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Noch eine Chance

von

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Lauscher an der Wand hört die eigene Schand

„Liet!“

Feliks fiel Toris auf der Türschwelle um den Hals, sodass Toris einen Schritt zurück stolperte. „Feliks... bitte...“

„Ich habe dich ewig nicht gesehen, Liet! Was machst du hier? Und warum...“

„Feliks!“, sagte Toris hastig und versuchte, so laut zu flüstern, dass er Feliks übertönte. „Können wir reingehen? Schnell?“

Feliks lockerte seinen Griff leicht und betrachtete die anderen an Toris' Schulter vorbei. Er legte die Stirn in Falten, als er sah, wie viele sie waren.

„Du hast ja die ganze Großfamilie mitgebracht.“

„Können wir reingehen, Feliks?“, fragte Toris noch einmal und sah sich angespannt um.

Feliks nickte und zog ihn am Ärmel in den Flur. „Kommt rein und so“, rief er zu den anderen hinaus. „Füße abputzen!“

Bei Toris war es ihm anscheinend egal, ob er sich die Füße abputzte, denn er ließ seinen Ärmel keinen Moment lang los. Ivan betrat als letzter den Flur, Yekaterina behutsam vor sich her schiebend, und schloss die Tür hinter ihnen. Als sie ins Schloss fiel, atmete er unwillkürlich auf.

„Also“, sagte Feliks und drehte eine Haarsträhne um seinen Finger. „Wollt ihr mir irgendwie erklären, was ihr hier macht, oder geht ihr gleich wieder?“

Toris schwieg und versuchte, seinen Arm aus Feliks' Griff zu ziehen, aber Feliks hielt ihn fest.

„Wir sind abgehauen“, sagte Raivis, der noch dabei war, gehorsam seine Füße abzuputzen.

„Abgehauen? So wie in... abgehauen? Vor wem, warum, wieso, und was zum Teufel macht ihr dann ausgerechnet bei mir?“

„Das können wir dir später erklären, Feliks“, warf Eduard ein. „Könnte Yekaterina sich erst einmal hinlegen? Es geht ihr nicht gut.“

Ivan war froh, dass Eduard es zuerst gesagt hatte, denn er wusste nicht, ob Feliks darauf eingegangen wäre, wenn er gesprochen hätte. Er bemerkte, dass Feliks sich halb hinter Toris versteckte und immer darauf zu achten schien, dass er sich zwischen ihm und Ivan befand.

„Äh... klar“, sagte Feliks und wedelte aus seiner Deckung heraus mit der Hand in Richtung einer Tür. „Leg dich hin und so.“

„Könntest du uns vielleicht zeigen, was du meinst?“, fragte Toris gedämpft, warf ihm einen verwirrten Blick zu und versuchte erneut, seinen Arm zu befreien. „Du bist doch sonst so gastfreundlich, Feliks.“

„Bin ich ja auch, total!“ Feliks schnaufte und ließ ihn los. „Okay. Ich hab kein Gästezimmer, aber du kannst das Sofa nehmen. Oder mein Bett, wenn du lieber willst.“

„Das Sofa ist in Ordnung“, murmelte Yekaterina und lächelte etwas zittrig.

„Ja? Okay. Komm mit.“

Feliks öffnete eine Tür auf der rechten Seite und deutete auf das Sofa, das an einer Wand des Raumes stand. „Ich hab auch Decken“, sagte er, trat an einen Schrank und öffnete ihn. „Leg dich hin. Was hast du denn?“

„Es ist eine Art Erkältung“, erklärte Yekaterina, während sie sich zögernd auf dem Sofa niederließ. „Vanya hatte auch schon so etwas Ähnliches.“

„Ah“, machte Feliks und warf Ivan einen Blick aus den Augenwinkeln zu.

„Aber er ist nach ein paar Tagen von ganz allein darüber hinweg gekommen.“

„Du solltest dich trotzdem schonen“, sagte Ivan.

