hielt, offensichtlich wohlbehalten. Einen Moment atmete Kai erleichtert aus. Ihn hier zu sehen machte ihn irgendwie glücklich. Das Gefühl nistete sich in jede Ecke seines Körpers ein. Für eine Sekunde waren ihm die schlimmsten Szenarien durch den Kopf gegangen. Kurz darauf stutzte er perplex über seine heftige Reaktion. War das wirklich noch das Kind in ihm was so fühlte?

Manchmal schienen die Grenzen zu verschwimmen. Dann hatte Kai keine Ahnung, wer da so intensiv fühlte. Etwas verwirrt fuhr er sich über die Stirn, versuchte sich zu sammeln. Er durfte jetzt nicht albern werden und seinem Idol geradezu um den Hals fallen. Das wäre lächerlich und würde Tyson nur falsche Signale senden.

Kai wollte ihm lediglich ein guter Freund sein und Freunde sorgten sich umeinander.

Deshalb hatte er so reagiert. Er nickte kurz und spähte zum Waschbecken, wo das Wasser schon sehr lange rauschte. Tyson schien vollkommen in seine Gedanken vertieft, bemerkte ihn nicht einmal. Kai musste sich irgendwie noch immer an sein erwachsenes Abbild gewöhnen. Vor allem daran dass Tyson so in die Höhe geschossen war. Viele seiner Erinnerungen spielten sich noch in ihrer Jugend ab und damals war Kai größer gewesen. Ihm fiel wieder ein, wie gerne Tyson ihn mit seinem Wachstumsschub triezte. Sein liebster Spruch war, dass er ihn nun nicht nur als Blader übertrumpft habe. Das ging so lange, bis Kai ihm einmal gegen das Schienbein trat und beide dabei ins Stolpern gerieten. Es war nach einer Automesse gewesen und Tyson hatte ihn regelrecht bekniet mitzukommen, weil alle anderen schon anderweitig verplant waren. Als sie auf dem Heimweg in ihre üblichen Sticheleien verfielen, kam das Thema auf und wie sie auf dem Boden landeten, war Kai ziemlich sauer gewesen, bis Tyson so laut grölte, das es selbst ihn nach einer Weile ansteckte. Das war im Frühjahr gewesen…

Kai kniff die Augen zusammen und schüttelte den Kopf um die Erinnerung zu verscheuchen. Dieser Flashback kam so schnell, dabei wollte er sich gerade wirklich auf andere Dinge konzentrieren. Er bedachte nachdenklich seinen Freund. Der triefte förmlich vor Regenwasser, vor allem der dunkle Haarschopf klebte feucht an seiner Jacke. Einer der Küchenschränke stand offen und ein kleiner Beutel lag auf dem Tisch.

Etwas stimmte nicht…

„Tyson?“

Kai sah ihn den Kopf heben. Sein Gesicht spiegelte sich auf der Fensterscheibe über der Spüle, aber inmitten des dunklen Nachthimmels, konnte er nur schwer dessen Mimik ausmachen. Er wandte sich auch nicht zu ihm um.

„Ich dachte du schläfst schon.“

„Ich hatte dir versprochen zu warten.“

„Ach ja, stimmt…“, Tyson drehte den Wasserhahn ab und trocknete die Hände an einem Geschirrtuch. Seine Bewegungen waren eigenartig. Er tupfte seine Finger zu behutsam ab, als wären sie aus filigranem Glas. „Ich bin müde. Lass uns lieber morgen reden…“

Kai bemerkte wie sehr ihn diese Aufschiebung enttäuschte. Die ganze Zeit über, hatte er darüber nachgedacht, wie er dieser Unterhaltung aus dem Weg gehen könnte und nun war er auch noch enttäuscht. Eigenartig wie sehr Tysons Gegenwart ihn wieder veränderte.

„Ist etwas passiert?“, fragte er.

„Nein, alles okay.“

„Und dein Wagen?“

Er hörte Tyson tief einatmen.

„Das hast du also gesehen…“

„Es war nicht zu übersehen. Was ist mit dir los?“

„Nichts.“ er log. Kai wusste es einfach. Sie kannten sich zu lange. „Tu mir einen Gefallen und geh die nächsten Tage nicht vor die Haustür. Bleib mit Jana drinnen. Obwohl, vielleicht sollten wir auch ein paar Tage die Stadt verlassen. Ja… Das ist eine gute Idee!“

Es klang als würde er mit sich selbst reden.

„Warum?“

„Einfach so. Nicht das ein Reporter dich sieht und über deinen Gesundheitszustand berichtet.“

„Ist das der wahre Grund?“

„Ja. Warum fragst du?“

„Es klingt nach einer Lüge.“

„Sei nicht wieder so misstrauisch! Geh schlafen.“

Kai grollte leise. Er wurde von ihm noch immer nicht voll genommen.

„Ich bin kein kleines Kind, dass du ins Bett schicken kannst, wenn es dir gerade passt!“

„Kannst du auch mal etwas machen, ohne das es in einer Diskussion endet?!“, es brach so zornig aus ihm hervor, dass Kai inne hielt. Und kurz darauf schien auch Tyson seinen Fehler zu bemerken. Er seufzte schwer, warf das Handtuch zur Seite und stützte sich über der Spüle ab. „Tut mir Leid…“

Einen Moment wurde es ruhig zwischen ihnen. Nur das Ticken der Wanduhr über der Tür klang durch den Raum. Kais Blick huschte ratlos an der Küchenzeile entlang, blieb an dem Geschirrtuch hängen. Als er die dunkelroten Flecken darauf bemerkte, wurden seine Augen zu wachsamen Schlitzen. Er näherte sich Tyson. Dieser begann sich mit einer Hand über die Schläfe zu massieren. Etwas schien ihn zu beschäftigen. Er wirkte geradezu rastlos. Kai ergriff zaghaft seine andere Hand, begutachtete die wunden Stellen darauf. Er fuhr mit den Fingern über die aufgeplatzten Knöchel und bemerkte irgendwann, dass Tyson wie gebannt zu ihm herabschaute. Er hatte tiefdunkle Augen. Nur mit viel Mühe konnte man einen leichten Braunstich darin erkennen. Sie wirkten eher tiefschwarz. Er fragte sich, ob ihm dieser Gedanke schon früher einmal gekommen war, oder erst jetzt, wo er Tyson mehr Beachtung schenkte. Jetzt, da die Scheuklappen runter waren…

„Erzählst du mir wie das passiert ist?“

„Ein kleiner Unfall. Sonst nichts.“

„Hmm...“, Kai begutachtete die Verletzung eingehender, ahnte aber, dass er wieder belogen wurde. Irgendwie würde er die Wahrheit schon herausbekommen, allerdings musste er geschickter vorgehen. „Da steckt etwas drinnen.“

„Ich weiß. Darum wollte ich mich gerade kümmern.“

Tyson versuchte mit einem gequälten Gesichtsausdruck die Hand zu einer Faust zu ballen, doch was immer da in seinem Knöchel steckte, hinderte ihn daran.

„Habt ihr irgendwo eine Pinzette?“

„Im Beutel auf dem Tisch.“

Kai begann darin zu suchen und zwischen Medikamenten, Pflastern und Mullbinden, wurde er fündig. Gleich darauf nestelte er vorsichtig an Tysons Haut. Zwischen Mittel- und Ringfinger, war eine kleine Erhebung. Die anderen Knöchel waren zwar aufgeplatzt, bluteten auch noch ein wenig, waren aber nicht so dick geworden. Tyson zischte leise, als er an der Schwellung nestelte, ertrug es jedoch recht gefasst. Was Kai irgendwann hervorbrachte wirkte wie ein Glassplitter und doch auch irgendwie nicht. Etwas war merkwürdig an dem Objekt. Es erinnerte ihn an etwas, aber er kam nicht sofort darauf. Tyson wandte sich inzwischen dem Beutel zu und versuchte seine Hände zu verbinden. Noch während der Splitter zwischen der Spitze der Pinzette klemmte, klopfte Kai damit auf die Küchenzeile, um zu prüfen, ob es porös war. Ganz im Gegenteil - es war steinhart.

Wenn man ihn im Licht schwenkte, gab er einen dunkelblauen Glanz von sich, fast schon wie ein Leuchten. Da fiel ihm endlich ein, wo er so etwas schon einmal gesehen hatte. Kais Augen wurden schmaler.

„Also lebt Dragoon…“

Er hielt Tyson die Drachenschuppe hin. Der hörte auf im Beutel zu kramen.

„Als du ein Kind warst konnte ich dich besser verarschen.“, kommentierte der recht trocken.

