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Noch eine Chance

von

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Klassenfeind an der Arbeit

Die Morgensonne schien durch eines der Fenster direkt in sein Gesicht. Ivan öffnete blinzelnd die Augen und betrachtete eine Weile lang stumm das Licht.

„Wieso habt ihr mich nicht geweckt?“

„Wir sind selbst erst seit gerade eben wach“, antwortete Yekaterina, die ihren Platz als sein Kissen wieder eingenommen hatte, und strich über seine Stirn.

„Aber es ist Morgen. Das heißt, wir müssen gehen.“

„Das heißt, dass wir sehen müssen, ob er dir gut genug geht, damit wir gehen können“, korrigierte sie ihn sanft. Aber das stimmte überhaupt nicht, dachte Ivan und setzte sich auf. Das Blut sackte aus seinem Kopf und er brauchte einen Moment, um sein Gleichgewicht zu finden. Yekaterina sah ihm schockiert dabei zu.

„Du schaffst das nicht, Vanya“, flüsterte sie.

„Ich schaffe das“, widersprach Ivan, zupfte seinen Schal zurecht und stand auf. Er tat es zu hastig, sodass der Boden unter seinen Füßen einen Moment lang schwankte, bevor er sich wieder beruhigte. Noch immer flimmerte das Bild vor seinen Augen und machte ihn nervös.

„Wir können sofort gehen“, sagte Ivan und versuchte, entschlossen zu klingen. Yekaterina rang die Hände, bevor sie nach seinem Arm griff.

„Bitte übernimm dich nicht, Vanya.“

„Ach was“, sagte Ivan und streifte ihren Arm ab, als würde er ihre Hilfe nicht brauchen – in Wahrheit hätte er sie allzu gut gebrauchen können. Er sah Yekaterinas Gesicht, so besorgt, dass es an Verzweiflung grenzte.

„Es wird alles gut, Katyusha. Heute Abend werden wir schon in Sicherheit sein.“

Sie nickte, aber sie wirkte nicht überzeugt. Ivan riss den Blick von ihrem Gesicht los und schob die Tür des Wagens auf.
 

Draußen warteten die anderen. Eduard und Raivis sprachen über irgendetwas, Toris hielt sich im Hintergrund. Natalia kam auf Ivan zu, sobald sie ihn sah, und griff nach seinem Arm.

„Geht es dir wieder besser, Vanya?“

„Es geht mir gut“, log er und streifte die anderen nur mit einem kurzen Blick. „Gehen wir. Je schneller, desto besser.“

„Gehen wir“, stimmte Natalia zu. „Wir werden einfach der Straße folgen.“

„Das einfach streichen wir einfach mal“, bemerkte Eduard sarkastisch. „Man sieht ja kaum, wo die Straße ist, bei diesem Schnee.“

Vor ihnen zog sich die Spur eines Autos durch den Schnee, doch sie war schon fast wieder zugeschneit oder vom Wind verwischt. Wenn es noch einmal schneien würde, dachte Ivan, würden sie sich verlaufen. Er legte den Kopf in den Nacken und betrachtete den Himmel, der voller Wolken hing. Wenigstens waren die Wolken weiß, nicht grau vor Schnee, aber sie zogen sehr schnell.

„Wenn wir die Straße verlieren, müssen wir uns an der Stadt orientieren“, sagte Yekaterina und nickte nach vorn, wo sich die dunkle Silhouette der Stadt vom Horizont abhob. Sie war so schrecklich weit weg, dachte Ivan. Wie konnte Eduard so genau sagen, dass sie einen Tag dorthin benötigen würden? Vielleicht hatte er es auch nur gesagt, damit die anderen den Mut fanden, es zu versuchen. Die Aussicht, eine Nacht im Freien verbringen oder durchlaufen zu müssen, war nicht gerade ermutigend.

„Eigentlich dürfte sie nicht zu verfehlen sein.“

„Nein“, sagte Natalia. „Also, wollen wir gehen oder lieber hier fest frieren?“

Schweigen antwortete ihr. Obwohl sie hier draußen früher oder später erfrieren würden, wollte es niemand wagen, sich von dem vermeintlichen Schutz des Wagens zu trennen. Ivan sah, dass Raivis einen traurigen Blick auf die nun geschlossene Tür warf. Einer von ihnen musste den ersten Schritt machen, dachte er.

Er machte den ersten Schritt, trat unter dem Schnee auf eine Unebenheit und verlor beinahe das Gleichgewicht. Erschrocken folgte Yekaterina ihm und griff erneut nach seinem Arm.

