Zum Inhalt der Seite

Die Geister die wir riefen...

von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Max bereute seine Faulheit. Hätte er die Vorhänge diese Nacht zugezogen, müsste er nicht so früh aufstehen. Doch nun wurde er durch die lästigen Sonnenstrahlen, die durch das Fenster in sein Zimmer drangen, geradezu genötigt das Bett zu verlassen. Als er sich mit dunklen Augenrinnen, platt gelegenen blonden Haaren und einem furchtbaren Kater aus dem Bett wälzte, tat ihm jede Bewegung in den Knochen weh. Träge schleppte er sich zum Fenster und sah kurz hinaus. Von seinem Zimmer im Peninsula Tokyo hatte Max einen wundervollen Blick auf den naheliegenden Park. So etwas war in einer Großstadt ein Segen für wunde Augen. Kurz vor dem Eingang zum Hibiya Park, lief ein älterer Geschäftsmann auf dem Gehweg hin und her, vollkommen vertieft in sein Telefonat. Ab und zu blieb er stehen, sah auf seine Füße oder hinauf in den Himmel, nur um anschließend ein paar Schritte in die andere Richtung zu flanieren. Vor dem Hotel herrschte buntes Treiben. Die meisten Menschen nutzten den Samstagmorgen für Einkäufe und Spaziergänge mit der Familie. Max konnte sich zu keinem von beiden aufraffen. Die durchgezechte Nacht schlauchte noch an ihm, also zog er die Vorhänge zu und ließ sich wieder bäuchlings ins Bett fallen. Selbst jetzt fehlte ihm noch die Kraft seine Alltagskleidung auszuziehen. Als der Schlaf langsam wieder über ihn kam, hörte er eine nervige Musik vom Nachtschrank. Er brauchte einige Minuten, bis er begriff, dass es sein Smartphone war.

„Oh man…“, murmelte Max in sein Kissen. Dann tastete er mit schlaffem Arm nach dem störenden Gerät. Manche Menschen behaupteten, die heutige Technologie sei ein Segen. Solche Leute wurden noch nie nach einer heftigen Feier, von einem penetranten Klingelton geweckt. Manchmal wäre es ganz schön, wenn man einmal nicht rund um die Uhr erreichbar war. Ohne nachzusehen wer der Anrufer war und mit dem Gesicht noch tief im Kissen vergraben, nahm Max ab.

„Hmm?“

„Max, bist du das?“

Ein leises Seufzen. Dann drehte Max seinen Kopf zur Seite um besser sprechen zu können.

„Hi Mum…“

„Oh Max, es ist furchtbar! Ich habe schon wieder eine Absage bekommen!“, ohne jegliche Umschweife kam Judy zum Grund ihres Anrufes, was Max doch etwas kränkte. Keine Frage nach seinem Wohlbefinden.

„Wie war dein Flug?“

„Wie ist das Wetter in Japan?“

Ein „Du fehlst mir mein Junge“, war dann wohl sogar Zuviel verlangt…

In den letzten Monaten war sie ziemlich mit sich selbst beschäftigt. Alle Probleme die er besaß, wirkten in ihren Augen banal, immerhin war sie doch eine arbeitslose Forscherin, die für jeden anderen Beruf viel zu überqualifiziert war. Nicht das Judy eine schlechte Mutter war, sie konnte sehr liebevoll sein, wenn es um ihren einzigen Sohn ging. Doch manchmal fehlte es ihr am nötigen Taktgefühl, wenn sie an ihre berufliche Karriere dachte, die zuvor der Mittelpunkt ihres Lebens war.

„Ich verstehe nicht warum niemand eine angesehene Forscherin einstellen will? Bestimmt liegt es daran, weil ich eine Frau bin. Frauen von meinem Kaliber sind totale Mangelware. Diese alten Herren fühlen sich da nur wieder bedroht. Nicht einmal zu einem Vorstellungsgespräch bin ich geladen worden!“, wetterte Judy los und wenn sie so zänkisch war, konnte das nur heißen, dass sie ein paar Gläser Scotch intus hatte. Früher wäre ihm niemals in den Sinn gekommen, dass ausgerechnet seine Mutter zu solchen Dingen griff, doch schlechte Zeiten brachten auch manchmal schlechte Angewohnheiten hervor. Für eine so ehrgeizige Frau wie seine Mutter, war die Tatsache, dass sie keine neue Anstellung fand unerträglich. Während Max auf den Wecker schaute, um auszurechnen wie spät es in den USA war, erzählte Judy weiter. „Ich habe in den letzten Fortbildungskursen mit Bravour abgeschnitten. Trotzdem scheint das nichts zu zählen. Ich sage dir, das geht nicht mit rechten Dingen zu. Ich könnte platzen vor Wut! Das ist so deprimierend…“

„Mum, wir sind in einer Finanzkrise. Jedes Unternehmen leidet darunter und auch jedes Forschungsinstitut. Du musst einfach etwas Geduld haben. Im Gegensatz zu anderen Leuten, hast du wenigstens einen guten finanziellen Puffer.“

„Ich will aber nicht mehr warten! Mir fällt zuhause die Decke auf den Kopf!“

Max konnte hören wie seine Mutter wütend ein Glas auf den Tisch haute. Wäre er zuhause hätte er es ihr mit einem tadelnden Blick abgenommen.

„Wenn ich noch länger weg vom Fenster bin, kann ich zu meinen Kollegen nie wieder aufholen! Soll ich den ganzen Tag im Haus sitzen und Däumchen drehen? Du kennst mich Maxi, ich bin nicht häuslich und ohne dich ist es einsam hier. Dein Vater arbeitet ja bis spät in die Nacht.“

„Dann geh doch zu Dad in den Laden. Wenn dir langweilig ist, hilf ihm. Ich bin sicher er freut sich, wenn du in seiner Nähe bist.“

Er konnte seine Mutter seufzen hören.

„Das ist nicht dasselbe, mein Schatz. Ich habe in einem riesigen Forschungsinstitut gearbeitet. Dieser Laden entspricht nicht den Dimensionen die ich mir Wünsche. Null Aufstiegschancen. Dafür habe ich doch nicht studiert! Ich will nicht als armselige Kassiererin enden.“

Max Hand begann zu beben. Da gab sein Vater den Laden in Japan auf, um seiner depressiven Frau in die USA zu folgen und selbst das genügte nicht. Hatte sie jemals daran gedacht, wie schwer es für Max war, alles hier zurückzulassen? Er und sein Vater hatten sich eine bescheidene, aber angenehme Existenz in Japan aufgebaut und kaum ging es mit der Karriere seiner Mutter bergab, zog sie alle mit sich ins Verderben. Null Aufstiegschancen? Natürlich gab es keine! Der Laden war nicht größer als der Tante-Emma-Laden gegenüber. Kein Vergleich zu ihrem alten Geschäft…

„Mum, tut mir leid. Der Empfang ist schlecht. Ich rufe dich heute Abend von einer Telefonzelle aus an.“

„Habe ich etwas Falsches gesagt?“, er konnte seiner Mutter noch nie etwas vormachen. Und jetzt schien auch sie zu merken, dass ihr Sohn verärgert war. Dennoch log Max unbeirrt weiter.

„Alles bestens. Der Empfang ist nur schlecht.“

„Ich kann dich laut und deutlich hören. Maxi, du klingst so wüten-…“

Es machte Klick und endlich war wieder Ruhe.

„Ma~han!“, fluchend setzte sich Max auf, zielte auf seine offene Reisetasche gegenüber vom Bett und warf sein bereits wieder klingelndes Handy, im hohen Bogen hinein. Seine Mutter war nicht nur ehrgeizig, sondern auch hartnäckig, doch das Einzige was sie von Amerika aus tun konnte, war immer wieder anzurufen. Im Moment konnte ihm diese furchtbare Klette gestohlen bleiben. Als Max des ständigen Piepsens aus der Tasche überdrüssig wurde, wollte er das Handy abschalten und sich anschließend im Badezimmer eine Dusche gönnen, da klopfte es aber an der Tür.

„Max? Bist du wach?“

Er war nicht der Einzige, dem man die letzte Nacht ansah. In Rays Fall verriet ihn bereits seine heisere Stimme. Es war kalt gewesen, aber keiner von ihnen hatte sich darum geschert. Mit Handtuch und Unterwäsche bepackt öffnete er die Tür.

„Komm herein.“, murmelte Max verdrießlich. Doch als er Ray so vor sich sah, verflog die schlechte Laune. Er schüttelte grinsend den Kopf. „Man siehst du bescheiden aus. Wenn man das mal so sagen darf…“

„Komm mir bloß nicht so…“, murrte Ray angeschlagen, rieb sich den schmerzenden Nacken und trat ein. Dunkle Augenrinnen zeichneten sich in seinem Gesicht ab und eine Rasur wäre auch vorteilhaft gewesen. „Tyson hat angerufen. Er will unbedingt mit uns sprechen.“

„Wieso?“

„Hat er nicht gesagt.“

„Dann kann es nicht so wichtig sein…“

„So wie ich ihn verstanden habe, sollen wir so schnell wie möglich unseren Kater abschütteln und uns auf den Weg machen.“

„Typisch Tyson. Ungeduldig wie immer, aber das kann er jetzt vergessen! Erst duschen, dann spurten.“, Max gab Ray einen freundschaftlichen Klaps auf die Schulter. „Würde dir übrigens auch guttun. Junge, bringst du vielleicht eine Fahne in den Raum!“

„Wirklich?“

„Ja! Riechst du das nicht? So können wir nicht zu Tyson.“

„Ich weiß nicht, es klang ernst…“

„Ray, wir stinken nach Alkohol! Wir können gar nicht richtig nüchtern werden, weil der Geruch von Hochprozentigem, der aus unseren Poren entweicht uns wieder abfüllt!“

„So schlimm?“, fragte Ray, doch ein müdes Lächeln stahl sich auf sein Gesicht. Dann sah er mit verschlafenem Ausdruck auf seine Kleidung. Die hatte tatsächlich schon bessere Zeiten erlebt.

„Naja, eine kurze Dusche kann nicht schaden. Umziehen muss ich mich auch noch, sonst denkt Tysons Großvater, sein Enkel gabelt neuerdings Junkies von der Straße auf. Aber beeil dich! In einer Stunde will ich beim Dojo sein.“
 

Hätten beide zu diesem Zeitpunkt geahnt, weshalb Tyson auf glühenden Kohlen saß, wären sie schneller gewesen, anstatt sich seelenruhig den Schmutz der durchgezechten Nacht abzuwaschen.

Doch so hockte ihr Freund entnervt in der Küche, trommelte mit seinen Fingern einen ungeduldigen Rhythmus auf den Tisch und hörte sich noch nebenbei die Standpauke seines Großvaters an. Der alte Mann hatte sich in Rage geredet und benutzte mehrere unschöne Betitelungen für seinen Enkel. Von „Vakuumbirne“ bis „Brauereipferdhinternexkrement“ reichte das Sortiment. Trotz seines fortgeschrittenen Alters besaß er eine gute Portion Einfallsreichtum. Seine Wortspielereien waren Beweis genug. Aufgebracht humpelte Großvater Kinomiya hin und her. In seinen Augen war das Verhalten der Gruppe unreif und verantwortungslos gewesen. Zudem hatte er bereits angekündigt, dem Rest des Teams einen kräftigen Hieb mit seinem Gehstock zu verpassen, wenn sie endlich über die Türschwelle schritten. Tyson selbst zierte bereits eine pochende Beule am Hinterkopf, die genauso schmerzhaft war wie sie aussah. Im Nachhinein bereute er, seinem Großvater von Kais Ausraster erzählt zu haben, aber Tyson hatte in einem Augenblick geistiger Umnachtung erwartet, einen guten Ratschlag aus ihm herauskitzeln zu können. Mittlerweile wusste er es aber besser…

„Hast du bei dem Arzt angerufen Grünschnabel?“

„Jaah…“, antwortete Tyson kleinlaut.

