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Noch eine Chance

von

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Im Großen und Ganzen

Ivan bemühte sich, leise zu sein, als er die Tür öffnete. Das Licht, das vom Flur herein fiel, musste ihm genügen, um sich zu orientieren. Eduard hatte ihm in seinem Bett den Rücken zugedreht und rührte sich nicht. Toris lag auf der Seite, eine schmale Hand ruhte neben seinem Kopf. Selbst im Schlaf war sein Gesicht noch angespannt. Ivan musste sich von dem Anblick losreißen. Wenn Toris ihm verziehen hätte, wäre das hier einfacher gewesen, dachte er.

Langsam machte er einen weiteren Schritt in den Raum hinein. Raivis' Bett stand in der hinteren Ecke des Raumes, unter einem kleinen gerahmten Bild an der Wand. Das Bild war ein schlichtes Aquarell, das einen Strand zeigte, ein Ruderboot mit Löchern im Rumpf und das grün-graue Meer, das dagegen anrollte. Ein wenig optimistisches Motiv, dachte Ivan und überlegte, wer das Bild wohl aufgehängt hatte.

„Raivis?“, fragte er leise und beugte sich über den Jungen. Raivis lag auf der Seite, zu einer kleinen Kugel zusammengerollt. Eine Hand umklammerte die Decke, die andere berührte seine leicht geöffneten Lippen. Im Gegensatz zu dem von Toris war sein Gesicht entspannt.

„Raivis“, sagte Ivan noch einmal, streckte eine Hand nach der schmalen Schulter aus und rüttelte daran. „Wach auf.“

Raivis runzelte die Stirn und murmelte etwas Unwilliges. Blinzelnd öffnete er die Augen und riss sie im nächsten Moment weit auf.

„Was ist los?“, flüsterte er, wich hastig ein Stück vor Ivan zurück und stützte sich auf die Ellbogen auf. Seine Augen waren groß vor Angst. Aber er hatte nicht genug Angst, dachte Ivan. Wenn er wüsste, was los war, wäre er sicher noch verängstigter.

„Komm mit“, sagte er ebenso leise. Toris und Eduard mussten nicht geweckt werden. Wenn sie schliefen, umso besser.

„Warum?“, fragte Raivis und schluckte.

„Frag nicht, warum“, zischte Ivan. „Steh auf und komm mit.“

Noch immer sah Raivis ihn mit großen Augen an. „Soll ich mich anziehen?“, wagte er zu fragen.

„Nicht nötig. Komm einfach mit.“

Als Raivis noch immer zögerte, griff Ivan nach seinem Arm und zog ihn einfach mit sich. Er wollte das hier hinter sich bringen. Warum sollte man es unnötig in die Länge ziehen?

Raivis schrie kläglich auf, als er über seine eigenen Füße stolperte und beinahe hinfiel. Ivan riss ihn wieder hoch und presste eine Hand auf seinen Mund. „Still“, flüsterte er. „Wir wollen Toris und Eduard nicht wecken.“

Er bugsierte Raivis auf den Flur und schloss sorgfältig die Tür hinter ihnen. Raivis wehrte sich gegen seinen Griff, aber er zitterte so stark, dass seine Bewegungen kraftlos waren. „Was ist denn los?“, fragte er, sobald Ivan die Hand von seinem Mund nahm und ihn weiter den Flur hinunter zog. „Ich habe gar nichts gemacht!“

„Nicht?“, fragte Ivan und hörte sein Herz schlagen. „Onkelchen hat da aber etwas anderes erzählt.“

„A-aber was denn? W-was ist denn los? Ich habe wirklich nichts getan!“

„Vielleicht hast du das nicht... nicht direkt. Aber deine Kinder haben etwas getan, Raivis. Du musst es schon lange gespürt haben, aber du hast nichts davon gesagt. Kein Wort.“

„Was denn getan? Ich weiß nicht, wovon Sie reden!“, beteuerte Raivis. „Bitte... bitte lassen Sie mich gehen! Tun Sie mir nicht weh!“

„Ich werde dir nicht wehtun, Raivis“, flüsterte Ivan, erreichte die Treppe und schubste Raivis vor sich her. „Das werden andere übernehmen.“

„Aber warum? Was ist denn passiert? Ich weiß überhaupt nicht, was ich falsch gemacht habe!“

Das Problem war, dachte Ivan, dass er das auch nicht genau wusste. Aber was Onkelchen sagte, wurde getan. Etwas anderes kam nicht in Frage. Er musste tun, was er tun musste.