„Vanya! Ist etwas passiert?“

„Ja“, sagte Ivan. „Wir sind jetzt unterwegs, das ist passiert. Kommt.“

Niemand gab ihm Recht, niemand widersprach. Natalia hakte sich unter seinen anderen Arm, Eduard, Toris und Raivis folgten schweigend ein Stück weiter hinten. Er würde das Beste für seine Familie tun, dachte Ivan. Solange seine Beine ihn noch trugen, würde er voran gehen und genau das tun.
 

Die Sonne stieg höher, bis sie blendend hell auf den Schnee schien. Ivans Magen knurrte. Einerseits versuchte er, deswegen hoffnungsvoll zu sein: Wenn er schon wieder Hunger hatte, hatte er seine Krankheit so gut wie hinter sich. Andererseits begann er zu bezweifeln, dass er es bis in die Stadt schaffen würde, entkräftet und zu allem Überfluss noch hungrig. Manchmal wurden seine Knie so weich, dass er fürchtete, sie würden ihn nicht mehr tragen wollen. Jedes Mal biss er sich auf die Unterlippe und lief weiter.

Toris, Raivis und Eduard hatten versucht, etwas zu singen, um die Stimmung zu heben, es aber bald aufgegeben. Sie liefen schweigend weiter, durch den Schnee, immer der Straße folgend, die sie gerade so erahnen konnten. Yekaterina und Natalia waren an seiner Seite, Natalia noch immer bei ihm untergehakt, Yekaterina bereit, jederzeit zuzugreifen. Aber er würde nicht noch einmal stolpern, dachte Ivan. Wenn er einmal fiel, war es vorbei. Einmal am Boden würde er nicht mehr auf die Beine kommen. Galt das nicht für jeden von ihnen?

„Ivan?“, erklang Toris' Stimme hinter ihm, als die Sonne schon begann, sich wieder zu senken.

„Ja?“

„Können wir eine kurze Pause machen?“

Ivan wusste nicht, was er sagen sollte. Er schleppte sich schon so lange dahin, dass er jeden Gedanken an eine Pause verdrängt hatte. Wenn er sich hinsetzte, würde er nicht wieder aufstehen.

„Warum?“

„Wir sind erschöpft“, antwortete Toris leise. „Ein paar Minuten Rast würden uns gut tun.“

Ob in diesem wir auch Ivan mit eingeschlossen war? Toris verstand sich darauf, so zu sprechen, dass jeder in seine Worte hinein interpretieren konnte, was ihm am liebsten war. Momentan war es Ivan am liebsten, wenn er nicht zu Toris' wir gehörte. Niemand brauchte zu wissen, dass er die Pause am nötigsten hatte.

„Also gut“, sagte er und blieb stehen. „Aber nicht zu lange. Wir müssen heute noch ankommen.“

Kaum hatte er ausgesprochen, ließ Raivis sich fallen, wo er stand, kauerte sich zusammen und legte die Stirn auf seinen angezogenen Knien ab. Eduard hockte sich neben ihn in den Schnee und holte tief Luft. Leicht verwirrt sah Ivan sich um und bemerkte, dass auch die anderen mehr als erleichtert über die Pause schienen. Selbst Natalia schloss kurz die Augen, ließ seinen Arm los und massierte sich die Schläfen. Sie waren am Ende, dachte Ivan verblüfft, und er hatte es über seine eigene Entkräftung kaum bemerkt.

„Ihr hättet früher sagen müssen, dass ihr eine Pause machen wollt“, sagte er.

„Es ist in Ordnung“, murmelte Yekaterina und lächelte ihm zu, aber das Lächeln wirkte nicht ganz echt. „Wir müssen heute noch ankommen. Du hast ja Recht, Vanya.“

„Heute noch ankommen, ja“, sagte Ivan und betrachtete Raivis, der den Kopf wieder gehoben hatte, allerdings sehr blass aussah und noch immer nicht zu Atem gekommen war. „Aber nach Möglichkeit sollten wir auch lebendig ankommen.“

„Beides auf einmal ist vielleicht zu viel verlangt“, murmelte Eduard.