„Hast du einen Termin bekommen?“

„Nein.“, seufzte er. Und schon machte es BAMM, als die Faust seines alten Herren seinen Kopf wieder traf. Offensichtlich war das keine zufriedenstellende Antwort. Da halfen auch Tysons weitere Rechtfertigungen nicht.

„Die Tippse hat gesagt er ist der Beste in Tokyo!“

BAMM!

„Es gibt dutzende Fälle von Trisomie in dieser Stadt!“

BAMM!

„Und alle wollen von ihm behandelt werden!“

BAMM! Doch dieses Mal kam etwas Abwechslung hinein, weil sein Großvater das Wort ergriff.

„Dann hättest du dir mehr Mühe geben müssen!“, schrie er Tyson an.

BAMM!

„Immerhin habe ich dich zu hundertprozentiger Leistung erzogen!“

BAMM!

„Nie-„BAMM! „-mals“ BAMM! „aufgeben!“

Das war doch definitiv häusliche Gewalt. Tyson glaubte sich kurz vor einer Gehirnerschütterung und war dankbar, dass sein Großvater mit Mitte Siebzig zu alt war, um noch mit ganzer Kraft draufzuhauen. Es läutete an der Tür und erleichtert atmete Tyson auf.

„Da ist der Rest von diesem Idiotenclub! Warte nur, denen ziehe ich die Hammelbeine lang! Die kriegen einen Tritt in den Hintern, dass ihnen ihre mickrigen Hod-…“

„Lass das Opa!“

Mr. Kinomiya humpelte bereits zur Tür, um seine Freunde mit einem herzlichen Empfang zu begrüßen. Da es aber keine große Sache war, einen klapprigen Rentner zu überholen, gelang es Tyson sich an ihm vorbei zu drängen und die Eingangstür vor ihm aufzureißen. Dabei lief er seinem verdutzten Freunden in die Arme.

„Was zum?“

„Keine Zeit! Hintertür! Hoch in mein Zimmer! Schnell!“, unterbrach Tyson Max und als er seinen Großvater hinter der Eingangstür bereits zetern hörte, packte er seine verdutzte Freude am Arm, um sie auf anderem Wege ins Haus zu befördern.
 

Etwas später in Tysons Zimmer, musste er seinen Freunden erst einmal erklären, weshalb sein Großvater so außer sich war, denn der alte Mann pochte eine ganze Weile fluchend gegen die abgeschlossene Zimmertür und forderte sie auf herauszukommen, wenn sie auch nur ein halbes Ei in der Hose besaßen. So jedenfalls der genaue Wortlaut…

Natürlich wollte sich niemand mit dem alten Mr. Kinomiya anlegen. Nicht weil sie keine Chance gehabt hätten, sondern weil er in ihrer Kindheit immer eine Autoritätsperson darstellte. Das hinterließ Spuren und schon aus Reflex wollte Max der Anweisung, die Tür zu öffnen, Folge leisten, bis ihm einleuchtete, dass seine Schädeldecke eine Begegnung mit einem Gehstock, nicht so toll finden würde. Nachdem Tyson ihnen aber vom Ausgang des gestrigen Abends erzählt hatte, fühlten sie sich in etwa genauso an den Kopf gestoßen. Dabei übersprang er in weiser Voraussicht den Teil mit der unheimlichen Begegnung zum Schluss.

Als Tyson nach diesem Erlebnis mit hundertachtzig Sachen nachhause gerast war, hatte er sich gleich beim ersten Kontakt, mit seiner warmen Bettdecke, lächerlich gefühlt. Es gab hunderte, nein, Millionen von Menschen, die etwas blasser um die Nase herum waren und er dachte prompt an Horrorklassiker wie Dawn of the Dead. Im Nachhinein betrachtet kam es ihm absurd vor. Er war zu alt um noch an lebende Tote zu glauben. Zwar fand er die Tatsache, dass jemand ihn mit seinem richtigen Namen angesprochen hatte seltsam, aber andererseits war er eine Zeitlang groß in der Presse gewesen. Damals hatte er immer darauf bestanden, mit seinem Spitznamen Tyson, abgedruckt zu werden - als er nämlich das erste Mal einen Beyblade Kampf gewonnen hatte, meinte einer seiner frühen Kindheitsfreunde, sein Blade habe einen Schlag drauf, wie die Faust von Mike Tyson - aber es gab bestimmt genug Zeitschriften, die einmal erwähnt hatten, dass sein richtiger Name Takao Kinomiya lautete.

„Benimm dich wie ein Erwachsener!“, hatte Tyson sich danach in einer Endlosschleife ermahnt und war irgendwann eingeschlafen. Sein Entschluss nach dem heftigen Streit mit Kai, stand immer noch fest. Er wollte erwachsener werden. Und während Tyson berichtete, konnte er in den Gesichtern seiner Freunde, die verschiedensten Gefühlsregungen erkennen. Einmal Interesse, dann entsetzten und als er ihnen reumütig, von seiner zügellosen Zunge berichtete, folgte pure Fassungslosigkeit.

„Oh Tyson!“, rief Max vorwurfsvoll aus und fuhr jaulend mit der Hand an seine Stirn. „Wie konntest du so etwas nur sagen? Das war echt mies!“

„Du hast zu Kai gesagt er ist ein Sorgenkind? Weißt du wie sich das anhört? Als wäre er eine riesige Last!“, Ray sah ihn verständnislos an und Tyson fühlte sich einmal mehr wie Dreck. „Man Junge, wir haben alle in unserem Team für Probleme gesorgt, dass ist nicht nur alleine auf Kais Konto gegangen. Denk doch mal an meine Schwierigkeiten mit den White Tigers!“

„Kein Wunder das er gegangen ist! Bevor Kai sich so etwas vorwerfen lässt, würde er sich lieber die Kugel geben. Du weißt wie Stolz er ist! Hast du dir überlegt wie du das wieder hinbiegst?“

Dieser Satz rüttelte ihn wach und sofort meldeten sich Tysons Lebensgeister zu Wort. Immerhin war er nicht der einzige Schuldige im Raum.

„Moment, ich war nicht alleine im Auto!“, stellte er klar. „Wir haben alle fleißig an diesem dummen Planer herumgepfuscht! Also ist es wohl das Mindeste, wenn wir das gemein-…“

„Du hast Kai aber mit deiner großen Klappe vor den Kopf gestoßen! Er sagt dir das er eine schwerkranke Schwester daheimsitzen hat und du hast nichts Besseres zu tun als…“

„Weißt du wie er drauf war?! Siehst du diese angeschwollene Lippe?“, unterbrach Tyson ihn. Er deutete auf die besagte Stelle. „Die hat er mir während der Fahrt verpasst! Ich hätte die Karre beinahe gegen den nächsten Strommast gelenkt!“, nun schlug Tyson förmlich mit aufgebrachten Gesten um sich. „Er hat nicht mehr mit sich reden lassen! Der Kerl stand vollkommen neben sich! So habe ich ihn noch nie erlebt! Er war total wutgeladen!“

„Ach!“, meinte Ray schnaubend. Er saß im Schneidersitz gegenüber von Tyson und verschränkte ungläubig die Arme vor der Brust. „Jetzt trag mal nicht so dick auf! So ein Verhalten kann ich mir bei Kai gar nicht vorstellen. Dazu ist er viel zu diszipliniert…“

„Dann muss du deine Fantasie eben spielen lassen! Er war wie ausgewechselt sage ich dir!“, bei dem Gedanken, dass Ray ihm nicht glauben wollte, brodelte es in seinem Magen. Er hatte zu dieser Uhrzeit seelenruhig im Hotelbett seinen Rausch ausgeschlafen, während Tyson sich mit Kai die Haare raufte. Wie konnte er vom Hörensagen den Abend richtig beurteilen?

Max war dagegen der Einzige, der nicht auf dem Boden saß. Stattdessen wippte er neben den beiden auf dem Schreibtischstuhl, mit der Stuhllehne zur Brust, immer wieder vor und zurück, während er sich das Gehörte durch den Kopf gehen ließ.

„Eigentlich könnte ich mir gut vorstellen, dass Kai ausgeflippt ist.“, meinte er irgendwann nachdenklich an Ray gewandt und Tyson freute sich im Innern diebisch über diesen kleinen Erfolg. „Kai war früher nur für sich selbst verantwortlich. Er hatte keine Geschwister, seine Eltern waren nie da, ihm wurden nie Grenzen gesetzt. Auf Voltaire hat er nach der Sache mit Biovolt prinzipiell nicht mehr gehört. Ich hatte früher bei ihm das Gefühl, dass er nach seinen eigenen Regeln lebt. Niemand hat ihn jemals in seine Schranken verwiesen oder ihm etwas abverlangt. Es klingt jetzt fies was ich sage, aber er war doch etwas verwöhnt und egozentrisch. So etwas wie Pflichtbewusstsein ist bei ihm erst mit Janas Geburt gekommen. Theoretisch wissen wir gar nicht wie er unter zu viel Druck reagiert. Seine gesamte Jugend lief nach seinem Willen ab. Das gilt auch für seine Karriere.“

Max hörte auf zu wippen und sah seine Freude aus ernsten Augen an.

„Für jemanden wie ihn, der hundertprozentigen Kontrolle über sein Leben gewohnt ist, muss es unbegreiflich sein, dass er Janas Krankheit so machtlos gegenübersteht. Er ist kein Wunderheiler und Gesundheit kann man sich weder mit Geld noch mit Macht erzwingen. Er steht dem ganzen jetzt total hilflos gegenüber. Das einzugestehen ist bestimmt eine verdammt bittere Pille…“

Einige Sekunden ließen sich alle Maxs Worte durch den Kopf gehen. Dann fügte Ray gedankenverloren hinzu: „Außerdem geht es hier nicht nur um ihn. Kai kann Rückschlage die ihn selbst betreffen verkraften, aber hier muss er Verantwortung für eine andere Person übernehmen. Wenn Kais Mutter sich wirklich aus dem Staub gemacht hat, dann hat Jana nur noch ihn und das weiß er auch.“, er hielt sich grübelnd das Kinn. „Früher hat er sich immer zurückgezogen, wenn er keine Lust auf etwas hatte. Wir konnten ihn nie davon abhalten. Er ist gekommen und gegangen wie ein Wandervogel. Wisst ihr noch wie oft wir ihn suchen mussten, wenn wir ihm auf die Nerven gegangen sind? Das kann er sich bei Jana nicht mehr erlauben. Die Kleine ist mit Leib und Seele auf ihn angewiesen.“

„Warum hat er uns das eigentlich nicht früher gesagt?“, murmelte Max leise vor sich hin. Dieser Teil schien sie alle schwer betroffen zu machen, denn prompt fühlte man, wie sich die Stimmung im Raum verdüsterte. Etwas ratlos fuhr sich Max über den verspannten Nacken. „Ich dachte eigentlich Kai würde uns mittlerweile vertrauen. Immerhin haben wir so viel zusammen durchgemacht. Da hätte er uns ruhig einweihen können.“

„Er hat es seit Janas Geburt verschwiegen.“, sprach Ray ebenso enttäuscht. Betroffene Stille kehrte ein, während Tyson der Schädel zu brummen begann. Seufzend ließ er sich nach hinten fallen und verschränkte die Arme hinter dem Kopf.

