Jäger der Dunkelheit
Aqua riss die Augen auf und schon war der Schwindel wieder da; wie giftiger Nebel wand er sich um ihr Bewusstsein und drohte sie erneut in die Tiefe zu ziehen.
„Könnte dir so passen“, knurrte sie, schüttelte mehrmals den Kopf hin und her und konzentrierte sich dann auf ihre Stiefelspitze. Fokus halten. Das war das Wichtigste, wenn man nicht das Gleichgewicht verlieren wollte. Und was das anging war sie von ihnen dreien immer die Beste gewesen. Ven war der derjenige, der oft seine Probleme damit gehabt hatte. Bei dem Gedanken war ihr nach einem Lächeln zumute, welches aber nicht weit genug über das Innere hinauskam, um sich auf ihrem Gesicht zu spiegeln. Sie hielt die Konzentration, bis der Schwindel allmählich abebbte und verschwand.
Seufzend lehnte sie sich gegen die kalte graue Rinde des Baumskeletts hinter ihr. Diese Welt – das Reich der Dunkelheit – war wie ein Friedhof. Ein Hort des Verfalls. Pflanzen wuchsen hier keine, nur diese spindeldürren hohlen Überreste. Jäh kam Aqua die Frage auf, ob es eine Zeit gegeben hatte, in der sie geblüht hatten.
„Nein, vermutlich nicht“, erwiderte sie sich selbst nachdenklich, vertieft in den Anblick der pulsierenden Lichter am Himmel. Wie ein Schlachtfeld aus Schatten und Farbe, ein Anblick, der verstörte und faszinierte zugleich.
Und der Boden? Unwillkürlich zeichnete sie mit einer Hand Muster in die puderige Substanz. Kühl wie Schnee, aber fein wie Staub.
„Nicht Staub“, berichtigte sie sich laut und schloss die Finger, sodass der Stoff mit einem seidig klammen Gefühl an ihrer Haut kleben blieb. „Eher Asche.“
Der Nachklang des erschöpften Schlafes, der sie noch vor wenigen Augeblicken gefangen gehalten hatte, blätterte endlich ganz von ihr ab. Aber mit ihm verschwand auch die Betäubung des Schmerzes und Aqua biss die Zähne zusammen, um nicht noch mal aufzustöhnen und damit womöglich wieder diese Monster anzulocken. Sie tastete mit größter Vorsicht ihre rechte Schulterpartie ab. Noch alles dran, aber ziemlich geschunden. Wenn das so weiterging, würde sie bald keine Kraft mehr haben, noch mehr einzustecken, als sie schon hatte.
Verfluchte Biester. Verfluchte Dunkelheit! Hier waren sie klar im Vorteil. Das war ihr Terrain. Und es wurde nach ihren Regeln gespielt. Aqua konnte nur ihr Bestes tun und zusehen, dass sie mit dem Leben davonkam; das eine ums andere Mal.
Aber was waren das überhaupt für Kreaturen? Mehr als unwahrscheinlich, dass es sich um Unversierte handelte. Sie waren viel aggressiver, gefährlicher und bei Weitem nicht so schnell besiegt. Hätte sie nicht das Schlüsselschwert ihres ehemaligen Meisters bei sich getragen – vor dem die Monster eine ihr unbegreifliche Angst zu besitzen schienen – wäre sie wohl längst zum unfreiwilligen Appetithäppchen geworden.
Der Meister… Der Gedanke an ihn nebelte sie mit Melancholie ein. Wie hatte es nur soweit kommen können? Warum hatte niemand das Unheil erkannt, bevor es zu spät war? Blind und taub hatten sie die Rollen gespielt, die Xehanort für sie vorgesehen hatte… Er hatte ihr aller Leben zerstört, aber das wäre ihm niemals gelungen, wenn sie nicht so willig in sein Netz gelaufen wären. Jetzt war es zu spät.
„Selbstmitleid kann ich mir ein anderes Mal schenken“, meinte sie stur und drängte die aufkommenden Tränen zurück. „Ich muss stark bleiben.“ Und so wie sie es oft tat, wenn ihr Wille zu erlöschen drohte, zog sie den Wegfinder aus der Tasche. Er mochte aufgehört haben zu leuchten, aber Aqua wusste, dass das Licht noch da war, wenn auch unsichtbar für ihre Augen. Und mit der Dunkelheit verhielt es sich nicht anders.