„Dann solltest du kein Kind mehr in mir sehen.“, Kai ließ die Schuppe auf seine Handfläche fallen und begutachtete sie neugierig. Sie war zum Ende hin spitz, sogar ziemlich scharf. Sobald er die Handfläche bewegte, reflektierte sie wieder in bläulichem Ton. Er hatte das Gefühl sie stünde unter Strom. Als könne selbst er die Energie davon spüren. Es war schwer in Worte zu fassen. Ihm ging durch den Kopf, wie er als Kind mit sich gehadert hatte, weil er so gerne wissen wollte, wie sich der tote Drachenkörper anfühlte. Nun, tot war dann wohl relativ…

„Max und Ray?“

„Sind wohlauf.“, erriet Tyson seine Gedanken. „Wir hatten uns kurz zuvor verabschiedet. Sie sind schon abgeflogen. Ich bin Dragoon erst danach begegnet.“

Erleichterung machte sich in ihm breit. Kai beobachtete wie ungelenk sein Gegenüber mit dem Verband auskam. Ständig rutschte ihm die Mullbinde von der Verletzung, also legte er den Splitter seufzend beiseite, trat zu ihm, um erneut behilflich zu sein. Ein verlegenes Grinsen huschte über Tysons Gesicht, als er ihm den Stoff abnahm.

„Diese Hände können Autos reparieren, aber mit einem Verband kommen sie nicht klar.“

„Das sehe ich…“, sprach er schmunzelnd. Kai bemerkte wie glücklich Tyson wirkte, weil er von ihm diese Zuwendung bekam. Irgendwie rührte ihn diese offenkundige Freude. Sie verursachte einen wohligen Schauer in seinem ganzen Körper. Wollte er Tyson wirklich wehtun, indem er seine Gefühle zurückwies?

Das hatte er doch nicht verdient…

„Hat dich Dragoon angegriffen?“, Kai versuchte sich auf das Anlegen des Verbandes zu konzentrieren, bemerkte aber bei jedem winzigen Körperkontakt, dieses merkwürdige Flirren zwischen ihnen. Selbst der Splitter strahlte nicht diese Energie aus. Wann immer seine Finger Tysons Haut berührten, konnte er es deutlich fühlen.

„Nicht wirklich.“, die Stimme seines Gegenübers klang rau. Kai fragte sich ob Tyson ebenso fühlte, ob er auch diese Spannung zwischen ihnen spürte. „Die Wunden gehen eigentlich auf mein eigenes Konto.“

„Wie meinst du das?“

„Ich habe mich mit ihm geprügelt. Zumindest habe ich es versucht. Ganz blöde Idee…“

Kai hatte mit angesehen welche Macht Dragoon besaß. Tyson hätte doch wissen müssen, dass er keinerlei Chance hatte. Er schaute aus großen Augen zu ihm auf und der kleine Junge in ihm, empfand unglaubliche Bewunderung für diese tollkühne Aktion.

„Ja. Das war dumm von dir.“, sprach er stattdessen.

„Ich weiß...“

„Wollte er dich wieder in die Irrlichterwelt verschleppen?“

Er merkte gar nicht wie besorgt es aus seinem Mund kam. Erst als Tyson ihm ein mildes Lächeln schenkte, wurde ihm das richtig bewusst. Der hob die andere Hand, schob eine Strähne aus Kais Stirn.

„Nein. Wollte er nicht. Mach dir keine Sorgen…“

Eine Gänsehaut jagte über seinen Körper. Das konnte selbst Tyson sehen. Die feinen Härchen auf seinen Arm hoben sich. Diese simple Berührung, diese warme Stimme – sie ließ seine Haut aufleben. Etwas das Kai so nicht kannte. Er umgriff die Finger an seinem Gesicht, um auch diese Hand zu verbinden, aber eigentlich wollte er den Körperkontakt dadurch verharmlosen. Es hinderte seinen Kopf daran sachlich zu bleiben, fühlte sich an, als würde sein Verstand nach und nach, hinter einer Nebeldecke verschwinden. Diese Sanftheit von Tysons Worten erinnerte ihn ständig daran, wie feinfühlig er sein konnte, wie viel Freundlichkeit er als Kind von ihm erfahren hatte. Er würde sicherlich irgendwann einen wundervollen Vater abgeben, dabei hätte Kai das vor wenigen Tagen noch abgestritten.

„Was wollte er dann von dir?“

„Ist nicht so wichtig… Mir fällt gerade etwas anderes ein. Warst du schon einmal in Okinawa? Ich habe dort eine Tante. Vielleicht könnten wir uns dort von unseren Strapazen erholen? Etwas Urlaub wäre toll!“

Es machte Kai misstrauisch das Tyson gerade jetzt mit einem solchen Angebot daherkam.

Er wich seinem Blick aus, schaute auf seine verbundene Hand. Also log er schon wieder…

„Was ist mit deinem Bruder?“

„Ich dachte daran, dass ich euch zum Hafen bringe und später nachkomme, wenn ich alles mit Hiro geklärt habe.“

„Warum willst du so dringend die Stadt verlassen?“

„Komm schon! Wir haben uns doch wohl eine Pause verdient!“, kam es heiter. Doch er konnte ihm nichts vormachen. Tyson versuchte es ihm schmackhaft zu machen, indem er seine Sorgen herunterspielte. Die gute Miene, zum bösen Spiel…

„Das ist nicht der Grund. Es geht um Dragoon. Du hast Angst dass er hier auftaucht.“, Kai war fertig mit dem Verband, hielt dennoch Tysons Hand umschlossen. „Ich gehe nicht von hier weg. Wenn er kommt um dich zu holen… Ich lasse dich nicht alleine.“

Es wurde einen Moment still zwischen ihnen.

Tyson schaute ihn ernst an, dennoch konnte Kai sehen, dass ihn seine Worte bewegten. Es war der Ausdruck in seinen Augen. Doch irgendwann schloss er die Lider, tat einen tiefen Atemzug und sprach: „Dragoon ist nicht das Problem. Wenn er kommen sollte, dann nicht meinetwegen.“

Etwas überrascht blinzelte Kai.

„Du meinst wegen deinem Großvater?“

„Nein. Das hat er wohl auch aufgegeben.“

Es dauerte bis Kai auf die Lösung kam.

„Wegen uns?“

„Genaugenommen wegen dir…“

„Warum? Ich bin nicht sein Blader.“

Er ließ von Tyson ab, tat einen Schritt zurück.

Der fragte gleich darauf: „Erinnerst du dich an das Ei, dass du in der Irrlichterwelt ausgespuckt hast? Kurz bevor wir in Wolborgs Gebiet aufgewacht sind?“

Kai schaute Tyson fragend an. Ein Ei?

Er begann zu überlegen. Es musste ziemlich früh passiert sein, zu seinen Anfängen in der Irrlichterwelt. Alles woran Kai sich erinnerte war, dass er inmitten des Schnees erwachte und das erste Gesicht, was er wahrnahm Tysons war. Da ihn Dranzer aber mit ihren Lügen infiltriert hatte, rannte er zunächst von ihm weg. Er dachte angestrengt nach, was davor gewesen war, als ihm etwas in den Sinn kam, was er eigentlich für einen Traum hielt. Kurz bevor Kai richtig zu Bewusstsein kam, träumte er, umgeben von Wasser, ein Ei aus seinem Mund entsteigen zu sehen.

Er umgriff mit den Fingern seinen Hals. War das wirklich nur ein Traum gewesen?

Auf einmal konnte er sich geradezu lebendig daran erinnern, wie es sich angefühlt hatte, als das Ei aus ihm hervorkam. Ihm war heiß geworden, so unglaublich heiß. Das Blut in seinen Venen schien zu kochen wie pures Magma und als ihm inmitten des Flusses, die dampfenden Bläschen zwischen seinen Lippen entstiegen, fühlte es sich an, als würde diese Hitze direkt aus seinem Herzen kommen. Es hatte rasend schnell geschlagen. In seinen Ohren pochte es förmlich.

„Ich dachte das wäre ein Traum.“, kam es verwirrt.

„Nein. War es nicht.“, sprach Tyson ungewöhnlich ernst. Seine Hände legten sich auf Kais Schultern. Er schaute ihn eindringlich an. „Es war Dranzer. Und die Stadt auf der anderen Seite des Wassers war tatsächlich Tokio. Sie muss hier geschlüpft sein.“

Kai riss die Augen auf. Da fuhr Tyson auch schon fort.

„Wir werden nun folgendes machen - Deine Schwester, Großvater und du, ihr ruht euch jetzt noch ein paar Stunden aus. Ich halte so lange Wache.“

„Ich habe schon geschlafen. Wenn sich hier einer hinlegen sollte, dann bist du es!“

„Mir geht es gut.“

„Nein, Tyson, du bist müde. Das sehe ich dir doch an.“

„Hör dir meinen Plan erst zu Ende an! Wenn wir morgen früh aufstehen, verschwinden wir sofort zum Hafen. Von dort aus geht es mit der nächsten Fähre nach Okinawa. Auf dem Schiff kann ich auch schlafen. Es ist nur noch diese eine Nacht. Dragoon kann sich dann ruhig mit Dranzer den Schädel spalten!“

Kai schaute ratlos durch die Küche.