„Und er ist doch ein Problemkind…“, kam das trotzige Flüstern aus seinem Mund.
 


 

*
 

Den kleinen Trolley hinter sich herziehend, ging die schwangere Frau die Straße entlang. Ihre katzengleichen Augen, mit den gelblichen Sprenkeln darin, suchten konzentriert die Häusernummern ab, wanderten von einem zum anderen Haus. Nach ein paar weiteren Schritten blieb sie endlich an ihrem Ziel stehen. Kein Zweifel. Das war der Dojo der Familie Kinomiya. Etwas unschlüssig stand die werdende Mutter vor dem Eingangstor, doch dann öffnete sie zaghaft einen der hölzernen Torflügel zum Grundstück und spähte in das Anwesen hinein. Als sie das idyllische Haus vor sich erblickte, umsäumt von den niedrigen Mauern, den akkurat gestutzten Bonsaibäumchen und dem typisch japanischen Garten, seufzte sie wohlig auf. Alles wirkte so friedlich und harmonisch…

Mariah war vor und nach ihrer Hochzeit öfters hier gewesen und staunte immer wieder über das schöne Anwesen. Trotz seiner Größe wirkte es nicht allzu pompös, sondern besaß diesen Gewissen schlichten Charme, bei dem man sich gleich wie zuhause fühlte. An manchen Sommernächten hatten sie alle draußen auf der Veranda gesessen, beobachteten die Sterne und philosophierten über die alte Zeit. Wenn ihr kalt gewesen war, hatte sie sich an Ray geschmiegt und seine wohlige Wärme genossen und einmal war ihr ein zufriedenes Schnurren entwichen. Ihr war das so peinlich gewesen, dass ihr die Röte in Sekundenschnelle ins Gesicht schoss, doch Ray nahm es mit Humor, hauchte ihr einen Kuss in die Halsbeuge und legte den Arm um sie.

Dieses Haus besaß für Mariah einen ganz speziellen Erinnerungswert. Es war einer jener Orte, an denen sich die White Tigers und die Bladebreakers, nach ihrer Bladerzeit getroffen hatten. Fast wie bei einem Klassentreffen. Obwohl Mariah den Verdacht hegte, dass Lee sich dazu nur aufgerafft hatte, weil Ray einen Vorwand brauchte, um sie wieder ins Land zu locken. Es war eine kleine Verkupplungsaktion gewesen, die vortrefflich funktioniert hatte.

Eine große japanische Ume zog ihren Blick magisch an. Diese Aprikosenbäume wuchsen auch in China. Doch an diesem hier hatten Ray und sie sich das erste Mal geküsst. Es war wieder eines jener Treffen gewesen und beide hatten sich kurz hinausgestohlen, um sich vom Lärmpegel im Wohnzimmer zu erholen und für sich zu sein.

Natürlich kam aber gerade in jenem Moment Tyson als Stimmungskiller vorbei…

Er und Max zogen Gary über die Veranda, wobei jeder von ihnen sich einen seiner massigen Arme über die Schulter geworfen hatte. Mariahs altes Teammitglied fraß sich an diesem Abend so voll, dass sein Gesicht eine ungesunde Färbung erhalten hatte und es war nur eine Frage der Zeit gewesen, bis er sich übergeben würde. Doch als Tyson das Pärchen sah, riss er geschockt den Mund auf, ließ Gary los und schrie über den Hof: „Hey Leute! Macht das bei euch zuhause aber nicht bei mir! Wenn Opa das sieht kriege ich Ärger! Der ist altmodisch!“

Mariah hatte laut gelacht, doch Ray war vor Scham rot geworden und hatte gefaucht: „Tyson, verzieh dich! Du machst alles kaputt!“

Nach ein paar Sekunden begann eine heftige Debatte zwischen den beiden, während Max mit dem doppelt so großen und dreimal so schweren Gary alleine klarkommen musste, was damit endete das er vollkommen überfordert um Hilfe rief: „KAI! KOMM RAUS! SCHNELL! DER DICKE MACHT MICH GLEICH PLATT!“
 

Beim Gedanken an diese Zeit hatte Mariah nicht bemerkt, wie sie vollkommen vertieft in den Hof schritt und sich an den Baum stellte. Wehmütig strichen ihre Fingerspitzen über die furchige Rinde. Sie hatte alles zerstört…

Ray war immer zu hundert Prozent bemüht gewesen, es ihr Recht zu machen und nun standen sie kurz vor der Scheidung. Es war allein ihr Fehler. Sie hatte ihn verbittert und vergrault. Mariahs letzte Unterhaltung mit Lee, vor ihrem Flug nach Japan, kam ihr in den Sinn.

„Was machst du nur mit dem armen Kerl?!“, hatte ihr Bruder bestürzt ausgerufen. Schwanger hin oder her, doch in diesem Fall konnte selbst er nicht mehr nachvollziehen, weshalb seine Schwester ihren Mann so quälte. Der offene Vorwurf ließ einen Kloß in ihrem Hals hochkommen. Sie konnte Lee nur aus tränennassen Augen anblinzeln und antworten: „Ich weiß es doch auch nicht!“

Dann war Mariah heulend in sich zusammengesunken, hatte ihren Kopf auf den Küchentisch gelegt und ihn beschämt zwischen ihren Armen vergraben – wie ein kleines Häufchen Elend.

Ihr komplettes Verhalten, stand im vollkommenen Gegensatz, zu dem was sie tat und sagte. Mariah musste mit Ray sprechen. Wenn er in der Stadt war, dann war das hier einer jener Orte die er täglich aufsuchen würde. So gut kannte sie ihn. Mariah wandte ihren Blick vom Baum ab und sah zur Haustür. Sie konnte nur hoffen, dass Ray nicht mehr so wütend war, wie bei ihrem letzten Aufeinandertreffen.
 


 

*
 

„Sag mal, Tyson…“, begann Max nachdenlich, nachdem die jungen Männer längere Zeit über Kai gesprochen hatten. „Warum ist Kenny eigentlich nicht hier?“

Tyson lag rücklings auf dem Boden, kratzte sich gähnend unter seinem Hemd am Bauch. Auch er schien noch ziemlich geschlaucht von der gestrigen Nacht. Kurz darauf schloss er die Augen und ein Grinsen stahl sich auf sein Gesicht.

„Kenny lässt ausrichten, dass er für den Rest der Woche nicht mehr ansprechbar ist. Jedenfalls sagt das sein Anrufbeantworter. Außerdem habe ich heute Morgen bei ihm geklingelt. Das Einzige was ich zu hören bekam war ein - Hau ab, ich kotze gerade.“, mit einem Ruck setzte sich Tyson auf und deutete auf seinen Schreibtisch, wo Kennys zugeklappter Laptop lag. „Eigentlich wollte ich ihm bei der Gelegenheit gleich mal Dizzy vorbeibringen. Die lag gestern Abend noch in meinem Kofferraum. Ich habe total vergessen, dass wir über Kenny ein Laptopverbot verhängt haben. Aber wahrscheinlich liegt er noch im Koma und weiß gar nicht dass sie hier ist. Oder er vergnügt sich mit der Toilettenschüssel… Weichei.“

Plötzlich pochte es wieder an der Tür und alle schraken auf. An Mr. Kinomiya hatte keiner von ihnen mehr gedacht.

„Tyson? Mach auf!“, schallte die Forderung hinter der Zimmertür.

„Keine Chance Opa!“

„Nein. Nicht für Prügel… Vor dem Haus steht Rays Frau. Man hat die eine Wampe bekommen! Ist die schwanger oder einfach nur fett geworden?“

Max und Tyson klappte der Mund auf und beide schielten zu Ray, dem seine Emotionen direkt ins Gesicht geschrieben standen, wie ein offenes Buch. In seinen Augen spiegelte sich eine eigenartige Mischung aus Gefühlen. Zum einen Fassungslosigkeit, dann Neugierde und schließlich noch Wut. Er hatte wohl gehofft, dieses eine Wochenende, seine Ruhe vor der bevorstehenden Scheidung zu haben. Doch nun brachte Mariah seine Probleme mit ins Land. Insgeheim fragten sich alle, was so wichtig sein konnte, dass sie in ihrem hochschwangeren Zustand, den nächsten Flieger nach Japan bestieg. Gerade Ray schien nicht besonders begeistert darüber…

„Ich glaub das nicht…“, murmelte er verbissen, stand von seinem Sitzkissen auf und schritt zur Tür, während Tyson und Max sich vielsagende Blicke zuwarfen. Als Ray die Tür öffnete, stand der alte Mr. Kinomiya mit seinem Gehstock davor und sah ihn fragend an.

„Du hast mir gar nicht erzählt dass deine Schönheit schwanger ist, Jungchen.“

„Tja, Überraschung.“, antwortete Ray lustlos. „Ist sie im Haus?“

„Nein. Ich habe es ihr angeboten, bin ja schließlich kein Unmensch. Aber sie wollte draußen warten.“

„Na wenigstens etwas.“, meinte Ray verächtlich. Dann fügte er höflicher hinzu. „Danke Mr. Kinomiya.“

„Kein Thema. Übrigens, du bekommst noch was von mir.“

Ray wollte sich gerade auf den Weg zur Treppe machen, doch dann drehte er sich mit verständnislosem Blick zum alten Hausherren um. Er konnte sich wohl nicht daran erinnern, dass Tysons Großvater ihm etwas schuldig war. Dessen Enkel jaulte auf, als er diesen Satz vor seiner Zimmertür hörte. Doch noch ehe Tyson aufgesprungen war, hörten sie das surrende Geräusch des Gehstocks, der auf Rays Schädeldecke traf, gefolgt vom Jubelschrei des verrückten Großvaters.

„BAMMM!“
 


 

*
 

Als Ray später mit schmerzender Beule in den Hof trat, saß Mariah mit dem Rücken zu ihm, auf einem Zierstein und streichelte sich gedankenverloren über den runden Babybauch. Das letzte Mal als er seine Frau gesehen hatte, war das Bäuchlein noch nicht so dick gewesen und eine boshafte Stimme in Rays Hinterkopf, wünschte diesem Bastard die hässlichste Nase der Welt. Neben Mariah stand ein kleiner Trolley. Scheinbar hatte sie sich gleich nach ihrer Ankunft auf die Suche nach ihm gemacht. Ray wusste nicht genau was er davon halten sollte. Was wurde jetzt von ihm erwartet?

Sollte er verärgert sein oder gleichgültig bleiben?