„Sie tun mir weh!“, kreischte Raivis und umklammerte Ivans Arme. „Hören Sie auf! I-ich kann allein laufen!“

Ivan zwang sich, ihn zu ignorieren. Erst, als sie die Eingangstür erreichten, ließ er Raivis los.

„Zieh deinen Mantel und die Stiefel an. Aber schnell.“

Zitternd tat Raivis, was er sagte. „Aber warum?“, fragte er verzweifelt und schlüpfte in seine Stiefel. „Warum denn?“

„Das wirst du noch früh genug sehen, Raivis.“

Mit einem Mal erstarrte Raivis in der Bewegung. „Sie schicken mich weg“, flüsterte er und drehte sich mit großen Augen zu Ivan um. „Sie schicken mich nach Sibirien.“

Warum hatte er darauf kommen müssen? Ivan hatte ihn für naiver gehalten.

„Ich will das nicht“, flüsterte Raivis und schüttelte den Kopf. „Ich will das nicht.“

„Das hier ist nicht meine Entscheidung, Raivis. Und nun mach die Sache nicht kompliziert.“

„Ich will das nicht!“, kreischte Raivis auf und rannte plötzlich los, an ihm vorbei auf die Treppe zu. „Schicken Sie mich nicht weg!“

Hastig stellte Ivan sich ihm in den Weg. Raivis konnte nicht mehr bremsen und lief geradewegs in seine Arme, und Ivan hielt ihn fest und drückte ihn an sich. Panisch versuchte Raivis, sich loszureißen.

„Sie können das nicht tun! Sie können mich nicht wegschicken! Sie... können nicht...“

Schweigend stand Ivan da und spürte, wie Raivis versuchte, sich aus seinem Griff zu befreien. Ein ums andere Mal bohrte sich eine Faust oder ein Ellbogen in seine Brust oder seinen Bauch, aber durch den dicken Stoff seiner Kleider spürte er es kaum. Er fühlte kaum etwas bei dem, was er tat, dachte er und wusste nicht, ob er deswegen erleichtert sein oder sich schämen sollte.

Nach und nach wurden Raivis' Bewegungen kraftloser und das beständige Zittern verdrängte sie, das er immer an sich hatte. Das Zittern, das ihn genauso lähmte wie seine Angst. „Es tut mir Leid... ich wollte nichts Falsches tun, wirklich nicht! Es tut mir Leid... bitte... tun Sie das nicht. S-sie können alles mit mir machen, was Sie wollen, aber nicht... n-nicht... ich...“

Er schluchzte auf und sein Zittern wurde so stark, dass er sich kaum noch auf den Beinen halten konnte. Behutsam, aber noch immer seltsam taub schob Ivan ihn ein Stück von sich weg, griff nach Raivis' Mantel und legte ihn ihm um die Schultern.

„Den wirst du brauchen“, sagte er und war überrascht, wie normal seine Stimme klang. „Es ist nicht meine Entscheidung, was mit dir passiert. Und jetzt komm.“

Raivis sah zu ihm auf, und sein flehender Blick brannte sich auf ewig in Ivans Gedächtnis. In Raivis' Augen war Ivan die höchste Instanz, der mächtigste Mann auf der ganzen Welt. Wenn er von ihm begnadigt würde, wäre alles in Ordnung. Das war die Hoffnung, an die Raivis sich klammerte, aber wie so viele Hoffnungen war sie trügerisch. Es gab Männer, die mächtiger waren als Ivan. Und obwohl er nichts lieber getan hätte, als Raivis weiter in seiner Familie zu behalten, was auch immer er getan hatte, konnte er es nicht. Es lag nicht in seiner Macht, Gnade zu haben. Im Schatten entschieden darüber längst andere.
 