„Hmm“, machte Feliks, zog zwei Decken aus dem Schrank und legte sie über die Armlehne des Sofas. „Hier. Was ist mit euch? Wenn ihr länger bleiben wollt, wird es verdammt schwierig, euch alle unterzubringen, das sag ich euch.“

„Ich muss mal“, sagte Raivis.

„Die Tür am Ende vom Flur, nach hinten raus, da ist das Bad. Willst du dich waschen oder so? Weil, nehmt's mir nicht übel, aber ihr seht alle nicht mehr so ganz... frisch aus.“

„Wahrscheinlich nicht“, gab Ivan zu.

„Ich zeig dir, wo Handtücher und sowas sind. Kann ich euch sonst nochwas anbieten? Paluszki? Wodka? Tee?“

„Tee wäre nicht schlecht“, sagte Yekaterina leise. Sie hatte mittlerweile eines der Sofakissen unter ihrem Kopf zurechtgelegt und die Augen geschlossen.

„Alles klar. Komm, Liet, wir machen Tee.“

„Kannst du das nicht allein, Feliks?“, fragte Toris leise belustigt, ließ sich aber hinter Feliks her ziehen.

„Eeej, ich kann viel! Ich kann alleine Glühbirnen wechseln, ja? Also sag nichts! Komm mit, Raivis!“

Die beiden verschwanden aus dem Zimmer, gefolgt von Raivis. Eduard sah Ivan ein wenig unsicher an und ging dann zu Yekaterina hinüber.

„Wie geht es dir?“

„Es geht schon“, murmelte Yekaterina. „Ich werde versuchen, ein wenig zu schlafen, denke ich.“

„Tu das“, sagte Ivan und nickte.

„Wie lange werden wir hier bleiben?“, fragte Eduard und sah sich zu ihm um.

„Mal sehen. Höchstens so lange, bis Feliks uns über hat.“

„Das könnte noch eine Weile dauern“, erwiderte Eduard und zuckte die Achseln. „So schnell wird er Toris nicht gehen lassen.“

Ivan nickte und trat ans Fenster. Draußen wurde es langsam dunkel, und er zog aus einer Eingebung heraus die Vorhänge zu. Das war sicherer, dachte er. In ein erleuchtetes Zimmer konnte man zu leicht hinein sehen, wenn es dunkel war. Man konnte nie wissen, wer hinein sah.

„Ich werde kurz gehen und nachsehen, was der Tee macht“, sagte er und drehte sich wieder um. „Bleibst du bei Yekaterina, Eduard?“

Eduard nickte nur und ließ sich auf der Armlehne nieder. Ivan lächelte und verließ das Zimmer. Jedenfalls ließ er Yekaterina in guter Obhut zurück, dachte er.
 

Feliks' Haus war tatsächlich nicht groß. Falls es eine Treppe zu einem Obergeschoss oder einem Dachboden gab, hatte Ivan sie jedenfalls nicht bemerkt. Er überlegte, wo die Küche sich wohl befand, und merkte auf, als er Feliks' Stimme hörte.

„Alles klar. Dürfte gleich fertig sein. Warten wir so lange hier?“

„Das wäre mir sehr lieb“, sagte Toris. Ivan trat näher und warf einen Blick durch die Tür. Die Küche war nicht groß, aber ziemlich modern eingerichtet. Auf dem Herd brodelte das Teewasser. Toris saß am Tisch, die Hände gefaltet und auf der Tischplatte abgelegt. Feliks ließ sich mit einem Schnaufen auf einen Stuhl ihm gegenüber fallen.

„Also, erzähl, Liet. Was zum Teufel macht ihr hier?“

„Wir sind auf der Flucht“, antwortete Toris.

„Ja, so viel hab ich schon mitbekommen. Vor wem und warum?“

„Das weiß ich auch nicht genau. Ivan läuft vor allem weg. Vor seiner Regierung, denke ich. Und vor... sich selbst?“

Er verstummte, und etwas an seinem Gesichtsausdruck hinderte Ivan daran, in das Gespräch hinein zu platzen. Stumm blieb er neben der Tür stehen und lauschte.