Bei Mariah musste Ray immer im Hinterkopf behalten, dass alles was er sagte und tat, an ihren Bruder herangetragen wurde. Lee und er kannten sich seit ihrer frühen Kindheit, daher war es Ray wichtig, nach der Scheidung, immerhin zu ihm noch den Kontakt aufrecht zu halten.

Nichtsdestotrotz blieb aber diese gehässige Stimme in seinem Hinterkopf, die Mariah liebend gerne für ihr launisches Verhalten verspottet hätte. Schließlich wäre Ray in zwei Tagen wieder in China gewesen. Entweder hatte sie nicht gewusst wie lange sein Aufenthalt in Japan dauerte oder neuerdings schmiss sie sein Geld in Strömen aus dem Fenster. Die werdende Mutter machte einen ziemlich geknickten Eindruck und zu Rays Schrecken, weckte das seinen alten Beschützerinstinkt. Der kleine Teil, der noch an dieser Frau hing, wollte doch tatsächlich zu ihr rennen und sie in die Arme schließen. Dabei hatte Mariah ihm förmlich das Herz aus dem Leib gerissen und er zerfloss hier zu einer riesigen Wachslache. Das durfte nicht sein. Momentan musste er sich selbst schützen…

Ein paar Mal atmete Ray tief durch, um einen klaren Gedanken zu fassen. Dann schritt er die kleine Treppe der Veranda herab, auf seine Noch-Ehefrau zu, während der Kies unter seinen Schuhen knirschte. Sofort wurde Mariah auf ihn aufmerksam. Sie drehte sich zu ihm und beobachtete wie ihr Mann näher kam, mit diesen hübschen Augen, in die er sich einmal so blind verliebt hatte. Als Ray einige Schritte vor ihr hielt, sah er auf die junge Mutter herab, die noch auf ihrer provisorischen Sitzgelegenheit saß. Er versuchte so viel Verachtung wie irgendwie möglich in seinen Blick zu legen.

„Was willst du?“

Keine Begrüßung. Kein Smalltalk. Er wollte diese Unterhaltung so schnell wie möglich hinter sich bringen, was Mariah wohl nicht entging. Seiner Meinung nach genügte es, dass er sie bald vor dem Scheidungsrichter sehen musste. Seufzend schloss Mariah die Augen, dann stand sie auf, um mit Ray wenigstens ansatzweise auf einer Augenhöhe zu bleiben.

„Tut mir Leid das ich dich hier so überfalle. Ich musste dich einfach sprechen.“

„Das habe ich auch schon bemerkt.“, antwortete Ray in schneidendem Ton. „Ich verstehe nur nicht, warum das nicht bis zu meiner Rückkehr warten konnte!“

„Ich wusste nicht wie lange du weg bleibst. Du bist ausgezogen. Ans Handy gehst du auch nicht.“

„Und dir ist nicht der Gedanke gekommen, dass ich das so will?“, blaffte Ray sie an.

„Ich wusste mir nicht anders zu helfen…“, erklärte Mariah verzweifelt und bei diesem Gedanken, bekam ihre Stimme eine beklommene Unternote. Ihre Augen blickten traurig zu Boden. „Außerdem hat Lee gesagt, ich sollte mit dir von Angesicht zu Angesicht sprechen. So schnell wie möglich…“

„Hat er das?“, Ray biss sich auf die Unterlippe. Eigentlich hatte er seinem alten Freund gebeten niemanden zusagen dass er im Ausland war. Er wollte einfach nur seine Ruhe haben. Was hatte er aber anderes erwartet? Lee war Mariahs Bruder und Blut bekanntlich dicker als Wasser.

„Was willst du?“, kam die Frage schließlich erneut.

„Könnten wir das irgendwo anders besprechen?“, fragte Mariah und Ray beobachtete wie sie zu einem der Fenster im ersten Stock spähte. Wahrscheinlich konnte Tyson sich nicht zusammenreißen und lauschte vom Zimmerfenster aus, während Max ihn immer wieder zurückzog. „Vielleicht ein kleiner Spaziergang? Bis zum Fluss und wieder zurück?“

„Auch das noch…“, seufzte Ray und schloss die Augen. Doch schließlich nickte er mit dem Kopf in Richtung Ausgang.
 


 

*
 

In Mr. Kinomiya hatte sich eine riesige Portion Genugtuung ausgebreitet, als er Ray auf etwas handgreifliche Art die Leviten gelesen hatte. Nichts brachte Männer besser zur Besinnung, als ein ordentlicher Hieb auf die Schädeldecke. Er war keinesfalls sadistisch veranlagt, doch zu seiner Zeit wurden junge Burschen noch ordentlich für blöde Streiche gezüchtigt und was diese Rabauken ausgefressen hatten, war Dummheit im höchsten Maße. Vor allem von Ray hätte er eine solche Gedankenlosigkeit nicht erwartet. Der junge Mann war für gewöhnlich die Vernunft in Person. Deswegen hatte es Mr. Kinomiya tierisch in den Fingern gejuckt, diesen Kerl in die Finger zu bekommen. Schließlich sollte das kein Dauerzustand werden. Bei Max und Tyson wunderte ihn dieses Verhalten weniger. Max war schon immer äußerst verspielt und sein Enkel…

Bei Tyson war Hopfen und Malz schon lange verloren. Der Junge kam als Chaot auf die Welt und würde auch als Chaot abtreten. Leider lag das in der Familie, denn was Mr. Kinomiya hütete seinem Enkel zu erzählen, war, dass er in seinem Alter auch nicht viel mehr in der Birne besaß.

Kurz nachdem Ray mit seiner Frau das Anwesen verlassen hatte, fiel Mr. Kinomiya dafür ein, dass er noch seine Tabletten nehmen musste und so stapfte er schwer atmend wieder die Treppen zu den Schlafräumen im oberen Stockwerk hinauf. Oben angekommen musste er sich erstmal an der Brüstung abstützen und ein paar Mal tief durchschnaufen.

„Du bist nicht mehr der Jüngste, alter Knabe.“, erinnerte er sich wehmütig und stieg vorsichtig über eine der Plastikfolien, die durch den Umbau im Obergeschoss überall verteilt lagen. Das ganze Haus war eine einzige Baustelle, seit er beschlossen hatte anzubauen. Da Tyson mittlerweile auf die dreiundzwanzig zu ging und der Einzige war der sich um ihn und den Familiendojo scherte, hatte Mr. Kinomiya beschlossen, seinem chaotischen aber trotzdem loyalem Lieblingsenkel, ein kleines Geschenk zu machen, indem er das oberste Stockwerk zu einer Vier-Zimmer Wohnung umbaute. Ein junger Mann in Tysons Alter, brauchte einen Ort an dem er sich ungestört zurückziehen konnte. Auch wenn Mr. Kinomiya seinem Enkel öfters mal gerne die Ohren lang zog, hatte er dennoch nicht vergessen, wer ihm nach seinem Schlaganfall beistand. Um den restlichen Familienmitgliedern eins auszuwischen, verschwanden dafür im Erdgeschoss die Zimmer von Tysons Vater, das seit Jahren leer vor sich hinvegetierte und Hitoshis, der sich als genauso treulos wie sein Erzeuger entpuppt hatte.

Davon ahnten beide natürlich nicht einmal im Entferntesten etwas. Als zusätzliches Sahnehäufchen hatte Mr. Kinomiya vor kurzem sein Testament ein wenig abgeändert. Im Falle seines Todes würde sein gesamtes Vermögen an Tyson gehen. Das war seine Art Streiche zu spielen!

„Ich möchte, dass alle außer dem Chaoten, richtig lange Gesichter ziehen, wenn ich einmal sterbe!“, hatte er bei seinem langjährigen Anwalt und alten Freund gescherzt und beide begannen lauthals zu grölen, während er sich schadenfroh auf die Schenkel klopfte. Bei diesem Gedanken musste Mr. Kinomiya grinsen und öffnete die Tür zu seinem Schlafzimmer. Doch als der alte Mann eintrat und aus seinem Nachtschränkchen die Tabletten holen wollte, stand das Fenster an der gegenüberliegenden Wand sperrangelweit offen. Eine kühle Brise wehte hinein.

Die Vorhänge glitten vor und zurück. Vor und wieder zurück…
 

Und umspielten die hochgewachsene Gestalt eines wildfremden Mannes, der ihm den Rücken zugewandt, vor dem Fenster stand. Mr. Kinomiya verschlug es die Sprache. Der Fremde schien seelenruhig auf den Teich im Garten hinabzuschauen. Er tat es zu gelassen, um ein Einbrecher zu sein. Die bemühten sich immerhin, nicht erwischt zu werden. Dieser Schnösel schien aber allein wegen der hübschen Aussicht gekommen zu sein. Mit den Händen in den Hosentaschen, schaute er aus dem Fenster, als gehörte dieses Zimmer ihm. Es gab nicht viel was den alten Herren dieses Dojos Angst bereitete, doch ein innerer Instinkt witterte Unheil. Reflexartig verlagerte er seinen Gehstock in den Händen, hielt ihn empor, als wäre er sein altes Shinai, konnte aber nicht verhindern, dass sich seine Nackenhaare vor Anspannung aufrichteten und seine altersschwachen Hände zitterten.

Ein Luftzug wehte durch den Raum und ließ die Zimmertür hinter Mr. Kinomiya zufallen.

Nicht laut und polternd, sondern leicht und klanglos – wie von Geisterhand.
 


 

*
 

Ein Schwarm Enten drehte eine Runden auf der sanften Strömung des Kanda Flusses. Die bunten Köpfte tauchten in die Fluten ein, um sie kurz darauf schüttelnd herauszuziehen und weiter mit den Füßen zu paddeln. Manchmal zappelte dann auch ein kleiner Fisch in einem der Schnäbel.

Von ihrem Standort aus, der kleinen Brücke über dem Fluss Kanda, an dessen Ufer Tyson als Junge seine ersten Beyblade Kämpfe ausgetragen hatte, sahen Ray und Mariah auf die dunklen Wassermassen unter ihnen herab, die bedauerlicherweise mehr Abfall als Wasser zu fördern schien. Tokio war leider in den letzten Jahren nicht sauberer geworden. Es hatte sich eher verschlimmert. In ihrer Jugend war dieser Platz wirklich ein schöner Fleck gewesen, um sich zu entspannen oder zu trainieren, heute konnte Ray nur bedauernd schnalzen, wenn er die ganzen Plastikbecher vorbeitreiben sah. In der halben Stunde die sie gebraucht hatten, um gemächlich hier her zu spazieren, erklärte Mariah ihm, wie sie sich in den letzten Monaten ihrer Ehe fühlte.

Und das gab Ray zu denken…

„Du lässt mir keine Entscheidungsfreiheit. Das macht mich wahnsinnig!“, es waren wirklich harte Worte, die ihn doch beschäftigten. Ray war unschlüssig ob das nicht ein letzter Versuch war, die Schuld am scheitern der Ehe, auf ihn abzuwälzen oder ob Mariah tatsächlich so fühlte.