Als er erwachte, tat er es, weil seine Füße froren. Zwar glaubte er nicht, dass die Stiefel gegen den Schnee undicht waren, aber die Kälte war langsam durch das Leder gedrungen und hatte seine Zehen so steif gemacht, dass er sie kaum noch spürte. Als er sie zu bewegen versuchte, schmerzten sie. Ivan sog scharf die Luft ein. Das letzte, was er gebrauchen konnte, waren abgefrorene Zehen. Davon würde er wieder ein paar Jahrzehnte etwas haben.

In der Hütte war es dunkel und der Sturm tobte noch immer draußen. Noch immer saß Raivis auf seinem Schoß. Ivan tastete nach Yekaterinas Arm hinter sich und war beruhigt, als er ihn fand. Eduard und Toris kauerten als zwei unförmige Schatten neben ihm. Sie waren wirklich so weit zusammen gerückt, wie es möglich war, dachte Ivan. Nur von ihm hielten sie Abstand. Nun, Toris konnte er es nicht übel nehmen. Eduard eigentlich auch nicht.

Bevor er sich entschließen konnte, die Augen zu schließen und wieder zu schlafen zu versuchen, bewegte sich Raivis auf seinem Schoß. Aufmerksam geworden sah er nach unten, obwohl er in der Dunkelheit nicht mehr als einen Umriss erkennen konnte.

„Raivis?“, flüsterte er. „Bist du wach?“

Einen Moment lang schien Raivis zu überlegen, ob er sich schlafend stellen sollte, sich dann aber dagegen zu entscheiden. „Ja“, antwortete er und begann, zu zittern.

„Ist dir sehr kalt?“, fragte Ivan besorgt.

„Ziemlich“, murmelte Raivis. „Aber ich... nein, ich bin es nicht gewohnt, daran gewöhnt man sich nicht. Aber... man beschwert sich nicht. Das tut man nicht.“

Ivan schluckte und wusste nicht recht, was er dazu sagen sollte. „Ich bin nicht böse, wenn du dich über die Kälte beschwerst.“

„Nicht?“, fragte Raivis und blinzelte. „Oh.“

Mein Königreich für einen Themenwechsel, dachte Ivan. Schade, dass er kein Königreich hatte.

„Der Sturm hat immer noch nicht aufgehört“, sagte Raivis, und Ivan ging dankbar darauf ein.

„Nein, aber es ist ja noch nicht einmal Morgen. Sicher wird er bis zum Morgengrauen abklingen, oder spätestens im Laufe des Vormittags.“

„Und dann gehen wir in die Stadt?“

„Sobald die anderen wach sind, ja.“

Raivis kaute unsicher auf seiner Lippe herum. „Vielleicht...“, murmelte er.

„Was?“, fragte Ivan und zog die Augenbrauen hoch. „Was ist los, kleiner Raivis?“

„Vielleicht sind sie ja schon tot.“

„Wer?“

„Die anderen.“

Diese Idee klang für Ivan so grotesk, dass er einige Sekunden brauchte, um sie zu verarbeiten. „Aber... wie sollten sie denn?“, fragte er und lachte auf.

„Es ist so kalt“, erklärte Raivis. „Und wenn es so kalt ist, ist das erste, was man macht, wenn man morgens aufwacht... nachsehen, ob die anderen noch leben. Oder ob sie in der Nacht erfroren sind.“

Das Lachen blieb Ivan im Hals stecken. „Ich denke nicht, dass sie erfroren sind, kleiner Raivis“, sagte er langsam. „Das ist gar nicht möglich. Sie können nicht sterben.“

„Nein“, sagte Raivis hastig, „natürlich nicht. Es war ein dummer Gedanke.“

Aber immerhin war es sein erster Gedanke gewesen, dachte Ivan. Das war schon erschreckend genug. Plötzlich hatte er den Drang, Raivis an sich zu drücken, so fest er konnte. Er beherrschte sich nur mühsam. Womöglich hätte er dem Jungen dabei alle Rippen gebrochen.

