Erinnerungen sind ein äußerst empfindliches Geflecht
„Erinnerungen sind ein äußerst empfindliches Geflecht.“
Ihr tadelnder Tonfall, in Verbindung mit dem finsteren Blick, den sie ihm aus ihren violetten Augen zuwarf, ließ ihn schuldbewusst zusammenzucken und geradewegs kleiner werden zu lassen.
Er gab einen entschuldigenden Laut von sich, während er sich durch das weinrote Haar fuhr, ehe er die schwarze Augenklappe richtete, die sein linkes Auge verdeckte. Das rechte war blau und richtete sich wieder auf den schlafenden Jungen, der zu seinen Füßen lag. Er zuckte im Schlaf, aber ansonsten schien er nicht aufwachen zu wollen – was aber auch daran lag, dass sie ihm zuvor jede Menge Schlafmittel verabreicht hatten, damit er endlich aufhörte, sich zu wehren.
Unwillkürlich kratzte er sich am Arm, wo der Junge ihn zuvor derart heftig gebissen hatte, dass er nun sogar blutete. Ihm blieb nur zu hoffen, dass diese kleine Drecksgöre keine ansteckende Krankheit in sich trug. Kaum war ihm dieser Gedanke gekommen, glaubte er plötzlich, den Beginn einer bevorstehenden Krankheit spüren zu können, sein Hals kratzte bereits unangenehm.
„Kannst du dich nicht trotzdem ein wenig beeilen?“, brummte er. „Kann uns doch egal sein, wenn du diesen Hinterwäldlern das Gehirn wegschmorst.“
Sie runzelte empört die Stirn, um zu zeigen, wie wenig sie von diesem respektlosen Verhalten hielt. „Das würde gar nicht gehen. Aber nur, um dir das nochmal zu erklären – weil ich das unheimlich gern tue...“
Er rollte mit dem Auge, aber sie ließ sich davon nicht stören, stattdessen fuhr sie sich mit ihren langgliedrigen Fingern durch das lange blonde Haar, ehe sie ihre Arme wieder ausgestreckt vor sich hielt. Vor ihren Handflächen erschien eine blau glühende Kugel, die aus reiner Energie bestand und sie in dieser dunklen Nacht, in der nicht einmal Sterne am Himmel zu sehen waren, geradezu unheimlich beleuchtete.
„Erinnerungen sind ein empfindliches Geflecht. Ein klein wenig fehlgeleitete Konzentration genügt, um die Erinnerungen all dieser Leute komplett zu zerstören und das kann nicht in unserem Interesse sein. Erstens würde das viel zu viel Aufmerksamkeit auf das Geschehen ziehen und zweitens neigen Leute ohne jede Erinnerung dazu sehr rabiat zu werden, um diese wiederzuerhalten.“
Der Ton, in dem sie ihm das – zum wiederholten Male – erzählte, gefiel ihm nicht, aber er hatte früh gelernt, sich damit abzufinden und nichts dagegen zu sagen.
„Deswegen ist es wichtig, nur das zu verändern, was wir nicht mehr haben wollen, in diesem Fall jegliche Erinnerungen, die mit diesem Jungen in Verbindung stehen.“
Sie war davon überzeugt, dass niemand nach ihm suchen würde, da keiner mehr von seiner Existenz wusste und dass das Verschwinden eines unwichtigen kleinen Jungen auch in den umliegenden Städten zu keinem größeren Aufruhr führen würde. Kinder verschwanden häufig und wenn keiner ihrer Verwandten sich auf die Suche nach ihnen begab, war es wohl ohnehin nicht weiter wichtig, herauszufinden, was ihnen zugestoßen war.
Schließlich senkte sie die Arme wieder. „Alles erledigt, wir können gehen.“
„Wird aber auch Zeit“, brummte ihr Begleiter. „Zwei Kinder an einem Tag zu entführen, reicht ja wohl auch. Ich hoffe nur, dass sich unser Auftraggeber nicht zu viel Zeit dabei lässt, uns zu bezahlen, damit wir die Gören rasch wieder loswerden.“
Sie seufzte zustimmend und ging dann voraus, um zu ihrem Wagen zurückzukommen, mit dem sie sich durch das Land bewegten. Er schlug die hintere Plane zurück und beförderte den Jungen unsanft auf die Ladefläche, wo bereits ein anderer lag, sein silber-weißes Haar schien selbst in der Dunkelheit dieses Wagens regelrecht zu leuchten. Dieser Junge war ihm wesentlich sympathischer, immerhin hatte er nicht wie ein tollwütiger Hund nach ihm geschnappt.
Schließlich löste er sich von dem Anblick der beiden Schlafenden und begab sich zu seiner Begleiterin, die bereits auf dem Kutschbock saß und mit den Zügeln in der Hand auf ihn wartete.
Die Pferde schüttelten ihre Mähnen und schnaubten leise, ihnen war wohl auch eher nach einer gemütlichen Nacht in ihrem Stall, statt nach einem nächtlichen Ausflug ins Nirgendwo.
Elegant schwang er sich ebenfalls auf den Kutschbock, dann nahm er ihr die Zügel aus der Hand. „Dann auf nach Hause, das haben wir uns verdient.“
Sie nickte zufrieden, lehnte sich zurück und war dann innerhalb kurzer Zeit eingeschlafen, während er weiterhin versuchte, sich wachzuhalten und zu hoffen, dass er die Kinder bald wieder loswerden würde.