„Ray ich will ehrlich sein…“, begann sie mittlerweile erneut. Mariah wandte sich von der Brüstung ab und drehte sich zu ihm. „Ich liebe dich. Ich liebe dich immer noch und das hat sich niemals geändert! Du bist ein wundervoller Ehemann und du hast immer nur das Beste für mich im Sinn gehabt. Aber seit meiner Schwangerschaft, hast du permanent über meinen Kopf hinweg Entscheidungen gefällt, ohne mich auch nur nach meiner Meinung zu fragen!“

Mariah schaute ihn mit flehenden Blick an, während Ray ihr die Zeit ließ, zu Ende zu sprechen. Etwas was in dieser Weise schon lange nicht mehr vorgekommen war. Die letzten Unterhaltungen zwischen ihnen, hatten so schnell an Aggressivität gewonnen, dass es keine Aussicht auf eine Versöhnung gab. Dazu waren beide zu stur geblieben. Jetzt sprach Mariah aber das erste Mal ruhiger mit ihm, legte das hysterische Biest, für das er sie die letzten Monate hielt, endlich wieder ab.

„Ich bin überhaupt nicht glücklich darüber, wie es momentan zwischen uns läuft. Ich bin nicht glücklich, wie diese Ehe uns verändert. Ich habe das Gefühl, dass da eine Frau zutage gefördert wird, die ich gar nicht sein will! Und das ich mich ständig wehren muss…“

„Wogegen musst du dich denn schon wehren?“, schnaubte Ray.

„Gegen dich! Gegen die Entscheidungen die du ohne meine Meinung triffst!“

„Das ist doch gar nicht wahr!“

„Ach ja? Und warum war es für dich schon beschlossene Sache, dass wir nach Japan ziehen? Du hattest doch sogar schon einen Makler beauftragt, um uns eine Wohnung in Tokyo zu suchen!“

Ray dachte nach. Er hätte Mariah gerne gesagt, dass sehr wohl die Rede davon gewesen war, doch so ganz sicher war er sich dabei nicht. Die letzten Monate waren durch seinen Beruf etwas stressig geworden, vieles hatte er von seinem Arbeitsplatz aus geregelt. Da fuhr seine Frau auch schon fort.

„Während unserer Zeit bei den White Tigers, warst du es gewohnt immer unser Anführer zu sein. Wir haben alle getan was du wolltest, weil wir wussten dass wir dir Vertrauen können. Aber jetzt bin ich nicht nur ein Teammitglied Ray. Ich bin deine Frau! Du kannst mich nicht einfach so übergehen! Vor allem nicht bei so einem einschneidenden Schnitt in meinem Leben!“

Mariah atmete seufzend aus und ein bitteres Lächeln spielte um ihre Mundwinkel.

„Ich kann verstehen warum du Japan unserer Heimat vorziehst. Hier hast du die schönste Zeit deines Lebens verbracht. Und deine Freunde… Jeder von ihnen ist toll! Ihr seid wie eine Familie. Aber du musst mich auch verstehen! Ich kenne nichts anderes außer unserem Dorf. Ich kenne nur Lee, Gary und Kevin. Es ist eine kleine Welt, im Gegensatz zu dem was du alles erlebt hast, aber sie reicht mir.“

Mariah strich über ihren Babybauch. Verzog dabei das Gesicht. Offenbar spürte das Kind die Unruhe der Mutter und trat ihr Beulen in den Bauch. Ungeachtet dessen sprach Mariah; „Und jetzt willst du mich, mit dieser riesigen Wampe nach Japan bringen! Meine Hormone spielen verrückt, an einem Tag bin ich glücklich, am anderen möchte ich nur noch heulen. Und du hast nichts Besseres zu tun, als mich aus meiner gewohnten Umgebung zu reißen. Ich fühle mich wie eine Wildkatze, die man aus ihren heimischen Wäldern, aufs offene Meer verschleppt!“

Bis hier her hatte Ray ihr schweigend zugehört, doch nun verspürte er den Drang sich zu verteidigen.

„Das gibt dir nicht das Recht zu behaupten, dass das Kind nicht von mir ist!“

„Ich weiß Ray! Es tut mir auch Leid! Ich habe keine Ahnung was mich an diesem Tag geritten hat!“, in den Augen seiner Frau lag ein wässriger Glanz. Eigentlich konnte man sie nicht so leicht aus der Fassung bringen, doch er schob es auf die sagenumwobenen Hormonschwankungen werdender Mütter. Trotzdem konnte Ray darauf keine Rücksicht nehmen. Zu viele Fragen lagen jetzt offen. Mit einem Schnauben sah er wieder zurück in die Fluten, seine bebenden Fäuste umfassten die Brüstung so fest, dass seine Knöchel sich abzeichneten. Ray schüttelte fassungslos den Kopf.

„Es tut dir Leid? Es tut dir Leid?! Verdammt Mariah, ich habe keine Ahnung ob ich dir noch glauben kann! Erst sagst du das Kind ist nicht von mir…“

„Wir haben gestritten! Ich war wütend! Ich wollte dir einfach etwas Verletzendes an den Kopf werfen!“, fuhr sie dazwischen. Doch Ray sprach ungeachtet ihrer Einwände weiter.

„Jetzt stehst du hier und sagst, es lag alles an den Hormonen?! Das du nie untreu gewesen bist und du mir nur eins auswischen wolltest, weil ich nach Japan zurück will? Hormone hin oder her, so etwas kannst du nicht in den Raum werfen, ohne mit Konsequenzen zu rechnen! Ich habe vor meiner Abreise die Scheidungspapiere eingereicht! Bist du dir darüber im Klaren?“

Mariah schluckte und schüttelte geknickt den neben ihm den Kopf. Das Schreiben vom Anwalt war der Grund, weshalb Lee ihr geraten hatte, auf dem schnellsten Weg mit Ray zu sprechen, selbst wenn das bedeutete spät in der Nacht einen Last-Minute Flug nach Japan zu buchen. Verzweifelt kämpfte Mariah gegen die Tränen an, doch die Erste bahnte sich bereits ihren Weg über ihr Gesicht. Früher hätte Ray sie tröstend in die Arme geschlossen. Ihr über den Rücken gestreichelt. Ihr versichert dass er für sie da war. Jetzt konnte er nur Gleichgültig auf ihr Elend herabschauen. Ray war nur noch verbittert, misstrauisch und tief gekränkt. Er hatte die letzten Monate das Geschwätz und den Spott unzähliger Nachbarn erdulden müssen – genau wie Mariah die Verachtung in deren Blicken. Hilflos wischte sie sich mit der Handfläche die Träne weg und atmete tief durch. Dann fragte sie in bemüht ruhigem Ton: „Sag mir was ich tun soll?“

Ray blinzelte sie verwirrt an.

„Was meinst…“

„Ich will nicht dass es so endet! Also was muss ich tun damit du mir glaubst?“

Mit gefalteten Händen und einem flehenden Ton trat sie zu ihm heran, bis nur noch ein halber Meter zwischen ihnen lag. Mit offenem Mund starrte Ray auf seine Frau herab, wusste nicht so recht was er sagen sollte. Was könnte er schon für einen Beweis fordern…

„Ray bitte, ich tue alles! Sag mir was ich machen muss, damit alles wieder so wird wie früher!“ Mariah dachte kurz nach. Dann kam ihr ein Einfall. „Wir könnten einen Vaterschaftstest machen!“

Resignierend schüttelte er den Kopf und seufzte.

„Das beweist vielleicht dass das Kind von mir ist, aber nicht das es keinen anderen Mann gab. Du hättest als Hausfrau genug Zeit gehabt, um nebenbei mit einem anderen in die Kiste zu springen, während ich gearbeitet habe. Es könnte auch pures Glück sein, dass ich und nicht eine deiner Bettgeschichten dich geschwängert hat…“

Er bemerkte zu spät wie hart diese Unterstellung klang.

„Oh Gott Ray! Das glaubst du doch nicht wirklich?!“, rief Mariah aus und vorbei war es mit ihrer Selbstbeherrschung. Am Boden zerstört trat sie ein paar Schritte zurück, ein verzweifeltes Schluchzen entrang sich ihrer Kehle und schließlich verbarg sie ihr Gesicht in den Händen. Haltlos rutschte sie mit dem Rücken an der Brüstung hinab und verweilte schließlich in einer hockenden Haltung.

„Hey sie! Was machen sie mit der Frau?!“, ein Jogger hielt auf der anderen Seite der Brücke und musterte Ray argwöhnisch, der nicht umhin konnte sich wie der größte Arsch auf Erden zu fühlen. Beschwichtigend hob er die Hände und rief: „Das ist meine Frau. Keine Sorge…“

„Keine Sorge, ja klar! Von was träumst du nachts?! Sieht mir nach häuslicher Gewalt aus!“

Ray sah den angriffslustigen Don Juan vor ihm, mit einem genervten Blick an und rollte mit den Augen. Erst dann beugte er sich zu Mariah hinab und legte seine Hand auf ihre Schulter. Kurz zuvor hatte ihr gesamter Körper noch von Heulkrämpfen gebebt, doch nun verstummte sie prompt. Ein letzter Schluchzer entwich ihr und mit tränennassen Wangen blickte sie auf. Der tieftraurige Ausdruck in ihren Augen berührte Ray und er musste dem Impuls widerstehen, sie nicht doch noch in die Arme zu schließen. Stattdessen strich er ihr etwas ratlos über die Schulter und sprach in tröstendem Ton: „Tut mir Leid, Mariah. Aber kannst du dir nicht vorstellen weshalb ich mir solche Gedanken mache?“ Er setzte sich neben sie, Seite an Seite. „In den letzten Monaten ist soviel zwischen uns vorgefallen. Und seitdem du behauptest hast, das Kind sei nicht von mir… Das Vertrauen das ich früher zu dir hatte ist einfach nicht mehr da.“, zum ersten Mal seit langem getraute sich Ray offen über das zu sprechen, was ihn die letzten Wochen so beschäftigt hatte. „Seit deiner Behauptung mache ich mir so viele Gedanken. Wer könnte der Vater sein? Wann ist es passiert? Wie oft? Mit wie vielen Männern? In meinem Kopf haben sich bereits so viele Szenarien abgespielt und eine ist schlimmer als die andere. Im Moment kann ich dir nicht mehr vertrauen, selbst wenn ich wollte.“

Ratlos schaute Mariah vor sich her und obwohl Ray ihr solch harte Worte entgegen geschmettert hatte, lehnte sie ihren Kopf schutzbedürftig gegen seine Schulter.

„Was ist los mit uns?“, fragte sie schließlich. „Wir waren früher so anders zueinander. Wir haben uns nie angelogen, es kamen nie falsche Anschuldigungen über unsere Lippen. Wir kannten uns gegenseitig in und auswendig. Aber seit das Baby auf dem Weg ist, stehen wir uns gegenüber wie zwei Fremde. Wie konnten wir uns so verändern?“

Ray schüttelte gedankenverloren den Kopf.

„Ich weiß es nicht, Mao.“

„So hast du mich schon lange nicht mehr genannt…“, es kam wie ein Flüstern und als Ray zu Mariah blickte, lag ein wehmütiges Lächeln auf ihren Lippen. Sie sah ihn aus diesen hübschen, traurigen Augen an. Ihre Hand wanderte zu seiner, streichelte leicht über seine Haut und für kurze Zeit fühlten sich beide zum Anfang ihrer Ehe versetzt – als alles noch gut war.

„Ja wie jetzt?! Ist das wirklich ihr Mann?“

Die intime Situation wurde so schnell zerstört, wie Tysons Großvater einem mit dem Gehstock eine überziehen konnte.