„Und dein Bruder?“, wollte er noch einmal wissen.

Tyson blieb still, dachte lange nach.

„Ich muss jetzt Prioritäten setzen. Was kann Hiro momentan passieren? Er sitzt vielleicht eine Woche länger in Untersuchungshaft, aber Jana und du, ihr seid wirklich in echter Lebensgefahr. Euch wegzuschaffen hat jetzt einfach Vorrang.“

Kai senkte seufzend den Kopf.

Tyson war bereit seinen Bruder zurückzulassen. Für ihn…

Und er dachte nur daran, ihm einen Korb zu verpassen.

„Sie suchen uns. Nicht dich.“

„Damit fangen wir gar nicht erst an!“, kam es in schneidendem Tonfall, als ob Widerrede keine Option wäre. Die Brauen vor ihm zogen sich tief zusammen. Tyson hob mahnend den Finger, starrte Kai böse an. „Wir werden uns nicht trennen! Wenn du es wagen solltest, mitten in der Nacht abzuhauen, suche ich die ganze Stadt nach dir ab! Hast du mich verstanden?“

Der Vorwurf war deutlich zu vernehmen. Tyson sprach aus Erfahrung. Er traute Kai so etwas zu. Der sah ihn lange an, fragte sich, wie er früher auf diese Sorge genervt reagieren konnte. Dieser Mensch bemühte sich so sehr um ihn. Da spürte er auch schon wie Tyson seine rechte Hand umschloss. Sein Daumen strich zärtlich über die Haut dort.

„Versprich mir dass du keine Alleingänge machst. Bleib in meiner Nähe, okay?“

Diese Bitte. Die Art wie er es sagte…

Kai fühlte wie etwas in ihm förmlich weich wurde. Selbst wenn er gewollt hätte, er könnte Tyson seinen Wunsch nicht abschlagen. Dazu war er einfach nicht mehr in der Lage. Kai sah in das dunkle Augenpaar vor ihm, bis er die Lider senkte, um sich vor dem Anblick zu schützen. Auf der einen Seite schämte er sich für diese Schwäche, doch gleichzeitig begann etwas in ihm auf mehr zu hoffen. Er nickte wortkarg, hörte sofort ein erleichtertes Seufzen vor sich.

„Gut…“, seine Hände entließen Kais Finger. Obwohl Tyson eiskalt war, sehnte er sich die Berührung prompt zurück. Das fühlte sich nicht mehr nach kindlicher Schwärmerei an - eher nach inniger Anziehung. Ob es das war? So heftig hatte Kai es nicht in Erinnerung...

Inzwischen schaute Tyson nachdenklich durch die Küche. Er fuhr sich über das Kinn. Auf seiner Jacke glänzte noch der nasse Regenfilm. Während er über einen Weg aus ihrer Misere hinaus sinnierte, erhaschte Kai die dunklen Augenringe in dessen Gesicht. Mehr zu sich selbst, sprach Tyson: „Wir dürfen uns jetzt nicht trennen. Ray und Max sind für Dranzer unerreichbar. Sie wären wahrscheinlich auch uninteressant. Aber du und Jana steht ganz oben auf ihrer Liste.“

Er fuhr sich schnaufend über das müde Gesicht.

„Und jetzt verfolgt dich auch noch Dragoon… So eine Scheiße.“

„Was will er eigentlich von mir?“

Tyson erkannte erst seinen Fehler, als er die Frage von Kai vernahm.

Sein Blick schnellte zu ihm, bis er sich auf die Unterlippe biss.

„Naja, verfolgen ist zu viel gesagt…“

„Hör auf! Verschweig mir doch nicht immer die Hälfte!“, brach es aus Kai heraus. „Sag mir einfach die Wahrheit. Ich verkrafte es! Du musst das nicht mehr alleine durchziehen.“

Einen Moment kehrte wieder Stille zwischen ihnen ein. Kai war sehr gut im Deuten einer Stimmung und spürte, dass Tyson ihm nicht etwas aus Bosheit verschwieg, sondern aus aufrichtiger Sorge heraus. Wie so oft in den letzten Tagen. Er konnte sich noch immer nicht daran gewöhnen, wieder einen Erwachsenen vor sich zu haben, blieb für ihn stark. Irgendwann sprach er gequält: „Dragoon will dich wahrscheinlich als Lockmittel missbrauchen, um Dranzer aus ihrem Versteck zu holen. Deshalb sucht er jetzt nach dir.“

So war das also...

Kai überlegte, dann sprach er: „Du sagst dass er es wahrscheinlich versucht?“

„Ich habe meinen Standpunkt zu seiner Idee deutlich gemacht. Aber ob es ausreicht, weiß ich nicht. Ich glaube kaum das er auf mich hören wird.“

Tyson entfernte sich von ihm, trat noch einmal an das Fenster über der Spüle. Er war unruhig, erkundete ständig die Umgebung draußen. Sein Spiegelbild auf der Scheibe, schaute ihm finster entgegen.

„Dieses Arschloch wollte auch noch von mir wissen wo ihr seid. Als würde ich ihm noch irgendwas erzählen… Eher breche ich mir alle Knochen.“

Kais Blick huschte einen Moment zu seinen zitterten Fäusten.

Da stocke sein Atem, als der Groschen endlich fiel.

„Deshalb hast du dich mit ihm geprügelt?!“, kam es fassungslos.

„Ich habe es versucht aber dieser Drecksack hat nur darüber gelacht!“, er starrte verbittert auf seine Handflächen. „Ich habe so fest zugeschlagen wie ich konnte. Immer wieder! Aber alles was ich erreicht habe, war, dass ich mir beinahe die eigenen Knochen gebrochen habe - und mich die ganze Autofahrt über vor mir selbst geekelt habe!“

Er schüttelte den Kopf, kniff die Augen zusammen.

„Die ganze Zeit musste ich daran denken, wie mich die Passanten angestarrt haben. Da war ein Polizist, der mich fortgeschafft hat, weil er mich sogar festnehmen wollte! Ich habe alles wie in einem Tunnelblick gesehen, aber ich weiß noch, dass da ein kleiner Junge stand, der Angst vor mir hatte, weil ich auf Dragoon so brutal eingeschlagen habe!“

Tyson drehte sich zu ihm, schaute ihn traurig an.

„Er war in deinem Alter…“

Kai begriff sofort was damit gemeint war. Einmal mehr schloss er die Augen. Der Blick mit dem ihm Tyson anschaute war zu viel. Er konnte nicht aufhören, etwas Kindliches in ihm zu sehen. Irgendwann fuhr er fort: „Während der Heimfahrt ist mir klar geworden, dass ein normaler Mensch bei meinen Hieben, nicht nur mit einer Gehirnerschütterung davon gekommen wäre. Der wäre womöglich tot. Aber ich war so rasend vor Zorn!“

Kais Augen öffneten sich einen spaltweit. Er spähte unauffällig zu Tysons zitternden Fäusten. Die wunden Knöchel stachen besonders hervor. Dieser Dummkopf…

„Da steckt wirklich ein Monster in mir. Eines wie Dragoon.“

„Das ist nicht wahr.“, sprach Kai leise.

„Das sagst du jetzt! Du hättest mich dort erleben müssen! Glaub mir, du würdest mich mit anderen Augen sehen...“

„Du stellst zu hohe Erwartungen an dich!“, fuhr Kai ihm dazwischen. „Denk daran was Dragoon dir alles angetan hat! Allein die ganzen Strapazen der letzten Tage, sind mehr als ein Mensch ertragen kann!“

„Gerade deshalb muss ich mich vor diesem Monster in Acht nehmen! Ich habe am eigenen Leib erfahren, wozu er fähig ist. Wenn ich diesem Biest in mir die Oberhand bekommen lasse, könnte ich genauso ein mieser Tyrann werden, wie er!“

Einen Moment schaute Kai ihn erschüttert an, überlegte, wie er ihn von diesem Irrglauben abbringen konnte. Es tat weh ihn so zu erleben. Er wollte nicht das Tyson so schlecht von sich dachte. Der schaute inzwischen auf das blutbefleckte Handtuch und murmelte: „Aber das ist mein Problem. Nicht deines. Das muss ich alleine lösen…“

„Es ist unser Problem.“

Einen Moment spähte Tyson zu ihm, ein müdes Lächeln auf den Lippen.