Genau. Sie musste sich zusammenreißen. Noch war die Hoffnung nicht restlos verloren. Aufgeben war nicht die letzte Option. Es war gar keine Option.
Etwas an diesem Ort stimmte nicht.
Und damit meinte Aqua nicht die offensichtlichen Differenzen zum Reich des Lichts. Dass die spürbare Dunkelheit sich auf jedem Weg Eintritt in ihr Herz zu verschaffen suchte, war ihr bewusst und sie ließ möglichst keine Lücke in ihrer Abwehr. Aber was sich daneben noch abspielte, ohne dass sie es sah, war etwas gänzlich anderes. Dagegen konnte sie keine Barriere errichten. Es umgab sie eher. Und alle anderen Lebewesen, die hier vorzufinden waren.
Es war die Zeit. So verrückt es klang, je weiter Aqua fortschritt, desto unstimmiger erschienen ihr die Gegebenheiten. Zuvor hatten die Farben am Himmel stets beständig wie Wellenmuster vor sich hingekreist, nun aber trat sie zwischen den Schattenranken hervor und gab einen leisen Laut der Überraschung von sich. Der Himmel schlingerte, schien beinahe zu verschwimmen. Dann flackerte es kurz und schon flossen Schatten und Farbe wieder gleichmäßig dahin. Aqua sah keine Veränderung an sich. Aber es war auch nicht sie, die alterte. Es war nur dieser Ort. Etwas im Reich des Lichts veränderte sich und das übte einen Einfluss auf das Gegenstück aus. So jedenfalls dachte sie es sich.
Und es fürchtete sie. Wenn die Zeit sich unabhängig voneinander entfaltete, wie lange fehlte sie dann schon im Reich des Lichts? Sie schätzte ihr Verweilen hier nun auf knapp einen Monat, viel mehr konnte es nicht sein. Was bedeutete ein Monat auf der anderen Seite?
„Das spielt keine Rolle“, wies sie sich unwirsch zurecht. Nein, das tat es wirklich nicht. Wenn die Zeit schneller verging, dann veränderte das nur eines: Sie musste eben noch schneller den Weg nach draußen finden.
Während sie weiterging galt ihr Blick dem Himmel. Damit hätte man das Wort „Chaos“ neu definieren können. Die roten und violetten Töne, mit den Dornenranken dazwischen… Rasch löste sie den Blick davon. Auch das war eine Falle, eine Verführung zur Dunkelheit. Die Versuchung, sich im Anblick der Farben zu verlieren war groß, vor allem, wenn man solange nichts anderes als Schwärze am Himmel gesehen hatte – ein Gefühl, als wäre man lebendig begraben. Dieser Teil des Reiches der Dunkelheit unterschied sich auffällig von dem, den Aqua hinter sich gelassen hatte. Alles wirkte noch viel irrealer, verdrehter und verschlungener.
Verschlungen. Ein sehr passendes Wort.
Die riesigen Schatten-Äste, die sich überall auftürmten, wurden feingliedriger, wanden sich vor dem Himmel umeinander. Auch der Weg war längst nicht mehr so geradlinig wie zuvor. Lauter kleine schwebende Inseln umgaben das Zentrum des Ortes. Aber was sich überhaupt nicht verändert hatte, war die hohe Anzahl der Schattenkreaturen, die aus dem Boden aufstiegen und über sie herfielen.
Das Zentrum… Etwas war dort. Aqua konnte nur eine düstere bläuliche Kuppel erkennen, die pulsierte und bebte wie ein eigenständiges Lebewesen. Teils aus Neugier, teils daraus, dass es kein Weiterkommen außer direkt durch die Mitte gab, sprang sie von Bruchstück zu Bruchstück näher auf den Kern zu.
Sie erreichte gerade die letzte Insel, als die Hülle zerplatzte und eine nicht gerade beruhigende Anzahl von Schattenmonstern zurückließ, die jedes Vorankommen verhinderten.
„Aus dem Weg“, versetzte Aqua genervt und hieb mit dem Schlüsselschwert ihres Meisters zu. Innerhalb weniger Sekunden wirbelte sie durch die Lüfte, als würde sie tanzen und keinen Kampf austragen. Die Klinge durchschnitt jede der Bestien, sodass nur transparenter Rauch zurückblieb. Die letzten fielen einem Feuerzauber zum Opfer. Sie ließ das Schwert verschwinden und ging zielstrebig weiter in den Farbenwirbel hinein.