„Verzieh dich du Idiot!“, fauchte Ray den verdutzten Jogger an, der ihm nur empört den Mittelfinger zeigte und sich wieder in Bewegung setzte. Inzwischen stand Ray vom Boden auf und reichte seiner schwangeren Frau die Hand um ihr aufzuhelfen. Während Mariah die Geste dankend annahm, sprach er: „Ich brauche etwas Zeit um mir unser Gespräch durch den Kopf gehen zu lassen. Weißt du wo du unterkommst?“

Seine Frau nickte und klopfte sich den Straßenstaub vom Hosenboden.

„Lee hat für mich gesorgt. Er hat mir ein Hotelzimmer gebucht.“

„Im Peninsula Tokyo?“

„Nein. Warum fragst du?“, Mariah blinzelte ihn mit ehrlicher Unschuld an und Ray zuckte nur abweisend mit den Schultern. Er wollte erst einmal Abstand von ihr halten und da wäre es ihm nicht gelegen gekommen, wenn sie dasselbe Hotel bewohnte. Allein Mariahs Anwesenheit ließ ihn etwas weicher werden, obwohl Ray eigentlich in sich gehen wollte, um sachlich zu beurteilen, ob sie ihm mit dieser Geschichte nur einen Bären aufband.

„Es soll nur ziemlich gut sein. Wenn du willst frage ich Tyson ob er dich zu deiner Unterkunft fährt. Mach dich aber darauf gefasst, dass er wie der letzte Henker durch die Straßen donnert. Er hat einen scheiß Fahrstil…“

Mariah lächelte ihn an und Ray spürte ein angenehmes Kribbeln in der Magengegend, ließ sich aber nichts anmerken, selbst als sie in sanftem Ton ein „Danke“ erwiderte.
 


 

*
 

„Die hat doch echt Nerven hier aufzutauchen.“, Max stand vor dem Fenster und spähte argwöhnisch auf das große Grundstückstor des Kinomiya Anwesen, hinter dem Ray mit seiner Frau vor einer Stunde verschwunden war. „Würde mich nicht wundern wenn die beiden sich in irgendeiner Gasse in den Haaren liegen.“

Bei diesem Gedanken breitete sich ein mulmiges Gefühl in dessen Magengrube aus. Ray schien in letzter Zeit nicht er selbst zu sein. Er verhielt sich unvernünftig, fraß seinen ganzen Frust in sich hinein. Max wusste dass es unfair war seinem Freund so etwas zuzutrauen, doch er konnte sich vorstellen, dass Ray irgendwann wie eine Zeitbombe explodierte. Hoffentlich war Mariah dann nicht in der Nähe. Während er seinen Gedanken nachhing, saß Tyson an seinem Schreibtisch und klickte sich auf Kennys Laptop durchs Internet. Sein Großvater lehnte solchen neumodischen Schnickschnack kategorisch ab. Er war der Meinung, dass man auf anderen Wegen miteinander kommunizieren sollte, vorzugsweise von Angesicht zu Angesicht und dass das Internet zur Volksverdummung führte.

Da kam es Tyson ganz gelegen, dass Kenny seine Dizzy hier vergessen hatte, so konnte er wenigstens ein paar Informationen über Janas Krankheit herausfinden, während Ray draußen mit seiner baldigen Ex herumtigerte.

„Sag mal hörst du mir überhaupt zu?“

Verdutzt blickte Tyson auf. Er war so vertieft in einen traurigen Bericht einer Mutter, deren Kind durch einen Trisomie verursachten Herzfehler gestorben war, dass ihm entging wie Max mit ihm sprach.

„Was hast du gesagt?“

„Das heißt wohl nein.“

„Tut mir Leid, aber ich ziehe mir gerade ein paar Informationen, über das Down-Syndrom, aus dem Internet heraus.“

Während er sprach, notierte er sich einige Buchtitel, um sich bei Gelegenheit das Werk zu kaufen. Wenn er Kai helfen wollte, musste er sich informieren und was konnte hilfreicher sein, als Erfahrungsberichte von anderen Familien zu sammeln.

„Wow! Du kniest dich ja richtig hinein.“, hellhörig geworden stellte Max sich neben ihn. „Ich habe nur gesagt, dass Ray und Mariah gerade wieder durchs Tor kommen. Was sagt das Internet eigentlich über diese Krankheit?“

„Sie ist nicht heilbar. Eigentlich auch keine Krankheit sondern eher eine Behinderung.“, sprach Tyson etwas betroffen. „Außerdem kommt es häufig zu Herzfehlern, einem schwachen Immunsystem und dadurch zu Infekten. Irgendwo habe ich sogar gelesen, dass manchmal epileptische Anfälle auftreten. Menschen mit dieser Krankheit, hatten in den Zwanzigern nur eine Lebenserwartung, von circa zehn Jahren. Übel nicht wahr?“

Max zog scharf die Luft ein. Er konnte nur erahnen wie Kai es verkraften würde, sollte seine Schwester so früh sterben. Von dieser Krankheit gehört hatte Max schon öfters, aber nur im Zusammenhang mit geschmacklosen Witzen, da Kinder mit Down-Syndrom auch gerne als zurückgebliebene Mongos bezeichnet wurden. Wirklich traurig wie eine moderne Gesellschaft von solchen Leuten dachte. Als Tyson weitererzählte, sein in kurzer Zeit zusammengetragenes Wissen preisgab, konnte er sich ein Lächeln jedoch nicht verkneifen. Max kannte niemanden, der sich für seine Freunde so ins Zeug legte. Wenn es darum ging, seiner Adoptivfamilie beizustehen, war Tyson Feuer und Flamme, drehte zu ungeahnter Höchstleistung auf. Eine Eigenschaft die Max insgeheim sehr an dem jungen Japaner bewunderte.

„Vom Verhalten her sind diese Menschen sehr liebevoll, hilfsbereit und kontaktfreudig“, las Tyson vor. „Wenn ihnen etwas nicht passt, kann ihre Laune aber manchmal in den Keller rutschen.“

„Ist doch nur menschlich. Mit oder ohne Krankheit.“

„Das schon. Aber manche bekommen regelrechte Wutausbrüche.“

„Du manchmal auch.“, witzelte Max.

„Echt komisch, Alter.“, verdrehte Tyson vor ihm die Augen. Doch er nahm es ihm nicht übel, ging stattdessen lieber auf Thema weiter ein. „Wusstest du dass Menschen mit dieser Krankheit, während dem zweiten Weltkrieg von den Nazis, als Ballastexistenzen zählten? Echt abartig, oder?
 

Plötzlich durchbrach ein lauter Schrei die Stille im Haus. Er ging Max und Tyson durch Mark und Bein. Verwirrt blickten sich beide an, dann hörten sie eilige Schritte auf dem Flur. Wenige Minuten später stieß Ray die Tür auf.

„Tyson, komm schnell! In seinem Zimmer… Mit deinem Großvater stimmt etwas nicht!“

Es verstrichen einige Sekunden. Tyson brauchte seine Zeit um zu begreifen, was sein Freund ihm da gerade sagte. Doch dann wich jegliche Farbe aus seinem Gesicht. Tyson sprang vom Stuhl auf, als hätte er in glühende Kohlen gesessen. In wenigen Sekunden war er an Ray vorbei gerauscht und nahm sich nicht einmal die Zeit, sich darüber zu wundern, weshalb die vollkommen aufgelöste Mariah in seinem Flur stand. Seine Freunde kamen dicht hinter ihm nach. Die Tür zu Mr. Kinomiyas Schlafzimmer stand sperrangelweit offen und kurz vor dem Bett, lag Tysons Großvater auf dem Boden, mit leichenblassem Gesicht und weit geöffneten, blutunterlaufenen Augen. Seine Finger lagen verkrampft um seinen Hals. Es schaute aus, als würge er sich selbst und sein linkes Bein zuckte in unregelmäßigen Abständen.

„Was machen wir jetzt? Wir müssen ihm helfen!“, rief Mariah panisch aus.

„Ich rufe einen Krankenwagen!“, hörte Tyson neben sich Max sagen, doch die Worte drangen nicht wirklich zu ihm durch. Er eilte zu seinem Großvater, fiel neben ihm auf die Knie und versuchte mit ganzer Kraft dessen steife Hände vom Hals zu lösen. Doch der Griff saß fest wie ein Schraubstock. Irgendwann kam ihm ein zweites Paar Hände zu Hilfe. Gemeinsam mit Ray löste er den unnachgiebigen Griff, doch nun begann Mr. Kinomiya nach Luft zu schnappen, wie ein Fisch auf dem Trockenen. Sein Gesicht wirkte blutleer und die Lippen liefen blau an, als wäre er am ersticken. Er bekam keine Luft.

„Vielleicht hat er etwas verschluckt!“, rief Mariah aufgebracht, doch ihre Panik schien auf Ray überzugreifen und er befahl nur: „Mao! Geh nach draußen!“

„Ich will doch nur helfen!“

„RAUS!“

Mariah begann überfordert zu wimmern. Um Tyson herum spielte sich die Welt jedoch nur noch in Zeitlupe ab. Die wütende Keiferei des Ehepaars schallte dumpf, von einem Ohr ins andere hinaus und er konnte nur in das Gesicht seines Großvaters blicken, das ihn in all den Jahren begleitet hatte. Mit all jenen Verrücktheiten, Weisheiten und der Gutmütigkeit die er kannte. In ihm keimte dieselbe Panik auf wie damals, als sein Großvater seinen Schlaganfall hatte. Nur passten dieses Mal die Symptome nicht. Tyson bemerkte damals, dass etwas nicht stimmte, weil sein Großvater nicht in der Lage war geradeaus zu laufen, sich ständig über Schwindelgefühle beklagte. Zudem wirkte er ziemlich zerstreut. Als seine linke Gesichtshälfte schließlich gelähmt war und sein Großvater keinen gescheiten Satz mehr zustande brachte, hatte Tyson ihn schon längst in den Wagen verfrachtet und war mit hundertachtzig Sachen über jede rote Ampel gerast, die seinen Weg zur Notaufnahme kreuzte. Das hier lief aber jetzt anders ab. Es gab keinerlei Anzeichen für einen weiteren Anfall. Sein Großvater war heute Morgen bester Gesundheit gewesen.

„Opa bitte!“ Tyson faltete verzweifelt die Hände vor dem Gesicht und ihm traten verzweifelte Tränen in die Augen. „Nur ein paar Minuten! Nur ein paar Minuten dann ist der Krankenwagen da!“

Er lockerte mit zitternden Fingern den obersten Hemdknopf und strich dem alten Mann über den Hals, an dem sich rote Striemen von dessen eigenen Händen abzeichneten. Sein Großvater gab pfeifende Atemgeräusche von sich und er zuckte am ganzen Leib. Als Tyson nach dem Puls suchte, rutschte ihm das Herz in die Hose. Er war kaum zu spüren. Das durfte einfach nicht wahr sein. Dieser Mann war sein Großvater, seine Familie und zugleich sein gutes Gewissen. Niemand hatte ihm mehr das Gefühl von einem zuhause geben können als er. Wenn sein Großvater jetzt starb…

Dieser Gedanke war zu schrecklich um ihn zu Ende zu denken. Auch wenn er seit Monaten nichts mehr von ihnen gehört hatte, Tyson hätte einiges dafür gegeben, wenn sein Vater oder Bruder hier wäre. Er fühlte sich im Stich gelassen. Plötzlich schnellte eine Hand nach vorne, packte ihn am Kragen und Tyson blickte in die weit aufgerissenen Augen seines Großvaters, der ihn dicht zu sich hinab zog.