„Was meinst du damit?“, fragte Ivan scharf. „Du warst es, der gesagt hat, dass wir die Stadt in einem Tag erreichen, Eduard. Hast du deine Meinung geändert?“

„Nein.“

„Dann schlage ich vor, du sparst dir deine Kommentare und hörst auf, unsere Moral zu untergraben. So etwas können wir nicht gebrauchen.“

„Verzeihung“, sagte Eduard leise, ohne Ivan anzusehen. Er tat es schon wieder, dachte Ivan. Schon wieder brachte Eduard die Ordnung ins Wanken, die es in ihrem Haus immer gegeben hatte. Seitdem sie das Haus verlassen hatten, gab es nichts mehr, was diese Ordnung stützte, dachte Ivan. Vielleicht war er nur deswegen noch das Familienoberhaupt, weil noch niemand bemerkt hatte, wie verletzlich er nach seiner Krankheit geworden war. Aber wenn Eduard so weitermachte, würden es bald alle wissen. Kritische Geister wie seiner waren gefährlich, dachte Ivan. Das Beste, was man mit einem solchen Geist tun konnte, war, ihm viel körperliche Arbeit zu tun zu geben, damit er nicht zum Denken kam. Tatsächlich hätte sein Boss besser Eduard nach Sibirien geschickt als Raivis.

Im nächsten Moment biss er sich für diese Idee auf die Lippe, doch der Gedanke war aufdringlich und nicht mehr zu verdrängen. In seinem eigentlich machtlosen Zustand wusste er nicht mehr, was er mit Eduard tun sollte. Früher, dachte er, hatte es sich gut angefühlt, dass wenigstens Toris sich seinem Machtanspruch ein Stück weit entzog. Aber das war früher gewesen, als Ivans Stellung trotz allem noch unangetastet war. Die Erinnerungen an seine trostlose, hilflose Kindheit waren noch präsent, besonders diejenigen, die sich als Narben in sein Fleisch gegraben hatten. Er wollte diese Zeit nicht wiederholen, um keinen Preis. Ja, er wollte, dass seine Familie glücklich war, aber er wollte nicht verletzt und auf gar keinen Fall allein gelassen werden. Und genau das würde passieren, wenn Eduard allen klarmachte, wie schutzlos Ivan war. Zum ersten Mal seit langer Zeit bemerkte Ivan, dass er Angst hatte.

„Wir gehen weiter“, sagte er knapp.

Sie hoben die Köpfe und sahen ihn an. Eine Sekunde lang glaubte Ivan, sie würden sich weigern, ihm zu folgen. Dann jedoch stützte Raivis eine Hand in den Schnee und stand auf. Er stand wacklig auf den Beinen, seine Knie zitterten, doch er blieb stehen. Sicher hätte er eine längere Rast vertragen können, dachte Ivan, aber er würde sie nicht bekommen. Weil Ivan es so sagte.

Auch die anderen waren aufgestanden und sahen ihn abwartend an. Er war der Anführer, dachte Ivan, fragte sich aber plötzlich, warum. Wieso folgten ihm alle? Er war entkräftet, sie waren viel mehr als er. Warum sahen sie nicht, dass sie ihm gar nicht zu folgen brauchten?

„Gehen wir“, sagte er und Natalia hakte wieder den Arm unter seinen.

„Gehen wir“, wiederholte Yekaterina leise und lächelte. „Wir haben noch einen weiten Weg vor uns.“
 

Es wurde dunkler um sie herum, sodass der Schnee im Licht des Mondes zu schimmern begann. Nichts war zu hören bis auf das Knirschen ihrer Schritte im Schnee.

„Die Stadt ist da vorn“, flüsterte Natalia neben Ivan und nickte nach vorn. Tatsächlich waren Lichter und eine undeutliche Silhouette gegen den Himmel zu erkennen. Ivan riss die Augen auf.

„Das ist noch weit.“

„Und es beginnt zu schneien“, murmelte Yekaterina.

„Ach ja? Woran merkst du das?“

„Noch gar nicht. Aber ich weiß es.“

Ivan runzelte die Stirn und sah in den Himmel, der jedoch schon zu dunkel war, um etwas zu erkennen. Den Mond sah man nur als undeutlichen Lichtfleck durch die Wolken.

„Wenn es zu schneien anfängt“, fragte Toris zögernd, „was tun wir dann?“

Alle sahen Ivan an, wie immer, und er fragte sich, wieso es ihm gerade heute so auffiel. „In einem Schneesturm können wir auf keinen Fall hier draußen bleiben“, sagte er entschieden. „Wir müssen weitergehen.“

„Oder wir bleiben hier“, sagte Yekaterina plötzlich.