„Was ist denn, Liet?“, fragte Feliks mit einer Art widerwilligen Besorgnis und beugte sich vor. „Du guckst so komisch.“

„Ich muss dir was sagen“, sagte Toris leise und sah auf seine Hände.

„Was denn?“

„Aber du musst versprechen, dich nicht aufzuregen, ja?“

Misstrauisch legte Feliks den Kopf schief. „Ist es denn etwas, worüber ich mich aufregen sollte?“, fragte er gedehnt.

Toris lachte nervös. „Bitte, Feliks. Hör mir einfach zu... ohne mich zu unterbrechen. Kannst du das?“

„Klar kann ich“, erwiderte Feliks und zuckte die Achseln. „Totalnie. Was ist los, Liet?“

Zögernd biss Toris auf seiner Unterlippe herum. Ivan stand neben dem Türrahmen und wusste nicht, ob er gehen sollte. Er wollte nicht gehen, aber er wollte auch nicht bleiben.

Urplötzlich zerschnitt ein helles Klingeln die Stille. Feliks sah sich um, und Ivan schaffte es im letzten Moment, zurück zu weichen.

„Was ist das?“

„Die Klingel. Seltsam, ich erwarte keinen Besuch... vielleicht irgendwer, der Zeitungsabos verkauft. Oder die Zeugen Jehovas oder so. Ich werde mal kurz nachsehen.“

Ein Stuhl wurde über den Boden gerückt. „Ich erledige das kurz“, erklang Feliks' Stimme und Schritte näherten sich der Tür. „Bin sofort wieder da. Und dann erzählst du mir, was du sagen willst, okay?“

„Okay“, murmelte Toris.

Ivan zuckte leicht zusammen, als es erneut klingelte. Er fühlte sich ertappt, und er wollte nicht ertappt werden. Hastig wandte er sich um, öffnete die nächstbeste Tür am Ende des Flurs und schob sich hindurch. Mit wild klopfendem Herzen sah er durch den Türspalt zu, wie Feliks zur Haustür ging.

„Ivan?“

Er fuhr zusammen und drehte sich um. Der Raum, in dem er sich befand, war ein Zwischending aus Badezimmer und Waschküche. Raivis stand vor ihm, ohne Hemd, die Haare ein wenig nass, und ließ gerade ein Handtuch von seinem Gesicht sinken.

„Man klopft an, bevor man ins Badezimmer geht“, erklärte er in einem Ton, als frage er sich, ob er Ivan noch erziehen musste.

„Ich weiß“, sagte Ivan ein wenig außer Atem. „Aber ich wusste nicht, dass es das Badezimmer ist. Es tut mir Leid, kleiner Raivis.“

Raivis zog die Schultern hoch. „Ist nicht so schlimm. Ich hätte ja auch nackt sein können.“

Ivan nickte und wandte diskret den Blick ab, weg von den Rippen, die sich deutlich durch die Haut drückten, weg von den Abschürfungen, den roten und blauen Flecken, weg von dem einzelnen flammend roten Striemen, der sich am unteren Ende des Brustkorbs entlang zog und hinter Raivis' Rücken verschwand. Mehr Wunden, als er selbst jemals verursacht hatte, dachte er. Oder war es nur das, was er glauben wollte?

„Ich bin gleich wieder weg, Raivis. Sobald...“

In diesem Moment hörten sie den Schuss.

„Was war das?“, fragte Raivis erschrocken, wühlte die Arme durch die Ärmel seines Hemdes und fuhr sich durch die Haare. Ohne nachzudenken, machte Ivan einen Satz von der Tür weg und sah sich nach Fluchtmöglichkeiten um. Die Hintertür, dachte er, war mit ein paar Schritten bei ihr und drückte die Klinke. Die Tür war nicht verschlossen.

„Komm mit, Raivis.“

„Wohin?“

„Ich sagte, komm mit!“

Erneut erklang ein Schuss und Feliks rief irgendetwas. Ivan griff nach Raivis' Arm und zog ihn hinaus auf einen gepflasterten Hinterhof. Mit wild schlagendem Herzen sah er sich um.