Woher der alte Mann noch diese Kraft dafür nahm war ihm schleierhaft. Seine dunkel angelaufen Lippen öffneten sich und zwischen Dutzenden von schweren Atemzügen presste er ein Wort hervor.

„Dra…“, ein Japsen. „Dragoon!“

„Was ist mit ihm?“, Tyson sah seinen Großvater verständnislos an, der ihn mit einem warnenden Blick anstarrte. Sein Gesicht wurde blasser und blasser. Fahler und Fahler. Seine Stimme war nur noch ein Krächzen.

„Dragoon!“

„Was willst du mir sagen?!“

Doch dann verdrehte Mr. Kinomiya die Augen, bis alle nur noch das Weiß seiner Augäpfel sahen. Sein Körper erschlaffte und der Kopf drehte sich kraftlos zur Seite.

„Scheiße! Er ist bewusstlos!“, rief Ray aus. Mit angespanntem Gesicht fühlte er den Puls, dann ob noch Atemzüge kamen. Anschließend öffnete er das Hemd des alten Mannes und positionierte seine Hände in der Mitte des freigelegten Brustkorbs. „Okay Tyson, ich sehe dir an das du nervlich am Ende bist, aber du musst mir jetzt wirklich helfen! Du hast doch sicherlich mal eine Herzdruckmassage gelernt, oder?“

„Herz… druck?“

„Eine Wiederbelebung! Das lernt man immer vor seinem Führerschein!“

Tyson nickte heftig und Ray sah ihn eindringlich an.

„Dann übernehme ich die Massage und du beatmest ihn anschließend! Komm schon, der Krankenwagen müsste jeden Moment hier sein! Also reiß dich zusammen und behalt einen kühlen Kopf!“
 

Fünf Minuten später war der Krankenwagen auch schon da, doch für Tyson waren es die längsten Minuten seines Lebens. Als der Notarzt mit den Sanitätern eintraf, wurden Ray und er von ihrer Pflicht entbunden und aus dem Raum geordert, wo sie gemeinsam mit Max und Mariah warteten. Bald hörten sie wie ein Defibrillator zum Einsatz kam, gefolgt von einem Aufatmen, als man wieder Herzschläge spürte. Es verging eine gewisse Zeit, bis Mr. Kinomiya bereit für den Transport war, doch dann wurde er eilig auf einer Trage, die Treppe heruntergeschleppt und anschließend in den Rettungswagen, den Max draußen durchs Tor ins Grundstück gelotst hatte, weggebracht. Tyson wollte eigentlich mitfahren, doch es war kein Platz mehr im Wagen und Max hielt ihn davon ab bei seinem aufgescheuchten Zustand, mit dem eigenen Auto zufahren. Wenn Tyson es eilig hatte, übersah er gerne mal einige Verkehrsschilder und fuhr ziemlich rücksichtslos.

„Am Ende knallst du gegen eine Straßenlaterne. Dann ist das Chaos perfekt!“, hatte Max ihn ermahnt. Als ob das nicht genug war, galten Rays und Maxs Führerscheine nur für ihre Heimatländer. So blieb Tyson nichts anderes übrig, als mit einem schlechten Gewissen, dem davonfahrenden Fahrzeug hinterher zu schauen, während sich um ihn herum die schaulustige Nachbarschaft versammelte, die vom roten Warnlicht des Krankenwagens aus ihren Häusern gelockt wurde.

Einige ehemalige Schüler seines Großvaters waren darunter und jeder wollte mit sorgenvollem Gesicht wissen, was mit ihrem alten Lehrmeister passiert war. Der gutgelaunte Opa war bei jedem für seine Strenge bekannt, aber trotzdem hoch geachtet und beliebt in ihrer Gegend. So verging eine ganze Stunde, bis alle wieder den Weg in ihre Häuser fanden. Als Tyson sich mit seinen Freunden in das Kinomiya Anwesen begab, führten ihn seine Schritte in die Küche, wo er sich erschöpft auf einem Stuhl niederließ. Seine Freunde redeten leise miteinander. Auch bei ihnen saß der Schock noch tief in den Gliedern. Tyson stützte teilnahmslos seinen Kopf mit den Händen ab und rieb sich müde über die Augen. Er hätte sich gerne aufs Ohr gehauen, doch es war noch früh am Nachmittag und wenn es sich einrichten ließ, wollte er seinen Großvater gleich noch ins Krankenhaus folgen. Jedenfalls wenn seine Knie endlich aufhörten zu zittern. Er blickte auf seine Finger. Auch die bebten.

„Tyson?“, eine Hand berührte seine Schulter, riss ihn aus seiner Starre. Als er aufblickte, wurde er von Max mitleidig bedacht. „Lass den Kopf nicht hängen, okay? Es ist noch nichts entschieden!“

„Dein Großvater ist der zäheste Mann den ich kenne.“, sprach auch Ray, der gegenüber von ihm am Tisch platz nahm. Durch die Herzdruckmassage die er ausgeführt hatte, war er wohl etwas ins Schwitzen gekommen, denn an seiner Stirn klebten einige Strähnen. Ray knöpfte sich einen Knopf an seinem Kragen auf, offenbar weil ihm noch warm war, lehnte sich erschöpft zurück. Im Fernsehen sah eine Wiederbelebung immer so einfach aus, doch bereits nach fünf Minuten bemerkte man, wie viel Kraft es in Ansprach nahm. Neben Ray blickte Mariah aus traurigen Augen drein, strich sich über den runden Babybauch. Ihr Gesicht war aschfahl. In einer anderen Situation hätte Tyson sich über ihre Anwesenheit geärgert, schließlich war die Ex eines Freundes der Todfeind. Doch wie sie so da saß und ihn aus mitfühlenden Augen anschaute, vergaß er dieses ungeschriebene Gesetz. Ihre Betroffenheit wirkte nämlich ehrlich.

„Hast du vielleicht Hunger?“, fragte sie vorsichtig. „Ich könnte etwas kochen. Danach geht es dir bestimmt besser.“

Tyson schüttelte verneinend den Kopf und war dankbar das kein Witz à la „Was? Kinomiya will nichts essen?! Dann muss es ernst sein!“, kam. Er war im Moment nicht zu Späßen aufgelegt.

„Wie wäre es mit Tee?“, bohrte Ray weiter nach. „Mariah macht wirklich einen köstlichen. Du denkst vielleicht, da kann man nicht viel falsch machen, aber du musst ihren einmal probiert haben! Danach bist du die Ruhe selbst und wir können losfahren!“

Eigentlich wollte Tyson nur seine Ruhe, aber damit Ray endlich aufhörte nachzuhaken nickte er zustimmend. Dabei fiel ihm der strahlende Blick auf, den Mariah ihrem Mann zuwarf und wie sie sich sofort von ihrem Stuhl hoch raffte und die Schränke durchsuchte. Doch nachdem sie alle aufgeklappt hatte fragte sie: „Tyson? Kann es sein, dass ihr im Moment keinen Tee im Haus habt?“

„Ich wollte heute Mittag einkaufen gehen. Opa hat mir auch eine Liste auf den Küchentresen gelegt. Ist jetzt aber ins Wasser gefallen…“

„Wenn du willst gehe ich einkaufen!“, sprach sie prompt aus. Es klang so eifrig, als wolle Mariah mit aller Gewalt etwas Nützliches beitragen. Dabei wollte Tyson momentan einfach nur seine Ruhe. Nur einige Minuten um sich zu sammeln und dieses verdammte Zittern seiner Hände loszuwerden. Da kam ihm der Gedanke, diese Zeit endlich zu bekommen, wenn seine Freunde tatsächlich einkaufen gingen. Tyson wiegte unschlüssig den Kopf hin und her, bis Ray ihm die Entscheidung abnahm.

„Mao und ich machen das. Bleib du hier bei ihm Max.“

Ein Nicken kam von der angesprochenen Person. Mariah klaubte die Einkaufsliste von der Küchenzeile und das Paar verschwand, mit einem kurzen „Bis später“ aus dem Raum. Nicht einmal Geld hatten sie mitgenommen, wahrscheinlich wollte Ray aus eigener Tasche zahlen. Einige Minuten vergingen, schließlich hörte man wie die Haustür ins Schloss fiel. Dann herrschte Stille. Nur der Sekundenzeiger der Wanduhr war noch zu hören. Tick, tack, tick, tack…

Neben ihm wandte sich Max unangenehm berührt auf seinem Stuhl herum. Die Stille schien ihm unheimlich und ein stummer Tyson umso mehr.

„Sollten wir deinen Vater nicht anrufen? Oder Hitoshi?“

Tyson schüttelte den Kopf und massierte sich mit der rechten Hand die Schläfe. Das hatte keinen Zweck. Sein Vater war im Ausland nur schwer zu erreichen und sein Bruder befand sich zwar in Tokyo, war aber so kühl wie ein toter Fisch. Er bewohnte mit seiner wohlhabenden Verlobten, ein extravagantes Apartment in der Stadt und scherte sich kaum um die familiären Angelegenheiten, in seinem Elternhaus. Irgendwann antwortete Tyson mit brüchiger Stimme.

„Ich glaube nicht dass es Hiro interessiert.“

„Es geht hier um seinen Großvater.“

„Als Opa seinen ersten Schlaganfall hatte, war das Einzige was ich von ihm zuhören bekam: Er ist eben alt. Irgendwann sterben wir alle mal. Er ist ihn für zehn Minuten im Krankenhaus besuchen gekommen. Dann ist er mit seiner versnobten Verlobten in seiner Edelkarosse abgedampft!“

„Meldet er sich überhaupt noch?“

Tyson gab ein verächtliches Schnauben von sich.

„Natürlich nicht! Wir reden hier von Hiro. Ich habe damals erst erfahren, dass er seit Monaten wieder in Tokyo ist. Davor dachte ich er wäre noch mit seinem Studium in Ōsaka beschäftigt.“

Max konnte nicht anders als tiefes Mitleid für seinen Freund zu empfinden. Irgendwie bekam er den Eindruck, dass keiner von ihnen das Glück momentan für sich pachtete. Vor allem bei Tyson machte ihm dieser Zustand zu schaffen. Max kannte ihn immer als Frohnatur. Vielleicht wäre Kai in diesem Moment eine Hilfe gewesen. Als Mr. Kinomiya nach dem ersten Schlaganfall, auf der Intensivstation lag und alle wie auf glühenden Kohlen, auf eine positive Botschaft warteten, war es ausgerechnet Kai gewesen der die richtigen Worte fand.

„Ich bin kein Hellseher Tyson.“, hatte er zu ihm gesagt, während die Gruppe im Wartezimmer saß. Allein an seiner Tonart bemerkte man, dass Kai tiefes Mitleid für seinen früheren Erzrivalen empfand. Auch daran das er ihn mit dem Vornamen ansprach, was eher seltener vorkam. „Ich habe keine Ahnung, ob der Arzt nicht gleich durch diese Tür kommt und dir eine gute oder schlechte Nachricht bringt. Aber ich weiß dass du dir nichts vorzuwerfen hast. Du hast dich immer sehr gut um deinen Großvater gekümmert.“

Dann war dieses seltene Lächeln auf Kais Gesicht getreten, wenngleich es etwas traurig wirkte. Er hatte Tyson angeschaut, aus diesen markanten Augen, in denen immer dieser geheimnisvolle Rotschimmer lag.