„Das ist nett von dir, aber zunächst kümmern wir uns um deine Sicherheit. Jetzt gehst du erst einmal ein paar Stunden schlafen. Ich packe inzwischen die Sachen. Morgen in aller früh verschwinden wir gemeinsam so schnell es geht.“

Kai schaute ihn mitleidig an, wie er dort stand mit diesen tiefen Augenringen. Sichtlich am Ende, nicht in der Lage noch klar zu denken. In blinder Sorge seine Schwester und ihn aus der Schusslinie zu schaffen.

„Ich glaube nicht dass das nötig ist.“

„Ich gehe kein Risiko ein.“, kam es entschieden.

„Tyson, denk doch nach… Dranzer war bereits hier, als wir noch in der Irrlichterwelt feststeckten. Wie soll sie erfahren haben dass wir zurück sind?“

Kai sah wie er verwundert zurückzuckte. Nein, daran hatte sein übermüdeter Verstand nicht gedacht. Tyson holte hörbar Luft, massierte sich die Nasenwurzel, suchte dabei nach einem Kontra.

„Okay, das ist ein Argument. Aber sie könnte trotzdem hier vorbeischnallen.“

„Oder wir laufen ihr da draußen in die Arme.“

„Es war auch Dragoons erster Gedanke dass ihr im Dojo seid! Du warst früher oft hier.“

„Dann muss sie es in den nächsten zwei Stunden tun. Der einunddreißigste Oktober ist so gut wie überall auf der Welt vorbei. Bald sitzen unsere Bit Beast wie Fische auf dem Trockenen.“

„Das wissen wir nicht genau…“

„Doch! Erinnere dich daran, wie Allegro zurückgeblieben ist, obwohl er so gerne einmal einen Blick auf die Menschenwelt werfen wollte. Ernsthaft Tyson, dieser Mäuserich war lebensmüde! Er hat sich mehr als einmal mit Dragoon angelegt – und doch wusste er wo die Grenzen eines Bit Beasts sind. Er ist nicht mitgekommen, weil er ahnte, dass dieser eine kleine Blick auf die Menschenwelt, ihm das Leben kosten könnte!“

„Allegro ist eine Maus. Sie sind Uralte.“

„Deren Energiequelle auch in der Irrlichterwelt liegen! Sobald dieser Tag vorbei ist, können sie uns nichts mehr anhaben. Sonst hätten sie schon viel früher zugeschlagen. Denkst du sie haben umsonst auf diesen Tag gewartet?“

„Warum willst du nicht einfach gehen?!“, brach die vorwurfsvolle Frage aus Tyson hervor. „Ich will doch nur das Beste für euch!“

„Und ich für dich!“, rief Kai ebenso verzweifelt aus. Einen Moment schauten sich beide an, also überwand er die letzten Meter zwischen ihnen. Zögernd ergriff Kai das Gesicht vor ihm. Er vernahm ein Keuchen von Tyson.

„Sieh dich doch an.“, flüsterte er. „Du bist so erschöpft… Wozu dich noch einmal in Aufruhr versetzen, wenn du dich doch endlich hinlegen könntest?“

Er sah die dunklen Pupillen vor sich an seinem Gesicht entlanghuschen. Eine nasse Strähne klebte ihm noch an der Stirn. Es gab schon wieder zu viel Körperkontakt zwischen ihnen. Das wusste Kai genau und doch strich er langsam das nasse Haar zur Seite.

„Es wäre doch nur noch morgen…“, raunte Tyson.

„Das sagst du jetzt. Aber dann wäre es wahrscheinlich auch der nächste Morgen. Und dann wieder übermorgen! Tyson du musst die Irrlichterwelt hinter dir lassen. Es ist vorbei.“

Kais Hände fuhren langsam das kalte Gesicht vor ihm hinab. Er konnte den Hals vor sich schlucken sehen. Eigenartig was für eine Wirkung sie aufeinander hatten…

Diese Spannung zwischen ihnen, vernebelte Kai allmählich die Sinne.

„Dragoon kann uns nicht mehr gefährlich werden, sonst hätte er dich zuvor schon in Stücke zerlegt. Stattdessen hat er sich von dir verprügeln lassen. Genauso wenig wird Dranzer viel ausrichten können. Bald verschwinden beide nachhause – oder in ihre Blades. Ohne uns können sie dann nichts mehr hier bewegen. Zumindest für das nächste Jahr, aber darüber denken wir später nach. Jetzt musst du erst einmal keine Angst mehr haben. Aber vor allem solltest du dir nicht einreden, dass in dir so etwas wie ein Monster steckt.“

Überall traf Kai auf unterkühlte Haut. An Tysons Hals entlang, hinunter zur Brust, wo seine Handflächen auf dem nassen Oberteil verweilten. Sie waren sich so nah. Er konnte den aufgeregten Herzschlag unter seinen Finger fühlen. Seines schlug mittlerweile genauso so schnell. Eine Erinnerung kam in Kai hoch. Ganz plötzlich…

Er schloss die Augen für eine Sekunde, sah etwas vor sich. Für Tyson mochte er nicht einmal eine Minute weggetreten sein, doch Kai ließ die Szene in seinem Kopf lächeln.

„Mir fällt ein wie oft du das machst. Wenn du erst einmal anfängst an dir zu zweifeln, ist es wie ein tiefes Loch, aus dem du nicht mehr von alleine herauskommst. Dann mussten dir immer deine Freunde heraushelfen. Deine Leistung sinkt dann, weil du nicht mehr an dich glaubst. Du brauchst doch aber dein Selbstbewusstsein.“

„Tue ich das?“

„Ja. Und du hast auch gar keinen Grund heute so an dir zu zweifeln. Du müsstest überheblicher sein als jemals zuvor. Du hast wirklich alles richtig gemacht.“

Leider trat aber nur ein zynischer Ausdruck auf Tysons Lippen.

„Wenn ich alles richtig gemacht hätte, würden Dizzy und Judy noch leben.“

„Das war doch aber nie deine Schuld!“, versuchte Kai ihn zu erreichen. „Ich kann verstehen, wenn dir Kennys Worte hart aufgestoßen sind. Aber du kannst dir doch nicht vorwerfen, was du nicht voraussehen konntest! Du bist doch auch nur ein Mensch…“

Aus den Augenwinkeln fielen ihm Tysons Hände auf. Sie hoben sich allmählich, fast so, als wollten sie Kai berühren. Doch er zögerte.

„Ich habe trotzdem viel von Dragoon. Ich bin genauso ungestüm. Wenn ich etwas will muss es sofort passieren. Dann nehme ich keine Rücksicht.“

Seine Finger verharrten. Ohne sich auf seine Hüften zu legen. Mit einem Mal wurde Kai klar, wie sehr er sich das aber wünschte. Etwas sehnte sich nach einer Umarmung. Seine Haut prickelte förmlich in freudiger Erwartung, aber durch seine Angst seinem Bit Beast zu ähneln, kam Tyson jede seiner Handlungen, wie ein weiterer Beweis für seine Ähnlichkeit mit Dragoon vor. Dieser liebenswerte Dummkopf...

Dabei war er ohne seine übermäßige Portion Hochmut nicht mehr Tyson. Kai kam zu dem Schluss, dass er ihn mit Worten nicht umstimmen konnte. Er war noch nie ein guter Redner gewesen, konnte Menschen nur zurechtweisen. Tyson war es der mit seinem Enthusiasmus alle um sich herum begeistern konnte. Kai dagegen nur mit seinen Taten.

Also beugte er sich zu ihm vor…

Noch ehe sein Gegenüber verstand, wie ihm geschah, hauchte Kai einen Kuss auf dessen Lippen. Er spürte keinen Atemzug mehr aus Tysons Mund. Dazu war er wohl im ersten Moment zu verdutzt. Ein Kuss, zwei Küsse, der Nächste folgte…

Ein vorsichtiges Herantasten mit den Lippen. Und dann, nach anfänglichem Zaudern, ging es auf einmal umso schneller. Es war wie ein Sturm der aus Tyson hervorbrach. Da erwiderte er den Kuss geradezu heftig. Auch legten sich seine Finger nun endlich auf Kais Hüften, sie gruben sich förmlich in den Stoff seiner Kleidung. Es fühlte sich an, als würde Tyson ihn mit den bloßen Händen in Brand stecken. Der Griff um seine Taille kam ihm so fest vor. Kai dachte gar nicht mehr daran, wie sehr er zuvor gezweifelt hatte - das er eigentlich nicht auf Tysons Werben eingehen wollte.