„Es ist alles in Ordnung, kleiner Raivis“, sagte er stattdessen und versuchte, möglichst zuversichtlich zu klingen. „Es war damals nicht meine Entscheidung, dich wegzuschicken, das weißt du doch. Aber mich wird nie wieder irgendjemand zu irgendetwas zwingen. Ich werde das Beste für unsere Familie tun, Raivis, und niemand wird mir etwas anderes vorschreiben.“

„Aber was ist, wenn...“, begann Raivis, verstummte und biss auf seine Unterlippe.

„Was denn, Raivis? Frag ruhig.“

„Was ist, wenn sie uns kriegen?“, platzte es aus Raivis heraus. „Wenn sie uns wieder einfangen? Sie werden uns doch nicht wieder in unser altes Haus zurück lassen, aus dem wir schon einmal weggelaufen sind. Vielleicht werden sie uns voneinander trennen. Vielleicht werde die Sie bestrafen, haben Sie daran schon gedacht? Oder vielleicht... ich meine, wahrscheinlich, oder? Es ist doch wahrscheinlich. Ich meine... dass sie uns allesamt wegschicken. Dass wir hierfür alle in Sibirien landen. Schlimm genug ist es doch, was wir getan haben, oder? Einfach wegzulaufen. Vor allem, dass Sie das getan haben...“

Ivan hatte weder gedacht, dass Raivis so viel nachdachte, noch hatte er ihn je so lange am Stück und ohne Stottern reden hören. Seine Überlegungen waren alles andere als dumm, dachte er, sie waren sogar sehr logisch. Aber das konnte er ihm schlecht sagen.

„Es wird alles gut“, sagte er tröstend und strich über Raivis' Kopf. Glücklicherweise hatte sein Mantel eine Kapuze, die diese erschreckend kurzen Haare verdeckte. „Ich habe von Anfang an gesagt, dass ich die volle Verantwortung für alles übernehme.“

„Aber was wird dann aus uns?“, flüsterte Raivis ängstlich. „Wenn die Sie wegschicken, was wird dann aus uns?“

„Was soll schon aus euch werden?“, fragte Ivan und lachte. „Ihr werdet jemand anderen bekommen, der euch Befehle erteilt. Als Vertretung, sozusagen. Vielleicht ist er dabei ja ein wenig nachsichtiger als ich. Wer kann es wissen...“

Raivis schwieg einen Moment lang. „Aber mit Ihnen ist es etwas anderes“, sagte er leise. „Ich meine... Sie kennen wir seit einer Ewigkeit. Und Sie... lieben uns. Ich weiß, Sie zeigen das manchmal auf ziemlich grausame Arten, aber ich glaube, Sie lieben ihre Familie wirklich sehr. Und auch wenn Sie manchmal ziemlich... ziemlich fies sind, glaube ich, im Großen und Ganzen meinen Sie es nicht böse. Im Großen und Ganzen sind Sie wohl nicht das Allerschlimmste, was uns hätte passieren können.“

Ivan lächelte und spürte, dass seine Augen feucht wurden. „Ich glaube, das war gerade das Liebste, was du mir je gesagt hast, kleiner Raivis.“

„Ich meine es aber ernst!“, beteuerte Raivis.

„Umso besser.“

„Aber... was passiert denn nun? Wenn die Sie wirklich...“

„Mach dir keine Sorgen um mich, Raivis“, sagte Ivan und lachte. „Ich komme schon zurecht.“

„Ich mache mir keine Sorgen um Sie“, erklärte Raivis, „sondern um uns.“

„Ich werde alles für euch tun, Raivis. Wirklich alles. Mehr kann ich dir nicht versprechen.“

„Wird das reichen?“

Ivan zog die Schultern hoch. „Wir müssen abwarten“, sagte er. „Abwarten und das Beste hoffen.“



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