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Noch eine Chance

von

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Ein hässliches Wort

Feliks' Auto war klein, rot und überaus klapprig. Womöglich war es nur dem Einsatz des heiligen Christophorus, dessen Abbild vom Innenspiegel baumelte, zu verdanken, dass es noch nicht längst auseinander gefallen war. Feliks hielt den Blick starr auf die Straße gerichtet, trommelte an jeder roten Ampel ungeduldig auf dem Lenkrad herum und murmelte irgendetwas vor sich hin, so leise, dass man kein Wort verstand. Kein einziges Mal sah er sich zu Raivis und Ivan auf der Rückbank um.

„Ob sie uns folgen?“, unterbrach Ivan die Stille, die ihm schon wie eine Ewigkeit vorgekommen war.

„Nee“, erwiderte Feliks knapp. „Sie hatten nicht viele Männer dabei. Wollten wohl, dass alles schön unbemerkt über die Bühne geht. Bloß keine Aufmerksamkeit und so... na ja, und außerdem denke ich, sie waren sich nicht einig. Meine Leute können ein bisschen eigen sein, wenn deine kommen und ihnen sagen, sie sollen gefälligst den und den verhaften. Da wird erst einmal diskutiert und nachgehakt und sich gegenseitig auf die Nerven gegangen...“

Ivan lächelte. „Es ist immer nur gut, wenn man Gegner hat, die sich nicht einig sind.“

„Natürlich umso mehr, wenn man selbst sich einig ist“, gab Feliks knapp zurück. Besorgt runzelte Ivan die Stirn. Solange sie Toris dabei gehabt hatten, war er sich sicher gewesen, Feliks uneingeschränkt vertrauen zu können. Aber jetzt, da Toris weg war, stand Feliks da überhaupt noch auf ihrer Seite? Ivan versuchte, ihm ins Gesicht zu sehen, schaffte es aber nicht. Bevor er etwas sagen konnte, um die erneute, diesmal aber viel unangenehmere Stille zu durchbrechen, bog Feliks in einen Hinterhof ein, hielt an und schaltete den Motor aus.

„Folgt mir“, sagte er knapp und öffnete die Tür. „Schnell, und ohne Lärm zu machen.“

Sie stiegen aus. Raivis schniefte leise, fröstelte in der kalten Luft und trat von einem Bein aufs andere. Feliks schloss das Auto ab und machte sich dann zügig auf den Weg zu der schlichten Hintertür des grauen Reihenhauses. Es ragte in der Dunkelheit still vor ihnen auf. Kaum eines der zahlreichen Fenster war erleuchtet.

„Wo sind wir hier?“, wisperte Ivan und spähte durch die Tür, die Feliks geöffnet hatte.

„Psst!“, zischte Feliks. Seine Stimme hallte im Treppenhaus wieder, viel lauter, als Ivans es getan hatte. Es war beinahe vollständig dunkel, nur der Lichtschalter an der Wand leuchtete in trübem Orange. Feliks machte kein Licht, sondern begann, die Treppen hinauf zu steigen. Vor einer Tür im ersten Stock hielt er inne, suchte einen Moment lang den Schlüssel an seinem Bund, schob dann den richtigen ins Schloss und öffnete.

„Na also“, murmelte er, trat in den Flur einer kleinen Wohnung und wartete, bis Ivan und Raivis ihm gefolgt waren, bevor er die Tür wieder schloss. Er drückte auf den Lichtschalter und eine nackte Glühbirne unter der Decke flackerte auf. Ivan sah sich um. Von dem schmalen Flur gingen drei Türen ab. Die Tapete an den Wänden hatte ein altmodisches Blumenmuster und der Teppich auf dem Boden sah abgenutzt aus.

„Was ist das?“, fragte er.

„Kleiner Schlupfwinkel“, antwortete Feliks und öffnete eine andere Tür. „Kommt hier rein.“

Sie folgten ihm in einen Raum, von dem Ivan nicht sagen konnte, ob er ein Wohnzimmer, ein Schlafzimmer oder eine Abstellkammer darstellen sollte. Eine Matratze mit einigen bunten Flickendecken darauf lag in der Ecke auf dem Boden. Neben einem Sofa, das als einziges Möbelstück im Raum ziemlich neu wirkte, diente eine Kiste mit Büchern als Tischchen, auf dem eine leere Teetasse stand. Einige weiß-rote Wimpel hingen an den Wänden und in einer schon vertrockneten Topfpflanze neben der Tür. In der hinteren Ecke des Zimmers befand sich ein Haufen Stoff, der bei näherem Hinsehen aus weißen Bettlaken zu bestehen schien. Ein geschlossener Farbeimer und ein mit schwarzer Farbe verklebter Pinsel lagen daneben.

„Hast du vor, eine Demonstration zu veranstalten, Feliks?“, fragte Ivan belustigt.

„Kann nie schaden, alte weiße Bettlaken aufzuheben“, erwiderte Feliks und ließ sich auf das Sofa fallen. „Man kann so viel damit machen.“

„Sind wir hier, um zu demonstrieren?“, fragte Raivis unsicher und setzte sich neben ihn.

„Nee, natürlich nicht. Aber bei mir konnten wir ja wohl nicht bleiben, oder? Jetzt muss ich ein paar Leute anrufen und sehen, wo ihr unterkommen könnt.“

„Ein paar Leute?“, wiederholte Ivan, ließ sich auf einer Kante der Bücherkiste nieder und schob die Teetasse beiseite.