Dafür fühlte sich dieser Moment zu gut an…

Die Berührung, diese Nähe, die Lippen seines Gegenübers, mochten sie auch noch so kalt sein. Selbst die Zunge die irgendwann zärtlich um Einlass bat. Noch nie hatte Kai einen Kuss so intensiv erlebt wie diesen hier. Alles in ihm flehte um mehr. Sein Körper fühlte sich an, als würde er brennen. Nur aus einem Nebelschleier nahm er noch wahr, wie sein Rücken auf Widerstand traf, weil Tyson so gierig wurde, dass er ihn gegen die nächste Wand drängte. Dabei holperte es neben ihnen, weil sie in ihrer blinden Lust auf nichts mehr achteten, nicht einmal auf die Tischplatte im Zentrum der Küche.

Der Kuss schien unendlich lange anzuhalten. Eine kleine Ewigkeit gab es nur sie beide.

Nur schwer fanden sie die Muße sich voneinander zu lösen, stattdessen pressten sie ihre Körper nur enger aneinander. Inmitten der Stille vernahm man nur ihre schweren Atemzüge. Kai fühlte Hände die sehnsüchtig an ihm entlangfuhren. Sie tasteten sich hinab zu seinem Hintern. Er selbst legte die Arme um den Nacken vor sich, zog Tyson dichter heran, ungeachtet dessen, dass er noch nass vom Regen war. Irgendwann spürte Kai aber, dass er dem ganzen Einhalt gebieten sollte. Er war bald mehr als erregt. Sie beide…

Ein Keuchen entrang sich seinem Mund, als er endlich die Kraft fand sich zu befreien. Kai lehnte seine Stirn gegen Tysons Schulter, hörte ihn genauso schwer atmen. Der lehnte sich auf ihn, hielt ihn zwischen Wand und Körper eingezwängt. Er war wieder mutiger geworden. Seine Finger gingen auf Wanderschaft, tasteten sich seine Taille hinauf, um ihn in eine innige Umarmung zu schließen. Ob es Absicht war wusste Kai nicht genau, doch für eine Sekunde streiften kühle Hände seine Haut, da Tyson bei dieser Bewegung sein Oberteil etwas anhob. Irgendwie erregte es ihn nur noch mehr - die Vorstellung von Haut an Haut.

„Wofür war das?“, hörte Kai das Raunen dicht an seinem Ohr. Er lächelte in sich hinein. Seine Finger tasteten sich langsam an Tysons Körper entlang, um sich weiter in die Umarmung zu schmiegen. Er schloss die Augen, horchte auf den Herzschlag in dessen Brustkorb. Wofür? Einen Moment fragte sich Kai das auch. Es war verrückt. Er tat alles, nur nicht das, was er sich zuvor im Kopf zurecht gelegt hatte. So konnte sich Tyson ja nur Hoffnung machen. Irgendwann kam er aber selbst auf die Lösung…

„Als ich bei Dranzer war – in diesem seltsamen Haus – da hat sie etwas gesagt, womit sie sogar ausnahmsweise Recht hatte.“, er fühlte wie ihm Tyson sanft durch die Haarsträhnen im Nacken kraulte. Es tat so gut. Kurz schauderte Kai bevor er fortfuhr. „Sie meinte, ich hätte die Angewohnheit, den falschen Menschen zu vertrauen. Ich würde aber noch weitergehen und behaupten, dass ich früher auch die falschen Menschen geliebt habe.“

Kai erinnerte sich wieder an etwas. Er schloss die Augen, flüsterte gegen die Brust vor sich.

„Kurz bevor mein Großvater starb, da hatten wir uns einigermaßen ausgesöhnt. Wie er da in seinem Bett lag, kränkelnd und altersgezeichnet, sprach er davon, dass er nicht fassen könne, wie ich all die Jahre bei ihm bleiben konnte. Er hatte erwartet dass ich gehe, sobald ich volljährig bin. Genauso wie der Rest meiner Familie.“

„Du bist nie gegangen…“

„Nein. Ich konnte einfach nicht.“, ein trauriger Blick trat in Kais Augen. „Er war ein Ekel. Aber nun einmal auch mein Großvater. Das Einzige was ich an Familie kannte. Ich hätte ihn nicht alleine lassen können. Niemals.“

Tyson umschloss ihn fester. Gerade er hatte ihn immer gedrängt seinen Großvater zurückzulassen. Mehr als einmal bot er Kai an, bei ihm einzuziehen. Das wusste er nun auch wieder. Inzwischen nestelte er mit seinem Zeigefinger ein wenig an dem Kragen von Tysons durchnässtem Oberteil, um an die freigelegte Haut darunter heranzukommen. Er küsste die Stelle. Ein erregter Schauder jagte durch den Körper vor ihm, dass konnte er deutlich spüren.

„Ich weiß nicht ob in dir ein Monster steckt.“, raunte Kai gegen die feuchte Haut. „Aber wenn ich einem Mistkerl wie meinem Großvater gegenüber Loyalität empfinden konnte, wird es ein Leichtes sein dein inneres Monster zu lieben. Auch wenn die ganze Welt mir sagen sollte, ich solle es nicht tun. Mit oder ohne Bestie – ich liebe dich, Tyson. Und ausnahmsweise weiß ich ganz genau, dass du ein Mensch bist, der es auch wirklich wert ist. Ich vertraue dir einfach.“

Er hörte ein Ausatmen. Ein Blick hinauf und Kai sah die Freude in Tysons Augen. Der zuvor müde, erschöpfte, zweifelnde Ausdruck verflog, als hätte er ihm mit diesen Worten neue Kraft geschenkt. Stattdessen kehrte tiefe Zuneigung darin ein - der alte Übermut. Tyson umfasste sein Gesicht, küsste ihn innig, bis Kai dessen Hand ergriff und ihn langsam hinaus Richtung Dojo führte.

„Dann gehen wir wohl wirklich nicht?“, wollte Tyson wissen.

„Nein. Ich halte für dich Wache.“, lockte Kai ihn aus dem Raum. „Aber zuerst wärmen wir dich auf. Du bist so furchtbar kalt.“

Er sah das Grinsen auf Tysons Gesicht. Beide hatten dieselbe Vorstellung davon, was darunter zu verstehen war. Und es schien Kai die beste Möglichkeit, ihn davon abzuhalten, sich noch weiter zu verausgaben. Immerhin schlief man hinterher bekanntlich wie ein Stein.
 


 

*
 

Max war schon fast zwei Stunden in der Luft. Er versuchte eine angenehme Liegeposition in seinem Sitz zu finden, doch so richtig gelingen wollte es nicht. Fliegen war noch nie sein Fall, obwohl er nicht genau wusste weshalb. Natürlich ließ es sich oftmals nicht vermeiden – ein Flugzeug war nun einmal das modernste und schnellste Fortbewegungsmittel – doch als die Bladebreakers gegründet wurden, war er heilfroh gewesen, als sie von den USA aus Richtung Russland mit dem Schiff fuhren. Es ging langsamer, war jedoch so viel komfortabler, weil man sich die Beine während der Fahrt vertreten konnte. Das Ticket was er noch ergattern konnte war auch noch von einem der Billigplätze. Er konnte die Füße kaum ausstrecken. Der Vordermann war beleibter und hatte die Lehne schön zurückgesetzt. Auf einem Schiff konnte sowas nicht passieren. Zumindest war der Platz neben ihm leer. So konnte er die Lehne dort hinunterklappen und sich wie auf einer Couch ausbreiten. Die Stewardess maulte zwar kurz herum, doch er ließ seinen Charme spielen, sprach davon wie Leid es ihm täte, dass so ein großer Kerl wie er, einer so hinreißenden jungen Dame solche Umstände bereitete - da zerfloss sie auch schon zu Wachs.

Ein letztes Augenzwinkern genügte und sie lief strahlend davon, nicht ohne ihm zuvor noch ein Kissen zu bringen, damit er es in seiner schrecklich engen Ecke, auch wirklich bequem hatte. Es ließ Max grinsen. Blond und blauäugig war nach wie vor heiß begehrt, auch bei den Frauen. Es dauerte nicht lange und die Müdigkeit holte ihn ein. Also rückte Max das Kissen zurecht, zweckentfremdete seine Jacke zur Decke und schlummerte auch bald in seiner Ecke ein. Allerdings waren seine Träume sehr verstörend…

Einmal sah er das Hiwatari Anwesen vor sich – zumindest die Illusion davon.

Dieses surreale Gebilde, in dessen Eingangshalle ein Lavasee köchelte. Aus dessen Tiefen entstiegen die Gesichtslosen, einer davon war die Imitation von Lew. Inmitten seines Brustkorbs ragte noch immer der lange Holzscheit heraus, der ihn aufgespießt hatte, bis sein Kopf in sich zusammen fiel.

Dann war da noch Wyborg vorgekommen. Das Bit Beast jagte Max einmal mehr durch den Hafen. Es sang ein Lied, was davon handelte, dass es ein Happen von seiner Seele naschen wollte, während riesige Schiffscontainer vom Himmel stürzten.