„Was ist passiert? Wo wollen Sie hin?“

„Wir müssen... wir müssen...“, murmelte Ivan und suchte fieberhaft die Umgebung ab. An zwei Seiten Hauswände, an einer ein ziemlich lichtes Gebüsch, an der vierten die Straße. Was sollten sie tun? Wo sollten sie hin?

Im nächsten Moment sah er das auffällig unauffällige Auto, das auf dem Hof parkte. Hinter den verdunkelten Scheiben war nichts zu erkennen, doch während er den Wagen noch fassungslos anstarrte, öffnete sich die Tür an der Seite.

„Komm!“, brachte Ivan hervor, griff fester nach Raivis' Hand und zog ihn mit sich. Sie rannten hinüber zu der Seite des Hofes, die zur Straße offen war, doch jemand stieg aus dem Wagen aus und stellte sich breitbeinig davor auf.

„Halt! Stehen bleiben!“

„Ivan!“, schrie Raivis. „Bleiben wir stehen!“

Doch Ivan hörte nicht auf ihn. Er würde nicht aufgeben, dachte er und verengte die Augen zu Schlitzen. Was, wenn es kam, wie Raivis es gesagt hatte, und sie alle in Sibirien landeten? Das würde er nicht zulassen. Er würde nicht zulassen, dass jemand Raivis je wieder ein Haar krümmte.

„Stehen bleiben!“, rief der Mann noch einmal und ein Schuss erklang hinter ihnen. Raivis kreischte auf, doch Ivan zog ihn weiter. Beinahe wäre er gestolpert, doch im letzten Moment fing er sich wieder.

„Stehen bleiben!“

„Er wird nicht mehr schießen“, keuchte Ivan. „Er ist allein, und wir sind mitten in einer Wohngegend. Ich denke nicht, dass er es riskieren wird...“

Sie erreichten die Straße und Ivan blieb kurz stehen, um sich zu orientieren. Raivis neben ihm schnappte nach Luft und jammerte vor sich hin.

„Was ist passiert? Wo sind die anderen?“

„Das weiß ich nicht“, antwortete Ivan und zwang sich zur Ruhe. „Wir müssen jetzt erst einmal...“

Ein Auto machte direkt vor ihnen auf der Straße eine Vollbremsung und Ivan stolperte einen Schritt zurück. Er war schon kurz davor, sich umzudrehen und Raivis mit sich zu ziehen, als die Beifahrertür aufsprang.

„Nach hinten mit euch“, sagte Feliks, der sehr blass war. Seine linke Hand umklammerte das Lenkrad. „Aber schnell.“

„Wo kommst du denn her?“, fragte Raivis erschrocken. „Wo ist Toris? Wo sind...“

„Ich hab gesagt, schnell!“, herrschte Feliks ihn an. Ivan klappte den Sitz nach vorn, schob Raivis auf die Rückbank und versuchte, sich nicht den Kopf zu stoßen, als er sich daneben setzte. Er zog die Tür zu und hatte sich kaum zurückgelehnt, als Feliks das Gaspedal durchtrat und er einen Satz nach hinten machte.

„Wo sind die anderen?“, fragte Raivis noch immer. Seine Augen waren groß vor Sorge. „Feliks? Wo sind die anderen? Was ist mit ihnen passiert? Was...“

„Eduard war bei Yekaterina“, sagte Feliks knapp. „Hab nicht mehr nach ihnen sehen können, es ging alles zu schnell. Ich hab Liet gesagt, er soll mir folgen, aber auf einmal war er nicht mehr da. Mehr weiß ich auch nicht, also halt jetzt die Klappe.“

Selbst die Wut in seiner Stimme schaffte es nicht, die Angst darin zu überdecken. Raivis' Augen füllten sich mit Tränen und Ivan griff behutsam nach seiner Schulter. „Keine Sorge“, murmelte er und strich über Raivis' Arm. „Er meint es nicht so. Es wird alles wieder gut, hörst du? Ich bin ja noch da.“

Es war seltsam, dachte Ivan, dass er das als Beruhigung sagte, was er vor zwei Jahren noch gesagt hätte, um Raivis Angst zu machen. Ich bin ja noch da.



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