„Ich hab Kontakte und so“, sagte Feliks schlicht und deutete flüchtig in Richtung der Bettlaken. „Mehr brauchst du nicht zu wissen.“

Raivis blinzelte. „Und warum rufst du sie nicht jetzt gleich an, bevor jemand uns hier findet?“, fragte er.

Feliks schwieg einen Moment lang. „Liet wollte mir gerade was erzählen“, sagte er dann und sah Ivan an. Ivan blinzelte erschrocken und senkte den Kopf.

„Es schien ihn ziemlich zu belasten“, fuhr Feliks mit leicht bebender Stimme fort. „Und irgendwie werd ich das Gefühl nicht los, es hatte was mit dir zu tun.“

Ivan warf ihm einen kurzen Blick zu und stellte fest, dass Feliks ihn nicht aus den Augen ließ.

„Du weißt, worum es ging, Ivan. Oder?“

„Ja.“

Feliks wurde sehr blass, nickte aber. „Erzähl es mir“, verlangte er.

Er würde keine Ruhe geben, dachte Ivan. Feliks wollte wissen, was passiert war, und er konnte ein verdammter Dickkopf sein. Er würde keinen Finger rühren, um ihnen zu helfen, wenn Ivan nicht tat, was er verlangte. Anscheinend musste er es ihm wohl oder übel sagen, dachte Ivan und senkte den Blick. Und davon abgesehen war es wohl endgültig an der Zeit, seiner Schuld ins Auge zu sehen.

„In Ordnung“, sagte er leise. „Ich erzähle es dir. Raivis... würdest du für einen Moment vor die Tür gehen?“

Raivis hob überrascht den Kopf. „Ich will nicht rausgehen!“, sagte er ängstlich. „Ich will hier bleiben. Und außerdem weiß ich doch sowieso, was passiert ist.“

„Ach ja?“, fragte Feliks.

„Ach ja?“, wiederholte Ivan und starrte Raivis an. Er hatte das Gefühl, in ein sehr tiefes Loch zu fallen. „Woher weißt du es? Hat... hat Toris es dir erzählt?“

„Nein“, antwortete Raivis schüchtern. „Er hat niemals davon gesprochen. Aber Eduard und ich haben an der Tür gelauscht. Wir haben es gehört. Es war...“ Er verstummte und begann, auf seiner Lippe herum zu kauen.

„Was ist passiert?“, fragte Feliks tonlos und sah zwischen den beiden hin und her. „Was?“

Ivan holte tief Luft. „Es war vor sechs Jahren, glaube ich“, begann er leise. „Ich hatte... ich hatte diesen Befehl von meinem Boss. Nun, zumindest indirekt. Es ist nicht so, dass ich damit einverstanden gewesen wäre, aber...“

„Die Hintergründe interessieren mich überhaupt nicht“, zischte Feliks. „Ich will wissen, was du getan hast.“

Die Wut, aber auch die Angst in seinem Blick ließen Ivan das Gesicht abwenden. „Der Plan war, Toris ein starkes Beruhigungsmittel zu geben“, sagte er. „Nicht, damit er das Bewusstsein verliert, aber wenigstens so, dass er sich nicht mehr so viel wehrt... und danach wollte ich...“

Er verstummte, ballte die Fäuste und entspannte sie wieder.

„Du hast ihn vergewaltigt“, flüsterte Feliks.

Die Anklage blieb im Raum stehen. Raivis sah mit großen Augen zwischen Feliks und Ivan hin und her und betrachtete dann lieber seine Hände. Ivan schloss einen Moment lang die Augen, bevor er sich dazu zwang, Feliks anzusehen.

„Das ist... ein sehr hässliches Wort, Feliks.“

„Ein hässliches Wort für eine hässliche Sache“, erwiderte Feliks tonlos.

Ivan wusste nicht, wie er darauf reagieren sollte, zuckte unschlüssig die Achseln und wandte den Blick wieder ab.

„Warum... warum zum Teufel...“

„Du hast gerade noch gesagt, die Hintergründe interessierten dich nicht.“

„Tun sie auch nicht.“ Feliks holte tief Luft. „Du hast gesagt... das war dein Plan. Und so hast du... hast du es gemacht, ja? Oder hat der Plan nicht funktioniert?“

„Nicht ganz“, gab Ivan zu.

„Wieso nicht ganz?“

„Toris hat sich geweigert, das Beruhigungsmittel zu nehmen.“

Er sah nicht mehr rechtzeitig auf, um zu sehen, wie Feliks ruckartig aufstand, den Raum verließ und die Tür hinter sich zuschlug.

„Das ist nicht gut gelaufen“, murmelte er.

„Wie hätte es Ihrer Meinung nach besser laufen sollen?“, fragte Raivis verblüfft.

Ivan schüttelte den Kopf und lachte freudlos. „Du hast ja Recht. Wie hätte es besser laufen sollen.“

Unsicher betrachtete Raivis ihn. „Ich... ich habe absichtlich nichts gesagt.“

„Worüber gesagt?“

„Dass... ich weiß, dass Toris nach Feliks gerufen hat, die ganze Zeit über. Ich denke mal, er wollte, dass Feliks ihn retten kommt. Aber Feliks war ja nicht da.“

„Nein“, bestätigte Ivan gedankenverloren und schüttelte den Kopf. „Feliks war nicht da.“
 

(Sinnlose Nebeninformation, weil ich mich mal wieder nicht am Riemen reißen konnte: Die ersten zwei Sätze dieses Kapitels sind mir im Bus während der Rückfahrt aus Oxford eingefallen, wurden auf der Fähre Dover-Calais schnell auf Papier gekritzelt, und es sind meine Lieblingssätze in der gesamten Fanfic. Ich hab sie jedenfalls lieb.)



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