Erst als das Bild von Draciel in seinem Traum vorkam, riss es Max aus dem Schlaf.

Er sah sein Bit Beast nicht in dessen wahrer Gestalt, sondern eingezwängt in diesem verwesenden Menschenkörper, nur war das Gesicht seiner Mutter das es geklaut hatte, nun auch am verrotten. Als Max erwachte, spürte er kalten Schweiß in seinem Nacken und schon bald packte ihn wieder die Wut auf sein Bit Beast. Es hatte das Andenken seiner Mutter zerstört. Max könnte sich nie mehr an sie zurückerinnern, ohne ihr Gesicht, auf dieser faulenden Leiche zu sehen.
 

„Ich will nicht dass du an den Tod denkst.“
 

Diese Worte…

Etwas Ähnliches hatte seine Mutter auch gesagt. Selbst den Klang ihrer Stimme konnte er wieder hören. Es war als könne Max sogar ihre Anwesenheit spüren. Da befiel ihn auch schon eine innere Ruhe. Sie hatte damals wie ein gutmütiger Engel ausgeschaut, eingetaucht in ein warmes, gleißendes Licht. So wollte Max sie in Erinnerung behalten. Mit diesem Gedanken döste er auch bald noch einmal weg. Und dieses Mal war der Traum wundervoll…
 

Er träumte von seinen Freunden. Von ihrer gemeinsamen Zeit bei den Bladebreakers. Da lag der Fluss wieder vor ihm, an dessen Ausläufern er Kenny und Tyson zum ersten Mal begegnet war. Da dessen Gewässer irgendwann in der Bucht ins Meer mündeten, brachte der Wind manchmal den Geruch von Salzwasser mit sich. An jenem Tag war das auch so gewesen. Max war den Kanal entlang spaziert, weil er sich dadurch erhoffte, ans Meer zu gelangen. Da drangen die panischen Rufe unten am Ufer an ihn heran. Er sah wieder Kenny und Tyson vor sich, wie sie versuchten, für ein kleines Mädchen ihren Hund aus den Fluten zu fischen. Jene beiden Menschen die einen festen Platz in seinem Leben einnehmen sollten. Sie hatten schließlich gemeinsam den Welpen gerettet und auch schnell einen Draht zueinander gehabt. Es war erstaunlich wie schnell man manche Menschen leiden konnte.

Die Chemie hatte wohl einfach gestimmt.

Max war neu in der Stadt gewesen, musste sich erst daran gewöhnen, wie anders die japanische Kultur war. Doch irgendwie hatte das Schicksal sie an diesem Fluss zusammengeführt. In seinen Träumen sah Max nun auch, was damals nachgeholfen hatte. Er lächelte im Schlaf, obwohl der Sitz manchmal ziemlich heftig rüttelte.
 

„Die roten Fäden – es gibt sie wirklich.“
 

Und er sah sie tatsächlich vor sich. Zwei schillernd rote Linien…

Einer führte zu Kenny, ein weiterer zu Tyson. Das hatte ihn also dorthin verschlagen, dabei dachte Max an diesem Tag nur, dass ihm ein Spaziergang ganz gut täte. Da wollte wohl aber eine höhere Macht, dass er genau an jenem Nachmittag, seinen besten Freunden in der Fremde begegnete.
 

„Denk daran wie schön die Zeit mit ihnen war.“
 

Maxs Brauen zuckten im Schlaf. Sein Platz war so unbequem. Dennoch wachte er nicht auf, stattdessen durchströmte ihn das Glücksgefühl von damals. Da die Schule noch nicht begonnen hatte, war er die ersten Wochen in seinem neuen Heim ziemlich einsam gewesen. Die anderen Kinder aus der Nachbarschaft hatten ihn ziemlich misstrauisch beäugt, denn es war nicht zu übersehen, dass seine Familie aus dem Ausland stammte - was ihn doch ziemlich einschüchterte.

Da kam ihm Tyson mit seinem Blade wirklich gelegen.

Er war so froh gewesen, endlich auf einen Gleichgesinnten zu treffen und dank seinen Freunden, fand er ziemlich schnell den Anschluss in Japan. Sie halfen ihm beim Einstieg, denn es war gar nicht so leicht, sich zurechtzufinden, wenn man nicht wusste, was in Japan als unhöflich galt. Wann immer er drohte in ein Fettnäpfchen zu treten, flüsterte ihm Kenny zu, worauf er achten sollte und wenn er sich doch einmal daneben benahm, stieg Tyson gleich auf den Zug mit auf, damit sie gemeinsam dumm dastanden. Er hatte danach immer breit gegrinst, sich die Nase gerieben und köstlich über die verwunderten Gesichter amüsiert. Doch Max war ziemlich sicher, dass Tyson das nur tat, damit er sich nicht schlecht fühlte. Er musste lächeln bei dem Gedanken.
 

„Du hattest einen liebevollen Vater.“
 

Ja. Das hatte er…

Max durfte sich wirklich glücklich schätzen. Ein weiterer Faden führte ihn zur nächsten Station, in das Haus seiner Eltern. Sein Dad war damals ziemlich gestresst gewesen, weil er durch den Umzug noch so viel erledigen musste. Er war zwar handwerklich geschickt, trotzdem dauerte es Wochen, bis er den Laden so gestaltet hatte, wie er es sich vorstellte. Es musste gebohrt, geschraubt, gehämmert und gestrichen werden. Dennoch, als Max freudestrahlend nachhause kam und ihm in seinem jugendlichen Übermut, einen sprudelten Vortrag über seine neuen coolen Freunde hielt, hatte er den Bohrer zur Seite gelegt und seinem Sohn lächelnd bei einer Tasse Tee zugehört. Erst Jahre später, als Max wieder in die USA musste, wurde ihm klar, wie anstrengend diese Zeit für seinen Vater gewesen sein musste – denn er selbst war damals noch zu jung, um ihm eine richtige Hilfe zu sein. Doch sein Vater beklagte sich nie.

Er hatte sich ehrlich für ihn gefreut, seinem Sohn geduldig gelauscht.

Und dank Tyson und Kenny war es auch nie mehr langweilig geworden…

In seinem Traum folgte Max zwei weiteren Fäden. Sie führten zu einer überfüllten kleinen Halle, in der die regionalen Beyblade Meisterschaften stattfanden. Er war so unglaublich nervös gewesen, doch seine Freunde und sein Vater sprachen ihm Mut zu.

Und da sah Max auch schon, wohin die nächsten Fäden führten.

Zu Ray und Kai…

Ersterer war am Anfang eigentlich ziemlich eingebildet gewesen. Ray dachte damals die anderen Turnierteilnehmer seien keine Herausforderung für ihn, beschwerte sich sogar bei Mr. Dickinson darüber, dass dieser Wettkampf doch nur Zeitverschwendung sei. Doch sobald Tyson ihn von seinem hohen Ross stieß, zeigte er seine sympathische Seite. Er hatte sich ehrlich über dessen Sieg gefreut, ein breites Grinsen aufgesetzt und gemeint, dass er wirklich gerne ein Teil der Bladebreakers wäre und sich auf die Zusammenarbeit mit ihnen freuen würde. Diese Niederlage war endlich ein Ansporn gewesen, um an seinen Künsten zu feilen. Max erinnerte sich wieder, wie Ray ihm zum ersten Mal die Hand reichte.

„Zum Glück bin ich geblieben! Ich dachte wirklich hier wären nur Amateure am Werk, aber dein Match vorhin gegen Kai war nicht von schlechten Eltern.“

Und dabei hatte Max gegen ihn verloren. Dennoch lobte ihn Ray für seine Ausdauer.

„Man hat deinen Kampfgeist gesehen. Sowas brauchen wir in unserem Team. Wir haben echt das Zeug um Weltmeister zu werden!“

Kai war dagegen ein Buch mit sieben Siegeln für ihn gewesen. Lange Zeit dachte Max auch, er habe womöglich ein Problem mit Amerikanern, denn mit ihm sprach er am seltensten. Erst in ihrem zweiten Jahr legte sich das und auch nur mit viel Überwindung. Ray hatte ihn dazu gedrängt, Kai zu fragen, ob er ihn tatsächlich wegen seiner Herkunft nicht ausstehen könne. Russen und Amerikaner – der ewig kalte Krieg.

Doch Ray war überzeugt davon, dass es sich nur um ein Missverständnis handle. Max war eigentlich zu schüchtern für diesen Schritt gewesen, denn Kai konnte so furchtbar mürrisch wirken, aber es entpuppte sich als die richtige Entscheidung, seine Unsicherheit zu gestehen. Denn auf seine Frage, hatte Kai ihn aus großen Augen angeblinzelt, völlig überrumpelt ob seiner Worte.