„Hier? Aber Katyusha, ich sage doch...“

„Nicht draußen, Vanya. Sondern dort.“

Verwirrt sah Ivan in die Richtung, in die sie deutete, und riss die Augen auf. Einige Schritte von der Straße entfernt (oder waren sie von der Straße abgekommen?) ragte eine große, eckige Erhebung aus dem Schnee. Im Halbdunkeln war kaum etwas zu erkennen, aber Ivan wusste, dass es sich um ein Haus handeln musste. Eine kleine Hütte draußen vor der Stadt, vermutlich verlassen und seit Jahren nicht mehr beheizt.

„Es wird kalt sein dort drinnen. Sicher ist die Hütte verschlossen, es sei denn, die Fenster sind eingeschlagen. Vielleicht ist sogar das Dach kaputt.“

„All das wäre immer noch besser, als die Nacht im Schneesturm draußen zu verbringen“, sagte Yekaterina sanft. „Denk doch nach, Vanya. Wir schaffen es nicht mehr in die Stadt, bevor der Sturm losgeht.“

„Woher weißt du...“, begann Ivan, doch in diesem Moment schwebte die erste Schneeflocke vor seinen Augen vorbei. Er sah in den Himmel und erkannte trotz der Dunkelheit die unzähligen Flocken, die lautlos auf ihn herunter fielen. Yekaterina hatte schon immer ein Gespür für Schnee gehabt, dachte er.

„Was machen wir jetzt?“, jammerte Raivis leise, doch niemand antwortete ihm.

„Sehr gut“, sagte Ivan, obwohl er wusste, dass nichts gut war. „Dann sehen wir doch mal, ob wir die Tür aufbekommen.“

Er verließ den Weg und hielt auf die Hütte zu. Die anderen folgten ihm mit einigem Abstand, bis auf Natalia, die sich noch immer an seinem Arm festhielt.

„Sag mal, Bela“, flüsterte Ivan ihr zu und griff nach ihren kalten Fingern. „Was glaubst du, warum Menschen dazu neigen, einem Anführer zu folgen?“

Natalia schwieg einen Moment lang, doch zu Ivans Überraschung fragte sich nicht, wie er jetzt auf eine solche Frage kam. „Ich denke, man will nicht immer für sich selbst entscheiden“, antwortete sie nach einer Weile. „Es mag gut sein, für sich selbst denken zu können, aber es ist auch anstrengend. Einen Anführer zu haben, bedeutet, für nichts selbst verantwortlich zu sein, sondern von einem vermeintlichen Weisen geführt zu werden. Und es bedeutet Schutz. Das Gefühl, dass es jemanden gibt, der mächtiger ist als man selbst... es bedeutet Schutz.“

Ivan lächelte traurig. „Das klingt nicht nach einer sehr guten Lebensweise.“

„Vielleicht nicht“, murmelte Natalia und senkte den Kopf. „Aber sie ist menschlich, Vanya. Der Mensch ist nicht gut.“

Am liebsten hätte er noch etwas gesagt, weil ein Hauch von Verzweiflung in diesen Worten lag, von Bitterkeit und Abscheu, die er an Natalia nicht kannte. Aber in diesem Moment erreichten sie die Tür der Hütte, und Ivan sah gleich, dass sie aus den Angeln gebrochen und mehr schlecht als recht wieder gegen den Türrahmen gelehnt worden war. Zögernd streckte er die Hände aus und zog die Tür beiseite. Es bereitete ihm einige Mühe, doch er schaffte es.

„Na also. Es hat zwar ein wenig herein geschneit, aber wenigstens haben wir so keine Probleme, ins Innere zu kommen.“

„Es ist kalt hier“, murmelte Natalia, die hinter ihm die Hütte betrat und sich umsah. Ein massiver Tisch stand unter einem kleinen Fenster, das von innen mit Brettern vernagelt war. Die beiden dazugehörigen Stühle lagen im Raum herum, einem fehlten drei Beine. Von dem schmalen Bett in der Ecke war die Decke herunter gezerrt worden, die Matratze war aufgerissen.

„Sicher war jemand hier“, flüsterte Yekaterina und sah sich unbehaglich in dem verwüsteten Raum um. „Vielleicht wilde Tiere oder...“

„Wenigstens ist das Dach dicht“, entgegnete Ivan, der bis auf die kleinen Häufchen neben der Tür nirgendwo Schnee erkennen konnte. „Besonders warm werden wir es nicht haben, aber dafür trocken. Das ist wesentlich besser, als draußen im Schnee zu schlafen.“

„Schlafen?“, wiederholte Raivis, der gerade als letzter die Hütte betreten hatte.