Ins Zentrum des Chaos’… Was machte diese Gegend nur mit ihr? Immer wieder verfiel sie Träumereien, närrischen Gedanken und dem Wunsch, sich fallen zu lassen. Ihre Träume handelten nur davon, wenn es nicht gerade Albträume waren, wie sie sie vor allem in der ersten Zeit gequält hatten.
Sie hatte geträumt, Ven würde von einer Klippe stürzen und in tausend Scherben zerbersten, die von einem Schlüsselschwerttornado verweht wurden, sie hatte gesehen, wie Meister Eraqus sein eigenes Schwert in zwei Teile zerbrach, ihr vor die Füße warf und dann in der Finsternis verschwand. Und immer wieder hatte sie Terras Gesicht gesehen, das zwischen ihren Händen zerfloss wie heißes Wachs, und welches sie verzweifelt, aber vergebens, aufzufangen versuchte.
Doch inzwischen waren davon nur noch Fetzen übrig geblieben, die vereinzelt noch in ihren neuen Träumen auftauchten, sie wieder daran erinnerten, wie viel Angst sie hatte. Aber den größten Teil ihres Schlafes wurde sie von sanften düsteren Wiegenliedern begleitet, von wispernden Stimmen, die sie lockten, nie wieder aufzuwachen, von Nebeln aus eben solchen berückenden Farben und Schattenschlingen, die sich um sie drehten und tanzten… Vielleicht war es gut, dass hin und wieder noch Bruchstücke der Albträume diese entzweirissen; aber wie lange würde das noch so sein?
Aqua erreichte ein Plateau, das von dem gleichen Aschepuder bedeckt war wie jegliche Wege davor. Aber hier war es leicht aufgewirbelt, so als wäre kurz zuvor noch etwas darüber hinweggefegt. Gab es hier Sturmböen? Soweit sie sich erinnerte, hatte sie in all der Zeit nicht mal einen Windhauch gespürt. Außerdem brach der Boden teilweise auf; wie die splitterartigen Kratzer in den Riesengewächsen, verzweigten sich auch hier schimmernde gezackte Adern. Ebenso in den Steinklumpen, die hier und dort verstreut lagen, konnte sie die leuchtenden Schlitze erkennen. Schwierig so etwas in Worte zu fassen… Es war, als wäre alles, was darüber lag – die Rinde auf den Zweigen, die Asche am Boden oder der Stein – nur eine Hülle für das, was darunter lag.
Aber jede noch so robuste Hülle bekam mit der Zeit Risse.
Um sie herum stand zudem eine Reihe von diesen fahlen Baumskeletten, an denen bleiche Rauchfahnen hingen, die sich in einem Wind wellten, der nicht vorhanden war. Dieser Bereich erweckte mehr noch als die anderen das Gefühl, durch einen Friedhof zu gehen.
Wie hätte Aqua auch wissen können, wie viel Wahrheit dieser Gedanke in sich trug.
Sie ahnte nichts von den Augen, die sie beobachteten, als sie über das Plateau schritt, nichts von den Lefzen, die sich, als Reaktion auf ihre Erscheinung, verzogen.
Sie erreichte gerade die Mitte des Terrains, als sie eine Bewegung aus dem Augenwinkel wahrnahm und instinktiv stehen blieb. Sie drehte nur den Kopf, erkannte ein rot glühendes Paar Augen im Schatten hinter den Bäumen und beschwor augenblicklich das Schlüsselschwert. Aber was auch immer da lauerte, war ungewöhnlich schnell. Sie versuchte, ihm mit den Augen zu folgen, was kaum möglich war, da nur die zwei roten Punkte seinen Aufenthalt verrieten.
Plötzlich verschwanden sie. Aqua spannte sich an, ging tiefer in die Knie und schluckte das lähmende Gefühl von Panik hinunter. Sie spürte, dass ihr Gegner deutlich stärker war als die schwarzen Wesen, mit denen sie es bisher aufgenommen hatte. Und er konnte einfach überall sein. Sie wandte den Blick in alle Richtungen um. Wo steckte er nur?
Lautlos war die Bestie hinter sie geschlichen und mit einem gierigen Auffunkeln seiner roten Augen, sprang sie geschmeidig aus dem Schatten. Aqua bemerkte sie erst, als diese sie schon fast erreicht hatte. Ihr blieb nicht mehr genügend Zeit anzugreifen, nur herumzuwirbeln und reflexartig das Schwert zur Abwehr zu heben.