„Wie kommst du darauf?“

„Weil ich das Gefühl habe, dass du mich am wenigstens ausstehen kannst.“

Max wusste noch, wie betroffen Kai auf seine Worte schaute. Es war ein leiser Einblick dessen, was sich hinter seiner kühlen Fassade verbarg. Ihm war damals zum ersten Mal aufgefallen, dass Kai sich seines Verhaltens nicht immer bewusst war – auch eigentlich nicht aus Boshaftigkeit so handelte. Er war nun einmal anders. Aber anders war nicht immer schlecht…

„Mir war nicht klar, dass du das so auffassen könntest. Das war nicht meine Absicht.“

Max hatte bis über beide Ohren gestrahlt, dass es selbst seinem Gegenüber ein leichtes Schmunzeln entlockte. Und Jahre später stellte sich heraus, dass Kai ein mächtiger Verbündeter war. Max hatte es seinen Freunden nie erzählt, doch als die Bladerbranche auf Talfahrt ging, hätte das seine Familie beinahe ruiniert.

Seine Mutter forschte und entwickelte Blades. Sein Vater verkaufte sie…

Durch die Finanzkrise und den Einbruch dieser Branche, fielen also zwei Einkommen in ihrer Familie weg, denn auch wenn sein Vater selbstständig war, konnte er ohne Kundschaft nicht überleben. Und als wäre das nicht schon schlimm genug, wurde seine Mutter auch noch depressiv nach ihrer Kündigung. Sie mussten zurück in die USA um ihr beizustehen und das obwohl Umzüge nicht gerade billig waren, erst recht wenn man mit einem ganzen Haushalt nach Übersee auswanderte.

Es war wirklich eine harte Zeit gewesen. Außerdem war es seinem Vater peinlich, dass er mit seinem Laden gescheitert war, also verheimlichte er es Max eine ganze Weile. Es dauerte bis ihm der Ernst der Lage bewusst wurde. Als sein Vater dann endlich alle Karten offen legte, entschuldigte er sich bei ihm, weil er ihn aus seinem schönen Zuhause reißen musste. Er war so enttäuscht von sich selbst - kam sich wie ein Versager vor - dass ihn Max mit aufkommenden Tränen umarmte und versicherte, dass er nichts falsch gemacht habe.

„Wir hatten einfach Pech, Dad. Irgendwie kriegen wir das schon hin. Wir halten einfach zusammen. So wie wir es immer getan haben…“

Als er seinen Freunden von ihrer misslichen Situation erzählte, versuchte Max sich seine Beunruhigung nicht anmerken zu lassen. Er wollte einfach positiv bleiben und den anderen vor allem keine Sorge bereiten. Doch Kai konnte er nichts vormachen.

Der zählte Eins und Eins zusammen…

Max wusste noch, wie er irgendwann bei ihm abends klingelte. Es war ein furchtbarer Tag gewesen, denn sie waren zuvor bei der Bank, um für den Umzug einen Kredit aufzunehmen. Doch sie hatten keine Chance.

„Zu wenig Sicherheiten.“, war die niederschmetternde Antwort gewesen.

Dabei mussten sie noch eine neue Wohnung in den USA suchen. Die seiner Mutter war zu klein und auch zu teuer. Sie würden aus der Stadt ziehen müssen. Doch irgendwie besaß Kai ein Gespür dafür, wenn jemand aus eigener Kraft nicht mehr weiterkam. Während ihnen sein Vater in der Küche einen Tee machte, erklärte er ihnen, dass sein Großvater vor seinem Tod, Immobilien in den USA gekauft habe. Eine dieser Wohnungen wollte Kai ihnen anbieten.

„Ich weiß nicht in welchem Zustand sie ist und auch nicht ob sie euch gefällt. Doch bevor ich sie einem Wildfremden überlasse, der sie womöglich verkommen lässt, vermiete ich sie an euch. Dann weiß ich wenigstens das sie in guten Händen ist und muss mich nicht weiter darum kümmern.“, er sagte es so geschäftlich, man hätte meinen können, es ginge ihm tatsächlich nur darum. Doch Max hatte nur in sich hinein gelächelt, erst recht als er hörte, dass Kai eine Spedition kenne, die ihnen auch noch mit dem Umzug behilflich sein könne.

„Die sind mir etwas schuldig.“

Es war so typisch für Kai. Und als er sich verabschiedete, geleitete ihn Max noch bis zum Wagen und bedankte sich bei ihm für seine Hilfe.

„Ich habe euch nicht geholfen.“, betonte er genervt. „Es geht mir nur ums Geschäft.“

Beinahe wäre Max gewillt gewesen ihm zu glauben, bis er bei seiner Ankunft in den USA die neue Wohnung begutachtete und sein Vater fassungslos meinte, dass Kai viel zu wenig dafür verlange. Er hatte so tolle Freunde - jeder auf seine Art.
 

„Vergiss das niemals, Maxi.“
 

Seine Brauen zuckten im Schlaf. Das war wirklich sonderbar. Ihm kam es vor, als könne er seine Mutter dicht neben sich hören. Max öffnete die Augen und tatsächlich. Da saß sie an der Lehne zu seinen Füßen. Ihre Haare wirbelten um ihr Gesicht herum, als befänden sie sich im Wasser. Er blinzelte verwirrt. Einmal, zweimal…

Bis er den Kopf schüttelte um das verschwommene Trugbild zu verscheuchen. Doch es wurde nicht besser. Alles um ihn herum wirkte so trüb, als wäre seine Umgebung in einen Nebelschleier gehüllt. Ob er noch träumte?

„Ich bin wirklich hier...“

„Aber wieso?“

Sein Körper kam ihm irgendwie leichter vor.

„Gut. Du hast es nicht bemerkt.“

„Was denn?“

„Es ging schnell. Ich bin froh das du geschlafen hast.“

„Was meinst du?“

Sie schüttelte bedauernd den Kopf.

„Ach Schatz… Das tut mir so leid. Ich wollte dich zwar wiedersehen – aber nicht so bald.“

„Mum, du sprichst in Rätseln. Ich begreife nicht was du meinst?“

„Das ist normal. Vor allem wenn es so plötzlich passiert wie hier.“

Max sah etwas im Hintergrund. Es wirkte wie ein schwebender schwarzer Schatten, der durch den Gang trieb. Ihm fiel auf, dass es mit jeder Minute dunkler wurde. Er kniff seine Augen zusammen, um mehr Konturen zu erkennen. Es sah aus wie eine Handtasche. Sie flog einfach so im Gang umher. Max starrte wie gebannt auf den merkwürdigen Anblick. Ihm stockte der Atem. Dann schluckte er hart. Sein Blick wanderte nach vorne, zu den anderen Sitzreihen. Jetzt da er aufrecht saß, sah er es…

Köpfe, Arme, Beine. Menschen die wie leblose Puppen in der Luft schwebten.

Und eine riesige Wunde die im Bauch des Fliegers klaffte. Es schien den rechten Tragflügel zerfetzt zu haben.

„Ihr seid in eine starke Turbulenz geraten.“, hörte er seine Mutter erklären.

Doch Max starrte weiterhin nach vorne. Alle Insassen des Fliegers trieben in Wasser umher, nicht mehr als reglose Hüllen. Sein beleibter Vorderdamm erhob sich nun auch langsam aus seinem Sitz, völlig schwerelos. Dunkles Blut zog sich wie eine feine Rauchsäule aus seiner Kopfwunde hervor.

„Der Pilot hat den Flieger nicht mehr unter Kontrolle bekommen, weil einige Geräte ausgefallen sind. Er konnte nicht ahnen, dass durch die Turbulenz ein Leck im Flieger entstanden ist. Es war nur ein winzig kleines Stück was abgebrochen ist – und doch war es fatal für euch.“

Maxs Vordermann drehte sich geisterhaft im Wasser, die Augen bis in den Hinterkopf verdreht, der Mund geöffnet. Zwischen seinen Lippen entstiegen die letzten Luftbläschen.

„Der Luftdruck ist gefallen. Deshalb bist du nicht mehr aufgewacht.“

Max versuchte aus dem kleinen Fenster zu seiner Seite zu spähen. Er sah Wasser. Kleine Algen die darin schwammen. Sie befanden sich noch immer im Sinkflug, oder mit anderen Worten – sie gingen unter. Es riss das Wrack hinab in die Tiefe. Sie mussten im Pazifischen Ozean gelandet sein. Als er begriff, dass sie direkt auf diese Finsternis da unten zusteuerten, kroch die Panik in ihm hoch.

Nicht hier! Er wollte nicht hier unten enden.

„Daran darfst du nicht denken, Liebling.“

„Ich will hier raus! Ich muss an die Oberfläche schwimmen!“

„Schatz, das ist nur dein Körper.“

„Mum, ich muss kämpfen! Ich muss wenigstens versuchen hier herauszukommen!“

Ein lautes Dröhnen drang an Maxs Ohr. Die linke Tragfläche des Fliegers löste sich. Durch das kleine Fenster, sah er den massigen Metallkörper langsam an ihnen vorbeitreiben.