„Ja“, sagte Ivan und musste lachen, weil Raivis äußerst erleichtert aussah. „Wir werden die Nacht hier verbringen und uns morgen früh auf den Weg in die Stadt machen. Sobald der Sturm sich gelegt hat.“

„Hoffentlich fliegt uns das Haus nicht über den Köpfen weg“, sagte Yekaterina und lachte nervös.

„Ach was“, winkte Ivan ab. „Es wird nicht der erste Sturm sein, den dieses Haus zu verkraften hat. Toris, Eduard, stellt die Tür wieder vor den Eingang. Katyusha, Bela – ihr könnt das Bett nehmen, wenn ihr wollt. Es ist ein bisschen ramponiert, aber besser, als auf dem Boden zu schlafen.“

„Und wir?“, fragte Raivis mit großen Augen. „Schlafen wir wieder auf dem Boden?“

Ivan wollte fragen, warum er wieder sagte, verbiss sich die Frage aber im letzten Moment. „Nein, kleiner Raivis“, sagte er stattdessen aufmunternd. „Ich schlafe auf dem Boden. Du kommst auf meinen Schoß.“

Er betrachtete den Teppich, der vor dem Bett lag, fand ihn zumindest gemütlicher als den nackten Boden und setzte sich. Toris und Eduard hatten die Tür wieder vor den Eingang gestellt, wie er es ihnen gesagt hatte. Das wenige Licht, das durch die Türöffnung ins Innere der Hütte gedrungen war, wurde abgeschnitten. Natalia ließ sich auf dem Bett nieder, rümpfte die Nase und zupfte ein Stück der Matratzenfüllung aus ihren Haaren.

„Geht es so, Bela?“, fragte Yekaterina und legte sich neben sie.

„Ja, sicher.“

„Kommt her“, sagte Ivan zu Toris und Eduard. „Am besten rücken wir so dicht zusammen wie möglich. Raivis, komm zu mir. Du siehst völlig durchgefroren aus.“

Raivis kam zögernd näher, ließ Ivan nicht aus den Augen und stolperte deswegen über die Kante des Teppichs. Beinahe wäre er geradewegs in Ivans Schoß gelandet.

„Hast du es so eilig, kleiner Raivis?“, fragte Ivan amüsiert, griff nach seiner Hand und zog ihn zu sich herunter. „Komm her... du meine Güte. Du bist ja eiskalt.“

Er tastete suchend nach den dünnen Armen, die sich irgendwo in Raivis' Mantelärmeln verstecken mussten, und berührte die zitternden Finger, die tatsächlich kalt waren wie Eis. Eine plötzliche Angst ergriff von ihm Besitz, als er bemerkte, dass der Junge auf seinem Schoß fast nichts wog. Es war, als halte er ein Bündel zu dicker Kleider in den Armen.

„Bist du müde, Raivis?“

„Ziemlich“, murmelte Raivis und begann, heftiger zu zittern. Vor Kälte, überlegte Ivan. Oder vor Angst.

„Schlaf nur. Hier kann uns nichts passieren. Ich passe auf dich auf, kleiner Raivis.“

Er beobachtete, wie Raivis noch ein Weile lang unschlüssig aussah, dann die Augen flatternd schloss und ausatmete. Er entspannte sich nicht, sondern zitterte weiter vor sich hin. Eduard setzte sich neben Ivan, Toris daneben.

„Je näher ihr kommt, desto wärmer ist es.“

Eduard rückte zögernd einen halben Zentimeter näher und Ivan seufzte leise. Dann eben nicht. Wer nicht wollte, hatte wohl schon. Wenigstens Raivis war schön nah bei ihm, dort, wo er ihn am besten warm halten konnte.

„Gute Nacht“, sagte Yekaterina hinter ihm.

Toris, Eduard und Natalia antworteten gedämpft, nur Raivis schwieg.

„Gute Nacht“, sagte Ivan. „Schlaft gut.“

Er selbst schlief nicht, noch nicht. Er wartete, bis Yekaterinas Atmung hinter ihm sich beruhigt hatte und sie neben Natalia da lag, ruhig und reglos. Er wartete, bis Eduards Kopf gegen Toris' Schulter sank, der sich wiederum gegen die Wand lehnte. Er wartete so lange, bis Raivis auf seinem Schoß zu zittern aufgehört hatte und leise, kaum hörbar atmete. Noch immer waren seine Finger so kalt, dachte Ivan und tastete danach. So kalt.

Er seufzte leise und schloss die Augen. Wenigstens war die Familie zusammen, und er war noch immer das Familienoberhaupt. Das war das Wichtigste.



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