„Wenn es heute zu Ende gehen sollte, gehst du mit der Gewissheit nachhause, dass du jede Minute mit deinem Großvater genutzt hast. Er hegt keinerlei Groll gegen dich. Das ist mehr als ich von meinem sagen kann. Der alte Sack schärft in der Hölle bestimmt bereits seinen Dreizack für mich…“

Das war das erste Mal das Tyson an diesem Tag lächeln musste und das zweite Mal, als sein Großvater den Schlaganfall überlebte und er ihn glücklich in die Arme schließen konnte. Seine Freunde hatten diesem Szenario nur stillschweigend zugesehen und hielten sich diskret im Hintergrund. Tyson waren die Tränen gekommen, als der alte Kinomiya ihm erschöpft, aber lebendig entgegengrinste. Die Männer lagen sich in den Armen, der alte Greis in seinem Krankenbett, Tyson daneben, beide froh sich noch etwas länger an der Anwesenheit des anderen zu erfreuen. Und dann passierte dieser winzige Moment. Beinahe unauffällig wäre er an Max vorbeigezogen.…

Kai lehnte damals mit dem Rücken an der Fensterbank des Zimmers. Und für eine Sekunde meinte Max bemerkt zu haben, wie Tyson ihm einen kurzen Blick zuwarf und mit seinen Lippen, ein stummes Wort formte: „Danke.“

Kai hatte daraufhin den Blick abgewandt. Doch auch minimal genickt. Schon immer besaßen Tyson und er ihre eigene Art der Kommunikation. Vieles spielte sich unterschwellig zwischen ihnen ab.
 

„Ich kann dich doch für ein paar Minuten alleine lassen, oder?“, fragte Max nachdenklich.

„Ich bin nicht suizidgefährdet…“, kam die pampige Antwort. Das nahm er mal als ein Ja. Langsam erhob sich Max von seinem Stuhl und trat aus der Küche hinaus in den Flur. Er entfernte sich einige Schritte von der Tür, immerhin musste Tyson nicht mitbekommen, das er Kai anrief. Beide waren furchtbare Sturköpfe, wenn sie sich gestritten hatten und Max wusste, das Tyson erst bei Kai anrufen wollte, wenn er ihm einen Termin bei Dr. Hamilton präsentieren konnte. So hätte er mit einem süffisanten Lächeln großspurig prahlen können: „Tja, Mr. Hiwatari! Dank meinem überragenden Krisenmanagement ist deine kleine Prinzessin bei ihrem lieben Doktor. Eine Entschuldigung ist jetzt angebracht, aber ein einfacher Hofknicks tut es auch…“

Wahrscheinlich hätte sich Tyson gleich danach eine gefangen, aber das wäre es ihm wert gewesen, so gut kannte Max ihn. Er schritt zum anderen Ende des Flurs und trat an einen, aus dunklem Holz angefertigten, antiken Schrank, mit orientalischen Verzierungen heran, auf dem ein veraltetes Telefon mit Drehscheibe thronte. Max fand schon immer dass dieses Haus altmodisch Charme besaß. Er nahm den Hörer in die Hand und dachte nach. Einige Minuten brauchte er um sich Kais Nummer ins Gedächtnis zu rufen, doch dann wählte er drauf los. Es klingelte auf der anderen Leitung. Ein gutes Zeichen wenn man bedachte, dass dieses Telefon wahrscheinlich Hiroshima überlebt hatte. Dann meldete sich eine ältere, aber trotzdem sehr vornehme Herrenstimme am Apparat, zweifellos sein Butler Lew. Max verzog etwas verstimmt den Mund. Er hatte den Eindruck dass dieser Kerl ihn nicht ausstehen konnte.

„Bei Hiwatari“, sprach Lew den Namen äußerst gedehnt aus.

„Hallo. Kann ich Kai sprechen?“

„Falls sie Mr. Kinomiya sind tut es mir Leid. Mr. Hiwatari wünscht nicht mit ihnen…“

„Ich bin nicht Tyson! Sagen sie ihm ich bin Max, sein Freund aus den USA. Mein Gott, ich bin früher so oft bei euch ein und ausgegangen, sie müssen mich doch noch kennen, alter Kumpel!“

„Nun, in der Tat. Wenn ich mich recht entsinne waren sie der junge Knabe, der vor längerer Zeit, mit seinem Spielzeug, eines unserer Van Gogh Gemälde halbiert hat.“

„Ähm… Nein, das war Kais anderer Freund. Der aus China.“, log Max und hüpfte unangenehm berührt von einem auf den anderen Fuß. „Übrigens heißt das Spielzeug Beyblade! Könnte ich jetzt endlich Kai sprechen?“

„Ich bedaure. Doch Mr. Hiwatari wünscht niemanden zu sprechen.“

„Es ist wichtig!“

„Mr. Hiwataris Anweisung lautet wortwörtlich: Selbst wenn Japan von einem Meteoriten getroffen wird, keine Anrufe durchstellen. Womöglich ist der junge Master morgen zugänglicher.“

„Aber es ist wirklich dringend! Sein Freund Tyson…“

„Was Mr. Kinomiya angeht verzichtet Mr. Hiwatari auf jeglichen weiteren Kontakt!“, kam es barsch von der anderen Leitung. „Wenn sie mich nun entschuldigen, ich habe noch anderweitige Verpflichtungen.“

„Halt Moment! Wehe sie legen… Bor, was für ein Arsch! Der hat aufgelegt!“

Das machte Max so wütend, dass er sofort wieder die Nummer wählen wollte, um dem hochnäsigen Butler ordentlich die Meinung zu geigen. Wenn er noch mal auflegen sollte, würde er so oft klingen, bis der alte Sack den Stecker herausreißen musste. Allerdings kam Tyson plötzlich aus der Küche gestürmt.

„Was ist los?“, fragte Max. Doch sein Freund eilte an ihm vorbei zur Treppe, wo er hastig zwei Stufen auf einmal nehmend hinauf rannte. Es raschelte als er im oberen Stockwerk über die Planen lief. Unschlüssig legte Max den Hörer wieder auf und folgte ihm. Oben angekommen verriet lautes Scheppern und Poltern wo Tyson sich befand. Als Max in dessen Zimmer trat, blieb er ratlos im Türrahmen stehen und beobachtete das Schauspiel. Tyson kauerte vor seinem Schrank und warf achtlos Bücher, DVD Hüllen, einen Basketball, Sportschuhe und Kleidung über seinen Rücken hinweg. Der Basketball traf seinen Nachttisch, woraufhin die Lampe darauf bedrohlich wackelte und schließlich zu Boden fiel.

„Was machst du da? Sei doch vorsichtig!“

Doch Tyson hörte nicht zu. Er grummelte nur unverständliche Wortfetzen vor sich her, bis er eine große, dunkelbraun lackierte Runddeckeltruhe herauszog, die wie aus der Edo Zeit entsprungen aussah.

„Ich glaube ich habe ihn hier hineingepackt…“, murmelte er mehr zu sich selbst als zu Max. Dann riss Tyson den Deckel hoch und begann erneut den Inhalt unachtsam hinauszuwerfen. In Sekundenschnelle hatte er sein Zimmer ins reinste Chaos verwandelt. Max wollte ihn gerade fragen, was er denn überhaupt suche, da kam ein erleichterter Ausruf von ihm.

„Da ist er!“, triumphierend hielt Tyson eine alte Schuhschachtel hoch. Keine zwei Sekunden später, nahm er den Deckel ab und Max erhaschte einen Blick auf Dragoon. Er spähte mit zuckender Braue auf das kleine Spielzeug. Das war doch nicht Tysons ernst?

Sein Großvater lag im Krankenhaus und er wollte bladen…

Doch Tysons Aufmerksamkeit galt dem kleinen Chip auf dem das Motiv des Bit Beasts abgedruckt war. Vorsichtig strich er die feine Staubschicht davon ab. Nur um zu erkennen das Dragoon nicht mehr darauf abgebildet war.
 

ENDE Kapitel 2
 



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (5)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  Xulina
2011-04-11T09:45:15+00:00 11.04.2011 11:45
Na toll...
Sie hat ihm ne Lüge aufgetischt und damit ein ganzes Dorf verrückt gemacht...
Mariah hat ihr Talent gefunden. Sie sollte sich das nochmal überlegen, mit dem Umzug nach Japan. Da werden sie dann wenigstens nicht weiterhin schief angesehen und Lee würde sicher gerne zu Besuch kommen. X3
Kais Feingefühl finde ich Bewundernswert. Und das er jetzt auf Stur stellt ist nur klar. Dennoch wundert es mich, wie schnell er die Antworten für Max parat hatte. Kai stand sicher neben ihm. XD

Griem dich nicht, weil die Kapitel so lang sind. So lange sie hochgeladen werden ist (mir) das schnuppe. Du schreibst eh so toll, dass ich nicht aufhören kann zu lesen. Das geht dann zwar auf meine Zeit, die ich eigentlich schlafen oder lernen sollte, aber egal. X3

Gruß, Xulina
Von: abgemeldet
2011-04-09T22:25:58+00:00 10.04.2011 00:25
Hey, also das Kapitel ist mal wieder megaklasse.
Mir gefallen die Nebenhandlungen die du einbaust und auch der kleine Abschnitt mit Tysons Opa. Da wird mal wieder klar wieviel sich geändert hat. Du machst alles so realistisch und auf der anderen Seite wieder so geheimnisvoll und spannend! ^^
Zum Glück ist das nächste Kapitel schon da. Gleich mal weiterlesen!
Ciao

Von:  Minerva_Noctua
2011-04-08T15:42:22+00:00 08.04.2011 17:42
Dieses Kapitel war jetzt nur noch ernst, aber gut.
Ich wundere mich darüber, was mit Tysons Opa passiert ist. Dragoon ist doch wohl nicht böse?
Rei und Mao kommen wohl langsam wieder zusammen. Das ist schön für Reis Kind.
Ich freu mich auf die Fortsetzung!
Es ist wirklich spannend^^.

Bye

Minerva
Von: abgemeldet
2011-04-07T20:32:09+00:00 07.04.2011 22:32
Ich find die Rückblende total witzig mit Max der Gary schleppt ^^

Aber die Sache mit Ray und Mariah. Ich kann Ray verstehen. Das muss furchtbar sein mit solchen Zweifeln zu leben. Ich hätte ihr das nicht abgekauft! Schwanger hin oder her. Bin gespannt wer der Vater ist! Und ob Mariah wirklich fremd gegangen ist!

Gruß Clover

Von: abgemeldet
2011-04-04T19:02:04+00:00 04.04.2011 21:02
Hmm. Wundere mich gerade das ich die Erste hier bin.
Also bisher bin ich gespannt wie es weitergeht. Finde es auch interessant das du Mariah nochmal einbaust. Und was mit Tysons Großvater passiert ist... Ich ahne in welche Richtung das ganze geht ^^
Lg BigApple


Zurück