Geschockt starrte er auf den beängstigenden Anblick. Dann schnellte sein Kopf zu seiner Mutter, erhaschte den mitleidigen Ausdruck in ihren Augen.

Ihre Lider senkten sich. Sie schüttelte langsam den Kopf.

„Schatz, glaubst du wirklich ich wäre hier, wenn es für dich noch einen Ausweg gäbe?“

Max blinzelte sie verständnislos an. Auf einmal fragte er sich, wie er mit ihr sprechen konnte, wo sie unter Wasser waren. Er redete sich ein einer Halluzination zu erliegen. Sicherlich war seine Mutter gar nicht hier. Doch allmählich kroch die grausame Erkenntnis in ihm hoch. Max schaute auf die Leiche seines Vordermanns – und fragte sich was direkt hinter ihm war.

„Willst du das wirklich sehen?“, erriet seine Mutter seinen Gedanken.

Er schluckte. Wollte er wirklich?

Seine Augen huschten noch einmal hinaus. Mittlerweile war alles um sie herum schwarz.

Die einzige Lichtquelle die existierte, war die Gestalt seiner Mutter. Die vorderen Ränge des Fliegers waren gar nicht mehr zu erkennen.

„Ich bin schon tot, nicht wahr?“

Sie blieb still. Ein gequälter Ausdruck trat auf ihr Gesicht. Als sie antwortete, konnte er das Beben in ihrer Stimme hören.

„Es tut mir so leid.“

„Bin ich durch den Aufprall gestorben?“

„Nein. Bereits die erste Turbulenz hat dich umgebracht.“, es war ein leises Flüstern. Sie liebte ihn, wollte ihren Sohn bei sich haben. Doch wie jede Mutter hatte sie ihm ein langes Leben gewünscht. „Du hast geschlafen und warst nicht angeschnallt. Als der erste Ruck kam, war es schon vorbei. Es war ein schneller…“

Sie ließ den Satz unvollendet, brachte nicht die Kraft auf es auszusprechen. Stattdessen wandte sie das Gesicht einen Moment von ihm ab. Ein kleines Geräusch kam von ihr. Es klang nach einem unterdrückten Schluchzer.

Doch Max fragte insgeheim nach dem Wie.

Hatte ihm der Ruck eine Kopfwunde verpasst – so wie seinem Vordermann.

Einen sauberen Genickbruch? Ein gespaltener Schädel?

Das alles klang so unwirklich. Max schaute auf seine Hände, die sich in die Lehne verkrallten. Seine Finger leuchteten, genau wie bei seiner Mutter. Doch daneben trieb auch noch ein anderes Paar Hände im Wasser. Die seines menschlichen Körpers. Er fragte sich wie seine Leiche aussehen mochte. Der Platz war wohl einfach zu eng gewesen, der Abstand zur Decke zu gering. Er schluckte hart.

„Lass uns gehen, Maxi.“

„Aber, ich…“, er stockte, konnte es noch immer nicht fassen. Etwas wollte noch nicht begreifen, dass es das für ihn gewesen war. Er schaute wieder auf seine Finger herab. Noch leuchteten sie grau. „Ich hatte so viel vor.“

„Ich weiß.“

„Und meine Freunde? Sie werden traurig sein.“, er starrte geradeaus. Ihm kam so viel in den Sinn. Alles was er tun, sagen, erleben wollte. Alles was er verpassen würde. „Wir wollten doch Neujahr zusammen feiern. Am Time Square in den USA. Ich werde Rays Tochter nicht sehen. Unser nächstes Treffen sollte besser werden. Ich hatte es Tyson versprochen! Ich werde so viel verpassen…“

„Das ist wahr. Aber Maxi, wie viele schöne Momente hattet ihr zuvor?“, sie griff über die Lehne hinweg, nach seiner Hand. Ein aufmunterndes Lächeln auf den Lippen. „Halt nicht an dem fest was du tun wolltest. Besinne dich auf das was du hattest. Und das war doch so viel wert, mein Schatz.“

Max dachte an seine Erinnerungen von zuvor.

„Irgendwann kommt der Schlussstrich. Für uns alle. Kein Leben wird für immer gelebt. Und jeder Mensch verpasst durch seinen Tod was nach ihm kommt. So ist das eben…“

Er schloss seufzend die Augen, fuhr sich über den Mund. Noch war er ein grauer Geist. Max wusste weshalb und doch konnte er nicht aufhören, seiner Trauer nachzuhängen.

„Dad… Er ist jetzt ganz alleine.“

„Nicht mehr lange, Schatz.“, ihre andere Hand legte sich auf seine, drückte seine Finger ganz fest. Sie strahlte. Weil seine Mutter losgelassen hatte. „Glaub mir, nicht mehr lange. Du wirst sie irgendwann alle wiedersehen. Früher oder später…“

Es klang wissend. Doch Max war zu geschockt um darüber nachzudenken. Stattdessen schweifte sein Blick über die wenigen Leichen, die er im Glanz seiner Mutter noch ausmachen konnte. Die Stewardess trieb an ihm vorbei.

„Warum sehe ich sie nicht?“

„Sie müssen ihren Fäden ins Jenseits folgen. Du deinem.“

„Bist du deshalb hier?“

„Wenn man stirbt, sollte das letzte Gesicht das man sieht, einem geliebten Menschen gehören. Jeder sollte jemanden haben, der auf der anderen Seite auf ihn wartet.“, die Augen seiner Mutter schauten gedankenverloren aus dem Fenster. „Aber das wirst auch du bald verstehen…“
 


 

ENDE KAPITEL 45
 


Nachwort zu diesem Kapitel:
Ein sehr gemeiner Cliffhanger - ich weiß.
Aber ich wollte dieses Kapitel mit Max beginnen und es mit ihm beenden. Es kam mir einfach falsch vor, einfach so weiterzumachen, nachdem der arme Junge von mir auf so fiese Art gekillt wurde. Ich muss auch ehrlich sagen - es hat überhaupt keinen Spaß gemacht. Für seinen finalen Abschnitt habe ich ewig gebraucht, weshalb ich überhaupt erst in Verzug gekommen bin. Zuerst dachte ich an eine lebhaftere Schilderung des Flugzeugabsturzes, doch allein bei dem Gedanken daran hatte ich keinen Bock mehr auf die FF. Ich weiß nicht wie das der Autor von Game of Thrones macht. Der Typ muss ein Soziopath sein...

Auch der Abschnitt wie Tyson und Kai zusammen kommen, hat mir nicht ganz gefallen. Ich weiß aber nicht woran es liegt. Ich habe den Teil so oft umgeworfen und neu geschrieben, aber etwas daran mag ich nicht. Besser bekomme ich es aber auch nicht hin, daher nun dieses Ergebnis :-/

Das Kapitel ist wieder etwas kürzer geraten. Das liegt erst einmal an dem schon erwähnten Grund, aber auch weil ich am Montag eine bescheuerte OP habe und ich deshalb etwas gebraucht habe, um mich von dem Gedanken abzulenken. Auf die angefangenen Abschnitte kann ich mich gerade nicht konzentrieren, aber zumindest nochmal Gegenprüfen, was ich zu "Papier" gebracht habe. ^^'
Dafür werde ich die nächsten drei Wochen genug Zeit haben, um das nächste Kapitel nochmal auf Rechtschreibfehler zu filzen und es on zu stellen. Die nächste Wartezeit wird also definitiv kürzer. Kann ja eh nich aus'm Haus...

Hoffe ihr hattet dennoch euren Lesespaß. Trotz des traurigen Endes.

LG Eris Komplett anzeigen

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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  Hinata-Uzumaki
2017-09-21T16:36:09+00:00 21.09.2017 18:36
Wieso musste Maxi sterben??? Aber Yeah das es zwischen Kai und Tyson endlich anfängt
Von:  sensless
2017-09-17T20:42:21+00:00 17.09.2017 22:42
Ich habe mir vorgenommen erst am Ende der Geschichte ein Kommentar dazulassen, ähnlich einer Buch Review aber das neue Kapital hat mich so dermaßen getroffen dass Ich erst mal ein paar Stunden garnicht wusste wie mir ist und dann nicht mehr aufhören konnte zu weinen.
Hut ab vor der wunderbaren Art wie du den guten Max auf die andere Seite geleitet hast auch wenns mir das Herz raus gerissen hat.
(Ich meine ich rechne fest damit dass noch was schreckliches hinsichtlich Dranzer vs Dragoon passiert aber ich hatte ernsthaft gehofft dass wenigstens Max und Rei sicher sind o.o)


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