Der Schlag des Monsters traf sie so heftig, dass sie zurückgeworfen wurde und bäuchlings durch die feine Asche schlitterte. Ihr blieb die Luft weg, aber sie kämpfte sich ein Stück hoch und erkannte das dunkle Ungetüm – ein riesiger, vierbeiniger Schattenwolf mit Augen wie aus wild flackernder Glut. Er preschte bereits wieder auf sie zu. Hastig rappelte sie sich hoch, führte das Schwert herum und schleuderte der Bestie einen Feuerzauber entgegen, kurz bevor es erneut zuschlagen konnte. Es wich mit einem kraftvollen Sprung in die Luft aus, flog direkt über ihren Kopf hinweg, sodass sie dem schwarzen Leib mit den Augen folgen konnte. Nie zuvor hatte sie etwas so Entsetzliches gesehen.
Diese Kreatur ist kein Unversierter, ging es ihr durch den Kopf. Da landete es hinter ihr, machte einen weiteren Satz und verschmolz wieder mit dem Schatten. Aber nur für eine Sekunde, dann blitzten die Glutaugen wieder hervor und Aqua führte ihren Gedanken unbewusst zu Ende.
Das ist ein Resident des Reiches der Dunkelheit…
„Du behandelst mich immer wie ein Kind…!“
„Manchmal bist du echt so ein Mädchen.“
„Zusammen. Für immer.“
„Ich bitte euch, als Freunde… Bitte, bereitet mir ein Ende…“
„Du meinst, du hast mir nachspioniert. Hat er dir das aufgetragen? Sind das die Befehle des Meisters?“
„Er ist nicht so schwach, wie Ihr denkt.“
Die Augen der Bestie flimmerten, streiften sie ein letztes Mal mit einer unbestimmten Ahnung darin; vielleicht Wut? Schmerz? Gar Trauer? Dann erlosch ihr flackerndes Rot und mit ihm verging der Körper zu einer Rauchwolke, die vom nicht spürbaren Wind verweht wurde.
Das war der Moment, in dem Aqua sich nicht mehr aufrecht halten konnte. Eine Hand auf den Bauch gepresst, sank sie auf die Knie und würgte einige Sekunden hilflos. Aber ihr Magen hatte nichts herzugeben, trotz den schrecklichen Krämpfen und der Übelkeit. Sie keuchte, schmeckte Blut, das unaufgehalten aus ihrem Mundwinkel tropfte und die staubige Erde tränkte. Die roten Flecken verschwammen ihr vor den Augen.
Wurde sie ohnmächtig? Nein! Nicht jetzt. Nicht hier. Hier war sie den Schatten schutzlos ausgeliefert. Es kostete sie mehr als nur Anstrengung, sich auf die Beine zu hieven und ein paar Schritte vorwärts zu taumeln.
Aber sie machte sich etwas vor. Die kalkfarbenen Bäume schienen zu vibrieren, sie spürte undeutlich, dass ihre Knie ebenso flatterten und am einen Oberschenkel…
Ein Schrei, kratzig und kehlig, schoss aus ihrer Kehle hervor und sie fiel, aller Kontrolle beraubt, erneut zu Boden. Das Monster… es hatte sie gebissen. Nur ein Augenblick der Unaufmerksamkeit hatte ausgereicht. Aqua wollte nachsehen, wie gravierend die Verletzung war, aber sie konnte sich nicht mehr rühren.
Und das Atmen fiel ihr ungewöhnlich schwer. Dazu dieser ziehende Schmerz im Bauch. Bitte, flehte sie stumm, da ihre Stimme nicht gehorchte, nicht die Rippen. Brüche konnte sie sich jetzt am wenigsten leisten, schon einer würde ihr zu schaffen machen. Hoffentlich war es nur eine Prellung.
Die schwarzen zuckenden Punkte sammelten, verdichteten, sich vor ihrem Blickfeld. An Ort und Stelle sackte sie noch weiter ins sich zusammen, ließ den Kopf widerstrebend in die Asche fallen und konnte nur mit größter Konzentration die Augen einen Spalt weit offen lassen.
Nur für einen Moment, dachte sie schwach… Nur kurz die Augen schließen, nur ganz kurz…
Das surreale Gebilde um sie herum verblasste. Mit jedem Herzschlag wurden ihre Lider schwerer und dann ließ sie los.